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Die Blütenfreundinnen – Mandelträume

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Lesevergnügen mit Aussicht auf Mandelblüten

Nachdem Lena gezwungen ist, ihre Apotheke zu schließen, findet sie sich in einer tiefen Krise wieder. Währenddessen erhält Nicole das aufregende Jobangebot, zwei Mandelbauern aus Kalifornien als Übersetzerin nach Portugal zu begleiten, die dort ihre familiären Wurzeln erforschen wollen. Nicole überzeugt Lena, sie auf dieser Reise zu begleiten, in der Hoffnung, dass ein Tapetenwechsel ihre Stimmung aufhellen wird. Doch was als einfacher Ausflug beginnt, wandelt sich bald in ein unerwartetes Abenteuer. Inmitten der atemberaubenden Mandelblüten Portugals muss Nicole sich eingestehen, dass sie Lenas Schwermut alleine nicht vertreiben kann. In ihrer Not bittet sie Antonia und Kristin um Hilfe. Schnell eilen die beiden herbei. Wird es den Freundinnen gemeinsam gelingen, Lena wieder zum Strahlen zu bringen?


  • Erscheinungstag: 25.02.2025
  • Aus der Serie: Die Blütenfreundinnen
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365010013

Leseprobe

Ellen Martin

Die
Blüten
freundinnen

Mandelträume

Band 2

HarperCollins

Lena
Der letzte Tag

An diesem Morgen scheint Lenas Welt für einen Moment den Atem anzuhalten. Während Leute über den Marktplatz eilen, um letzte Besorgungen für das Weihnachtsfest zu erledigen, steht sie vor ihrer Apotheke, ihr Blick haftet an dem Firmenschild, das schon bald abgenommen wird. Die Lichter im Inneren wirken gedämpft, fast traurig, als könnten sie die Schwere in Lenas Herzen spüren. Es ist nicht nur ein Geschäft, das sie schließt, es ist ihr Lebenswerk, das endet.

Die letzten Wochen waren ein stetiges, zermürbendes Ringen um eine Lösung, einen Nachfolger zu finden, aber ihre Bemühungen waren vergebens. Die Tür, durch die so viele treue Kunden gegangen sind, schließt sich heute für immer. Der Gedanke daran lässt ihre Hände zittern und die Tränen unaufhaltsam strömen.

Lena wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, als sie den Laden betritt. Ihre treue Mitarbeiterin Julia ist schon da. Sie stapelt die letzten Schachteln, Zeugen des Ausverkaufs, der gestern seinen Abschluss fand. Ihr Blick, als sie aufschaut und Lena sieht, ist voller Mitgefühl und eigener Trauer.

»Ich kann es noch immer nicht fassen. Es ist wirklich vorbei«, wispert sie, eine Feststellung, die alles und nichts sagt.

Sie sitzen im hinteren Teil der Apotheke, umgeben von leeren Regalen und der Erinnerung an vergangene Gespräche.

»Ich werde dich vermissen«, sagt Lena, ihre Stimme bricht, und auch Julia kämpft mit den Tränen.

»Ich dich auch. Aber du wirst sehen, auch für dich kommen wieder bessere Tage.« Ihre Worte sind tröstend gemeint, doch der Trost stellt sich nicht ein. Julia wird im Januar eine neue Stelle antreten, während Lenas berufliche Zukunft ungewiss bleibt. Ihr Abschied zieht sich. Als Julia schließlich geht, steht die Tür einen Moment offen und kalte Luft strömt herein. Lena sieht ihr nach, bis sie um die Ecke verschwindet. Dann dreht sie sich um, blickt auf das, was einmal ihr ganzer Stolz war und jetzt nur noch eine leere Hülle ist. Schweren Herzens schließt sie ab und geht die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf.

Oben angekommen, steht ihr der Sinn nach nichts anderem, als sich ins Bett zu legen und sich unter der Decke zu verkriechen. Doch das ist keine Option. Ihr Bruder Martin erwartet sie zum Weihnachtsessen. Ein Fest, das ihr in diesem Moment unerträglich erscheint.

Sie zwingt sich, ein Outfit für den Abend zusammenzustellen. Der Gedanke, ihrer Mutter und ihrer Schwester gegenüberzutreten, die noch nichts von der Geschäftsaufgabe wissen, lässt die Angst in ihr aufsteigen. Wie erklärt sie ihnen, dass alles, wofür sie gearbeitet hat, verloren ist? Und was sagt sie ihrem Sohn Moritz? Auch er ist noch ahnungslos. Dass er Lena über die Festtage nicht besuchen konnte, hat sie mit großer Erleichterung aufgenommen. Wüsste er von ihrer Niederlage, würde er sofort von Paris zurück in die Heide kommen. Das darf sie nicht zulassen.

Ihrem Bruder und seinem Lebensgefährten Timo hat sie das Versprechen abgenommen, kein Wort über die Schließung zu verlieren. Nur unter dieser Bedingung stimmte sie ihrer Einladung zu.

Noch immer kann Lena nicht fassen, was ihr widerfahren ist. Der Tag, an dem Kripobeamte in Begleitung der Staatsanwaltschaft die Apotheke stürmten und eine Razzia in ihren Geschäftsräumen durchführten, hat sich wie ein Horrorfilm in Lenas Gedächtnis eingebrannt. Empört wies sie den Vorwurf von sich, illegal mit subventionierten Medikamenten zu handeln. Doch die Beweislage war erdrückend. Zwar stellte sich rasch heraus, dass nicht Lena, sondern eine ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen für die betrügerischen Machenschaften verantwortlich war, dennoch würde sie als Inhaberin zur Rechenschaft gezogen werden. Der Vorfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Ort. Das war’s. Aus die Maus. Lena blieb nichts anderes übrig, als das Handtuch zu werfen und ihre mühsam aufgebaute Existenz hinter sich zu lassen.

Nicole
Christbaumständer

Umgeben von buntem Papier und Schleifen, steht Nicole in der Küche und verpackt Geschenke für ihre Enkel, die sie später von ihr bekommen sollen. Dieses Weihnachten fühlt sich anders an als die letzten Jahre. Im ganzen Haus ist es leise, seit Sarah, ihr Mann Paddy und die Jungs ausgezogen sind. Um der Stille etwas entgegenzusetzen, dreht Nicole das Radio lauter und lässt sich von den typischen Weihnachtsliedern berieseln. Plötzlich klingelt es. Nicole wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster und entdeckt Jakubs Wagen. Ihr Gärtner, mit dem sie per Du ist, nachdem er sich im Herbst um das Laub gekümmert und Sarah und ihrem Schwiegersohn sogar beim Umzug geholfen hat, ist gekommen. Er bringt den Tannenbaum, den sie letzte Woche in der Plantage ausgesucht und reserviert hat.

Während Jakub in der Küche sitzt und Kaffee trinkt, sucht Nicole im Keller nach dem Baumständer, findet ihn aber nicht. Resigniert greift sie zum Telefon und ruft ihre Tochter an, um gleich darauf zu erfahren, dass sie ihn mitgenommen hat. Sarah erklärt, dass sie ihn dringender braucht als Nicole, da schließlich bei ihr gefeiert wird. Kopflos steht Nicole in der Küche, ohne eine Idee zu haben, wie sie ihren Baum nun aufstellen soll. Jakub, der das Gespräch mit angehört hat, bietet sofort an, einen neuen Ständer zu besorgen.

»Dafür hast du Zeit?«, fragt Nicole ungläubig. Er lächelt und schaut ihr tief in die Augen.

»Für dich doch immer.« Seine Worte rühren sie, aber zugleich macht ihr die Intensität seiner Blicke Sorgen. Nicole ist nicht bereit für eine neue Beziehung, und sollte es irgendwann doch so weit sein, dann gewiss nicht mit dem ehemaligen Arbeiter ihres verstorbenen Mannes Lutz, der sein Chef war.

Während Jakub unterwegs ist, bereitet Nicole die Dekoration vor und legt Kugeln, Sterne und Lichterketten auf den Wohnzimmertisch. Schon als Kind war Weihnachten für sie das schönste Fest des Jahres. Wenn alle zusammenkamen, der Duft von Tannenzweigen und Plätzchen durch das Haus zog und die Geselligkeit der Familie die Räume füllte, fühlte sie sich geborgen. Diese vertrauten Rituale übertrug sie in ihr späteres Leben, eine Tradition, die sie mit Lutz teilte. Nun, in diesem Moment, spürt sie seinen Verlust besonders schmerzlich. Weihnachten ohne ihn ist für Nicole eine Mischung aus warmen Erinnerungen und der Sehnsucht nach dem, was sie gemeinsam hatten.

Eine Stunde später schmückt sie zusammen mit Jakub die Tanne. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Im Vergleich zu ihren bisherigen Christbäumen verdient dieser auf einer Skala von eins bis zehn eine satte neun.

Draußen wird es dunkel, und Nicole spürt, dass es für Jakub Zeit wird, zu gehen.

»Wir trinken noch ein Glas Punsch zusammen, aber dann muss ich mich fertig machen«, verkündet sie, um seinen Abschied einzuleiten.

Eine Viertelstunde später schließt sich die Tür hinter ihm, und Nicole kann endlich tief durchatmen, geht duschen und zieht sich hübsch an.

Beim Verlassen des Hauses entdeckt Nicole ein Päckchen auf der Fußmatte. Neugierig öffnet sie es und findet ein goldenes Armband mit einem Anhänger – ein vierblättriges Kleeblatt. Ein Kärtchen verrät, dass es von Jakub ist.

Damit du immer Glück hast, hat er geschrieben. Sie kann nicht anders, als verschmitzt zu grinsen. Sie steckt es in ihre Handtasche und begibt sich auf den Weg zu Sarah.

Kristin
Kein Abend zu zweit

Nachdem Kristins Mann Holger wieder in ihr Leben getreten ist, verwöhnt er sie nach Strich und Faden. Ginge es nach ihm, würde er Heiligabend nur mit ihr verbringen. Aber daraus wird nichts. Ohne ihre Vermieterin Ilse zu feiern kommt für Kristin nicht infrage. Ilse war Kristins Retterin, die ihr in der schwersten Zeit des Lebens eine Wohnung im Obergeschoss ihrer Hamburger Stadtvilla vermietet hat, als Holger sie für eine Jüngere verließ.

Enttäuscht hebt er die Brauen. »Ich dachte, dieser Abend wäre nur für uns. Es ist nach zehn Jahren unser erstes Weihnachten. Ich möchte dich nicht auch noch mit Ilse teilen. Deine neuen Freundinnen nehmen schon genug von deiner Zeit in Anspruch.«

»Wir können sie nicht alleine lassen. Zu dritt wird es auch schön«, beteuert Kristin und legt die silbernen Serviettenringe auf den Tisch.

Ihm den Rücken zugekehrt, grinst Kristin, denn sie ist sich sicher, dass er sich über ihr Geschenk freuen wird. Eine Woche Urlaub in einem Chalet in den Alpen – nur sie beide – ohne Handy. Dabei hatten sie zuvor fest vereinbart, sich nicht zu beschenken. »Wir haben bereits alles, was wir brauchen. Und sollten wir doch einen Wunsch äußern, dann erfüllen wir ihn uns sofort«, tönte Kristin noch vor zwei Wochen großspurig. Auch Ilse hat sie eindringlich gebeten, auf Geschenke zu verzichten. »Dass du uns Gesellschaft leisten wirst, ist Geschenk genug.«

Gerade entzündet Kristin die Kerzen, als es klingelt. Strahlend und mit einer Flasche ihres Lieblingsweins in der Hand bedankt sich Ilse für die Einladung. Sie tritt ein und schnuppert. »Es duftet wunderbar«, sagt sie und blickt in die Küche.

Dort stoßen sie mit einem feinherben Aperitif an, bevor sie sich an den festlich gedeckten Tisch setzen und das Drei-Gänge-Menü genießen, das Holger und Kristin gemeinsam zubereitet haben.

Was die Kochkünste betrifft, ist Ilse voll des Lobes. Dennoch spürt Kristin, dass ihr etwas auf dem Herzen liegt.

Erst nach dem Dessert stellt Ilse die Frage, die ihr offensichtlich seit geraumer Zeit auf der Seele brennt.

»Bleibt ihr hier wohnen oder beabsichtigt ihr, nach München umzusiedeln?«

Noch bevor Kristin ihr die Sorge nehmen kann, antwortet Holger. »Das haben wir vorerst nicht geplant.«

Vorerst? Auf gar keinen Fall! Kristin wird gewiss nicht in das Haus ziehen, in dem ihr Mann ein Jahrzehnt mit einer anderen Frau gelebt hat. »Das steht gar nicht zur Diskussion«, stellt sie energisch klar.

Doch ihre Ansage scheint Ilse nicht zu beruhigen. Skeptisch schaut sie Holger an. »Und was ist mit deiner Firma? Die kannst du doch nicht dauerhaft aus der Ferne führen. – Bitte, Kinder, sagt es frei heraus, damit ich mich seelisch darauf einstellen kann.«

Sie nennt sie Kinder, was Kristin amüsiert. Holger und sie sind Mitte fünfzig, mit starker Tendenz zur sechzig. Doch rasch begreift Kristin, dass sie für Ilse ihre Familie darstellen. Was das betrifft, geht es ihnen wie ihr. Auch Holger und Kristin sind kinderlos. Augenblicklich denkt Kristin an Nicole und ihre quirligen Enkel. In ihrer Vorstellung sieht sie, wie lebhaft es an diesem Abend bei ihnen in der Heide zugeht.

»Es reicht völlig aus, wenn ich mich ein-, zweimal im Monat persönlich blicken lasse. Alles andere lässt sich heutzutage via Skype erledigen«, erklärt Holger und schaut Kristin dabei lächelnd an.

Kristin räumt den Tisch ab und fragt, wer einen Espresso trinken möchte. Ilse lehnt mit der Begründung ab, sie bekäme die ganze Nacht kein Auge zu, sollte sie so spät noch Kaffee trinken. Sie zieht einen Cognac vor.

Punkt zehn zieht sich die Besucherin in ihr Erdgeschoss zurück. Kristin nutzt die Zweisamkeit, kuschelt sich auf dem Sofa an Holger, sieht ganz still dabei zu, wie die Kerzen herunterbrennen und denkt nach. »Bereust du es, dass wir keine Kinder haben?«, will sie plötzlich von ihm wissen.

»Ach Schnuffel, Gedanken nach dem ›Was wäre, wenn?‹ sind doch sinnlos. Lass uns das Leben im Hier und Jetzt genießen.«

»Du hast recht«, stimmt sie ihm zu. »Wir haben zwar keine Kinder, aber wir haben uns, und das ist mehr, als ich mir vor ein paar Monaten hätte vorstellen können.«

Antonia
Telepathie

Insgeheim hatte Toni gehofft, diesen Abend in Gesellschaft von Verwandten und Freunden zu verbringen, aber eine Einladung von ihrer Nichte Sarah blieb aus. Auch ihre Freundinnen Kristin und Lena hatten andere Pläne. So sitzt sie allein in ihrem frisch renovierten Haus, das sich trotz des Knisterns des Feuers in ihrem neuen Kaminofen kalt anfühlt.

Die Einsamkeit drückt schwer auf ihre Brust. Sie vermisst die vertrauten Gesichter der Seniorenresidenz, in der sie bis zu ihrer Kündigung als Altenpflegerin beschäftigt war. Ihre Kollegen waren wie eine zweite Familie für sie, und jetzt, da sie nicht mehr arbeitet, fühlt sie eine Lücke, die schwer zu füllen ist. Zweifel machen sich in Toni breit. Vielleicht hätte sie doch nicht sofort hinschmeißen und sich gegen ihre zickige Vorgesetzte durchsetzen sollen. Aber der unverhoffte Geldsegen des Lotteriegewinns, den sie ihrem untreuen Ex-Partner listig abluchsen konnte, hat sie zu einem Höhenflug verleitet und ihr den Blick auf das vernebelt, was ihr bisher wirklich wichtig war: der Umgang mit Menschen, die ihre Hilfe benötigen und sie für ihren Einsatz wertschätzen.

In einem Anflug von Verzweiflung entscheidet sich Toni, einen Kuchen zu backen. Das Messen und Mischen der Zutaten lenkt sie für einen Moment von ihrer Traurigkeit ab.

Während der Kuchen im Ofen backt, plant sie, ihn zu Herrn Gruber zu bringen. Er war ein ehemaliger Bewohner der Residenz, die er jedoch verlassen hat, weil es ihm dort nicht gestattet wurde, seinen Hund bei sich zu behalten. Kurzum ist er ausgezogen und hat sich ein Zimmer in einer nahe gelegenen Pension gemietet. Zu ihm verspürt Toni eine tiefe Verbundenheit. Horst Gruber ist ein väterlicher Freund für sie geworden, und mit seiner Hündin Lilo war es Liebe auf den ersten Blick.

Toni stellt sich vor, wie seine Augen aufleuchten werden, wenn sie unangekündigt bei ihm auftaucht. Vielleicht werden sie zusammen in der Gaststube sitzen, den Kuchen mit der Wirtin teilen und angeregt plaudern. Dieser Gedanke lässt ihr Herz ein wenig leichter schlagen.

Das Gebäck ist fertig, golden und duftend, als es bei ihr klingelt.

Sie schaut aus dem Fenster und sieht ein Taxi abfahren. Verwundert öffnet sie die Tür und steht Horst Gruber und Lilo gegenüber.

»Na, das nenne ich Gedankenübertragung. Ich wollte mich auch gerade auf den Weg zu euch machen«, quietscht sie vor Freude und lässt Hund und Herrchen eintreten. Horst lässt Lilo von der Leine.

Ehe Toni sich versieht, rennt der Hund an ihr vorbei und stürmt ins Wohnzimmer. »Stopp«, ruft sie noch, aber zu spät. Mit einem Satz springt Lilo auf das neue Sofa.

Anstatt sich aufzuregen, fragt Toni, was sich in der Kiste befindet, die Horst mitgebracht hat.

»Orangen, Clementinen, Zitronen und so komische Gebilde, von denen ich nicht weiß, was das sein soll«, knurrt er. »Nimm du den Kram oder wirf ihn weg. Ich will das Zeug nicht.«

Weshalb Horst ›das Zeug‹ nicht behalten will, bedarf keiner Nachfrage. Die Zitrusfrüchte stammen von seinem Sohn, auf den er nicht gut zu sprechen ist, seit er ihn in ein Heim abgeschoben hat. Dennoch schickt der Junior seinem Vater regelmäßig Obst, das er in Spanien im großen Stil selbst anbaut.

Toni nimmt das gelbe, fingerartige Gebilde heraus und erklärt, dass es sich bei der Frucht um Buddhas Hand handelt. »Sie besitzt weder Saft noch Fleisch, aber die Schale ist essbar und sehr aromatisch. Spitzenköche stehen total darauf.«

Horst zeigt sich wenig beeindruckt von der skurrilen Köstlichkeit. »Apropos Essen. Im Forsthaus bleibt die Küche ab heute geschlossen. Ich habe herumtelefoniert. Im Steakhaus konnte ich noch einen Tisch reservieren. Darf ich dich einladen?«

»Sag die Reservierung ab. Ich koche für uns«, bestimmt sie und fragt, wie es im neuen Jahr mit der Pension weitergehen soll. »Hat die Wirtin wirklich vor, das Haus zu schließen?«

Er nickt. »Aber das Zimmer kann ich noch eine Weile behalten. Es gibt halt nur keine Verpflegung mehr.«

Das sind keine guten Nachrichten, denkt Toni und bittet ihn, ihr in die Küche zu folgen. »Was hältst du von Ente à l’Orange? Ich habe alle Zutaten eingekauft, aber für mich allein zu kochen, hatte ich keine Lust. Einverstanden?«

»Meinetwegen musst du dir keine Mühe machen. Ich bin auch mit einer Stulle zufrieden.«

Sie zwinkert ihm zu. »Das stellt doch keine Mühe für mich dar, sondern ist mir ein Vergnügen.«

Ihr Abend ist gerettet.

Nicole
Unzufriedene Nicole

Am ersten Weihnachtstag verspürt Nicole das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen. Nach der Völlerei bei ihrer Tochter und dem Verzehr des bunten Tellers mit Schokolade und Nüssen droht sie zu platzen. Das Wetter ist ungemütlich, der Himmel ist wolkenverhangen, aber es ist trocken. Deshalb entscheidet sie sich für eine Joggingrunde.

Eine halbe Stunde später steht sie unangemeldet bei ihrer Schwägerin vor der Tür.

»Dich gibt es noch?«, empfängt Toni sie schnippisch.

Nicole kann sich keinen Reim auf ihre angekratzte Laune machen und fragt direkt nach. »Bist du sauer, weil wir dieses Jahr nicht zusammen gefeiert haben?« Toni antwortet nicht und geht ins Wohnzimmer.

Bevor Nicole sich setzt, bemerkt sie einen dunklen Schatten auf dem Sofa. Vermutlich hat Tonis schwarze Jeans abgefärbt, mutmaßt sie und erinnert sich an den Tag, als sie gemeinsam mit Kristin im Möbelhaus waren und Toni sich trotz Nicoles Bedenken für das empfindliche wollweiße Modell entschieden hat.

»Das war Lilo«, erklärt Toni, während sie Holzscheite in den überheizten Kaminofen legt.

Nicole zieht ihren Pullover aus. »Du hättest vorher eine Decke aufs Sofa legen sollen.«

Toni zieht eine Grimasse, doch Nicole fährt fort. »Versuch es mit einem feuchten Mikrofasertuch – ohne Seife. Nur mit Wasser.«

»Das habe ich schon probiert, allerdings mit mäßigem Erfolg«, erwidert sie trocken.

Nicole wundert sich über Tonis Gleichgültigkeit. Früher hätte sie sich über den kleinsten Fleck aufgeregt, doch seit dem unerwarteten Lotteriegewinn scheint ihr alles egal zu sein. »Was ist los mit dir? Du könntest doch jetzt glücklich sein. Du bist gesund, kannst tun und lassen, was du willst, und hast keinerlei finanzielle Sorgen.«

Toni atmet schwer. »Geld macht nicht glücklich. Es wärmt dich nicht, wenn du allein bist.«

Nicole wischt sich einen Schweißtropfen von der Stirn und fragt sich, ob das der Grund ist, weshalb hier eine unerträgliche Bullenhitze herrscht. »Geht es um Heiligabend? Darum, dass Sarah dich nicht eingeladen hat? Bist du deshalb so angekratzt?«

»Quatsch, der Abend mit Gruber war nett.«

»Du trauerst doch hoffentlich nicht deinem Ex nach?«

Vehement schüttelt Toni den Kopf. »Mir fehlt die Arbeit. Ohne Aufgabe werde ich noch verrückt. Ich langweile mich hier zu Tode.«

»Dann sprich mit deinem ehemaligen Chef. Er würde dich sicher zurücknehmen.«

Aber Toni denkt nicht daran. »Ich werde nicht vor ihm kriechen. Und wie läuft es mit deiner Jobsuche? Hat jemand auf deine Bewerbungen geantwortet?«

Das ist tatsächlich der Fall. Eine Reiseagentur hat angefragt, ob Nicole als Dolmetscherin zur Verfügung steht. Sie hat nicht geantwortet, denn sie ist Übersetzerin, keine Dolmetscherin. Schriftlich ist sie stark, aber sprechen, womöglich noch simultan, ist eine ganz andere Herausforderung.

Um die Stimmung zu heben, schlägt Nicole vor, Silvester bei ihr zu feiern. »Ich lade Lena und Kristin auch ein.«

»Vergiss es! Kristin und Holger fahren über Neujahr in die Berge, und Lena wird nicht kommen. Sie hat schon unser Adventskochen mit fadenscheinigen Begründungen abgesagt.«

Nicole kann nicht ausdrücken, wie leid ihr ihre gemeinsame Freundin tut, aber Mitleid ist keine Lösung. Lena braucht Unterstützung. Wer könnte besser helfen als sie? Schließlich sind sie jetzt Freundinnen, die nicht nur gemeinsam kochen, sondern sich bei Problemen und in der Not beistehen. Und Lena steckt gerade knietief in Sorgen fest.

Toni unterbricht ihre Gedanken und deutet auf Nicoles Armband. »Was ist das? Ist das neu?«

»Ja, es war ein Weihnachtsgeschenk«, verrät Nicole, behält jedoch für sich, von wem sie es erhalten hat. Um von sich abzulenken, greift sie zum Handy und ruft Lena an, doch wie die vielen Male zuvor springt sofort ihre Mailbox an. Ihr eine Nachricht zu hinterlassen macht wenig Sinn. Auf die letzten hat sie nicht geantwortet. »Morgen fahre ich zu ihr. Dann werde ich so lange klingeln und an die Tür klopfen, bis sie mir öffnet.«

Lena
Störenfriede

Lena liegt auf dem Sofa, eingewickelt in eine flauschige Decke. Im Fernsehen läuft eine kitschige Weihnachtsschmonzette, doch die Sorgen um ihre Zukunft überlagern das Geschehen auf dem Bildschirm. Ihr Herz schlägt unruhig, wenn sie daran denkt, dass die Kosten für die Ladenmiete weiterlaufen, obwohl sie keine Einkünfte mehr hat. Wie lange ihre Ersparnisse ausreichen werden, hat sie noch nicht ausgerechnet. Bisher fehlte ihr die Kraft, sich damit auseinanderzusetzen. Während sich die Hauptdarstellerin des Films neu verliebt und sich ihr Leben mithilfe ihrer Bilderbuchfamilie im Handumdrehen zum Besseren wendet, grämt Lena sich. Ihre Familie ist, abgesehen von ihrem Bruder und seinem Partner Timo, weit davon entfernt, ihr solch eine Stütze zu sein. Aber wie sollten sie auch? Sie wissen noch nichts von ihrem Dilemma. Beim Familienessen war ihre Mutter die alleinige Wortführerin, die ununterbrochen von ihren Abenteuern als Granny-Nanny in Amerika berichtet hat, indes Lena nur eine stumme Statistin war, aber dankbar, im Hintergrund bleiben zu können.

Plötzlich klingelt es. Lena zuckt zusammen, zieht sich die Wolldecke über den Kopf und tut so, als wäre sie nicht da. Doch das Klingeln hört nicht auf. Kurz darauf folgt ein beharrliches Klopfen an ihrer Wohnungstür. Sie hört die Stimme ihrer Schwester. »Mach auf, Lena! Ich weiß, dass du da bist!«

Widerwillig und mit einem tiefen Seufzer schiebt Lena die Decke zur Seite und steht auf, wohl wissend, was jetzt auf sie zukommt.

Langsam öffnet sie die Tür. Therese, immer direkt, stellt sofort die Frage, die Lena gefürchtet hat. »Wieso steht deine Apotheke leer?«

Sich ausgerechnet ihrer älteren Schwester zu öffnen, fällt Lena ausgesprochen schwer. Die beiden verbindet keine tiefe Geschwisterliebe. Es scheint, als hätte sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufgebaut, die bereits in ihrer Kindheit entstanden ist. Schon damals zeigte sich Therese als kaltschnäuzige Egoistin, die für Lena und ihren jüngeren Bruder nur Hohn und Spott übrighatte. Diese ungleiche Dynamik verhinderte, dass sie sich jemals auf Augenhöhe begegneten, und macht es Lena auch jetzt unmöglich, sich ihrer Schwester anzuvertrauen.

»Ist das nicht offensichtlich?« Lenas Stimme ist leiser als beabsichtigt. »Ich habe das Geschäft aufgegeben.«

»Warum?«

Ohne sie in alle Details einzuweihen, antwortet Lena kurz und bündig. »Es lohnte sich nicht mehr. – Wieso bist du hier? Ich dachte, du wolltest schon gestern nach Hause fahren?«

»So war es geplant, aber es ist etwas passiert.« Therese berichtet, dass es nach Lenas Abgang am Heiligabend zu einem Zwischenfall gekommen ist. Ihre Mutter soll einen Schwächeanfall erlitten haben.

Lena zweifelt. »Nachdem sie den ganzen Abend geredet hat, wird sie wohl eine trockene Kehle bekommen haben und hat ein Glas Wein zu viel getrunken.«

Therese wirkt besorgt. »Kurz über lang kann Agnes nicht mehr allein leben.«

In Lena brodelt es. Sie ärgert sich über Therese, die sich mal wieder als Familienoberhaupt aufspielt, alles weiß, aber selber nie einen Finger rührt.

»Auf mich kannst du nicht zählen. Ich weiß selber nicht, wie es mit mir weitergeht.«

Doch gerade diesen Umstand nutzt Therese als Argument. »Martin und ich sind berufstätig. Wir sind raus, während du jetzt Zeit hast, dich um Mutter zu kümmern.«

Lena zeigt ihrer Schwester einen Vogel und unterstellt ihr, mal wieder maßlos zu übertreiben. »Mach nicht ständig aus einer Mücke einen Elefanten. Agnes ist fit, sogar so fit, dass sie sich in den USA um fremde Kinder kümmern kann.«

»Sie ist einsam. Siehst du das denn nicht?«

Jetzt ist es so weit. Lena reißt der Geduldsfaden. Wer stand denn bisher immer zur Stelle? Das war ich, die Agnes zum Arzt begleitet, beim Putzen geholfen und Einkäufe erledigt hat. Mich hat sie angerufen, wenn sie mal wieder vor verschlossener Tür stand, weil ihr der Schlüssel abhandengekommen war. »Dann lass dich häufiger bei ihr sehen, statt nur ab und zu anzurufen und ständig die Verantwortung auf mich abzuwälzen. Bisher war ich es, die sich regelmäßig um sie gekümmert hat. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.«

Augenblicklich ändert Therese ihren Ton. Offensichtlich sieht sie ein, dass sie Lenas Argumentation nichts entgegenzusetzen hat. Die anfängliche Brisanz ihrer Schilderung rückt in den Hintergrund. »Nun, ich wollte dich nur vorwarnen.«

»Besten Dank«, erwidert Lena und sieht ihre Zukunft dunkelgrau. Nach einer lieblosen Kindheit hegte sie den Wunsch, alles besser zu machen als ihre Mutter. Sie träumte von einer heilen Familie und ließ sich auf einen Mann ein, der ihr den Himmel auf Erden versprach. Mit ihm wollte sie ein harmonisches Familienleben führen. Doch er entpuppte sich rasch als Fehlgriff. Noch vor der Geburt ihres Sohnes gab sie ihm den Laufpass und war fortan eine alleinerziehende Mutter, die trotz aller Widrigkeiten den Schritt in die Selbstständigkeit wagte.

Wann bin ich endlich dran? Habe ich es nicht verdient, endlich mal Glück zu haben, fragt sie sich stumm, als es erneut klingelt.

Jeder, der das Zusammentreffen mit ihrer Schwester stört, ist ihr in diesem Moment willkommen. Dieses Mal zögert sie nicht und öffnet sofort die Tür.

»Ich habe dir zig Nachrichten geschickt«, beschwert sich Nicole und tritt ein. Ihre warme Umarmung und ein kleines Präsent erhält Lena bereits im Flur. Prüfend schaut Nicole sie an. »Wie geht es dir, Süße? Wir haben dich vermisst. Und ganz ehrlich, wir machen uns Sorgen.«

Lena atmet schwer auf und bittet dann ihre fürsorgliche Freundin, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Dort macht sie Nicole mit ihrer Schwester bekannt. Beide reichen sich förmlich die Hand während Lena Nicoles fragender Gesichtsausdruck nicht entgeht.

»Ich wusste gar nicht, dass du noch weitere Geschwister hast. Ich dachte stets, du hättest nur einen Bruder.«

Lena spürt, dass Therese diese Aussage nicht schmeckt. Der vorwurfsvolle Blick ihrer Schwester trifft sie mit voller Wucht. Lena ist bemüht, die Situation zu entschärfen. »Therese wohnt im Norden an der dänischen Grenze. Wegen der Distanz sehen wir uns leider nicht so oft.«

Ihr ›leider‹ zeigt besänftigende Wirkung. Doch nur kurz. Therese wendet sich unverhohlen an Nicole. »Haben Sie gewusst, dass Lena die Apotheke aufgegeben hat?«

Nicole nickt, und Lena betet, dass sie kein Wort über die Razzia verliert, die zwar nicht der Grund, aber der ausschlaggebende Punkt für ihre Entscheidung war.

Nicole kompromittiert sie nicht. »Ich will euch nicht lange stören, sondern bin nur gekommen, um dich Silvester zu mir einzuladen.«

Lena redet sich heraus. »Mal sehen.«

»Nee, nee, meine Süße. Keine weiteren Ausflüchte! Toni kommt auch. Ich rechne fest mit dir.«

Wieso begreift niemand, dass Lena nur ihre Ruhe haben möchte? Ihr steht weder der Sinn danach zu feiern noch sich mit ihrer Schwester zu kabbeln. Sie braucht dringend einen triftigen Grund, um beide loszuwerden.

»Bitte, seid mir nicht böse, aber ich bin mit meinem Sohn verabredet. Wir beide wollen gleich miteinander chatten. Danke für euren Besuch. Komm gut nach Hause, Therese. Wegen Silvester melde ich mich bei dir, Nicole.«

So wie beide schauen, glauben sie Lena kein Wort, aber sie folgen ihrer Bitte und lassen sie allein.

Nicole
Silvester

Ungeduldig wartet Nicole auf das Eintreffen ihrer Gäste. Wie es seit Jahren bei ihr Brauch ist, hat sie beim Bäcker Berliner besorgt, das Wohnzimmer mit Girlanden und Luftschlangen dekoriert und überall kleine Talismane aufgestellt. Rosa Schweinchen aus Marzipan, vierblättrigen Klee und kleine Schornsteinfegerfiguren sollen das Glück symbolisieren, das sie all ihren Lieben aus tiefstem Herzen für das neue Jahr wünscht. Auf dem Esstisch stehen Schälchen mit Dips und süßsauren Beilagen, die sie zum Fondue reichen wird. Sollte es nach dem Essen langweilig werden, könnte sie noch anbieten, Blei zu gießen. Aber davon geht sie nicht aus. Es wird ein unbeschwerter Abend, daran glaubt sie fest.

Punkt acht klingelt Toni. Sie hat nicht nur Sekt mitgebracht, sondern auch einen Bärenhunger. »Bitte lass uns nicht mit dem Essen warten, ich hatte heute Morgen lediglich Cornflakes zum Frühstück. Hör doch mal, wie laut mein Magen knurrt«, sagt sie und nimmt am gedeckten Tisch Platz.

Doch Nicole ist noch nicht bereit, das Rechaud anzuheizen. Sie will warten, bis Lena eintrifft.

Toni verzieht das Gesicht und greift in den Brotkorb. Während sie eine Scheibe Baguette mit Knoblauchcreme bestreicht, spricht sie ihre Vermutung laut aus. »Ich glaube nicht, dass sie kommt.«

Die beiden warten eine geschlagene Stunde, dann reißt Nicole der Geduldsfaden, sie ruft bei Lena an. Doch mal wieder landet sie nur auf der Mailbox.

»Wir fangen jetzt an!«, bestimmt Toni und greift zum Feuerzeug, um die Brennpaste anzustecken.

»Ich muss erst wissen, was mit Lena los ist. Komm! Wir fahren zu ihr und sehen nach dem Rechten.«

Widerwillig folgt Toni ihr.

Zehn Minuten später erreichen sie den Marktplatz, auf dem Jugendliche Böller abfeuern. Unter Beschuss schaffen sie es, zum Hauseingang zu gelangen, der nicht verschlossen ist.

Oben angekommen, tönt Musik aus der Wohnung. Toni klingelt, während Nicole mit der Faust an die Tür hämmert. Eine gefühlte Ewigkeit später dreht sich der Schlüssel im Schloss, und Lena öffnet einen Spaltbreit. Sie sieht furchtbar aus. Die Haare zerzaust, die Augen glasig und ihre Stimme ist nur ein leises Flüstern. »Tut mir leid, ich habe verschlafen.«

»Wie kann man bei dem Lärm, der draußen und drinnen bei dir vorherrscht, schlafen?«, fragt Nicole und nimmt Lena prüfend ins Visier. »Hast du getrunken?«

Lena schüttelt den Kopf. »Nicht einen Tropfen.«

»Ich auch nicht«, mischt Toni sich verärgert ein und stellt das Radio leiser. »Deinetwegen habe ich mich bisher mit Brot und Wasser begnügen müssen. Dabei hat Nicole ganz groß aufgetischt. Also, beweg deinen dicken Hintern und komm in die Puschen! Und zwar ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf!« Mit einem Schubs befördert sie Lena in Richtung Badezimmer. »Wasch dir das Gesicht mit kaltem Wasser«, befiehlt sie und reicht ihr eine Bürste, mit der sie ihr Haar richten soll.

Tonis rigorose Ansage zeigt Wirkung. Lena dreht den Wasserhahn auf.

Währenddessen wandert Nicole durch die Wohnung. Ihre Augen fallen auf eine leere Medikamentenpackung auf dem Küchentisch. Sie studiert die Aufschrift. Gleich darauf verzieht sie besorgt das Gesicht. »Sie hat diese Pillen eingenommen«, flüstert sie Toni zu.

»So was dachte ich mir schon. Schließlich sitzt sie noch immer an der Quelle.«

Nicole legt die Beruhigungstabletten zurück und seufzt. »Wir müssen ein Auge auf sie haben.«

Als Lena wenig später aus dem Badezimmer kommt, sieht sie zwar frischer aus, ist aber noch immer etwas wackelig auf den Beinen. »Es tut mir wirklich leid, ich wollte nicht …«, beginnt sie, doch Nicole unterbricht sie sogleich.

»Jetzt reden wir nicht mehr darüber. Heute Abend zählt nur, dass wir zusammen sind und ins neue Jahr feiern.«

Noch bevor sie die Wohnung verlassen, wirft Toni Lena eine warme Jacke zu. »Zieh die an! Es ist eiskalt draußen.«

»Jawohl, Sir«, salutiert Lena und folgt den beiden zum Parkplatz.

Um die Stille zu unterbrechen, sagt Nicole während der Rückfahrt: »Ich hoffe, ihr habt trotz der späten Stunde noch Appetit.« Toni bejaht lautstark, Lena schweigt.

Erst als sie Nicoles Haus betreten und Lena sieht, wie viel Mühe sich die Gastgeberin gegeben hat, erwacht sie aus ihrer Lethargie. »Wow, du hast Fondue vorbereitet. Was für eine tolle Idee. Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gegessen.«

Ein Gesprächsthema ist schnell gefunden. Sie reden über die abwesende Kristin und ihren wagemutigen Schritt, sich noch einmal auf Holger einzulassen.

»Ich könnte das nicht. Für mich käme es niemals infrage, meinen Ex wieder in mein Leben zu lassen«, erklärt Toni und stellt gleich zwei Gabeln mit Fleisch ins heiße Fett. Dabei kommt sie auf Gruber zu sprechen. »Wenn das Forsthaus endgültig schließt, stehen Horst und Lilo auf der Straße. Weiß jemand von euch, wo es eine freie Wohnung für sie gibt?«

»Ich habe ein Gewerbeobjekt im Angebot, aber das kommt wohl nicht infrage«, antwortet Lena scherzhaft. Gleich darauf macht sie ein ernstes Gesicht. »Wenn der Vermieter nicht einlenkt, muss ich noch ein ganzes Jahr Miete bezahlen. Und die ist nicht von Pappe.« 

»Wie hat denn dein Sohn auf die Nachricht reagiert?«, erkundigt sich Nicole und nippt an ihrem Weinglas.

»Gar nicht. Moritz ist noch ahnungslos. Bisher gab es keine Möglichkeit, es ihm zu sagen.«

Irritiert schaut Nicole auf. »Aber du hast doch Weihnachten mit ihm gechattet.«

»Das habe ich nur behauptet, um meine Schwester loszuwerden. Zwar habe ich ihr das Versprechen abgenommen, ihr Wissen für sich zu behalten, aber offensichtlich hat sie es doch rumerzählt, denn meine Mutter ruft pausenlos bei mir an.«

»Mensch, Lena. Dich in dein Schneckenhaus zurückzuziehen, ist doch keine Lösung. Sag endlich die Wahrheit, insbesondere zu Moritz, bevor dein Sohn es von anderer Seite erfährt.«

»Ich weiß. Aber ich kann es ihm nicht am Telefon mitteilen.«

»Dann fahr zu ihm. Zeit hast du doch nun«, schlägt Toni vor.

Dieser Vorschlag bringt Lena dazu, höhnisch zu lachen. »Wovon? Einen Trip nach Paris kann ich mir in der aktuellen Situation nicht leisten.«

»Ich gebe dir das nötige Reisegeld«, bietet Toni generös an. »Du musst es mir auch nicht zurückzahlen. Ich schenke es dir.«

Lena lehnt das großzügige Angebot ihrer neureichen Freundin entschieden ab.

»Mir kommt ein anderer Gedanke«, mischt Nicole sich ein und bittet um ungeteilte Aufmerksamkeit. »Ihr wisst doch, dass ich seit geraumer Zeit auf Jobsuche bin. Bisher habe ich entweder Absagen erhalten, oder die Firmen haben sich gar nicht zurückgemeldet. Bis auf eine. Ich fand ein ungewöhnliches Jobangebot in meinem Posteingang.« Nicole macht es spannend und schenkt erst nach, bevor sie weiter ausführt: »Eine Reiseagentur sucht mehrsprachige Reisebegleiter für ihre ausländischen Kunden. Weil ich in meiner Annonce explizit erwähnt hatte, dass ich eine Aufgabe im Homeoffice suche, habe ich keinen weiteren Gedanken daran verschwendet und die Mail sogleich in den Papierkorb verschoben. Doch dann dachte ich, dass es kein guter Stil ist, nicht darauf zu reagieren. Ich habe angerufen und erfahren, dass es darum geht, zwei Amerikaner von Paris mit dem Auto nach Portugal zu bringen. Aber je länger ich darüber nachdenke, könnte ich mir durchaus vorstellen, den Auftrag anzunehmen.« Sie stupst Lena an. »Vorausgesetzt, du kommst mit. Denn allein traue ich mir diese Aufgabe nicht zu.«

Erstaunt schaut Lena auf. »Wie kommst du auf mich?«

»Der Job wird gut bezahlt, und ich würde halbe-halbe mit dir machen. Was meinst du?«

Lena zieht eine Grimasse. »Ich bin doch keine Reiseleiterin.«

»Nein, du bist eine arbeitslose Apothekerin, der ich gerade die Möglichkeit biete, umsonst nach Paris zu fahren und anschließend den Frühling im Süden Europas zu genießen und dafür auch noch bezahlt zu werden.«

Toni will wissen, ob es sich wirklich um ein seriöses Jobangebot handelt und warnt vor dubiosen Anbietern, bei denen man womöglich noch draufzahlt.

Nicole stellt ihr Tablet an, geht online und präsentiert die Website des Unternehmens. »Seht her, sie suchen noch weitere Dolmetscher/-innen.«

»Aber du bist doch nur Übersetzerin«, wundert sich Toni.

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