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Die kleine Bäckerei der Träume

Als Buch hier erhältlich:

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Zu viele Köche verderben die Liebe?

Willkommen zurück in der Perdita Street, neben der Buchhandlung zum Glück!

Jerome »Sugar« Barnes hat die Kunst des Backens in der Bäckerei seiner Großmutter erlernt – doch plötzlich muss er sich seine Küche mit Margot Salton teilen, einer Grillmeisterin aus Texas. Für sie erfüllt sich endlich ihr größter Traum: ein Restaurant weit, weit entfernt von ihrer Heimat. Zwischen Margot und Jerome knistert es gewaltig, obwohl ihre Leben bis zu diesem Punkt nicht unterschiedlicher hätten sein können. Doch gerade als Margot beginnt, Jerome in ihr Herz zu lassen, wird klar, dass sie ihre Vergangenheit nicht so einfach verdrängen kann …


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904006

Leseprobe

Für meinen Bruder Jon,
den Künstler der Familie und unser aller Inspiration.
Ich liebe dich über alles.

PROLOG

San Francisco 2019

Margot Salton fragte sich, ob sie diesen Moment irgendwie einfangen und für immer bewahren konnte. Jedes Detail in Bernstein einschließen. Für die Ewigkeit konservieren, wie ein Andenken, das sie herausnehmen und in der Hand halten könnte, wenn sie wollte. Denn es war einer dieser seltenen Momente, den sie niemals vergessen wollte.

Der Mann, den sie liebte, saß im Publikum, zusammen mit der Familie, die zu haben sie nie gedacht hätte. Und noch immer konnte sie nicht ganz glauben, dass sie sie wirklich verdient hatte. Ihr Herz schmolz bei seinem Anblick dahin – selbstbewusst, strahlend vor Stolz. Sie war sich nicht sicher, womit sie ihn verdient hatte. Freunde waren da und Gratulanten, Kollegen und Kunden, Kritiker und Bewunderer. Alle waren versammelt, um ihren Erfolg zu feiern.

Vielleicht war es nicht der größte Moment in ihrem Leben – der blieb natürlich in der Vergangenheit vergraben –, aber es fühlte sich groß an, vielleicht zu groß für jemanden wie sie, ein Mädchen, das aus einer Welt voller Geheimnisse und Schwierigkeiten kam.

Nach all dem, was sie bis an diesen Punkt gebracht hatte, war sie nicht leicht zu erschrecken. Dennoch war die Vorstellung beängstigend, dass all ihre Träume – und einige Dinge, von denen zu träumen sie nicht einmal gewagt hatte – endlich auf magische Weise wahr wurden. Doch wie alles Magische fühlten sich auch ihre Träume extrem flüchtig an. Als könnten sie beim leisesten Windhauch verwehen.

Bis vor Kurzem hatte sie nicht zu den Menschen gehört, denen Gutes widerfuhr. Sie war immer noch dabei, sich an das milde Lächeln des Glücks zu gewöhnen.

Um ihren Hals hing ein breites buntes Band mit einer schweren Medaille, die bei jeder Bewegung gegen ihre Brust stieß. Die Medaille war fast peinlich auffällig, aber als jüngste Empfängerin des Divina Award, einer der höchsten Auszeichnungen des Landes für Köche und Köchinnen, trug sie sie mit Stolz. Die Auszeichnung war für Margot von ganz besonderer Bedeutung, denn sie würdigte nicht nur ihr Können und ihre Vision einer Gastronomin, sondern auch ihren Umgang mit den Mitarbeitern und ihren Beitrag zum Gemeinwohl.

Trotzdem – eine Medaille? Im Ernst? Eine Medaille sollte eine heldenhafte Tat honorieren, und sie war keine Heldin. Trotzdem gehörte dieser Moment ihr. Das Kochen hatte sie gerettet. Das Bücherlesen hatte sie gerettet. Wilde Entschlossenheit hatte sie gerettet. Sie hatte sich den Hintern aufgerissen, um hier zu stehen.

Und endlich hatten es die richtigen Leute bemerkt. Der Applaus und der Jubel wurden lauter, als sie vom Podium herabstieg. Kameras blitzten, und die Leute hielten ihre Handys hoch, um diesen Moment festzuhalten. Besondere Aufmerksamkeit galt ihren charakteristischen Cowboystiefeln. Unter glitzernden Lichtern durchquerten Kellner den Bankettbereich im Freien, ihre Tabletts beladen mit ihren besten Amuse-Bouches und leckeren Häppchen, Sektflöten und Gläsern mit Lavendel-Limonade.

Nach den obligatorischen Fotos machte sie sich auf den Weg zurück zu einem Grüppchen Gratulanten, die sie mit einer Flasche Champagner in einem Eiskübel erwarteten.

Sie verteilte Umarmungen und High Fives, während sie sich den Weg durch eine größere Gruppe bahnte – ihre Investoren von der Privé Group, die ihr eine Chance gegeben hatten. Die Geschäftsführer und Souschefs, die Köche, Barkeeper und Kellner, die alle einen Anteil an ihrem Erfolg hatten, waren da, um sie zu feiern. Gastrojournalisten und Blogger, selbst die Skeptiker, die ihr den Erfolg nicht zugetraut und ihr damit eine Menge nervöser Verdauungsstörungen beschert hatten, erhoben nun ihre Gläser und strahlten vor Begeisterung.

Sie blieb für ein weiteres Foto mit Buckley DeWitt stehen, einem leitenden Autor und Redakteur des Texas Monthly. Er war der erste Journalist gewesen, dem sie aufgefallen war, als er vor Jahren noch als freier Mitarbeiter für die Zeitschrift gearbeitet hatte. Er hatte einen beachtlichen Körperumfang und sich den Ruf erworben, Kenner der besten Barbecues im Lande zu sein. Er war der Einzige, der sie aus ihrem anderen Leben kannte.

Er lehnte sich dicht zu Margot hinüber und sagte leise: »Wir müssen reden. Es geht um Jimmy Hunt.«

Allein bei der Erwähnung dieses Namens gefror ihr das Blut in den Adern. »Ich habe dir bereits alles erzählt, und du hast es veröffentlicht«, erwiderte sie. »Mehr habe ich über Hunt nicht zu sagen.«

»Aber …«

»Nichts aber, Buckley. Ich bin damit durch.« Mit diesen Worten fasste sie sich wieder und wandte sich ab, um weitere Gäste zu begrüßen. In Wirklichkeit würde sie nie ganz abgeschlossen haben mit ihrer Vergangenheit, aber sie hatte beschlossen, nur noch nach vorn zu blicken.

Eine unbekannte Frau winkte und schlängelte sich durch die Menge, als wäre sie besonders daran interessiert, mit ihr ins Gespräch zu kommen. In der einen Hand hielt sie eine Menükarte, in der anderen einen braunen Umschlag und einen Permanentmarker. Sie passte nicht so recht zu der Gästeschar aus ernsthaften Bürgervertretern, tätowierten Küchenhilfen und Lebensmittelhändlern aus der Perdita Street. Diese Frau trug abgewetzte Jeans und schmutzige Sneakers. Sie hatte langes, glattes Haar mit grauen Strähnen. Finger und Zähne waren nikotingelb.

Voller Energie stürmte sie nach vorne und schenkte Margot ein übermütiges Lächeln, das nicht ganz zu dem harten Ausdruck in ihren Augen passte.

»Margie Salinas?« Sie ließ es wie eine Frage klingen.

Margot hielt inne, so ungewohnt war es für sie, den Namen zu hören. Sie legte die Stirn in Falten und blickte von links nach rechts. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Entschuldigung, wie bitte?«

»Margie Salinas alias Margot Salton«, erwiderte die Frau.

Margot hatte diesen Namen seit Jahren nicht mehr gehört. Sie hätte nie gedacht, dass sie ihn je wieder hören würde. Sie wollte ihn nie wieder hören.

Die Welt drehte sich langsamer. Die Geräusche der Menge dröhnten in ihren Ohren und verblassten dann zu einem dumpfen, undefinierbaren Gemurmel. Sie konnte eine Reihe winziger Details deutlich erkennen – die prächtige Kulisse mit Blick auf die Bucht, die funkelnden Lichter, die üppig gedeckten Tische, die lächelnden Gesichter –, all die Dinge, die sie für immer in ihrem Herzen bewahren wollte. Dann verschmolz all das mit einem Wimpernschlag zu dem unbehaglichen, unbekannten Gesicht vor ihr.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte sie.

Die Frau reichte ihr den Briefumschlag, drückte ihn ihr regelrecht in die Hand. »Sie sind vorgeladen.«

Teil Eins

Feder_GGP

Ich rede immer vom Kochen und davon, was es für unser Leben und unsere Stimmung bedeutet.
Welche Kraft der Ruhe es angesichts des Fremden ist.
Es ist eine Tätigkeit, die man mit den Händen ausübt und die einen dazu zwingt, anders zu denken, als wenn man das tut, womit man sein Geld verdient oder seine Tage ausfüllt.
Kochen hilft, das Gehirn für eine Weile abzuschalten.
Kochen erlaubt es einem zu heilen.

– Sam Sifton

1

San Francisco 2017

Das richtige Verhältnis von Zucker und Salz war das Geheimnis der perfekten Grillsoße. Wenn es um Grillsoße ging, hatte natürlich jeder seine Meinung zur perfekten Kombination aus Säure, Aromen, Früchten und Gewürzen – das unbeschreibliche umami –, die jeden Bissen so befriedigend machte.

Aber Margot Salton wusste mit absoluter Sicherheit, dass alles mit Zucker und Salz anfing. Sie hatte sogar ihren Verkaufsschlager danach benannt: SUGAR+SALT. Diese Soße war ihre Superkraft. Ihr Geheimnis. Ihr Vorratsvermögen. Als sie nichts besessen hatte – kein Zuhause, keinen Schulabschluss, keine Familie, kein Geld –, hatte sie die mächtige Alchemie der Aromen kreiert, die erwachsene Männer zufrieden aufstöhnen, disziplinierte Frauen ihre Diät vergessen und skeptische Gourmets um mehr betteln ließ.

Es war ein weiter Weg gewesen, angefangen bei den bescheidenen, in der eigenen Küche abgefüllten Gläsern, mit denen sie in Texas begonnen hatte. Mittlerweile entwarfen ein Markenexperte und ein Designer das Label und die Verpackung, was für einen hochwertigen, unverwechselbaren Look sorgte. Und an diesem Tag achtete sie besonders sorgfältig darauf, dass die Geschenkverpackungen der Proben makellos aussahen, denn alles hing von dem heutigen Meeting ab. Und Margot wusste, dass ein gutes Sample die beste Visitenkarte der Welt war.

Heute war der große Tag. Sie hoffte darauf, heute ihr ultimatives Ziel zu erreichen: die Eröffnung ihres eigenen Restaurants.

Der Name des Lokals war Salt, ein Wort, das genauso clean und schlicht war wie die Substanz selbst. Sie war sich der Misserfolgsquote bei Restaurantgründungen schmerzlich bewusst und hatte sich bemüht, keine Anfängerfehler zu machen. Sie hatte sich nach Aufträgen umgesehen und Kurse am City College belegt. Sie hatte Praktika absolviert und an Pop-ups und Wettbewerben teilgenommen, um zu zeigen, was sie draufhatte. Sie hatte alles über das Business gelernt – angefangen beim kleinsten Kochutensil in der Küche bis zur kreativen Gestaltung von Speisekarten.

Es würde nicht einfach werden. Nichts, was sich wirklich lohnt, ist einfach – so lautete doch das Sprichwort. Sie fragte sich, warum es so sein musste. Wieso konnte etwas nicht einfach und lohnenswert sein?

Noch nie zuvor hatte sie härter gearbeitet, und noch nie zuvor hatte sie es mehr geliebt. Die scheinbar endlose Arbeit belastete sie keineswegs. Ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie für sich selbst gesorgt, hatte sich kaum eine Verschnaufpause gegönnt, so fest entschlossen war sie gewesen, sich selbst einen Platz im Leben zu schaffen. Jetzt, nach Jahren der Planung, der Vorbereitung, des Zahlenjonglierens und des Schwankens zwischen Euphorie und Angst, war sie bereit.

Während sie sich in dem empfohlenen Business Casual-Dresscode kleidete – maßgeschneiderte schwarze Hose, weiße Seidenbluse, taillierter Blazer – überkam sie das große Nervenflattern. Es war nicht ihr erster Pitch vor potenziellen Investoren.

Mehrere private Finanziers hatten ihre Idee bereits abgeschmettert. Das Essen hat fünf Sterne, aber das Konzept ist schwach. Das Konzept ist gut, aber das Menü nicht überzeugend. Der Businessplan ist mangelhaft. Das Fleisch ist zu salzig. Nicht salzig genug. Wir brauchen in Kalifornien keinen texanischen Toast.

Mit jeder Niederlage war ihre Entschlossenheit nur noch größer geworden. Vielleicht war dafür die Tortur verantwortlich, die sie in Texas durchgemacht hatte. Wer so etwas überstand, überlebte alles.

Heute würde es anders werden. Ein Alles-oder-nichts-Meeting. Daran musste sie glauben.

Ihre edlen Schuhe – ein Sensationsfund in einem Sozialkaufhaus – waren unbequem, aber man hatte ihr geraten, sich als Profi zu präsentieren, um in ihren Investoren Vertrauen zu wecken. Keine Aufschneiderei. Business Casual. Gut aussehen. Die Regeln befolgen.

Margot machte einen Schritt zurück und betrachtete sich im Spiegel. Messerscharfe Bügelfalten in der Hose, die blonden Haare von einem Friseur gestylt, den sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte. »Was denkst du, Kevin?«, fragte sie.

Ihr hübsch getigerter Kater gähnte und leckte sich eine Pfote.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich fühle mich wie eine Hochstaplerin. Verdammt. Ich bin eine Hochstaplerin.« Kurz nach ihrem Umzug nach San Francisco hatte sie ihren Namen geändert. Die neue Identität passte so gut zu ihr, dass es ihr manchmal gelang, Margie Salinas komplett zu vergessen. Als wäre diese Person eine ehemalige Mitschülerin, die irgendwann weggezogen war.

Dann wieder wachte sie mit panischer Angst auf, verfolgt von Albträumen, und das Mädchen, das sie einst gewesen war, kehrte zurück, um sie zu jagen. Sie war zurück in Margies Haut und fühlte sich wie in einem Kokon gefangen, aus dem sie sich nicht befreien konnte, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Sie hatte in einem Buch gelesen, dass die Vergangenheit niemals so richtig vorbei war. Dass sie einen immer irgendwie begleitete. Selbst nach zehn Jahren traf das noch zu. Wie viel Zeit auch vergangen war, der Kummer kam und setzte sich in ihren Poren fest, ohne jede Chance, ihn wieder auswaschen zu können. Noch immer kämpfte sie mit der Traurigkeit, die diese merkwürdigen Momente umgab, in denen sie an jenes andere Leben dachte.

Manchmal konnte sie nur noch versuchen, sich nicht in Gedanken darüber zu verlieren, was sie zurückgelassen hatte – und warum sie es getan hatte. Und trotzdem grübelte sie. Obwohl sie sicher war, dass es die beste Entscheidung gewesen war, die sie unter wirklich entsetzlichen Umständen hatte treffen können, haderte sie mit sich.

Meistens überstand Margot diese Momente recht gut und lebte ihr Leben weiter, ohne jemandem aus ihrer neuen Welt einen Blick in ihre Vergangenheit zu gewähren. Ihr altes Leben aufzugeben, hatte genauso wehgetan wie das Trauma, das diesem Schritt vorausgegangen war, wenn auch auf andere Art. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, ganz dicht bei der einen und einzigen Sache zu bleiben, die sie fest mit dem Boden verankerte. Aber nein. Angesichts der Umstände und der Größe und Reichweite ihrer Ambitionen war Weitergehen die einzig brauchbare Option gewesen.

Ihre Seele wehrte sich dagegen, sich einfach in ihr Schicksal zu fügen. Und so hatte sie sich aufgerappelt und ihren Namen geändert. War umgezogen. Hatte ihren Therapeuten gewechselt. Ihre Freunde. Alles bis auf ihre Katze. Sie war ein Ass im Aikido und konnte jeden Gegner abwehren – mit Ausnahme der Geister. Obwohl die Vergangenheit ihr heimlich folgte und sich ungefragt in ihr Bewusstsein stahl, gelang es ihr für gewöhnlich, sich mit laserscharfer Intensität auf ihren Neuanfang zu fokussieren.

Dass sie die verwegene Idee gehabt hatte, in einer der teuersten Städte Amerikas ein Grillrestaurant zu eröffnen, schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie hatte sich selbst einen großen Vertrauensvorschuss gewährt und die Kraft gefunden, daran zu arbeiten, ihren Traum zu verwirklichen.

Und dennoch bohrte sich der Stachel der Versagensangst in ihr Herz. Wie kam sie dazu, zu denken, dass das heutige Meeting anders verlaufen würde als all die anderen?

Verdammt. Die Regeln zu befolgen, war immer nur nach hinten losgegangen.

Aus einem Impuls heraus schüttelte sie die schicken Schuhe von den Füßen, woraufhin Kevin davonsprang. Sie entledigte sich der Anzughose und des Blazers und zog stattdessen ein Outfit an, in dem sie sich wie sie selbst fühlte – einen kurzen Jeansrock, ein T-Shirt mit »SUGAR+SALT«-Logo und ihre Lieblingscowboystiefel. Und natürlich nackte Beine, denn dieser Sommertag war so sonnig, dass selbst der Nebel keine Chance hatte.

Dann rief sie Candy an – ihren Grillmeister Candelario Elizondo – und teilte ihm mit, dass es eine Planänderung gebe.

»Wir nehmen den Truck«, sagte sie.

»Du willst mit dem Foodtruck in den Finanzdistrikt?«, fragte er. »Die Stadt wird dir sofort ein Bußgeld aufbrummen.«

»Nicht, wenn wir unser Essen nicht verkaufen. Wir werden es verschenken.«

Er sagte irgendetwas auf Spanisch, allerdings so schnell, dass sie es nicht verstehen konnte. Dann fügte er hinzu: »Du bist verrückt.«

»Wir treffen uns dort«, erwiderte sie und gab ihm die Adresse durch. Sie wusste, dass er sie nicht hängen lassen würde. Sie hatte Candy kennengelernt, als sie ihre Soßen auf dem Fort Mason-Bauernmarkt verkauft hatte. Der erfahrene Grillmeister war ein herzlicher Mann und in Mexiko als Farmer sehr erfolgreich gewesen. Bei einer Bankenkrise hatte er alles verloren und war in den Norden gekommen, um einen Neuanfang zu wagen. Gemeinsam wählten sie ihr Fleisch aus und räucherten und garten es in einem Räucherofen mit unwiderstehlich duftendem Holz bis zur Perfektion. Apfel, Pekannuss, Mesquite, Eiche und Zeder waren ihre Lieblingsaromen. Zusammen gründeten sie einen Cateringservice und leasten einen Foodtruck – und im Nu hatten ihre Kreationen eine treue Fangemeinde. Der Examiner hatte sogar eine Reportage über sie gebracht. Und Margot hatte an Pop-ups und verschiedenen Wettbewerben teilgenommen, um der Welt ihre Talente zu präsentieren. An dem Tag, an dem alles ausverkauft gewesen war und sie Vorbestellungen entgegengenommen hatte, hatte sie entschieden, dass endlich der Zeitpunkt gekommen war, um ihre Pläne weiter voranzutreiben.

Sie hatte unermüdlich an einem Konzept nach Vorbild der Besten gearbeitet. Standort, Marketing, Service, Atmosphäre, Preispunkt und Finanzfluss waren bis ins kleinste Detail durchdacht und geprüft. Sie war zuversichtlich. Sie war bereit.

Candy hatte den Truck vor einem mittelhohen Bürogebäude abgestellt, in einer Zone, in der man eine Stunde parken durfte. Er trug Arbeitskleidung – genau wie sie eine Schürze und ein Käppi mit Logo – und in seinen Unterarmen, die durch die stundenlange Arbeit am Grill hitzeresistent geworden waren, war das Spiel seiner Muskeln zu sehen, als er das Fenster öffnete und die Markise herauskurbelte. »Bist du sicher, dass du es so machen willst?«, fragte er.

Sie nickte. »Wünsch mir Glück.«

Ein unauffälliges Schild im Gebäude wies ihr den Weg zu den Büros der Privé Group, einer auf gastronomische Start-ups spezialisierten Investmentfirma. Mit mehr als einhundert Restaurants im Portfolio waren sie sehr erfolgreich, wenn es um die Neugründung von Unternehmen ging. An der Spitze der Gruppe standen Marc und Simone Beyle, ein französisches Ehepaar, das in einem Haus am Wasser in Sausalito lebte. Ihnen eilte der Ruf voraus, knallhart und anspruchsvoll zu sein, aber Margot hatte sie davon überzeugen können, sich ihr Angebot anzuhören.

Eine Rezeptionistin, die ein ähnliches Outfit trug wie das, welches Margot am Morgen wieder ausgezogen hatte, führte sie in einen kühlen Konferenzraum mit ergonomischen Stühlen und einem Glastisch.

Sie spürte ein halbes Dutzend Blicke auf sich, als sie eintrat. Durch die Klimaanlage bekam sie Gänsehaut an den Beinen, doch nun war es zu spät, an der Wahl ihrer Garderobe noch etwas zu ändern.

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich empfangen«, sagte sie und legte die hübsch verpackten Soßen-Samples sowie die Mappen aus, die ihre persönliche Geschichte enthielten – zumindest so viel, wie sie preiszugeben bereit war. Außerdem Konzept, Finanzauskünfte und Planung.

»Wir sind gespannt, was Sie uns präsentieren«, erwiderte Marc mit einem kaum wahrnehmbaren französischen Akzent. Simone hatte strenge Gesichtszüge, doch in ihren Augen funkelte Interesse.

»Fragen Sie mich, was Sie wollen«, ermunterte Margot sie. »Ich bin ein offenes Buch. Und anschließend würde ich gern …«

»Wer sind Ihre kulinarischen Vorbilder?«, fragte Simone.

Auf diese Frage war Margot nicht vorbereitet. Doch zum Glück lag ihr die Antwort auf der Zunge. »Meine Mutter, Darla Sal… Salton.« Sie verfälschte den Namen ein wenig. Um ein Haar hätte sie Salinas gesagt. Selbst viele Jahre nachdem sie ihren Nachnamen geändert hatte, verfolgte er sie noch immer wie ein Fleck, der sich einfach nicht auswaschen ließ. Es war der Mädchenname ihrer Mutter, der seinen Ursprung in einer provinziellen Region Spaniens hatte, wo die Leute eher keltisch als spanisch aussahen. »Sie hatte einen Foodtruck und einen kleinen Partyservice in Texas. Ihre Sandwiches und Soßen waren legendär, und ich verbrachte als Kind viele Stunden damit, ihr zuzusehen.« Den Grund dafür, nämlich dass ihre Mutter sich keine Kinderbetreuung hatte leisten können, ließ sie unerwähnt. »Später lernte ich das Grillen von einem der besten Grillmeister in Hill Country – Mr. Cubby Watson. Nach dem Tod meiner Mutter waren er und seine Frau Queen wie Eltern für mich.« Sie machte eine Atempause und fuhr dann schnell fort, ehe man sie fragen konnte, warum sie Texas verlassen hatte. »Hier in San Francisco ist mein Held gleichzeitig mein Geschäftspartner: Mr. Candelario Elizondo. Er ist übrigens unten bei …«

Sie unterbrachen sie mit weiteren Fragen: Warum San Francisco? Ihre Finanzen sähen fragwürdig aus. Was hatte sie sich bei ihrem Servicekonzept gedacht? Ob sie ihren Marketingplan genauer erläutern könne?

Sie kannte dieses Gebaren von einigen anderen potenziellen Investoren. Sie hielten sie für eine Versagerin. Verdammt. Sie konnte ihre Skepsis förmlich spüren. Der Mut verließ sie. Das hier funktionierte nicht. Vermutlich lag die Chance, dass eine Highschool-Abbrecherin aus Texas im Herzen von San Francisco ein trendiges Grillrestaurant eröffnen konnte, bei eins zu einer Million. Sie wollte, dass man ihr vertraute, ihren Wert erkannte, ihr die Verantwortung übertrug, der sie auf jeden Fall gewachsen war.

»Normalerweise wird eine Verköstigung für uns vorbereitet«, sagte eins der Vorstandsmitglieder.

»Das ist mir bewusst.« Sie hatte versucht, einen Tauschhandel für einen Veranstaltungsraum abzuschließen, aber nichts gefunden, was sie sich hätte leisten können. »Bei allem Respekt – ich weiß, dass meine Methode unorthodox ist, aber ich koche besser, als ich rede. Ich schwöre Ihnen, dass ich für Sie alles grille, was Sie wollen. Wären Sie damit einverstanden, mich nach unten zu meinem Truck zu begleiten?«

»Sie haben Ihren Foodtruck dabei?« Simone zog ihre wohlgeformten Augenbrauen hoch.

»Ja, Madam.«

Es entstand eine qualvolle Pause. Die Beyles tauschten einen Blick. Margot hielt die Luft an. Dann wurden Stühle zurückgeschoben, und alle steuerten auf die Tür zu. Der Weg hinunter zum Parkplatz war endlos, doch die Szene, die sich ihnen auf der Straße bot, war genauso, wie Margot es sich erhofft hatte. Der Truck war von einer Menschentraube umringt, und alle schwelgten in den Kostproben ihrer Grillgerichte, als wären sie kurz davor gewesen, auf einer einsamen Insel zu verhungern. Unter den Leuten befand sich sogar ein Streifenpolizist, der dem Truck wahrscheinlich einen Strafzettel hatte verpassen wollen, stattdessen aber genüsslich einen Pulled Pork Slider mit einem Relish verschlang, das Margot Pickle de Gallo genannt hatte.

Sie tauschte einen Blick mit Candy. Dann gesellte sie sich zu ihm hinter die Theke des Foodtrucks und war sogleich ganz in ihrem Element. Das war ihr Spezialgebiet – den Menschen ein lukullisches Erlebnis zu verschaffen, von dem sie einfach nicht genug bekamen. Wer brauchte schon ein prätentiöses Degustationsmenü? Sie reichte Teller mit ihrer unverkennbaren, zart schmelzenden Rinderbrust, der die Flammen eine süße Kruste verpasst hatten, gegrillte Würstchen, die sie in Zusammenarbeit mit einer nachhaltig wirtschaftenden Ranch in der Nähe von Point Reyes hergestellt hatte, in Butter getauchte, geräucherte Portobello-Pilze und unglaublich zarte Rippchen, die von ihren selbst gemachten Soßen bedeckt waren. Sie präsentierte ihre besten Beilagen: Maisbrot, das so saftig war wie Pudding und aus der privaten Rezeptsammlung ihrer Mutter stammte, grünes Sahnegemüse, pfeffrigen Krautsalat mit Yambohne und ihren Dessertklassiker: Hummingbird Cake.

Die Gruppe aß schweigend. Margot vergaß zu atmen, während sie darauf wartete, dass das Urteil gesprochen wurde. Das war ihr Handwerk, ihr Lebenswerk in seiner ganzen Pracht. Sie hatte Jahre damit verbracht, die besten regionalen und saisonalen Zutaten zu finden.

Nachdem ein paar quälende Minuten verstrichen waren, tupfte Simone sich die Lippen ab. »Also«, begann sie. »Da haben Sie ja wirklich was auf die Beine gestellt.«

Da Margot keine passende Erwiderung einfiel, hielt sie einfach den Mund. Ohne in Panik zu geraten.

»Die Rippchen sind sehr ungewöhnlich gewürzt.«

»Gochujang«, sagte Margot. Mit der koreanischen Gewürzpaste hatte sie die perfekte Schärfe gefunden. Dennoch war es eine riskante Wahl. »Ich kann sie auch traditioneller würzen, wenn Sie möchten.«

Simone schob ihren Teller weg und sah ihre Kollegen an. Sie und ihr Ehemann murmelten sich etwas auf Französisch zu. »Wir haben genug, danke«, sagte sie dann.

»Es ist das Beste, was ich habe«, entgegnete Margot.

Noch eine Pause. Noch ein kurzer Austausch auf Französisch.

»Also dann«, sagte Mike schließlich, legte seine Serviette beiseite und hielt Margot die Hand hin. »Wo möchten Sie ihr Restaurant eröffnen, Miss Salton?«

»Sie müssen Margot sein.« Die Immobilienmaklerin streckte ihre Hand aus. »Yolanda Silva. Ist mir eine Freude, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits.« Margot schüttelte ihr kurz und kräftig die Hand. Ich hab’s geschafft, dachte sie. Das hier passiert wirklich.

»Nehmen Sie sich etwas zu trinken. Ich muss noch mal kurz in mein Büro flitzen und ein paar Sachen holen, bevor wir uns die Objekte ansehen.« Mit den glänzend manikürten Fingernägeln und der Designerbrille sah Yolanda genauso adrett und ordentlich aus wie die Räumlichkeiten, die sie umgaben.

»Danke.« Margot nahm eine gekühlte Flasche Topo Chico aus einem Kühlschrank mit Glasfront, öffnete sie und setzte sich in die noble Lobby. Nervös nahm sie einen Schluck von dem kalten Blubberwasser. Es war schwer zu glauben, aber dank der Privé Group hatte sie jetzt ein Team. Ein Dream-Team. Ihre Investoren hatten ihr eine Managementgruppe zur Seite gestellt, die sie bei jedem Schritt der Neugründung unterstützte, von der weiteren Ausarbeitung des Konzepts über die Gestaltung bis zur Eröffnung und darüber hinaus. Nach ihrer unorthodoxen Präsentation und einigen weiteren spannenden, herausfordernden Meetings hatte sie nun also wirklich einen Investor. Ein Ziel. Einen Plan. Eine Zukunft.

Die Verträge waren alle unterzeichnet, das Team zusammengestellt, der Zeitplan ausgetüftelt. Das Einzige, das fehlte, war jemand, mit dem sie feiern konnte. Als Kind war sie mit einer guten Note den ganzen Weg von der Schule nach Hause gerannt, nur um den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter zu sehen – diese Mischung aus Liebe und Stolz. Als Erwachsene musste sie sich damit begnügen, sich ein Glas Wein einzuschenken und ihrem Kater zuzuprosten.

Es war mehr als nur ein bisschen deprimierend, dass sie niemanden hatte, der ihr High Five gab oder sie in den Arm nahm und sagte: Ich bin so stolz auf dich. Sie konnte den Klang der Stimme ihrer Mutter hören, selbst nach der ganzen Zeit noch. Manchmal schienen diese Erinnerungen das Einzige zu sein, das ihren Verstand gesund hielt – die Tatsache, dass es einmal jemanden gegeben hatte, dem sie sehr wichtig gewesen war. Dass sie geschätzt worden war. Geliebt.

Nun war sie eine erwachsene Frau. Sie sollte allein klarkommen können.

Und doch wäre es in Momenten wie diesem schön gewesen, jemanden zu haben.

Wenn sie nachts wach lag und mit ihren Gedanken allein war, konnte sie nicht glauben, dass sie so weit gekommen war. Der Weg hinter ihr war zugemüllt mit Not, Tragödie und Bedauern, und oftmals schien es ihr unmöglich zu sein, darauf zu vertrauen, dass sie diesen Neuanfang verdient hatte. Sie versuchte, ihren eigenen Wert zu spüren. Manchmal halfen die Selbstgespräche und die Selbstfürsorge. Ein bisschen. Dann wieder kamen ihre Bemühungen nicht gegen die Mauer der Einsamkeit an, die sie umgab. Ja, sie war wertvoll. Aber wenn niemand da war, mit dem sie die guten und die schlechten Zeiten teilen konnte, wie konnte das dann eine Rolle spielen?

Wenn sie die Zweifel mal beiseiteschob, begann die eigentliche Arbeit erst jetzt. Talent allein reichte nicht aus, auch wenn ihr Talent fürs Kochen und für Soßen unbestritten war. Leidenschaft allein reichte auch nicht. Sie musste bereit sein, das Handwerk, den Handel, das Geschäft und den Wahnsinn zu beherrschen, koste es, was es wolle – schlaflose Nächte, endlose Tage, kein Urlaub, anstrengendes, zähes Lernen und den Mut, sich Misserfolgen und Rückschlägen zu stellen.

»Alles bereit?« Yolanda kam mit einem Klemmbrett und einem Exposé aus ihrem Büro. Mit scharfem Blick und Fingerspitzengefühl half sie den Kunden der Privé Group, das richtige Objekt für ein neues Restaurant zu finden. Sie hatte versprochen, ein Lokal ausfindig zu machen, das sowohl Einheimische als auch Touristen anzog und Margot die Chance auf einen ganzjährigen, langfristigen Erfolg gab.

Margots Geschäftsführerin Anya Povlova begleitete sie zu den Besichtigungen. Anya hatte bereits einige der besten Restaurants in der Bay Area geleitet. Sie war ein Fan von Margots Vision vom Salt – mit einem modernen, stylischen Gastraum, durch den es sich von anderen Grilllokalen abhob. Sie hatten einen Ort vor Augen, an dem umwerfendes Essen verkauft wurde, für das die Leute bereit waren, stundenlang anzustehen, genauso wie sie es vor dem Truck getan hatten. Nur dass sie in dem neuen Restaurant nicht würden anstehen müssen, weil eine App das Gästeaufkommen hochpräzise managen würde.

»Auf Grundlage Ihrer Angaben habe ich diese fantastischen Optionen gefunden.« Yolanda verteilte die Unterlagen zu den infrage kommenden Immobilien. Margot und Anya hatten sie sich bereits online angesehen und sich das Restaurant in der jeweiligen Location vorgestellt. In ihrem ganzen Leben hatte Margot sich noch nie mit einer Maklerin eine Immobilie angesehen. Jeder sichere Ort, den sie für sich und Kevin finden konnte, war für sie ein Zuhause. Zurzeit lebte sie in einer gemieteten Garagenwohnung im Hafenviertel.

Sie wählten drei Objekte aus. Jenes, das in der Nähe von Fisherman’s Wharf lag, befand sich auch nah am Fort Mason-Bauernmarkt. Die Küche war nagelneu, und der Gastraum hatte viele Fenster. Der Ausblick war atemberaubend, denn er rahmte wie in einem Panoramabild alle Sehenswürdigkeiten ein, die die Touristen an San Francisco liebten. Die Terrasse ragte über das Wasser hinaus. Hier würden von Sonnenschirmen geschützte Tische von einer sanften Brise umspielt, während die Gäste den Bootsverkehr beobachteten und Seelöwen zählten. Margot sah die zufriedenen Menschen, die sich hier versammelten, geradezu vor sich.

»Die Klientel würde zum Großteil aus Touristen bestehen«, sagte Anya.

»Das ist nicht unbedingt schlecht«, erwiderte Margot. »Aber ich würde gerne mehr Einheimische bewirten und irgendwann einen Kreis von Stammkunden haben.«

Das nächste Objekt befand sich in Nob Hill, einer Gegend, in der die Anwohner ein tolles Grillrestaurant mit Sicherheit begrüßen würden. Hier gab es viele kleine Geschäfte und Boutiquen, und ganz in der Nähe war das Theaterviertel. Allerdings war die Fassade trist und farblos, und die Inneneinrichtung besaß den Charme einer Behörde.

»Wir könnten was daraus machen«, versicherte Anya ihr. »Das Designteam hat schon bei den unattraktivsten Locations wahre Wunder vollbracht.«

Die Küche war in einem guten Zustand und die Zufahrt dahinter geräumig genug für die Lieferungen von Candys Grill, der sich in einem Industriegebiet befand.

Die dritte Option war ein Ladenlokal in einem Altbau in der Perdita Street. Im Herzen einer besonders lebhaften Gegend der Stadt gelegen, gab es hier ausgetretene gepflasterte Straßen und von Bäumen gesäumte, schattige Gehwege. Einige der Gebäude waren von Anfang 1900, und ein paar wenige hatten sogar das Erdbeben und Feuer von 1906 überlebt.

Das bunte Viertel war bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt, und samstags gab es sogar einen Wochenmarkt. In der Mehndiva Bar konnte man einen Kombucha genießen, während man sich ein Henna-Tattoo auf die Haut malen ließ. Im gleichen Block befand sich eine Wein-Bar, in der es Rossi-Weine aus Sonoma gab, eine unkonventionelle Boutique mit Outfits im Partnerlook für Hund und Besitzer im Schaufenster, eine Einrichtung zur Betreuung Demenzkranker mit einem begrünten Vorgarten und in dem ältesten Haus der Gegend eine einladende Buchhandlung.

In einem Haus gegenüber der Buchhandlung stand ein Ladenlokal leer, nachdem ein beliebtes mexikanisches Restaurant seine Pforten geschlossen hatte. Der Inhaber hatte sich zur Ruhe gesetzt. Das Objekt war vernachlässigt, hatte aber eine gute Substanz, und Margot konnte sich hier genau die gemütliche, freundliche Atmosphäre vorstellen, von der sie immer geträumt hatte.

Nur eine Sache gab ihr zu denken: Man musste sich die Küche mit der Bäckerei nebenan teilen.

»Ein ungewöhnliches Arrangement, aber die Küche ist riesig und hat jahrelang den Ansprüchen eines klassischen Restaurants mit Service am Platz genügt. Die Bäckerei ist ein Wahrzeichen der Stadt. In den 1960er Jahren wurde hier noch ein Gemeindezentrum betrieben«, erklärte Yolanda.

Die Küche war altmodisch, aber blitzsauber, und es erwartete sie eine Überraschung. Eine Tür mit der Aufschrift Bäckerei ging auf, und herein kam eine ältere Schwarze mit einer dickrandigen Brille und zu einem Dutt hochgesteckten geflochtenen Zöpfen. Sie trug ein Tablett mit Backwaren und einen Krug Limonade.

»Ich bin Ida«, sagte sie, während sie das Tablett auf einer makellosen Edelstahlarbeitsfläche abstellte.

»Sie sind die Inhaberin der Bäckerei«, meinte Yolanda. »Angenehm.«

»Nur noch dem Namen nach«, erwiderte die Frau. »Inzwischen bin ich im Ruhestand – theoretisch jedenfalls. Mein Sohn Jerome führt das Geschäft, aber ich bin immer noch daran beteiligt. Heute bin ich hergekommen, weil ich wissen möchte, mit wem wir demnächst vielleicht zusammenarbeiten.«

Margot stellte sich vor, und Ida machte einen Schritt zurück und musterte sie. »Sieh mal an. Sie sind ja zart wie ein Floh. Und so jung.«

»Vielleicht«, sagte Margot, »aber ich bin schon eine ganze Weile im Business. Hab schon mit meiner Mutter Sandwiches gemacht, die wir dann verkauft haben.«

»Ach ja? Dann sind Sie also in der Branche groß geworden.«

»M-hm. Es gab nur meine Mutter und mich. Sie war meine beste Freundin.« In Wahrheit war ihre Mutter alles für sie gewesen. »Ihre Sandwiches waren mehr als köstlich. Pimento Cheese, geräucherter Hackbraten, Eiersalat, Roastbeef und Remoulade, Honig-Butter-Brötchen und Fried Chicken … Die Leute hätten gemordet dafür.« Darla Salinas hatte nie viel Geld verdient. Nicht weil ihr Essen nicht gut gewesen wäre – es war sogar großartig! –, sondern weil ihr der Geschäftssinn gefehlt hatte.

Ida zeigte auf das Tablett. »Bitte, bedienen Sie sich. Nehmen Sie einen Bissen, und dann führe ich Sie gleich ein wenig herum.«

Die servierten Leckereien waren ein Traum – eine buttrige Tarte, auf der frische Früchte glänzten, ein Melasse-Cookie, der Margot bereits nach dem ersten Bissen vor Entzücken dahinschmelzen ließ, und winzige, unverschämt leckere Schokoladenbrownies und Zitronenküchlein.

Während Anya von Ida Informationen über das Lokal einholte, fragte Margot sich, ob sich die Dinge anders entwickelt hätten, wenn ihre Mutter sich darauf konzentriert hätte, voranzukommen, anstatt einfach nur klarzukommen. In einem Jahr war Darla’s Rinderbrust-Peperoncini-Brötchen – mit seiner nicht gerade geheimen Zutat, nämlich zerbröselten Barbecuechips – vom Texas Monthly-Magazin zum besten Sandwich des Staates gekürt worden. Aber sie hatte daraus niemals Kapital geschlagen.

»Ich habe genau hier angefangen, in dieser Küche, als das hier noch ein Gemeindezentrum war.« Ida führte sie herum und öffnete die Tür zu dem verlassenen Gastraum. Die Wandbilder, die Szenen aus dem alten Mexiko zeigten, verliehen ihm eine staubige, vernachlässigte Atmosphäre. Das leere Restaurant erinnerte an eine Geisterstadt, die hastig verlassen worden war. Zurückgeblieben waren hochgestellte Tische und Stühle, eine Schürze an einem Haken, ein ramponiertes Fußballposter, Eimer mit Plastikbechern und – besteck sowie weggeworfene Quittungen und Bestellscheine.

Margot stand einige Momente still da und rief sich vor Augen, wie der Raum nach seiner Umgestaltung zu einem warmen, frischen, einladenden Restaurant aussehen würde. Getrieben von der Sehnsucht, einen Ort zu finden, an dem sie sich verwirklichen konnte, an den sie gehörte, an dem sie die Kontrolle hatte, hatte sie in ihren Träumen jeden Winkel dieses Ortes gestaltet. Sie wollte für ihre Gäste einen behaglichen Rahmen schaffen, in dem sie die von ihr zubereiteten Köstlichkeiten genießen konnten.

Ida beendete die Führung mit einem freundlichen Lächeln. »Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen, Margot.«

»Der Moment der Entscheidung«, sagte Anya, als sie hinaus in die Gasse hinter dem Haus traten. Die Container für Rest- und Recyclingmüll standen ordentlich nebeneinander. An einer Mauer mit einem verblassten Antikriegsgemälde, das aus der Vietnamkrieg-Ära zu stammen schien, hing oben ein alter Basketballkorb. »Wir müssen die Vor- und Nachteile jeder Location durchgehen.«

Als Margot ihre Möglichkeiten gegeneinander abwog, bemühte sie sich um eine besonnene, objektive Betrachtungsweise. Das Objekt nahe der wuseligen Fisherman’s Wharf, die schicke Location in Nob Hill oder die Immobilie in der historischen Perdita Street.

»Was denkst du?«, fragte sie Anya.

»Na ja, es könnte schwierig werden, sich eine Küche mit der Bäckerei zu teilen. Sie ist zwar sauber und groß, aber die Ausstattung ist teilweise überholt.«

»Stimmt«, räumte Margot ein. »Aber vergiss nicht, dass ich in einem Foodtruck gearbeitet habe. Beengte Arbeitsbedingungen sind mir also vertraut. Ich kann mir das alles sehr gemütlich vorstellen. Bodenständig und mitten in einer Stadt, die mich manchmal immer noch überwältigt. Ich mag Ida. Sie scheint cool zu sein. Wie heißt diese Bäckerei noch gleich?«

Anya reichte ihr eine Visitenkarte. »Sugar.«

Margot musste unwillkürlich lächeln. Plötzlich spürte sie eine Klarheit, die jeglichen Zweifel verdrängte. »Perfekt.«

»Also dann, ich hoffe, du bist mit deiner Entscheidung zufrieden«, sagte Ida. Mittlerweile waren die Frauen zum Du übergegangen. Der Mietvertrag war unterschrieben, die Pläne waren abgenickt und die Lizenzen erteilt worden, und die Umgestaltung war so gut wie abgeschlossen.

»Wir haben uns viele Immobilien angesehen«, erwiderte Margot. »Aber als ich dieses Lokal sah, war die Suche für mich beendet. Es fühlt sich für mich genau richtig an.«

»Ja, manchmal ist das so. Dann weiß man es einfach.«

Margot konnte nur beten, dass Ida recht hatte. Die vergangenen fünf Monate waren arbeitsintensiv gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Ein professionelles Design- und Entwicklerteam hatte ihre Vision wahr werden lassen. Sie selbst hatte die antiken viktorianischen Kerzenleuchter ausgesucht, schwarz angesprüht und in den weißen Gastraum gehängt. Auf den Tischen entlang der Innenwände waren dezente Farbtupfer zu finden: einzelne apfelgrüne Servietten, die in Stielgläsern steckten und vor dem arktischen Weiß leuchteten. Der Gesamteindruck war klar, aber nicht kühl oder einschüchternd. Es roch noch immer nach Putz und Farbe, doch schon bald würde hier ein rauchig-süßes Grillaroma in der Luft hängen.

Die Küche war renoviert und technisch überholt worden. Das Personal war geschult, die Technik installiert und die Speisekarte ausgetüftelt, getestet und gedruckt worden. Die Playlist bestand aus alter und neuer Musik, die in einer unaufdringlichen Lautstärke lief. Ihre Bar-Crew würde schon bald selbst gemachte Cocktails servieren wie den Baja Oklahoma und den Wild West Martini. Sie achtete auf jedes erdenkliche Detail und war sich zugleich die ganze Zeit im Klaren darüber, dass aus irgendeiner Ecke, an die niemand gedacht hatte, Ärger auf sie zukommen könnte. Das war die Natur des Restaurantbusiness’. Das war die Realität, die sie akzeptieren musste. Und vielleicht empfand sie diese Welt genau deshalb als so aufregend.

Sie und Ida saßen an der prächtigen Bar, die aus einem Hotel aus dem Jahre 1908 stammte.

»Ich habe dir ein paar Kostproben vom Grill und aus dem Räucherofen mitgebracht.« Sie reichte Ida eine Transportbox, die Rinderbrust, Würstchen und ihre Lieblingsbeilagen enthielt sowie ein paar Gläser mit Soßen.

»SUGAR+SALT«, sagte Ida und betrachtete das Label. »Und jetzt sind wir Nachbarn. Ist das nicht toll?«

»Ich habe es als Zeichen aufgefasst«, erwiderte Margot. »Den Namen für diese Soße habe ich mir als Kind ausgedacht.«

»Ach ja? Meine Güte.« Ida beugte sich mit aufrichtigem Interesse vor. Sie hörte mit leicht geneigtem Kopf zu. Sie wirkte immer, als ob sie sich in ihrer Haut sehr wohl fühlte. »Hat deine Mutter dir das alles beigebracht?«

Margot unterhielt sich gern mit Ida, es war einfach – und das wollte etwas bedeuten, denn sie fühlte sich mit anderen Menschen nur selten wohl. »Sie ließ mich in der Küche experimentieren. Als ich auf eigenen Füßen stand, fing ich an, Soßen in kleinen Mengen für eine Grillbude herzustellen, in der ich früher arbeitete. Sie hieß Cubby Watson’s Barbecue und wurde von Cubby und seiner Frau Queen geführt. In Texas ist Barbecue praktisch eine Religion, und die Watsons konnten immer Hilfe in der Küche gebrauchen. Ich begann mit Geschirrspülen und der Vorbereitung der Zutaten für ihre klassischen Beilagen, und als Cubby sah, wie ernst es mir war, lehrte er mich alle Aspekte des Handwerks, vom Umgang mit dem Grill bis zur Bedienung an der Bar – wofür ich damals noch zu jung war, aber er war ein guter Lehrer.«

»Klingt nach einem guten Ort, um anzufangen«, meinte Ida.

Margot nickte. »Ich habe es geliebt, sogar die schweren Aufgaben. Cubby gehört zu den besten Grillmeistern der Welt. Seine Rinderbrust zerfällt auf der Gabel, so zart ist sie. Man könnte glatt meinen, er hätte sie in Butter gegart. Die Leute sind damals meilenweit gefahren, um Queens hausgemachte Würstchen zu probieren oder ihre veganen Portobello-Sandwiches mit cremiger Remoulade oder ihren texanischen Blechkuchen.«

»Mmmmhhh, da würde ich auch gern mal essen. Jetzt ist auch klar, was dich zu deiner Speisekarte inspiriert hat.«

Das Telefon klingelte, und Ida ging ins Büro der Bäckerei, um den Anruf entgegenzunehmen. Margot war nur selten so redselig, aber sie hatte das Gefühl, eine Freundin gefunden zu haben. Ida erinnerte sie auf unterschiedliche Arten an Queen Watson – eine Frau mit robustem Gemüt, die wirkte, als ob sie jedem Sturm trotzen könnte. Beide Frauen waren Schwarz und hatten allein deshalb mit Sicherheit so manchen Sturm erlebt. Queens Stärke hatte Margot geholfen zu überleben, als sie besonders verwundbar gewesen war, und in Ida spürte sie eine verwandte Seele.

Margot war sechzehn gewesen, als sie auf der Suche nach einem Job in der Küche der Watsons im texanischen Banner Creek aufgetaucht war.

Ihre Geschichte erzählte von Unsicherheit und Verzweiflung, aber sie hatte den Kopf oben gehalten und ihnen fest in die Augen geschaut – zuerst Cubby mit seinem sanften Gesicht und der leisen Art zu sprechen, mit den talentierten Händen, die ständig in Bewegung waren, und den kräftigen Armen, die große Fleischstücke auf den Grill wuchteten, und dann Queen, die Margie ungerührt von ihren blonden Haaren bis zum Ende ihrer dünnen Beine gemustert hatte.

»Du bist mächtig jung dafür, dass du allein unterwegs bist«, hatte Queen festgestellt.

Margot – damals noch Margie – war nicht ganz sicher, welche Regeln für Minderjährige galten. In dem Moment vermisste sie ihre Mutter ganz fürchterlich. Sie vermisste es, wie sie samstagabends gemeinsam lange aufgeblieben waren und über alles und nichts geredet und gekichert hatten, selbst als Mama krank geworden war. Das Leben war einfach gewesen. Nichts Ungewöhnliches. Bis Del auftauchte.

Del. Delmar Gantry. Im Alter von dreizehn Jahren sagte man Margie, sie seien jetzt eine Familie. Sie fragte ihre Mutter, was sie vorher gewesen seien, und Mama brach in Gelächter aus. Margie hatte den Witz nie verstanden. Del war auf schmierige Art eloquent – und arbeitslos. Er sah wie ein Filmstar aus, und er und ihre Mutter glichen einem Glamour-Paar aus Hollywood. Die beiden erinnerten sie an die Paare, die man im People Magazine sah und die selbst dann glamourös wirkten, wenn sie sich nur einen Kaffee holten oder sich ein Spiel der Lakers ansahen.

Nur dass Mama und Del im Gegensatz zu den Hollywood-Paaren immer pleite waren. Dann kam der Tag, als Mama ihr das Fahren beibrachte und plötzlich an den Straßenrand fuhr, weil sie Kopfschmerzen hatte. Sie verlor das Bewusstsein und wachte nicht wieder auf. Als die Polizei eintraf, war sie bereits tot. Eine Embolie. Mama war immer kränklich gewesen, aber der Arzt im Krankenhaus sagte, die Embolie habe nichts mit der Vorerkrankung zu tun – und hätte jedem passieren können.

Margie und Del waren vor Schock und Kummer so am Boden zerstört, dass sie nicht mehr funktionierten. Sie waren wie Teile eines auseinandergebrochenen Bootes, die nun ziellos und ohne jeglichen Halt auseinandertrieben. Mama war der Klebstoff gewesen, der die Familie zusammengehalten hatte. Und mit ihr war auch die Verbindung verschwunden.

Dann bemerkte Margie eines Tages, dass Del sie auf eine ganz bestimmte Art ansah.

»Wie alt bist du jetzt?«, fragte er.

»Sechzehn.« Wie kam es, dass er das nicht wusste?

In der Nacht hörte sie seine Schritte im Flur vor ihrem Zimmer. Die Schritte verstummten vor der Tür. Sie hielt den Atem an. Machte nicht einen einzigen Atemzug. Nicht bis sich die Schritte – Gott sei Dank! – wieder entfernten und immer leiser wurden.

Die Blicke, die Del ihr zuwarf, wurden ihr immer unangenehmer, und manchmal, wenn er ein paar Bier getrunken hatte, hörte sie wieder seine Schritte vor ihrem Zimmer. Er klopfte leise an ihre Tür. Ihr Bauchgefühl riet ihr eindringlich, ihr Zuhause zu verlassen. Also haute sie mit dem Auto ihrer Mutter ab. Sie nahm einen Koffer mit Wechselsachen mit, ein paar Küchenutensilien und das einzig Wertvolle, das ihre Mutter zurückgelassen hatte: einen dicken, mit Fettspritzern übersäten Ordner, der vollgestopft war mit handgeschriebenen und mit Anmerkungen versehenen Rezepten.

»Meine Mutter ist gestorben«, hatte Margie Queen mit gesenktem Blick erklärt. »Und ihr Freund Del war kein guter Kerl.«

Danach hatten Cubby und Queen nicht mehr viele Fragen gestellt, was eine große Erleichterung gewesen war, weil sie nicht über Del sprechen wollte.

Nun dachte sie mit tiefer Dankbarkeit an die Watsons und fragte sich, ob sie jemals in der Lage wäre, sich für die vielen Liebenswürdigkeiten zu revanchieren. Als die beiden herausfanden, dass sie in ihrem Auto wohnte, richteten sie für sie eine Garagenwohnung in der Nähe ihrer Räucherbude am Stadtrand her.

Innerhalb weniger Jahre hatte sie sich in jedem Geschäftsfeld bewiesen und war eifrig darum bemüht, die Kunst des Grillens zu erlernen. Cubby nannte sie im Spaß den Sohn, den er nie hatte. Er und Queen waren kinderlos, und als sie anfingen, Margie sonntags mit in die Kirche zu nehmen, hatte man sie mit Argwohn betrachtet. Sie, das blonde Weiße Mädchen, hatte noch nie einen Fuß in das Gotteshaus einer Schwarzen Gemeinde gesetzt. Aber Queen war Church Mother und Cubby Diakon, und die Gemeinde der Church of Hope hatte Margie auf eine Art willkommen geheißen, wie sie es noch nie erlebt hatte.

Dank des Lohns, den Queen und Cubby ihr zahlten, und Trinkgeldern sowie der Einnahmen aus dem Verkauf ihrer Soßen hatte sie genug Geld, um sich ein kleines möbliertes Häuschen an einem Bach zu mieten, zusammen mit einer Katze, die in einem Karton auf einem Supermarktparkplatz ausgesetzt worden war und die sie gerettet hatte. Sie hatte ein Leben in stiller Zufriedenheit gelebt, bis zu dem Abend, an dem alles kaputt gegangen war.

Ida kam aus dem Büro zurück und stellte die Transportbox in einen Thermobehälter. »Das duftet einfach himmlisch«, sagte sie. »Ich nehme es fürs Abendessen mit nach Hause.«

»Sag mir, was du darüber denkst«, bat Margot.

»Im Moment denke ich, dass wir prima miteinander auskommen werden.« Ida grinste, als sie Margots Gesichtsausdruck sah. »Keine Sorge. Ich bin wirklich im Ruhestand. Ich werde meine Nase nicht in deine Angelegenheiten stecken. Hast du Jerome schon kennengelernt?«

»Ich war ziemlich beschäftigt. Wir sind uns noch nicht über den Weg gelaufen.«

»Das wird schon noch passieren, ganz bestimmt. Ist es okay, wenn ich mir das hier mit ihm und den Jungs teile?«

»Na klar. Und dort, wo das herkommt, gibt es noch viel mehr davon.«

»Jerome ist alleinerziehend«, erzählte Ida. »Ist ’ne Herausforderung, aber er ist ein guter Dad.«

»Ich hoffe, ich lerne ihn bald kennen.«

»Ich hab sie gern bei mir zu Hause. In ihrer Gesellschaft fühlt man sich wohl.«

»Gibt es auch einen Mister Sugar?«

»Es gab einen. Wir haben uns vor langer Zeit scheiden lassen«, entgegnete Ida, »nachdem Jerome mit der Highschool fertig war. Alles, was Douglas mir hinterlassen hat, ist sein Name. Er hat noch mal geheiratet und ist vor fünf Jahren gestorben.«

»Du hast nicht wieder geheiratet?«

»Nein.« Sie schwieg eine Weile, und es schien, als überlegte sie, ob sie zu einer längeren Erklärung ansetzen sollte. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt. Zu sehr, wenn du meinen Sohn fragst. Jerome macht sich Sorgen um mich.«

»Moment mal – er ist Single und macht sich Sorgen, weil du Single bist?«

Ida lachte leise. »Ist wahrscheinlich Projektion. Er weiß, dass ich mich manchmal einsam fühle. Ich denke, das ist auch wirklich so, aber …« Ihr Blick schweifte in die Ferne. »Wahrscheinlich hängt mein Herz irgendwo in der Vergangenheit fest.« Noch ehe Margot näher darauf eingehen konnte, fragte Ida: »Was ist denn mit dir? Single? Dates?«

»Ja, Single. Und Dates? Zurzeit nicht.« Die meiste Zeit nicht, dachte sie. Wenn jemand sie nach einer Verabredung fragte, sagte sie manchmal zu. Meistens hatte es zu nichts geführt. Sie wollte ja jemanden finden. Sie war ja bereit, jemanden an sich heranzulassen, aber ihr Herz zu öffnen, erwies sich als schwieriger, als ein Restaurant zu eröffnen. Da war nämlich immer ein winziger Teil in ihr, der sich vehement dagegen wehrte, verletzt zu werden. Ein Teil, der die Vergangenheit, von der sie jeden Tag verfolgt wurde, nicht loslassen konnte. Sich mit anderen Dingen abzulenken, war eine Art Vermeidungstaktik, aber es war einfacher, sich auf ein Meeting mit der Investmentgruppe zu konzentrieren, auf die Planung einer Strategie oder auf die Zusammenarbeit mit ihren neuen Angestellten. »In der letzten Zeit war ich voll und ganz mit der Eröffnung des Restaurants beschäftigt«, erzählte sie Ida. »Anya, meine Geschäftsführerin, hat mich gewarnt. Die Faustregel sei, dass am Ende alles doppelt so lange dauere und doppelt so teuer werde.« Margot seufzte. »Mein ursprüngliches Zeitfenster von drei Monaten hat sich auf sechs ausgedehnt.«

»Eines Tages wird es dir wie ein kurzer Augenblick vorkommen. Ich war so jung wie du, als ich die Bäckerei eröffnet habe. Ich wollte nichts anderes machen. Die Nachbarschaft war in den Siebzigern noch eine ganz andere. Hier befand sich eine Suppenküche der Kirche. Wir haben das Gebäude für einen Appel und ein Ei gekauft, und ich habe neben meinem Schreibtisch einen Laufstall für meinen kleinen Jerome aufgestellt.« Sie machte eine Geste in Richtung Büro. »Wir sagen gern, dass wir schon seit jeher Komplizen sind. Seine Jungs sind jetzt acht und zehn. Sie sind die hübschesten Kerlchen, die man je gesehen hat.«

»Spricht die stolze Großmutter.« Margot hatte nur vage Erinnerungen an ihre eigenen Großeltern. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Margot sie kontaktiert, und sie hatten ihr eine Beileidskarte geschickt. Aber sie waren nicht zu dem traurigen, kurzen Gottesdienst erschienen, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden.

Beim Gedanken an die Eltern ihrer Mutter spürte sie nur eine große Leere. Sie stellte sie sich wie Fremde in einem Werbespot für eine Versicherung vor: harmlos und allgemein gehalten. »Ich hoffe, ich lerne deine Enkel irgendwann mal kennen«, sagte sie zu Ida.

»Da bin ich mir sicher. Aber pass auf: Die zwei futtern wie eine Heuschreckenplage.«

»Solche Menschen mag ich am liebsten.« Margot hatte bei Ida und diesem Restaurant ein gutes Gefühl. Abgesehen von Miles war dies das Schwerste und Beste, was sie je getan hatte.

Noch eine Woche bis zur Eröffnung. Die Deadline rückte näher, sehnlich erwartet wie der Weihnachtsmorgen und gefürchtet wie der Tag des Jüngsten Gerichts. Spät am Abend tippte Margot den Code für die Tür ein, die zum Bereich für die Küchenanlieferungen hinter dem Restaurant führte, und ging hinein. Weil sie viel zu aufgekratzt war, um schlafen zu können, wollte sie die nächtliche Ruhe nutzen und noch ein paar letzte Dinge für den großen Tag erledigen.

Zum Glück liebte sie ihre Arbeit, denn es gab kein Ende.

Ihre Küche war bereit, ihre Mitarbeiter waren geschult, und ihre Speisekarte stand. Es konnte losgehen. Endlich. Morgen Abend würde das erste Abendessen serviert werden, ein Probelauf. Es handelte sich um ein kostenloses Dinner für den Vorstand und seine Gäste, damit sie die Gerichte probieren und auf das neue Unternehmen anstoßen konnten. Allein die Vorstellung, die Türen zu öffnen, jagte Margot eine Welle der Nervosität nach der anderen durch den Körper.

Irgendetwas am Workflow in der Küche störte sie. Wenn man zu lange auf seine Bestellung warten musste, konnte das einen Abend ruinieren, selbst wenn es köstlich schmeckte. Ein geschmeidiger Ablauf war von großer Bedeutung.

Wieder und wieder simulierte sie eine imaginäre Bestellung und stoppte dabei jeden Abschnitt der Abfolge – von der Vorbereitung bis zum Servieren. Während sie alles wieder und wieder durchging, bemerkte sie kaum, wie die Zeit verging. Das passierte ihr häufig. Wenn sie in eine Sache vertieft war, schien die Zeit stehen zu bleiben und auf sie zu warten.

Sie fand einen möglichen Engpass am anderen Ende der Küche. Dort befand sich ein winziger Orgabereich, der sich zu einem Sammelort für allerlei Zeug entwickelt hatte – Post, Büro-Utensilien, Ladekabel und anderer Krimskrams. Die Ecke war längst noch nicht fertig, und bislang hatte sie nur eine Korkpinnwand über dem Tisch angebracht. Sie hatte ein Foto von Kevin angepinnt, das ihn zeigte, wie er wohlig zusammengerollt auf einer Fensterbank in ihrer Wohnung lag, sowie den Streifen Passfotos von ihr und ihrer Mutter. Sie stammten aus einem Fotoautomaten am Strand in Corpus Christi. Sie erinnerte sich noch gut an jenen Tag, als sie entlang der Strandmauer Fahrrad gefahren waren und in den Wellen getobt hatten. Anschließend hatten sie sich Softeis geholt und Vierteldollarmünzen in den alten Fotoautomaten gesteckt. Sie hatten sich in die Fotokabine gequetscht, Grimassen geschnitten und gekichert. Wir sehen uns so ähnlich, dachte sie. Wir sehen aus wie Schwestern.

Auf die Rückseite hatte ihre Mutter eine Nachricht geschrieben: Du bist mein Wohlfühlort.

Unter dem Tisch stand ein altes Holzschränkchen. Margot zog es heraus, ersetzte es durch ein paar Stapelkisten und untersuchte es dann.

In der oberen Schublade des Schränkchens befand sich nichts außer Staub und Flusen. Die untere Schublade hakte, und sie ruckelte sie vor und zurück, um sie zu öffnen. Plötzlich war der Widerstand überwunden, und die Schublade ging mit einem Ruck auf. Margot plumpste rückwärts auf den Boden, und der Inhalt der Schublade verteilte sich in sämtliche Richtungen. Vergilbte Zettel und alte Briefe, Quittungen, halb aufgebrauchte Bestellblöcke, Streichholzbriefchen, Schachteln mit Klammern – das Strandgut mehrerer Jahrzehnte. Vielleicht hatte einiges davon Mr. Meyer gehört, dem vorherigen Restaurantbetreiber.

Sie fand einige Werkzeuge wie einen Teigschneider und eine Muskatmühle, außerdem mehrere kleine Notizbücher mit hineingekritzelten Zahlen und Unmengen Kulis und Bleistifte.

Unten in der Schublade war leider etwas zu Bruch gegangen. Ein großer Bilderrahmen. Sie warf die Glasscherben in den Müll. Das Bild im Rahmen zeigte ein verblasstes Zertifikat vom Gesundheitsministerium aus dem Jahr 1975.

Der poröse Holzrahmen brach auseinander, und gefaltete Zeitungsblätter fielen heraus und landeten auf dem Boden. Es war eine Sonderbeilage der Sonntagsausgabe vom Examiner.

Im Dunkeln aufbewahrt und im Rahmen hinter dem Zertifikat eingeklemmt, waren die Seiten in tadellosem Zustand.

Sie nahm sie mit zum Mülleimer und wollte sie gerade wegwerfen, als etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Die Schlagzeile lautete: LOKALE BÜRGERRECHTSGRUPPE TUT SICH MIT ANTIKRIEGSAKTIVISTEN ZUSAMMEN. Datiert war der Artikel auf das Jahr 1972. Die Ära des Vietnamkriegs.

Unter der Schlagzeile war ein Bild zu sehen, das einen Pulk aus Demonstranten zeigte, der die Straße bevölkerte. Obwohl die Szene schon Jahrzehnte zurücklag, erinnerte sie Margot auf seltsame Art an die jüngste Vergangenheit: Menschen, die handgeschriebene Schilder hochhielten, T-Shirts und Hüte mit Slogans trugen und die Fäuste in die Luft reckten, während sie Parolen riefen oder sangen.

Dann nahm Margot den Hintergrund des Fotos wahr: die Perdita Street, zwar etwas weniger schick als heute, aber dennoch erkennbar. Der Body-Art-Shop war damals ein Baumarkt gewesen. An der Buchhandlung zum Glück hing ein Schild, auf dem APOTHEKE & SCHREIBMASCHINENWERKSTATT stand. Und ihr eigenes Restaurant war, soweit sie sehen konnte, das Zuhause der Perdita Street-Evangelisten gewesen.

Ihre Neugier war geweckt, und sie legte die Zeitungsbeilage auf die Edelstahlarbeitsplatte, um sie genauer anzusehen. Es handelte sich um einen ausführlichen Artikel über eine Bürgerrechtsgruppe, die sich mit einer von Berkeley-Studenten organisierten Antikriegsgruppe zusammengeschlossen hatte. Auf einer Innenseite sprang sie ein weiteres Foto an. Es war eine Porträtaufnahme einer jungen Schwarzen mit dickrandiger Brille und darüber die Schlagzeile: Miss Ida Miller, Nichte von Sgt. Eugene Miller, ist eine der Hauptorganisatoren der gemeinsamen Aktion für Bürgerrechte und Antikriegsveranstaltungen.

Auf der folgenden Seite war ein Farbfoto eines Open-Air-Konzerts abgedruckt, auf dem man Leute tanzen, essen oder auf Decken liegen sah, die über mehrere Hektar auf einem Hügel mit dem Glockenturm von Berkeley in der Ferne ausgebreitet waren. Die Band hieß Jefferson Airplane, und das Event wurde als »cook-in« bezeichnet.

Es gab noch ein Foto von Ida mit einem großen Weißen Mann mit langen Haaren und John-Lennon-Brille. Sie umarmten einander und schienen die Menge um sich herum vergessen zu haben, so sehr waren sie ineinander vertieft. Sie sahen aus, als ob ihre Gefühle bis in den Himmel strahlen würden.

Margot musste unwillkürlich seufzen, während sie das alte Bild betrachtete. Dass jemand sie so ansah, wenn auch nur für einen kurzen Moment, kam ihr wie ein unmöglicher Traum vor. Es war unmöglich. Diese Art von Romanze ging doch ohnehin nie lange gut.

Sie erinnerte sich daran, dass sie ein erfülltes, aufregendes Leben führte. Ihre geliebte Katze und das Aikido Dojo. Sie hatte Menschen, mit denen sie in diesem großartigen neuen Restaurant, das endlich Gestalt annahm, zusammenarbeiten würde. Gib dich damit zufrieden, dachte sie. Hör auf, nach dem Mond zu greifen, wenn du alle Sterne in der Hand hältst.

Sie legte den Zeitungsteil beiseite, um ihn später Ida zu zeigen.

Noch immer unruhig und nervös, räumte sie ein Servierregal um. Eine Kiste mit neuem Glasgeschirr, die noch nicht ausgepackt worden war, stand darin. Sie nahm die Gläser heraus, spülte sie und stellte sie weg, riss den Pappkarton auseinander und brachte ihn hinüber zum Papiercontainer. Da dieser voll war, schloss sie die Außentür auf und ging zu den großen Müllcontainern in der Gasse. Die Sicherheitsbeleuchtung sprang an, flackerte und verlosch wieder. Es war fast zu dunkel, um den Weg zu den Mülltonnen zu finden.

Irgendwie machte der Nebel in San Francisco die Luft noch mal besonders dick und kühl, wodurch es dunkler zu sein schien als anderswo. Margot holte den Schlüssel hervor, öffnete den Container und warf den Karton hinein. Dann schloss sie den Deckel wieder, drehte sich um und wäre beinahe in ihren schlimmsten Albtraum hineingerannt: einen großen, bedrohlich aussehenden Mann.

Im schwachen Licht des Küchenfensters zeichnete sich seine Silhouette vor den Nebelschwaden ab.

Dank ihres jahrelangen Trainings reagierte sie sofort – mit einem Schwertwurf. Sie hatte den Shihō Nage mindestens schon hundertmal geübt. Und genauso wie die hundert Male zuvor, krachte der Angreifer mit dem Rücken auf die Pflastersteine. Ein schweres Brillengestell flog zur Seite. Die Luft entwich aus seiner Lunge wie aus einem Luftballon.

Sie nutzte die kostbaren Sekunden, um zurück ins Haus zu rennen. Panisch gab sie den Türcode ein. Dann stürzte sie hinein, knallte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Ihr Puls raste wie verrückt, und ihr Atem ging vor lauter Panik stoßweise. Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ihr Handy. Wo zur Hölle war ihr Handy?

2

Jerome Sugar sah Sterne, obwohl die Nacht nebelverhangen war. Er war mit dem Kopf so hart auf dem Boden aufgeschlagen, dass es ihm schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Einige alarmierende Sekunden lang konnte er auch nicht atmen. Er wühlte tief in seiner Hosentasche nach seinem Asthmaspray. Ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte er es im Auto gelassen. Keuchend wälzte er sich auf die Seite. Seine Brille war ihm beim Sturz von der Nase geflogen, und ohne sie war er praktisch blind.

Mit Mühe und Not sog er stöhnend tief Luft in seine Lunge und kam schließlich auf Hände und Knie. Er tastete auf den von Kies übersäten Pflastersteinen nach seiner Brille, bis er sie einen guten Meter weiter fand. Eins der Gläser war gesprungen. Na, super.

Er stand auf und spürte, wie sich an seinem Hinterkopf allmählich eine Beule bildete. Verflucht. Sich von einem verrückten Mädchen mit Pferdeschwanz außer Gefecht setzen zu lassen, hatte nicht auf seiner Agenda für diese Nacht gestanden.

Jerome ging hinüber zu der Tür, die zur Küche führte.

Er hatte nicht vorgehabt, heute Abend herzukommen, aber Verna war krank. Und da die Kinder bei ihrer Mutter waren, hatte Jerome angeboten, für sie einzuspringen. Als er als junger Mann angefangen hatte, hatte er nie gerne in der ersten Schicht gearbeitet, aber Ida B hatte stets betont, dass man nur dann alle Bereiche eines Unternehmens kennenlernte, wenn man auch in allen Bereichen eines Unternehmens arbeitete.

Er gab den Türcode ein und ging hinein.

Das Mädchen stand mit dem Rücken zur Arbeitsfläche, das Handy in der Hand. Okay, sie war eine Frau, kein Mädchen. Eine junge blonde Frau in kurzem Jeansrock und Cowboystiefeln – und mit nackten Beinen, die er vielleicht sogar bewundert hätte, wäre er in besserer Verfassung gewesen.

»Ich rufe die Polizei«, sagte sie und hielt das Handy hoch. Ihr Daumen schwebte über dem Display.

Er seufzte resigniert, rieb sich den Hinterkopf und zog seine Jacke aus. Dann ging er zur Spüle, um sich die Hände zu waschen. »Um ihnen was zu sagen?«, fragte er. »Dass ich zur Arbeit gekommen bin?« Er sah sie durch den Spiegel über der Spüle an und versuchte, sich durch ihre Augen zu sehen: groß und breitschultrig mit einem zerbrochenen Brillenglas. Er schlüpfte in eine weiße Kochjacke und drehte sich zu ihr um. »Machen Sie nur. Rufen Sie die Polizei. Wäre nicht das erste Mal. Aber es wäre wohl das erste Mal, dass mir das in meinem eigenen Lokal passiert.«

Sie ließ das Handy sinken und starrte auf seine Kochjacke, auf deren obere Tasche Sugar gestickt war. »Ach du lieber Gott. Jerome

»Und Sie müssen Margot sein.« Er trocknete sich die Hände ab und musterte sie von oben bis unten.

»E…es tut mir ehrlich leid«, stammelte sie, als er die Brille abnahm und mit einem Lappen reinigte. Der Riss ging einmal quer durch das Brillenglas. »Ich komme für den Schaden auf«, bot sie an.

Er setzte sich die Brille wieder auf. »Ich hab noch eine Ersatzbrille zu Hause.«

»Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe. Es tut mir so leid«, wiederholte sie. »Ich habe noch ein paar letzte Vorbereitungen getroffen und dachte, ich wäre allein hier … Sie haben mich erschreckt.«

»Ganz meinerseits.« Er betrachtete ihren Pferdeschwanz, die großen blauen Augen, die besorgt verzogenen rosa Lippen. Er bemühte sich, nicht noch mal auf ihre Beine zu schauen. Das war also die neue Restaurantinhaberin. Seine Mutter hatte gut von ihr gesprochen – ein zierliches Weißes Mädchen, süß wie ein Welpe und blitzgescheit. Allerdings hatte Ida B nicht ihren Hang zur Gewalt erwähnt. »Wo haben Sie gelernt, sich so zu bewegen?«

»Selbstverteidigungskurs.« Eine zarte Röte stieg ihr in die Wangen, und sie seufzte verlegen. »Es tut mir leid, dass ich Sie wie einen Angreifer behandelt habe.«

»Die meisten Mädchen mit Ihrem Aussehen denken das Schlimmste, wenn sie einem Kerl wie mir gegenüberstehen«, sagte er. Die Situation war ihm durchaus vertraut, was es nicht weniger demütigend und ermüdend machte.

»Ich bin nicht … Daran habe ich gar nicht gedacht. Total blöd, dass ich so reagiert habe. Ich will nicht so jemand sein. Ich hatte nicht erwartet, dass sich im Morgengrauen jemand an mich anschleicht.«

»Ich habe mich nicht angeschlichen.«

»Es war dunkel. Und noch mal: Es tut mir wirklich, wirklich leid.«

»Ist nur eine Idee, aber: Wenn Sie hier nachts allein sind, sollten Sie vielleicht nicht raus in die Gasse gehen.«

»Sie haben recht. Ich habe nicht vorausschauend gedacht, was bedeutet, dass ich die erste Regel der Selbstverteidigung missachtet habe … Geht es Ihrem Kopf gut? Brauchen Sie etwas Eis oder …«

»Ich muss anfangen zu arbeiten. Ich springe heute für jemanden ein.«

»Ach so. Kann ich helfen?«

Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck ließ das Rot ihrer Wangen noch kräftiger werden. »Ich meine, ich würde gerne helfen. Es ist mir ziemlich unangenehm, dass wir uns auf diese Art kennengelernt haben.«

»Es ist ein Uhr morgens«, erinnerte er sie.

»Ich bin hellwach. Und nervös wie nichts Gutes wegen der Eröffnung morgen. Ich schwöre: Ich bin gut in der Küche. Ich würde gerne helfen.«

Jerome wies mit dem Kopf zu den sauberen Kochjacken, die nebeneinander auf einem Ständer neben der Tür hingen.

Margot lächelte so breit, dass es heller zu werden schien. Dann tauschte sie die Cowboystiefel schnell gegen Küchenclogs. Verdammt. Er hätte ihr die ganze Nacht dabei zusehen können.

Er rief sich zur Ordnung. Das hier war Arbeit. Er war bei der Arbeit.

Sie trat hinüber zur Spüle und wusch sich die Hände. »Ich wusste, dass ich ohnehin nicht mehr schlafen kann. Deshalb bin ich hergekommen, um ein paar Sachen zu erledigen. Ich bin seit Tagen das reinste Nervenbündel.«

Das kannte er gut. Als er vor ein paar Jahren die Bäckerei übernommen hatte, war sein erstes Projekt gewesen, vorübergehend zu schließen und alles zu modernisieren. Es war riskant gewesen, Veränderungen an einem Ort vorzunehmen, der seit den siebziger Jahren ein fester Anlaufpunkt der Gemeinde war.

»Zuerst backen wir Brot«, sagte er und holte die Utensilien raus. »Mit den langen Laiben fangen wir in der Regel an.« Er spürte, dass sie jede seiner Bewegungen verfolgte. Dann fing sie an, ihm zu assistieren und seine Handgriffe nachzuahmen, während er die Teigknetmaschine füllte, in der der Teig gemischt und geknetet wurde. Er sah sofort, dass sie Erfahrung in der Küche besaß – die sicheren Handbewegungen, der aufmerksame Blick. Während sich die Knethaken drehten, bereiteten sie die Gärkörbe vor – Maismehl für die Baguettes und Sesamsamen für die italienischen Brote.

»Ich finde, Sie machen sich ganz gut«, sagte er. »Meine Mutter hat Kostproben von Ihren Gerichten mitgebracht. Die waren außergewöhnlich gut.«

»Danke. Freut mich, dass sie Ihnen geschmeckt haben.«

»Meine Jungs haben Ihr Essen verschlungen, als kämen sie halb verhungert aus einer Gefängniszelle.«

»Ihre Mutter ist ein großer Fan dieser Jungs. Asher und … Entschuldigung, ich habe den Namen des anderen vergessen.«

»Ernest«, half er ihr. »Benannt nach ihren Großvätern.«

»Das ist schön.« Ihr texanischer Akzent legte sich über ihre Worte. Er wusste nicht viel über sie, aber Ida B hatte erwähnt, dass sie aus Texas stammte. In einer lokalen Fachzeitschrift hatte er gelesen, dass das neue Start-up von einer angesehenen Private-Equity-Gruppe unterstützt wurde, die sich auf die Gründung von Restaurants spezialisiert hatte. Vielleicht war Margot Salton eine dieser privilegierten, treuhänderisch verwalteten Prinzessinnen, die Restaurant spielen wollten. Diesen Typ kannte er bereits – Menschen, die mehr in die Vorstellung von einem Restaurant verliebt waren als in die Arbeit, die in der Realität damit einherging. Doch als er sie nun dabei beobachtete, wie sie aus dem Teig mit geschickten Handgriffen Brotlaibe formte, begriff er, dass er seine Meinung eventuell revidieren musste.

Sie sah vielleicht wie eine feenhafte Prinzessin aus, war aber eine fleißige Arbeiterin, die mit anpackte, als er ihr zeigte, wie man die Laibe einritzte und sie dann in den Gärbereich brachte. Vielleicht war sie gar nicht so verkehrt. Während sie nebeneinander arbeiteten, begannen sie eine entspannte Unterhaltung.

»Was ist mit Ihnen?«, erkundigte sich Jerome. »Haben Sie Kinder?«

Verkrampften sich Margots Schultern? Zögerte sie einen Augenblick? Beides wäre seltsam gewesen, weil es sich um eine Ja-oder-Nein-Frage handelte.

»Nein«, sagte sie. »Es gibt nur mich, meinen Kater und den Kräutergarten auf meiner Terrasse.«

»Ida B sagt, Sie seien aus Texas hergezogen.«

»Sie nennen Ihre Mom Ida B?«

Er nickte. »Als ich hier zu arbeiten anfing, war ich vierzehn, und ich wollte nicht, dass die Leute dachten, ich wäre was Besonderes, nur weil sie meine Mom ist.«

»Ich habe auch mit meiner Mutter zusammengearbeitet. Ich wollte schon ewig mein eigenes Lokal eröffnen.« Sie zuckte nervös mit den Schultern. »Kann kaum glauben, dass es nun endlich so weit ist.«

»Salt«, sagte er. »Mir gefällt der Name, den Sie ausgesucht haben.«

»Danke. Ich glaube, den Namen habe ich mir vor allem anderen überlegt.«

»Klingt gut, wenn Sie mich fragen.«

»Ich hoffe, dass er den Leuten auch gefällt. Als ich mir die verschiedenen Locations angesehen habe, wusste ich sofort, dass es diese hier sein würde – wegen Sugar.« Sie strahlte. »Bin gleich zurück.« Sie verschwand in einem Lagerraum und kam mit einem Glas mit dem Label SUGAR+SALT – Soße aus eigener Herstellung zurück. »Die stelle ich seit meinen Teenagertagen her.«

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