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Die Liebe wartet im Watt

Als Buch hier erhältlich:

Zauberhafte Lesestunden und Strickanleitungen mit friesischem Flair

Bentje kann es immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich die Pension Lüttje Glück an der Nordseeküste übernommen hat. Neben der Renovierung des in die Jahre gekommenen Reetdachhauses plant die passionierte Handarbeiterin im Sommer Strickevents. Zum Glück kann sich Bentje bei den Ferienveranstaltungen für Strickbegeisterte auf ihre Freundin Imke verlassen und auch Tischler Jasper unterstützt sie tatkräftig bei den Arbeiten in der Pension. Als dann auch noch ein Brief eines ehemaligen Gastes auftaucht, kann Bentje das Rätselraten nicht mehr lassen und will unbedingt mehr über die Geschichte des Gastes, der Pension, aber auch des ganzen Küstenortes Kiekersum erfahren.


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Aus der Serie: Küstenzauber
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365010099

Leseprobe

Susanne Oswald

Die Liebe wartet im Watt

Roman

HarperCollins

Für dich!

Möge die Geschichte dich wie ein lockerleicht gestricktes Tuch umhüllen und der Wind der Nordsee die Sorgen von deiner Seele pusten.

Prolog

»Gib gut auf deine Sachen acht«, mahnte Annelieses Mutter. »Sei brav, ordentlich und freundlich, dann werden die Menschen auch gut zu dir sein. Ganz bestimmt.« Sie zupfte ihrer Tochter den Mantel zurecht, zog den Schal etwas enger. »Und lerne fleißig, hörst du? Vergiss mich nicht, mein kleines Mädchen. Ich schreibe dir, sobald ich kann. Wir werden uns wiedersehen. Ganz bestimmt. Wenn dieser Wahnsinn vorüber ist, kommst du wieder zu uns. Und so lange erlebst du ein besonderes Abenteuer. Es wird dir gut gehen. Ganz bestimmt!«

Anneliese hatte die »Ganz bestimmt« ihrer Mutter gezählt. Es waren in der letzten Stunde fünfundzwanzig gewesen. Das Mädchen hatte Angst, aber es versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie wollte stark sein, um es ihrer Mutter nicht noch schwerer zu machen. Aber ihr Bauch zwickte vor Aufregung. Sie wusste, dass ihre Mama auch Angst hatte. Sie konnte es in ihren Augen sehen. Ganz bestimmt, dachte sie und fröstelte in der zugigen und überfüllten Bahnhofshalle.

Ihr Vater hatte sie nicht begleiten können, in aller Früh hatte er sich von ihr verabschiedet, bevor er zur Arbeit gegangen war. Ganz fest hatte er sie an sich gedrückt, dann hatte er sie unvermittelt losgelassen und war ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer gestürmt.

Überall um sie herum spielten sich ähnliche Szenen ab. Lachen, Weinen und Rufen erfüllte die Luft bis unter das hohe Dach.

Die meisten Mütter und Väter blieben gefasst, sie versteckten ihre Gefühle hinter einem eingefrorenen Lächeln, drückten ihre Rücken durch, als der endgültige Abschied kam.

Manche Kinder klammerten sich an ihre Eltern und wollten sich nicht trennen. Andere nahmen den Moment leichter. Sie lachten und schienen gespannt auf das Abenteuer, das vor ihnen lag. Die ganz Kleinen, vier oder fünf Jahre alt, verstanden gar nicht, was vor sich ging.

Anneliese war schon sieben, aber auch sie verstand nicht, weshalb ihre Mutter sie wegschickte. War sie zu anstrengend gewesen? Hatte sie ihrer Mutter nicht genug geholfen? Sie wusste es nicht. Sie hatte versprochen, künftig artig zu sein und fleißig, aber das hatte nicht geholfen. Ihre Eltern waren bei ihrer Entscheidung geblieben.

Ihre Mutter hatte sie mit diesem Blick angesehen, der fröhlich sein sollte. Anneliese hatte aber die Traurigkeit gesehen. Und dann hatte die Mama gesagt: »Wir haben dich sehr lieb. Gerade deshalb musst du gehen, Anneliese. Aber denke immer an dein Versprechen, denn genau das sollst du sein, mein Kind: artig und fleißig. Dann wird es dir in der neuen Familie sicher gut gehen.«

Nach einer letzten Umarmung, einem letzten tiefen Blick, einem letzten Streicheln über Annelieses Wange, wandte die Mama sich um und eilte mit schnellen Schritten davon.

Anneliese wurde von Angst überwältigt. Ihr wurde klar, dass das wirklich ein Abschied war.

»Mama«, rief sie verzweifelt.

Doch ihre Mutter ging weiter. Kein Umsehen, kein Winken. »Mama«, rief Anneliese noch einmal. Dieses zweite Mal brach die Verzweiflung ihre Stimme.

Anneliese wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels über das tränennasse Gesicht. Den Beutel mit ihren Habseligkeiten presste sie mit der anderen Hand fest an sich.

***

»Na, mien Deern, hier, das ist für dich.« Der große Mann mit dem vollen Bart und den buschigen Augenbrauen setzte sich vor Anneliese auf die Holzplanken und streckte ihr eine Butterstulle hin. Das Schiff schaukelte, sie hatten den Hafen verlassen.

Anneliese kämpfte mit sich. Sie hatte Hunger, aber in ihrem Bauch, da, wo das Brot hinsollte, saß dick und fett die Angst und wollte keinen Platz machen. Und das Schaukeln machte ihr zu schaffen.

Der Mann betrachtete sie. Er wartete geduldig, obwohl um sie herum Unruhe herrschte und er sicher viel Arbeit hatte. Anneliese entdeckte kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln, als er sie anlächelte.

»Ganz schön viel Abenteuer für so eine lütte Deern«, sagte er jetzt. »Aber soll ich dir etwas verraten?« Als sie zaghaft nickte, fuhr er fort. »Du glaubst vielleicht, das ist eine einfache Butterstulle, aber da irrst du dich gewaltig. Das ist ein Zauberbrot. Das macht dich stark und mutig. Und das hier …« Er streckte ihr einen Becher mit Apfelsaft hin. »Das ist ein Zaubertrank. Wenn du den trinkst, dann macht der deine Angst ganz klein und weckt die Freude auf die Menschen, die nach der Landung auf dich warten. Und obendrein hilft es deinem Bauch auch noch, etwas besser mit dem Schaukeln zurechtzukommen. Du bist ja schon ganz käseweiß um die Nase. Beiß nur schnell in das Brot, dann geht es dir gleich besser. Alles wird gut, mien Deern.«

Er hatte sehr freundliche Augen, dachte Anneliese und lächelte ihn scheu an. Er nickte.

Endlich griff sie zu und biss hinein. Schon während sie kaute, fühlte sie sich besser. »Danke schön«, sagte sie artig.

Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geflüchtet und halten lassen. Aber er war aufgestanden. Ein kurzer Gruß, dann verschwand er zwischen den vielen Menschen.

Kapitel 1

Bentje

Angekommen

Es tat Bentje gut, auf das Meer zu schauen, die Schafe um sich herum zu haben und mit dem Strickzeug in den Händen die Seele baumeln zu lassen. Auch wenn sie das jetzt fast täglich genießen konnte, hatte die norddeutsche Küste nichts von ihrem Zauber verloren. Eher im Gegenteil. Wenn ihre Erinnerung sie nicht trog, nahm sie die Magie dieses Ortes heute intensiver wahr als früher.

Vielleicht lag es daran, dass sie das Leben am Meer nicht mehr als selbstverständlich erachtete. Sie hatte die Jahre in Hamburg, ohne Wellenrauschen, Nordseeluft und Möwengeschrei, dafür aber mit Großstadtlärm, Abgasgeruch und Alltagshektik, nicht vergessen. Natürlich hatte es auch wundervolle Momente in der Hansestadt gegeben. Auch diese Erinnerungen trug sie in sich. All die Abende in ihrer Lieblingspizzeria mit köstlichem Essen und Wein, der wie Samt über die Zunge floss. Das Lachen und die Gespräche. Spätvorstellungen im Kino. Die Theaterbesuche. Nie würde sie Walter Sittler in Als ich ein kleiner Junge war vergessen. Er hatte sie mit seiner eindringlichen Darstellung in diesem stillen Solostück so tief berührt, dass ihr Tränen über das Kinn auf ihre Bluse getropft waren. Sie hatte es erst gemerkt, als Imke ihr ein Taschentuch hingehalten hatte.

Und dann natürlich die Elbphilharmonie. Die Konzerte dort waren für Bentje immer etwas Besonderes gewesen. Diese Abende hatten ihr ganz allein gehört, denn mit klassischer Musik ließ Imke sich nicht aus ihren Plüschpuschen locken, und Bentje hatte nie versucht, eine andere Begleitung zu finden.

Nachdem sie sich einmal überwunden hatte, war ihr bald klar geworden, dass dieses Sich-nur-auf-sich-selbst-Konzentrieren zwischendurch auch etwas Schönes hatte. Bei ihrem ersten Konzert war sie sich noch merkwürdig fehl am Platz vorgekommen. Einsam hatte sie sich gefühlt, inmitten all der vielen fremden Menschen. Mit der Zeit aber war es selbstverständlich für sie geworden, und sie hatte sich auch ohne Begleitperson sehr wohlgefühlt und als Teil der Zuschauergruppe wahrgenommen. Sie alle verband die Liebe zur Musik.

Abgesehen von den klassischen Konzerten war Imke immer dabei gewesen, wenn es galt, richtig Spaß zu haben. Auch, wenn es um ihre zahlreichen Verehrer ging. Sie beide waren seit Jahren ein prima Team, das so manchen Kerl in die Flucht geschlagen hatte. Imke war in Sachen Männer unerbittlich und wusste ziemlich genau, was sie wollte – vor allem aber, wen sie nicht wollte. Der hatte dann auch keine Chance, egal wie sehr er den Prinzen spielte und sich ins Zeug legte.

Manchmal hatten die Jungs Bentje leidgetan. Dem ein oder anderen hatte Imke sicher das Herz gebrochen, auch wenn sie nie grausam gewesen war. Nur eben gnadenlos ehrlich. Gleichzeitig bewunderte Bentje ihre Freundin bis heute für ihre Klarheit und innere Stärke.

Das pralle, laute und lustige Leben und die ausgedehnten Spaziergänge an der Alster, wenn es galt, sich den Büromief aus den Köpfen und Zellen zu laufen, all das hatte Hamburg für Bentje ausgemacht. Sicher gab es noch mehr, was ihr Stadtleben geprägt hatte.

Aber abgesehen von der Philharmonie gab es auch hier in Kiekersum und Umgebung ein breites Angebot an Kulinarik und Kultur. Es war nur alles ein wenig kleiner, intimer – was durchaus auch einen gewissen Charme hatte. Wenn sie nur an die vielen Themenmuseen dachte, ganz besonders liebte sie das Theodor-Storm-Haus in Husum. Aber auch die Naturkundemuseen zur Geschichte der norddeutschen Küste und des Weltnaturerbes Wattenmeer fand sie enorm spannend. Die Hamburger Vielfalt war also nichts, was sie wirklich vermisste. Wenn sie sich zwischendurch nach einem Besuch der Elbphilharmonie sehnte, dann konnte sie das einplanen. Hamburg war schließlich nur hundertfünfzig Kilometer weit weg und nicht auf der anderen Seite des Globus. Auch das war also kein Problem. Bisher war das aber noch nicht vorgekommen.

Die Alster gegen die Nordsee zu tauschen, war für sie wie die Entscheidung zwischen einer kratzigen Schurwolle und einer samtweichen Kaschmirwolle gewesen. Vierzig gegen fünfzehn Mikron. Da fiel Bentje die Wahl sehr leicht. Obwohl der Vergleich hinkte, wie ihr bewusst wurde, kaum dass sie es gedacht hatte. Die Nordsee war ein Gestaltenwandler. Sie konnte genauso gut Kaschmir mit Flauschgarantie wie auch Schurwolle mit hohem Kratzfaktor sein und alles dazwischen. Gerade das machte das Leben an der Küste so abwechslungsreich und spannend. Man wusste nie, was einen erwartete. Und man konnte nicht einfach nur nach dem eigenen Kopf leben, sondern lernte ganz selbstverständlich, sich der Natur anzupassen. Sie hatte also ihr kratziges Stadtleben nicht gegen fünfzehn Mikron Flausch eingetauscht, sondern gegen ein Überraschungspaket.

Abgesehen von alldem hatte Kiekersum etwas, was Hamburg ihr nicht bieten konnte: Jasper. Der Gedanke an ihren Freund zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen und in ihr Herz. Ihn wieder in ihrem Leben zu haben, war ihr größtes Glück. Mit Jasper an ihrer Seite fühlte sie sich gegen alle Stürme gewappnet.

Noch immer schien es Bentje wie ein Wunder, dass sie nun wirklich wieder direkt an der Küste leben konnte. Leben und arbeiten sogar. Und das auch noch als ihre eigene Chefin. Hätte ihr das alles jemand vor einem Jahr gesagt, hätte sie sich höflich, aber unmissverständlich mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt.

Ihr Handy brummte. Sie ließ das Strickzeug mit einer Hand los und zog das Telefon aus der Tasche. Mit dem Zeigefinger wischte sie über das Display und öffnete die Nachrichtenapp mit einem schnellen Tippen. Jasper arbeitete heute in einem Privathaus auf Nordstrand. Er hatte ein Bild geschickt. Sie sah, dass er noch etwas schrieb.

Während Bentje die Mühlenflügel vor dem blauen Himmel betrachtete, die er fotografiert hatte, lächelte sie und wartete auf Jaspers Text.

Ihr war klar gewesen, dass er bei der Engelmühle haltmachen würde, wenn er schon auf der Insel war. Das war ihr Lieblingscafé geworden, seit Bentje nach Kiekersum zurückgekommen war. Und das nicht nur wegen der köstlichen Kuchen und Torten.

Hier hatten sie und Jasper Kaffee getrunken, Käsemohnkuchen und Schokotarte geschlemmt und das immer stärker werdende Kribbeln genossen, das von ihrer gemeinsamen Zukunft zu erzählen schien.

Feierabend. Ich geh noch kurz auf einen Schnack bei Randy und Eike vorbei. Vorher gönne ich mir aber eine heiße Schokolade bei Susanna und Mike. Soll ich dir ein Stück Kuchen mitbringen? Wenn ja, was für einen? 😘

Bentje musste nicht lange überlegen. Schon tippte sie die Antwort.

Sehr gern. Du bist ein Schatz. Egal was, ich kann mich sowieso immer kaum entscheiden, weil alles so lecker ist. Grüße Susanna und Mike bitte von mir. Randy und Eike natürlich auch. Bis später! 😘

Wie wunderbar. Das war wirklich eine gute Idee von Jasper. Das zauberhafte Café am Süderhafen auf Nordstrand beeindruckte mit einem Angebot, das in Qualität und Vielfalt seinesgleichen suchte. Und sie hatten immer wieder neue Ideen. Wenn man einen besonderen kulinarischen Wunsch hatte, war man dort gut aufgehoben – egal ob es um Torten, Kuchen oder Spezialaufträge ging. Das Team der Engelmühle machte fast alles möglich.

Ganz abgesehen davon, waren Susanna und Mike, denen das Café gehörte, überaus sympathische Menschen, die man einfach gernhaben musste. Die beiden hatten sich mit der alten Mühle einen Traum erfüllt und teilten dieses Glück mit ihren Gästen.

Manchmal, wenn Bentje und Imke zu eingespannt waren oder ihnen einfach die Lust fehlte, selbst zu backen, orderte Bentje bei Susanna inzwischen auch Apfelkuchen für ihre Frühstückspension Lüttje Glück. Obwohl Finna ihr alle Rezepte überlassen und sie gut auf die Aufgabe vorbereitet hatte, an den Apfelkuchen nach friesischer Art aus der Engelmühle kam bisher noch keines von Bentjes Backwerken heran – auch wenn sie durchaus schmackhaft waren. Irgendwie fand Bentje das gar nicht schlimm. Immerhin backte sie mehr oder weniger nur, weil es zu ihren Aufgaben gehörte. Es war noch nie ihr Hobby gewesen und würde es vermutlich auch nicht werden. Sie hatte keinen besonderen Drang, sich mit Mehl, Butter und Eiern in der Rohform abzugeben. In dieser Zeit widmete sie sich sehr viel lieber ihrer Wolle und den Stricknadeln. Wenn es ums Verkosten ging, war sie aber natürlich dabei. Dafür legte sie dann auch ihr Strickzeug sehr gern aus der Hand.

Bei dem Gedanken an den Kuchen, den sie nachher verputzen durfte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Das würde diesen schönen Tag perfekt abrunden. Sie hatte wirklich Glück, so einen aufmerksamen Freund zu haben. Und überhaupt.

Das Handy wanderte in die Tasche zurück. Bentje nahm die Socke, an der sie arbeitete, wieder hoch, und während ihre Hände Masche um Masche wachsen ließen, versank sie wieder in ihre Gedanken.

Anfang des Sommers hatte sie ihr Leben einmal komplett von links auf rechts umgekrempelt, und sie war glücklich und dankbar, dass sie den Mut zu dieser großen Entscheidung gehabt hatte. Hätte sie das nicht getan, säße sie jetzt vermutlich in einem mäßig klimatisierten Büro in Hamburg in der Marketingagentur, für die sie früher gearbeitet hatte. Sie würde sich den Kopf zerbrechen, um für andere Menschen Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Doch das war Vergangenheit. Stattdessen konnte sie an diesem fast sommerlichen Herbstnachmittag ihre kleine Auszeit am Deich genießen und ihren eigenen Traum nicht erst Wirklichkeit werden, sondern bereits Wirklichkeit sein lassen.

Käme jetzt, in diesem Moment, eine gute Fee und würde ihr anbieten, sie dürfte sich einen Ort aussuchen, an dem sie gern leben würde – es wäre genau hier, in ihrer Heimatstadt Kiekersum, im Lüttje Glück. Es war ganz klar: Sie war angekommen.

Es war nicht nur der Ort, es war auch das neue Lebensgefühl. Sie genoss die kleinen und auch mal größeren Auszeiten, die sie sich trotz ihrer Arbeit nehmen konnte. So wie heute. Nachdem Imke versprochen hatte, auf den Apfelkuchen im Ofen aufzupassen, hatte Bentje ihr Strickzeug und eine Decke geschnappt und sich ein ruhiges Plätzchen am Wasser gesucht. Es war sogar gerade Flut, was den Spaß erhöhte, denn sie liebte das Gluckern, Glucksen, Schwappen und Rauschen der Nordsee, wenn die Wellen auf dem Strand ausliefen.

Was für ein Glück, dass Imke ihr Leben in Hamburg über Bord geworfen hatte und ihr nach Kiekersum gefolgt war. Dieses vollkommen verrückte Huhn war seit dem Studium ihre liebste und allerbeste Freundin. Nachdem Bentje nach Kiekersum gezogen war, hatte Imke die Sehnsucht gepackt. Da sie ihr erzählt hatte, dass sie eine Hilfe einstellen wollte, hatte Imke in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihren Job und die Wohnung gekündigt und war ihr hinterhergezogen. Abenteuerlustig war sie sowieso schon immer gewesen.

»Ohne dich ist Hamburg Mist«, hatte sie der verdutzten Bentje erklärt und lebte nun ebenfalls im Lüttje Glück. Hin und wieder arbeitete sie als freie Mitarbeiterin für die Brauerei, bei der sie vorher im Marketing angestellt gewesen war. Das ließ sich problemlos mit den Aufgaben in der Frühstückspension vereinbaren, und es machte Imke Freude. Sie hatte schon immer mehr Spaß am Marketing gehabt als Bentje.

Das alte Friesenhaus mit dem Reetdach, in dem sie wohnten und arbeiteten, war früher das Haus des Leuchtturmwärters gewesen. Im Erdgeschoss gab es öffentliche Bereiche für die Pensionsgäste, aber auch Wirtschaftsräume und private Räume, die als Rückzugsort dienten. Die erste Etage wie auch ein kleiner Anbau waren komplett den Gästen vorbehalten.

Imke hatte ein Zimmer im Dachgeschoss bezogen, wo auch Bentje sich nach Finnas Auszug ihr Reich eingerichtet hatte. Die Räume ohne Dachschräge waren Gästezimmer, was wirtschaftlich betrachtet auf jeden Fall die richtige Entscheidung war.

Das Dachgeschoss war okay, ihre Hamburger Miniwohnung war sogar noch kleiner gewesen, sie hatten also Erfahrung damit, beengt zu leben. Außerdem ging es nur um ihre persönlichen Bereiche. Einen Großteil der Zeit waren sie sowieso unten in der Küche. Es gab große Wohnbereiche, die sie hin und wieder mit Gästen teilten, und ein kleines privates Wohnzimmer mit Kaminofen, wo sie schon viele Abende verbracht hatten. Den großen Garten hatten sie auch noch – es war also jenseits der kleinen Dachzimmer reichlich Platz vorhanden.

Der Zustand des Dachgeschosses war ein größeres Thema als der Raum, den sie zum Wohnen hatten. Dieser Bereich des Hauses stand als Nächstes auf der Renovierungsliste. Die Wände mussten gestrichen werden, Bodenbeläge erneuert. Die Türen brauchten dringend die kundige Hand eines Tischlers. Sie knarzten, und je nach Witterung klemmten sie. Ebenso wie die alten Holzfenster, bei denen nicht nur die Farbe absplitterte. Es gab auch etliche morsche Stellen in den Rahmen. Im Bad regnete es – je nach Windrichtung – bereits herein. Nur gut, dass es direkt in die in die Jahre gekommene Badewanne tropfte. Bentje hatte die Arbeiten für den übernächsten Winter ins Auge gefasst. Bis dahin war sie hoffentlich wieder bereit für neue Herausforderungen.

Jetzt gerade hatte sie das Gefühl, eine Baustelle im Haus würde sie überfordern. Ganz abgesehen davon, wollte sie zuerst einmal wirtschaftlich auf einigermaßen sicheren Beinen stehen, bevor sie sich mit größeren Ausgaben belastete. Der Sommer war sehr gut gewesen, aber sie machte sich nichts vor. In der Nebensaison mit weniger Gästen würde es ungleich schwieriger werden, genug Umsatz zu generieren, um die Kosten zu decken. Sie hatte sich zwar in ihren Jahren im Marketing ein kleines Polster erarbeitet, aber das brauchte sie auch, um ruhig schlafen zu können. Für die Organisation der Renovierung war es auch gut, ausreichend Vorlauf zu haben und langfristig zu planen.

Im Moment war Bentje einfach nur froh, dass das Tagesgeschäft in der Frühstückspension relativ reibungslos lief. Gemeinsam hatten sie und Imke ihre erste Saison ganz gut gestemmt. Sie hatten sich auf die Zimmervermietung, Gästebetreuung und alles Organisatorische konzentriert – was für den Anfang schwierig genug gewesen war. Für das Drumherum hatten sie weitere Hilfe bekommen.

Wie Finna das alles ohne Unterstützung geschafft hatte, war Bentje ein Rätsel. Sie hatte das Haus, das Grundstück, den großen Gemüsegarten und den Apfelgarten in Schuss gehalten und nebenbei auch noch die Tiere versorgt. Für die Gäste hatte sie gebacken und immer auch einen persönlichen Service angeboten, wenn jemand einen Ausflug machen wollte und Unterstützung bei der Planung und Buchung benötigte.

Für Bentje wäre es selbst mit Imke an ihrer Seite ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, alles auszufüllen, was Finna vorgelegt hatte. Nicht nur, weil sie auch noch Zeit für ihr Leben jenseits der Arbeit haben wollte. Es war auch körperlich nicht ohne. Der Frühstücksdienst, die tägliche Putzerei der Zimmer und Gastbereiche und der Bürokram waren schon viel. Dazu kam die Wäsche, die Finna auch immer selbst gewaschen und gemangelt hatte. Und das betraf alles nur den Innenbereich. Es gab auch um das Haus herum jede Menge zu tun. Finna war über siebzig. Sie musste Zauberkräfte haben, für einen einzelnen Menschen war das eigentlich unmöglich zu schaffen.

Nur gut, dass es Familie und Freunde gab. In dem von Finna angelegten und liebevoll gepflegten Gemüsegarten legte Bentjes Mutter Dörte regelmäßig Hand an. Bei der Betreuung des wertvollen Apfelgartens hatte Jasper die Führungsrolle übernommen und Bentje davor bewahrt, zur Apfelbaummörderin zu werden.

»Ich hatte keine Ahnung, dass ich mich in einen Apfelbaumflüsterer verliebt habe«, hatte sie neulich gesagt, als sie zusammen die ersten Äpfel der Saison geerntet hatten.

»Tja, ich würde sagen, du ahnst vieles nicht. Warte nur, was ich sonst noch für Geheimnisse in mir trage«, war es prompt von Jasper gekommen. Gefolgt von einem tiefen Blick aus seinen umwerfend blauen Augen und einem zärtlichen Kuss.

Ein heiserer Möwenschrei direkt über Bentje riss sie aus ihren Gedanken. Sie seufzte, und in diesem Seufzen schwang etwas Melancholie, vor allem aber Glück mit. Denn abgesehen von ihrem persönlichen Kampf gegen das Gefühl von Unzulänglichkeit war alles perfekt. Bentje konnte es immer noch nicht fassen, wie grundlegend ihr Leben sich zum Guten verändert hatte.

Natürlich gab es auch in Kiekersum Herausforderungen, und nicht alle Gäste waren angenehm. Wobei der Schnitt durchaus sehr positiv war. Sie hatten in diesem Sommer ein schwieriges jüngeres Ehepaar gehabt, das Bentje mehrfach ermahnen musste, die Nachtruhe einzuhalten. Die beiden waren süß gewesen und freundlich. Aber so frisch verliebt und wild aufeinander, dass das ganze Haus den Spaß mit ihnen teilte. Nach der dritten Nacht mit erotischen Sondervorstellungen hatte Bentje klar kommuniziert, dass sie ihnen bei Wiederholung das Zimmer fristlos kündigen würde. Und dann hatte sie ihnen vorgeschlagen, vielleicht lieber eine Ferienwohnung zu nehmen. Zu ihrer Überraschung waren die beiden tatsächlich darauf eingegangen. Sie hatten eine Wohnung gefunden und sich die letzten zwei Nächte in der Pension sogar zusammengerissen. Sehr zu Bentjes Erleichterung, denn der Schlafmangel hatte ihr zu schaffen gemacht.

Und dann war da diese ältere und überaus zänkische Dame gewesen. Sie hatte an allem herumgemäkelt. Bentje wusste nicht mehr, wie oft sie still auf hundert gezählt und dabei ihre Lippen zum Lächeln gezwungen hatte. Aber selbst an schwierigen Tagen war ihre Position als Pensionswirtin noch immer Welten besser als ihr Alltagsmuff in der Agentur, den sie in Hamburg gelebt hatte. Wie unzufrieden sie gewesen war, hatte sie erst wirklich gemerkt, nachdem sie sich befreit hatte.

Der Wind strich vom Wasser her über sie hinweg und spielte mit ihren Locken. Es kitzelte auf ihrer Haut, und auf den Lippen schmeckte sie einen Hauch Salz. Über dem Meer zogen Möwen ihre Bahnen – immer auf der Suche nach einem kleinen Imbiss. Gerade stieß eine im Sturzflug ins Wasser hinab. Doch so schnell sie auch war, ihre erhoffte Mahlzeit war schneller. Der Möwenschnabel blieb leer.

Genauso leer wie Bentjes Magen, der sich gerade mit lautem Knurren meldete. Sie hätte sich etwas zu essen einpacken sollen. Aber deshalb ihre kleine Auszeit am Meer abbrechen? Nein, dazu hatte sie keine Lust. Da kümmerte sie sich lieber wieder um ihr Strickzeug und genoss es, hier sitzen zu dürfen und die Schönheit der Natur zu genießen. Wenn das Wetter erst kippte, die Herbststürme und der Regen einsetzten, war es erst einmal vorbei mit langen Strickzeiten am Deich. Dann würde es dick eingemummelt Spaziergänge am Wasser entlang geben und hinterher Tee, Kekse und Strickzeug auf dem Sofa, mit dem bollernden Kaminofen, der die Kälte aus den Knochen vertrieb. Auch das konnte wunderschön sein, Bentje freute sich auch auf diese Zeit.

Aber heute wollte sie den schönen Tag ausnutzen bis zuletzt. Ein bisschen würde ihr Magen schon noch warten können. Immerhin gab es nachher eine Belohnung in Form von köstlichem Kuchen.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wunderte Bentje sich nicht mehr über das Magenknurren. Es war schon früher Abend. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Jasper würde sicher auch jeden Moment in die Pension kommen. Falls er sich nicht komplett bei Eike und Randy festgeschnackt hatte. Aber dann hätte er sich vermutlich gemeldet und ihr Bescheid gegeben, dass es mit dem Kuchen doch etwas länger dauerte als erwartet.

Bentje mochte die beiden Nordstrander sehr gern. Sie hatten sich über den Sommer hinweg hin und wieder getroffen. Einmal hatte Bentje sie auch zu einem Grillabend zu sich ins Lüttje Glück eingeladen. Es war ein lustiger Abend gewesen. Randy war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, der mit großem Vergnügen seine Zuhörer unterhielt und zum Lachen brachte. Er und Jasper hatten sich auf einer gemeinsamen Baustelle kennengelernt.

Vor ein paar Jahren hatten Randy und Eike ein Ferienhaus mit drei Wohnungen am Süderhafen gekauft. Nach und nach hatten sie das Haus am Meer renoviert. Die meisten Arbeiten konnte Randy selbst erledigen, er war ein versierter Handwerker. Bei den Holzarbeiten hatte Jasper ihn hin und wieder unterstützt.

Da Bentje so gar keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, schrieb sie Jasper eine Nachricht.

Moin, Liebling. Falls du mich suchst, ich bin am Deich, ein Stück links vom Lüttje Glück. Es ist so schön, ich möchte noch ein wenig bleiben. Geh einfach meinem Magenknurren nach, dann findest du mich ;-) Und bring bitte den Kuchen mit.

Ich liebe dich! Bentje

Kapitel 2

Bentje

Morsches Gebälk

Der frühe Abend am Meer war traumhaft schön. Der Wind, der über ihre Locken und die Haut strich, war für norddeutsche Verhältnisse noch angenehm warm. Für alle Fälle hatte sie auch einen Pullover dabei, sie konnte also entspannt noch eine Weile den Strand genießen.

Bentje löste ihren Blick vom Wasser. Sie nahm das Strickzeug wieder hoch und unterzog die Socke, an deren Fuß sie gerade arbeitete, einem prüfenden Blick. Das sah sehr gut aus. Die Muster passten, wie sie gehofft hatte, perfekt zusammen.

Sie hatte die Woolly Hugs Merino Silk Socks in der Farbe Bordeaux auf der Nadel. Eine edle Wolle, die sie sehr gern verstrickte. Auch wenn es eine Sockenwolle war, hatte sie damit auch schon Tücher, Oberteile und Accessoires gestrickt. Abgesehen davon, dass sie die Wolle mochte, fand sie den Gedanken auch schön, dass eine starke Frau diese Marke ins Leben gerufen und großgemacht hatte. Veronika Hug hatte es geschafft, ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Vielleicht würde sie sogar eines Tages als Gast zu einer von Bentjes Strickwochen kommen und einen Workshop anbieten. Die Idee fuhr wie ein Blitz durch Bentje und machte sie atemlos.

Im ersten Moment wollte sie es als zu hoch gegriffen abtun, aber dann bremste sie sich. Wieso eigentlich nicht? Wenn das wirklich so erfolgreich wurde, wie es gerade den Anschein hatte, war vielleicht auch so etwas irgendwann möglich.

»Eine Masche nach der anderen«, murmelte Bentje und atmete ein paarmal tief ein und aus, um wieder ruhig zu werden. Dann kontrollierte sie die Länge der Socke und nickte zufrieden. Nur noch ein paar Zentimeter, dann konnte sie zur Farbe Curry wechseln und die Abnahmen für die Bändchenspitze beginnen.

Normalerweise wäre das ruckzuck gestrickt, doch bei dem Design, das sie sich ausgedacht hatte, dauerte es deutlich länger als bei anderen Socken. Genau genommen doppelt so lange, denn sie strickte eine Kombination aus Vollpatent und Webmuster, musste also jede Reihe zweimal arbeiten, weil sie immer nur jede zweite Masche strickte. Die Idee dazu hatte sie bei einem Spaziergang gehabt.

Es brauchte zwar etwas Geduld, aber sie freute sich sehr, dass der Plan mit der Musterkombination aufging. So hatte sie für ihr erstes Strickevent ein besonderes Angebot für ein Knit along, einen Kal. Das war unter Strickenden eine weitverbreitete Bezeichnung für gemeinsame Strickzeit, bei der alle zusammen das Gleiche strickten. Manchmal taten sich Strickende online in Foren, Gruppen oder Chats zusammen. Oft gab es solche Kals aber auch an einem realen Ort, wo man zusammenkam und gemeinsam das Stricken und das Leben feierte. Bei Strickwochenenden, Strickwochen oder auch Strickreisen waren die Plätze begehrt und oft sehr schnell ausgebucht. Die Idee, selbst Strickevents anzubieten, hatte sie sofort gehabt, als es darum gegangen war, ob sie die Pension übernehmen wollte. Das war einer der Punkte gewesen, der sie überhaupt dazu gebracht hatte, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Stricken war seit ihrer Kindheit Teil ihres Lebens gewesen. Ihre Großmutter hatte es ihr beigebracht. Die Erinnerung an damals, an die gemeinsame Strickzeit mit ihrer Oma, war für Bentje besonders wertvoll. Wie erhofft, hatte sie bei ihrer ersten Küstenzauber-Strickzeit nun gerade selbst erlebt, wie gefragt solche Angebote waren.

Ganz abgesehen von ihren eigenen Plänen für das Lüttje Glück wollte Bentje selbst unbedingt auch an einer speziellen Strickreise teilnehmen. Na ja, oder lieber gleich an zwei oder drei. Es gab seit einiger Zeit ein Angebot, das nannte sich Stricken und Meer. Da versammelten sich Strickende im Herbst und Frühjahr auf den regulären Fähren nach Helsinki, Island und Schottland. Es gab gemeinsame Strickzeit, Workshops, Vorträge, Lesungen aus Romanen rund um das Stricken und auch Landausflüge. Wenn nichts dazwischenkam, wollte Bentje zusammen mit Imke im nächsten Frühjahr an der Fahrt nach Island teilnehmen, und das Jahr darauf würde das mit Helsinki oder Schottland vielleicht klappen.

Imke zierte sich noch ein bisschen, weil sie nur rudimentäre Strickkenntnisse hatte und das eigentlich auch nicht ändern wollte. Aber Bentje war zuversichtlich, dass sie die Meinung ihrer Freundin bis dahin noch ändern konnte. Sie würde Imke das Glück der Maschen näherbringen, das hatte sie seit Jahren vorgehabt und war an ihrer beider Alltag immer wieder gescheitert. Aber jetzt, hier zusammen im Lüttje Glück, gab es keine Ausreden mehr.

Der Faden war bei Imke längst um die Nadel gelegt, da war Bentje ziemlich sicher. Immerhin war sie Feuer und Flamme für die Küstenzauber-Strickzeit. Und sie war von Natur aus neugierig und hatte Spaß daran, neue Dinge zu lernen. Vermutlich hatte sie Nadeln und Wolle in den Händen, bevor sie überhaupt merkte, wie ihr geschah.

Im Moment allerdings oblag alles rund um das Stricken noch Bentje. Sie hatte für ihre erste Veranstaltungswoche ein kleines Tuch entwerfen wollen und mehrere Versuche gestartet. Aber irgendwie war der Funke nicht übergesprungen. Stattdessen hatten sich diese mollig dicken Patentsocken vom ersten Aufblitzen der Idee in ihr Herz geschmuggelt und sich dort festgestrickt. Sie hatte gar nicht anders können, als sich dafür zu entscheiden. Diese erste Strickwoche hatte deshalb das Motto Patente Socken. Ein Tuch konnte sie bei einem der nächsten Events anbieten. Vorausgesetzt, dass alles klappte und es weitere Veranstaltungen dieser Art geben würde.

Ein Geräusch erregte Bentjes Aufmerksamkeit. Sie hob den Blick. Maila stürmte in großen Sprüngen über die Wiese auf sie zu und begrüßte sie gleich darauf überschwänglich.

Glücksfiepend tänzelte sie um Bentje herum. Dabei wedelte sie wild mit dem Schwanz. Es war ganz klar, sie hatte die Freundin ihres Herrchens als ihr Frauchen im Rudel akzeptiert. Nach der dritten Umrundung versuchte die vor Wiedersehensfreude bebende Hündin, Bentje auf den Schoß zu klettern. Die lachte und konnte gerade noch ihr Strickzeug in Sicherheit bringen, bevor der Hundepopo sich auf ihr niederließ. Als Maila Anstalten machte, ihr auch noch die Vorderpfoten auf die Schultern zu legen, schnappte Bentje sich die Hündin. Sie legte die Arme um sie und drückte sie besänftigend an sich.

»Hey, mein süßer Wirbelwind! Na, hattest du einen schönen Tag auf Nordstrand?«

Während sie mit ihr sprach, streichelte sie mit kräftigen Strichen über das weiche Fell. Dabei hielt sie Maila so gut es ging davon ab, ihr das Gesicht zu küssen, was gar nicht so einfach war. Bentje lachte, als die Hundezunge ihr trotz aller Gegenwehr über die Wange fuhr. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite. »Schon gut, beruhige dich. Ich habe dich ja auch vermisst. Aber friss mich nicht. Pass auf, ich habe was Besseres für dich. Möchtest du ein Feini?«

Sofort stellte Maila ihre Kussattacken ein und spitzte die Ohren. Bentje kramte Hundesnacks aus der Tasche ihrer Jeans hervor.

Seit es Maila in ihrem Leben gab, hatte Bentje in sämtlichen Taschen Leckerchen versteckt. Sie schob die Küsserin ein Stück von sich weg, streckte den Zeigefinger aus und sagte mit fester Stimme: »Sitz!«

Zack. Die Labradoodlehündin saß wie eine Eins. Ihr wedelnder Schwanz fuhr von einer Seite zur anderen über das Gras. Bentje amüsierte sich.

Mit dem richtigen Anreiz klappten Gehorsamsübungen mit Maila immer prompt. Natürlich bekam die brave Hündin ihre Belohnung. Das Ablenkungsmanöver funktionierte gerade mal ein paar Sekunden. Schon machte sie wieder Anstalten, Bentje zu bestürmen. Die war allerdings darauf gefasst und reagierte schnell. Schließlich kannte sie Maila inzwischen ganz gut. Bevor sie wieder aufdrehen konnte, gab Bentje ihr den nächsten Befehl. »Platz, Maila.«

Auch das klappte. Die Hündin lag und ließ Bentje nicht aus den Augen. Die streckte ihr die Belohnung hin, und Maila schmatzte.

Wenn es nach dem aufgeregten Fellbündel ging, konnten sie das Spiel noch eine ganze Weile treiben. Aber Bentje hatte andere Pläne. Sie streichelte Maila liebevoll unter dem Kinn und sagte: »Bleib.«

Dabei achtete sie auf eine feste Stimme. Maila hatte ein besonderes Gespür für Unentschlossenheit. Wenn bei einem Kommando auch nur ein Hauch Unsicherheit mitschwang, nutzte die Hündin das sofort aus und nahm den Befehl nicht ernst. Solche Kommandos waren für sie eher Diskussionsvorlagen. Sie konnte gehorchen oder auch nicht – je nach Lust und Laune.

Nachdem Bentje das flauschig weiche Hundemonster bezwungen und etwas zur Ruhe gebracht hatte, drehte sie sich so, dass sie Jasper entgegensehen konnte. Er kam über die Wiese auf sie zu und war schon fast bei ihr.

»Als ich aus dem Auto ausstieg, hörte ich ein dumpfes Grollen. Ich dachte, es zieht ein Gewitter auf. Dann wurde mir klar, dass das dein Magen sein muss«, sagte er zur Begrüßung und grinste sie lausbübisch an.

Sein warmer Blick löste ein wohliges Kribbeln in Bentje aus. Wie sehr sie diesen Mann doch liebte! »Ich glaube, da hat noch jemand mächtig Hunger«, konterte sie. »Maila hat gerade versucht, mich mit Haut und Haaren zu verschlingen.«

»Sie hat eben einen guten Geschmack«, gab Jasper zurück. »Ich kann sie verstehen, der Gedanke ist mir auch bereits das ein oder andere Mal in den Sinn gekommen. Du bist eben zum Anbeißen süß.« Sein Lächeln vertiefte sich. Dann hob er den Korb hoch, den er in der Hand hatte. »Apropos Anbeißen. Deine Rettung ist da.«

»Gerade noch rechtzeitig!«

Jasper stellte seine Fracht ab. Bentje warf einen Blick hinein, es sah vielversprechend aus. Sie entdeckte eine Flasche und ein großes Kuchenpaket.

Doch viel Zeit blieb ihr nicht, die Köstlichkeiten zu inspizieren. Schon beugte Jasper sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf ihre gespitzten Lippen, bevor er sich neben ihr auf die Decke fallen ließ.

Maila winselte. Sie hatte am Ufer ein paar Möwen entdeckt, die im angespülten Seegras nach Futter suchten. Mit einem fragenden Blick wandte Bentje sich Jasper zu. Der zuckte mit den Schultern und nickte. »Von mir aus«, bekräftigte er seine Körpersprache auch noch verbal.

»Na los«, gab Bentje Maila daraufhin wieder von dem vorherigen »Bleib« frei. »Lauf und amüsiere dich.«

Schon sauste die Hündin los. Sie jagte bellend auf das Wasser zu und machte sich einen Spaß daraus, die Möwen ein bisschen zu scheuchen. In übermütigen Sätzen sauste sie am Ufer entlang. Doch statt wie sonst sofort ins Wasser zu springen, sah Maila zwischendurch immer wieder zu ihren Menschen hinüber.

Bentje stutzte. »Was ist denn …?« Aber schon während sie noch die Frage formulierte, wurde ihr die Antwort klar. »So eine Schlawinerin.« Dann lachte sie und schüttelte den Kopf. Natürlich hatte die Hündin mitbekommen, dass in dem Korb etwas zu essen war. »Von meinem Kuchen gebe ich aber nichts ab, das kannst du vergessen«, rief sie.

Offensichtlich hatte Maila etwas anderes verstanden. Sie kam angetrabt und legte sich dicht an Bentje heran. Ihren Kopf bettete sie auf deren Oberschenkeln. Sie ließ ihr Frauchen nicht aus den Augen.

Bentjes Bauch gab wieder ein lautes Knurren von sich.

»Oha, jetzt wird es wirklich Zeit«, kommentierte Jasper. »Nur einen Moment!«

Er faltete das Papier auseinander und reichte Bentje gleich darauf ein Stück Kuchen auf einem Pappteller und eine Holzgabel dazu.

»Ui, das sieht aber gut aus. Danke schön!« Bentje ließ sich nicht viel Zeit, das Stück Käsesahnetorte mit Himbeeren zu bewundern. Gierig stach sie mit der Gabel in die weiche Masse hinein. Der erste Bissen wanderte in Bentjes Mund und entfaltete dort seinen Zauber. »Hmm!« Vor Wonne verdrehte sie die Augen. »Köstlich. Fruchtig, ein bisschen Säure und nicht zu süß. Perfekt.« Schon folgte der nächste Happen.

Maila leckte sich mit der Zunge über die Nase. Es fiel ihr schwer, aber Bentje ignorierte den bettelnden Hundeblick. Sie und Jasper versuchten, während sie selbst aßen, Maila nichts zuzustecken, damit ihr Betteln nicht überhandnahm. Sie bekam sowieso schon zu viel nebenbei. Frauke, die Tierärztin, hatte sie gewarnt, dass die Hündin zu dick werden würde, wenn sie sich nicht bremsten oder mit mehr Bewegung gegensteuerten.

Auch Jasper beobachtete Bentje. Allerdings ohne ihr die Torte zu neiden. »Dann scheint meine Wahl ja zu passen«, stellte er zufrieden fest. Bentje sah ihm die Freude darüber an, dass er ihren Geschmack getroffen hatte. »Für den Fall der Fälle – ich wusste ja nicht, wie hungrig du bist – habe ich noch Käsemohnkuchen, eine Schokotorte und ein Stück Hefegebäck mitgebracht. Du kannst dich also satt essen.«

»Mpf. Jetzt weiß ich wenigstens, wie du mich einschätzt«, protestierte sie. »Du hältst mich für einen Vielfraß.«

»Was du wieder denkst.« Jasper grinste. »Ich möchte, dass es dir gut geht, und verwöhne dich einfach gern, das ist alles.« Er beugte sich zu ihr hinüber und wischte mit dem Daumen etwas Sahne von ihrer Lippe. Er sah ihr fest in die Augen, während er ganz langsam die Sahne von seinem Finger schleckte. Nicht für eine Sekunde unterbrach er dabei den Augenkontakt.

Bentje bekam Gänsehaut. Sie sah ihm an, dass er genau wusste, was er mit ihr anstellte.

Dieser Moment verdichtete sich. Die Schafe, die um sie herum weit verstreut auf dem Deich standen und lagen, nahm Bentje nur noch wie durch einen Filter wahr. Genau wie das Blöken, das sich hin und wieder in das Rauschen von Wind und Wasser mischte. Jasper hatte sie hypnotisiert.

Bentje stellte den Pappteller mit dem Kuchen zurück in den Korb. Sie nahm Mailas Kopf von ihren Oberschenkeln und platzierte ihn auf der Decke. Dann beugte sie sich zu Jasper hinüber und legte ihre Arme um ihn.

»Hattest du nicht furchtbar viel Hunger?«, fragte er, und sie sah am vergnügten Funkeln in seinen Augen, dass er sie necken wollte.

»Und wie«, flüsterte Bentje. »Ich verhungere gleich.« Sie legte ihre Lippen auf seine. Jasper zog sie fest in seine Arme.

»Dann sollten wir dringend etwas dagegen tun«, murmelte er ganz dicht an ihrem Mund.

Seine Stimme klang rau. Das Spiel hatte sich gedreht, jetzt hatte Bentje die Macht, ihn zu necken. Sie knabberte an seiner Unterlippe und spürte den Schauer, der durch Jasper lief. Sie küsste ihn. Erst flüchtig, doch der Kuss wurde schnell tiefer. Bentje fuhr mit einer Hand in Jaspers Haare.

»Hey«, kam ein Ruf über den Deich geschmettert und ergoss sich eiskalt über Bentje.

»Mist«, murmelte sie und legte ihre Stirn an Jaspers Schulter. Sie brauchte kurz, um ihre Fassung wiederzufinden.

»Tut nichts, was ich nicht auch tun würde!« Imke marschierte in flottem Schritt heran. »Tut mir leid. Ich habe ein Händchen für schlechtes Timing. Soll ich noch mal gehen?«, fragte sie.

Das vergnügte Funkeln in Imkes Augen sah Bentje sehr wohl. Ihre Freundin versuchte erst gar nicht, ihr amüsiertes Grinsen zu verbergen. Doch dann wurde ihre Miene ernst. »Es tut mir echt leid, aber um ehrlich zu sein, gibt es einen triftigen Grund für meine Störung.«

»Setz dich zu uns«, forderte Jasper sie auf. »Ich habe Kuchen im Korb.«

»Genial. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich schon eher gekommen.« Imke begrüßte kurz Maila. Dann inspizierte sie die Kuchenauswahl und griff zu. Sie entschied sich für die Schokoladentorte.

»Was ist das denn für ein Grund?«, wollte Bentje nun wissen. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengrube.

»Ach so. Ja. Also hör mal, ich weiß ja, dass du mit dem Renovieren des Dachgeschosses noch ein wenig warten wolltest«, sagte Imke. Dann stoppte sie und nahm einen Bissen von ihrer Torte. Sie konzentrierte sich auf das Essen.

»Und?«, drängte Bentje ungeduldig. Manchmal konnte Imke einem echt den Verstand rauben.

»Ich war gerade oben, um zu duschen. Als ich lüften wollte, ist mir das Fenster entgegengekommen.«

Bentje sog erschrocken die Luft ein.

Doch Imke beruhigte sie. »Keine Bange, meine Reaktionszeit ist astrein. Es ist nichts weiter passiert. Ich habe das Fenster aufgefangen und mithilfe von Karton und Klebeband provisorisch befestigt. Also für den Moment Entwarnung. Vielleicht lässt sich das auch irgendwie flicken. Aber willst du die Renovierung echt noch länger aufschieben? Denk nur mal an die horrenden Heizkosten, die durch die schlechte Isolierung entstehen. Das wäre Geld, das du stattdessen in die Renovierung stecken könntest.«

»Was genau ist denn mit dem Fenster?«, fragte Jasper.

»Ich als Nicht-Fachfrau würde sagen, das Holz ist einfach durch und durch morsch. Ich habe mir den Rahmen mal genauer angesehen. Auweia. Wenn man nur zu fest hinsieht, bröckelt es schon.«

»Das ist allerdings blöd, wenn auch nicht ganz überraschend. Wir wussten ja, dass es früher oder später gemacht werden muss. Ich muss mir das ansehen, um zu sagen, ob ich da noch etwas reparieren kann. Ich vermute eher, dass es auf einen Fensteraustausch hinausläuft. Aber ob das in der jetzigen Situation wirklich sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln. Wenn wir in zwei Jahren dann alles machen und auch neu dämmen, müssen wir das Fenster auch noch mal erneuern. Du wolltest an der Stelle ja vielleicht eine Gaube, um das Bad etwas zu vergrößern. Das wären dann unnötige zusätzliche Kosten. Wenn du mich fragst, wäre vielleicht doch jetzt der richtige Zeitpunkt, um alles gleich richtig in Angriff zu nehmen. Wenn es gut läuft, sind wir vor dem Winter fertig.«

»Zumal in meinem Zimmer der Boden an zwei Stellen ebenfalls schon morsch ist. So richtig Spaß macht das nicht«, sprang Imke Jasper bei. »Ich habe mir schon eine Socke ruiniert, weil ich hängen geblieben bin.«

Der Kuchen in Bentjes Bauch hatte sich in einen Betonklotz verwandelt, der jetzt drückte. Musste dieses Fenster ausgerechnet jetzt kaputtgehen?

»Verflixt. Das ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Übermorgen beginnt unsere Strickzeit. Ich kann den Gästen doch keinen Baulärm zumuten.«

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