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Die Alleinseglerin

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Die Wiederentdeckung des DDR-Bestsellers über die Herausforderung, den Traum von Freiheit zu leben

Almut, eine alleinerziehende Literaturwissenschaftlerin, übernimmt von ihrem Vater ein Segelboot, einen Drachen – wunderschön, doch viel zu groß und viel zu kostspielig für sie. Bald verschlingt der Drache all ihre Zeit und ihr Geld. Sie verbringt die Wochenenden nur noch am See, mit der Instandhaltung und Renovierung beschäftigt, oder läuft auf der Suche nach Lack, Sandpapier, Planstoff durch ganz Ostberlin. Die anderen Bootsbesitzer, alles Männer, belächeln sie – so ein Boot sei nichts für eine einzelne Person, schon gar nicht für eine Frau. Mehrfach versucht sie den Drachen zu verkaufen, aber dann kann sie sich doch nicht von ihm trennen. Denn mit ihm entdeckt sie eine Freiheit, die sie weder in ihrem Land noch in einer Beziehung je finden konnte.

Dieser zeitgemäße moderne Klassiker bricht eine emanzipatorische Lanze, die an Aktualität bis heute nicht verloren hat.

»›Die Alleinseglerin‹ ist eine intelligent komponierte Erzählung, die von weiblichem Eigensinn handelt. Und zu gleich ist sie eine stilistisch brillante Etüde über das Loslassen.« Katharina Teusch, Die Zeit

»Die Neuauflage der „Alleinseglerin“ ist eine bereichernde Wiederentdeckung.« Emilia Kröger, FAZ

»Dieser Roman […] lebt von einer Sprache, die rhythmisch auf und ab wogt, sich von einfachen Hauptsatz-Reihungen zu Parataxen aufschwingt, mal nüchtern registriert, dann malerisch-atmosphärisch erzählt, und den Leser im sanften Wellengang schaukelt.« Marlen Hobrack, Welt am Sonntag



  • Erscheinungstag: 23.08.2022
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000732

Leseprobe

Für Hanns

I

Ich weiß nicht, warum gerade heute die Erinnerungen kommen. Es ist Februar. In Mailand regnet es. Ich gehe durch die nassen Straßen der Steinstadt, den Blick woandershin gerichtet, auf einen Ort jenseits dieser Mauern, Dächer, Fernsehantennen.

Dort im Norden schneit es. Flocken ertrinken im See, legen sich auf die Dächer am Ufer, taumeln durch die Kronen der Kiefern auf die schwarze Nadelschicht am Boden. Die Farben, die wenigen, die noch waren, erlöschen. Es schneit immerzu, das Weiß wird stärker, schmerzhaft beinah; der Schnee sinkt, rieselt, treibt zwischen den hohen Stämmen. Stille. Nur der Wind hat Stimmen, vom See her. Ein Sog, ein Ziehen in unüblicher Richtung hat mich erfaßt: von Süd nach Nord.

Dort im Wald, auf einem monströsen Karren mit zwei verrosteten Eisenrädern, viermal abgestützt und an einen Kiefernstamm gelehnt, steht das Boot. Von den Planen verdeckt, scheint es schwerfällig und massig, mit seinem grindigen Kiel, dieser Riesenbauchflosse, aber ich kenne es zu genau, habe seine Maße zu oft genannt, ich weiß, daß es neun Meter lang ist und zweieinhalb Meter breit und daß es einen Meter fünfzig Tiefgang hat, schwimmend oder an Land unter einer Plane im Schneetreiben. Ein großes altes Boot, pflegebedürftig und kostspielig. Man soll sein Herz nicht an Dinge hängen. Ich hänge an ihm.

Februar. Es regnet. Wenn man nachts das Fenster aufmacht, ist der stockende, wütende Autostrom durch die breiten, immer zu engen Straßen fast versiegt. Es riecht nach Luft. Nach Frühjahr beinah. Vielleicht hat der Geruch der Lackfarbe, mit der ich heute nacht in der Küche Blechdosen bepinselte, gemischt mit der Nachtfeuchte, die ich zum Fenster hereinließ, meine Erinnerungen heraufgeholt. In einer bestimmten Zeit gehörten der Geruch nach Frühling und der Geruch nach Lackfarben zusammen. Es war keine Verbindung, die mich froh machte. In jener Zeit, als ich Bootseigner war, brach bei mir nicht jener freudige Aktivismus der Wassersportler aus, wenn der Schnee schmolz, nur ein Gefühl von lastenden Pflichten, von Sklaverei: unfreie Wochenenden für lange Zeit, nach Halböl stinkende Hände, entzündete Augen vom Staub der abgeschliffenen Farbe. Schon im voraus sah ich die Kupferkleckse vom Unterwasseranstrich in meinem Haar und auf der Stirn und fühlte die Schultern schmerzhaft vom kreuzweisen Pinselschlag mit der Vorstreichfarbe. Ich versuchte mich hinter anderen dringenden Arbeiten zu verschanzen, hatte Erkältungen, Dienstreisen, keine Farben – und das machte alles erst recht schlimm.

Aber jetzt denke ich weniger an die Kreuzschmerzen und die eisigen einsamen Nächte im Holzhaus beim Boot dort draußen. Ich sehe das tauende Eis auf dem See – wie große graue Flecke trieben die Schollen –, die nackten hohen Bäume in einem eigentümlichen Licht, die Rutenbündel der Büsche, wie durchsichtig alles. Unter dem trockenen, staubenden Laub, den tellergroßen Blättern der Bergeiche, fand ich jedes Jahr an denselben Stellen wieder Veilchen. Und schließlich kam die Lust, nach all dem Schaben, Schleifen, Ölen, Verkitten, Vorstreichen, eine glänzend weiße Lackfläche herzustellen. Ein weißes Boot.

Von all dem wußte ich nichts, als ich den weißen Drachen zum erstenmal sah. Ich wußte nicht, wie ein Boot von unten aussieht, wußte nicht, wie lang neun Meter für die eigenen Armmuskeln werden können und wie endlos ein Mast in der Horizontalen ist, wenn man ihn mit Sandpapier abschleift, ich wußte sehr wenig von Booten. An einem Sommertag nahm er mich zum erstenmal mit an den See. Vielleicht hielt er mich, Studentin im zweiten Semester, für reif genug, den See, das Wochenendhaus, das Boot kennenzulernen: diesen Teil seines Lebens. Das Auto blieb auf dem oberen, verwilderten Teil des Grundstücks, ein Weg führte unter Kiefern abwärts zum Ufer. Plötzlich ein Gärtnergarten: Rasen, Spiräa, Rhododendron, Rittersporn unter hohen Eichen. Nur ein paar Schritte, da war schon der See, von einem hohen Schilfwall eingeschlossen. Auf der Terrasse vor dem Holzhäuschen blieben wir stehen. Die Steine waren weiß; Marmor, sagte er, Säulenstücke aus Berliner Kriegstrümmern, in Scheiben geschnitten; er zeigte mir die Kannelierungen. Der helle Stein, die unsichtbare Anwesenheit von Säulen gaben diesem Platz unter der hohen seewärts geneigten Birke an jenem Sommertag etwas Festlich-Vollkommenes, und ich spüre es noch immer, aber ferner und nicht mehr so klar, seit er nicht mehr da ist.

Verschiedene Gepäckstücke waren vom Auto unter den Kiefern ins Häuschen an den See zu bringen, auch Kartons mit Getränken, aus denen eine Flasche Weißwein sogleich hinter dem Haus in einen Eimer mit frisch gepumptem erdkaltem Brunnenwasser gesenkt wurde.

Ich bewunderte ihn, er hatte Geschmack, er genoß das Einfache. Die märkischen Kiefern, die Eichen am See, die Birke über weißen Marmorplatten, das Häuschen mit der großen Glastür, hinter der ein einziger Raum lag, klar und geordnet, und darüber die Veranda. Ich bewunderte ihn, ich verachtete ihn. Auto, Waldstück, Seeufer, Terrasse, Haus – mir paßten diese Privilegien nicht zu seinen Reden von der neuen Gesellschaft. Beim Hin- und Hergehen vom Auto zum Haus warf ich von der Terrasse einen Blick auf den See. In der Schilfwand war eine Lücke. Eine kleine Erle neigte sich über den Holzsteg, der weit hinausführte in das kleinwellige Wasserglitzern. Am Ende des Stegs, neben der Plattform, lag das Boot, unmerklich schaukelnd, ein hoher Mast, ein langer Körper, von einer Plane verdeckt. Zwanzig Pfähle hatte er in den Seegrund treiben und sie mit Kanthölzern und Bohlen decken lassen, fünfzig Meter weit in den See hinein, das verlangte der Tiefgang. Da lag das Boot, der Renommierkahn, das Prachtschiff, seine Tollheit. Der ganze Preis war draufgegangen, mit dem er für seinen Block E in der Stalinallee belohnt worden war, sein ganzer Anteil am Kollektivpreis, und noch einiges dazu. Immer hatte er ein Boot haben wollen, sein ganzes Leben lang, seit er als Junge mit einem selbstgebauten Kahn aufs Wasser gegangen war, auf den Fluß, der durch seine Vaterstadt Lübeck fließt und dessen Name mir nicht gewärtig ist, denn nie bin ich in jene Gegenden des Auslands gekommen. Er war über sechzig, als er wieder zu segeln begann, sogar in Regatten hatte er sich gewagt, wenn auch mit gemietetem Steuer- und Vorschotmann. Ich war zwanzig. Ich billigte seine Tollheiten nicht. Ich billigte vieles an ihm nicht.

Das Boot war schön. Lang und schmal lag es im Wasser, es sah leicht aus und schnell mit seinem weit vorschwingenden Bug und dem hohen Mast. Schön, aber auch unverständlich: ein Gewirr von Drahtseilen, undurchschaubar die Knoten und metallenen Ösen. Vorn und hinten war es an Pfählen festgemacht, parallel zum Steg auf den Wellen tänzelnd, straffte es spielerisch bald die vorderen, bald die hinteren Taue, von denen ich erfuhr, daß sie nicht Taue, sondern Enden hießen. (Ein berühmter Gast, Akademiepräsident oder ähnliches, hatte beim Besteigen des Bootes gefragt: An welchem Kabel soll ich ziehen?) Anlegeenden. Mit ihnen hatte ich zuerst zu tun. Die ersten Handgriffe, die ich übernehmen durfte: losmachen und festmachen, nach genauen Befehlen. Er, der Kapitän, trug eine weiße Seglermütze. Er nahm einen bärbeißigen Ton an, sobald er an Bord herrschte; denn Mitsegler, Gäste, also Laien, Ignoranten, bedeuteten Notstand, Gefahr, das machte seine Stimme barsch. Jetzt segelte ich mit, unwissend, beschäftigt mit Ablegen, Anlegen, Festmachen, Lösen, Fieren, Dichtholen.

Er segelte gern. Sobald er in das Haus am See kam, ging er ein paar Schritte auf den Steg hinaus, um zu sehen, wie der Wind war. Er segelte gern, wenn das Wetter gut war, also kein Regen, kein Sturm, keine Böen, keine Flaute. Am wenigsten liebte er Böen, und wenn sich der See in wechselnden Richtungen kräuselte, blickte er mißtrauisch übers Wasser: Zu böig, sagte er, wandte dem See den Rücken, mit Bedauern, aber entschieden, murmelte von Mastbrüchen und Segelrissen, blieb an Land.

Unter den Bäumen spielte er Boccia und Federball oder schoß mit einem großen Bogen Pfeile auf eine Strohscheibe. In den letzten Jahren spielte er nur noch Boccia. Wenn es regnete, spielte er Schach und Skat und sah von seiner Veranda über den See. Er war ein guter Spieler. Er spielte gern und hatte keinerlei Pflichtgefühl gegenüber Haus und Garten; er kümmerte sich um das Kaminholz und das Kaminfeuer und um die Kühlung der Getränke, für alles andere gab es jemanden oder fand sich jemand.

Er liebte die leichten, freundlichen Winde, den stetigen Ost, den lauen West, der, wenn er zu sanft war, Flauten brachte oder über Mittag und am frühen Abend schon einschlief. Besser Flaute als Sturm, meinte er; er hatte wohl genug Unwetter erlebt, um ihrer überdrüssig zu sein.

So sehe ich ihn auf seinem Boot in einem kurzärmligen weißen Schönwetterhemd und mit weißen Hosen, die Augen zusammengekniffen unter dem Schirm der Seglermütze. Auch die Vorschotfrau ist in Weiß, kurzhosig, sie hantiert, knotet, kniet, zieht, springt, während er ruhig auf der Steuermannsbank sitzt und die geflochtene Großschot in ordentliche Schlingen auf die Mahagonibodenbretter legt. Kurze Kommandoworte: irgendwie geht es los, wie, weiß ich nicht, denn an entscheidenden Manövern bin ich nicht beteiligt, muß nur dafür sorgen, daß hinten rechtzeitig die Enden los sind und daß das Boot nicht die Plattform berührt, was eine der größten Gefahren überhaupt zu sein scheint. Warum? Nicht fragen. Gäste mögen sich beim Ablegen still verhalten. Später dürfen sie helfen. Der Kapitän legt das Ruder herum, die Vorschotfrau greift in die Fallen, und das Segel geht hinauf, Wind schlägt hinein, Flattergeräusch wie eine Serie von Explosionen. Dann ist plötzlich Stille, die Segel haben sich entschieden, füllen, bauchen sich, das Boot neigt sich zur Seite und kommt in Fahrt. Der Kapitän legt die Großschot fest und lehnt sich zurück.

Fock dichter, kommandiert er, und das ist an die Gäste gerichtet, die Winsch knarrt, das Vorsegel flattert weiter, die Schot verfängt sich vorm Mast in einer Klampe, bis die Vorschotfrau eingreift, die Fockschot faßt, das Bein stramm gegen die Seitenwand stemmt: hart am Wind.

Ich erinnere mich an das Glitzern, das der See uns in die Augen warf, der Wind umspülte uns warm, das Boot eilte, leicht in seiner Schwere, von einem Ufer zum anderen. Wind von achtern trieb uns heim, die Kommandos klangen nun friedfertig. Aus der gelben »Orient«-Schachtel ließ er sich eine Zigarette anzünden und erklärte mir das scheinbare Nachlassen des Windes. Er zeigte uns die Bugwelle, eine starke Welle, die das Boot warf, obwohl es ruhig im Wasser zu liegen schien: wir sahen, wie schnell das Ufer näher kam.

Später, nach den erregenden Minuten des »Anlegens«, in denen seine Stimme noch einmal gequetscht geklungen hatte, tranken wir Tee, viel Tee, die Luft, der warme Wind, eine merkwürdige unmerkliche Anstrengung hatten uns ausgetrocknet und erheitert. Wir waren müde wie nach großen Taten, von der Terrasse blickten wir durch die Lücke im Schilf auf den See, das Boot lag noch offen, das Segel hineingeworfen, später würde ich es zudecken. Vom Tee war es nicht mehr lange bis zum Sonnenuntergang, und erst dann begann er zu trinken. An warmen Abenden saß er auf der Terrasse unter der Birke, die Wein- und Wodkaflaschen im Eimer mit dem kalten Brunnenwasser, um die herausgerückte Stehlampe schwirrten Mücken und polterten dumpf die Nachtfalter, und seine Reden wurden länger. Vom anderen Ufer glänzten Lichter, der See war dunkel, mittendrin, so schien es, schwamm das prächtige weiße Boot, leise klatschten die Wellen gegen seinen Körper.

Und jede Fahrt kostet mich hundert Mark, sagte er.

Wie unpassend, dachte ich. Bei solchem Wetter, bei solchem Wind. Und fragte spöttisch: Was bezahlst du denn für die Brise Südwest, Käptn?

Der Satz kehrte später häufiger wieder: Jede Fahrt kostet mich hundert Mark. Ich achtete nicht darauf. Ich begriff nicht, daß die Tollheit beim Kauf nicht aufhörte, sondern anfing. Ich begriff überhaupt wenig. Und wer toll ist, der ist empfänglich für Tollheiten.

Ich fürchte, ich beschreibe meinen Vater falsch. Ich sehe ihn aus so großer Ferne. Will ich ihn, von dem mich ein halbes Jahrhundert trennt, näherholen, während ich an das Boot denke? Ich rufe ihn mir ins Gedächtnis zurück von weither, aber ich sehe doch nur ein weniges von ihm. Nur in einem Teil seines Lebens war ich anwesend. Aber Fragen nach jenem langen Leben vor mir, vor meiner Zeit, stelle ich mir jetzt nicht, jetzt noch nicht.

Jenen weißgekleideten älteren Herrn auf der Steuermannsbank, den ich kennenlernte und Käptn nannte und der noch immer ein anziehender Mann war, hatte ich abgetrennt von jenem sehr Geliebten, der eines Nachts betrunken nach Hause gekommen war und die Mutter gesucht hatte, die sich weinend versteckte, erschreckende Szene ohne Sinn: es änderte nichts mehr; jenem Mann, der dann fortging und mich, die Elfjährige, schmerzhaft und unheilbar enttäuschte. In der Zeitung sah ich später sein Foto zusammen mit den anderen des Kollektivs, das für die Entwürfe der Stalinallee ausgezeichnet worden war. Die schönen Augen. Den ironischen Mund. Das neue Leben.

In den stürmischen Jahren, den Aufbau-, den Rauschjahren, habe ich ihn nicht gekannt. Bei den Regatten mit dem neuen Boot, das er sich für den Preis kaufte, bei den Wettfahrten auf dem Müggelsee, bei denen zwei Vorschotmänner mitsegelten und nach denen auf Sieg und Niederlage gleichermaßen wild getrunken wurde, habe ich ihn nicht gesehen. Einmal schenkte er mir einen Anzug, mit dem er von einem Bootssteg ins Wasser gefallen war und der die Fasson verloren hatte. Es war ein feiner grauer Wollstoff, Grisaille, aus dem teuren Laden Unter den Linden, Maßatelier; unsere alte Schneiderin machte mir daraus ein Kostüm, das ich viele Jahre im Büro trug.

Der Käptn, den ich kennenlernte, liebte die Schönwettertouren. »Kaffeefahrten« nannte er sie, ironisch auch mit sich selbst. Immer begannen sie in Spannung, mit Kommandofetzen und schnell unterdrückten Schreien, gingen dann in sanftes Gleiten über, der Flaute näher als dem Wind, mit dem spielerischen Geräusch der gegen den Bug klatschenden Wellchen, und endeten wieder in Spannung, mit geknurrten Befehlen. Ich wurde nicht zum Segler. Ich hatte zu tun mit Schoten, Enden, Pardunen, mit Lösen, Festmachen, Fieren. Ich sonnte mich. Schaute zu den Ufern. Der Drachen (Länge über alles 9,82 m, 24 m2 Segelfläche, Karweelbau, Mahagoni und Lärche, gebaut von der Bootswerft Schaal, damals Köpenick, dann Westberlin) gab sich nicht preis.

II

Es bläst durch alle Ritzen herein, als hätten die Erbauer dieses Hauses sowenig wie ich gewußt, wie kalt der lombardische Winter ist. Aber ich möchte den Schreibtisch nicht von der Fenstertür wegrücken, von diesem Blick auf die Reste eines alten Gartens mit einer großen Steineiche und einer Magnolie, deren dunkelgrüne Blätter der Regen peitscht, und einer hoch und etwas schief über das Gebüsch hinausgewachsenen Kiefer, einsam und nördlich zwischen den mediterranen Bäumen. Auch wegen des Blicks auf den gegenüberliegenden Palazzo möchte ich meine Stellung nicht ändern, auf sein fleckiges Ocker, die Reihe schmaler, hoher Fenster, deren Läden mir wie Flügel vorkommen, auf den kleinen Balkon mit seiner Balustrade von rundlichen Säulen. Auf das flache Dach möchte ich nicht verzichten, das sich dort unten zwischen Balkon, Bäumen und unserem Haus erstreckt; auf seine grauen Steinplatten schlägt jetzt der Regen und sammelt sich zu Seen, und manchmal sehen wir ein schwarz-grau gestreiftes Tierchen darüberhin huschen, das wir »das Tier« genannt haben und dessen Erscheinen wir jedesmal freudig einander mitteilen.

Würde ich meinen Tisch näher an die lauwarme Heizung rücken, sähe ich aus dem anderen Fenster zwei neue Hochhäuser, die in den Garten vorgedrungen sind; vom näheren ein anonymes Mittelstück mit tags stets von Neonlicht erhellten Büroräumen, in denen sich Neonschatten bewegen; vom zweiten, etwas weiter entfernten, die oberen Stockwerke. Seine von Jalousien verschlossenen Fensterfronten rufen in mir ein Gefühl von etwas Häßlichem und Drohendem hervor, vielleicht auch wegen der wie Fangarme in den Himmel greifenden Antennen auf dem Dach.

Ich bleibe an meinem kalten Platz, die Füße in Decken gewickelt, und verfolge das häufige Öffnen und Schließen der schmalen Fensterläden gegenüber, einen mir rätselhaften Rhythmus zwischen Hell und Dunkel, der hinter diesen Fenstern tagsüber gelebt wird. Selten werden die Läden später als mit dem dämmernden Nachmittag endgültig geschlossen, nur manchmal sehe ich oberhalb des Balkons das bunte Flimmern eines Fernsehers und am entferntesten Fenster im Honiglicht einer Schreibtischlampe die Gestalt eines jungen Mannes, der im Zimmer auf und ab geht, ans Fenster tritt und sich wieder an seine Bücher setzt. Dann wünsche ich, daß er mich sähe an meinem Tisch, und ich knipse meine Lampe an, während er ans Fenster tritt, die Läden heranzieht und im Dunkel verschwindet.

Die Bilder kommen, ich muß sie nicht rufen.

Unter den Kiefern steht das alte Boot. Es hat morsche Stellen, schreibt Kutte. Gleichzeitig wiegt sich das andere, das Käptnboot, in weit zurückliegenden Sommern auf dem Wasser. Mein Vater, weißhaarig, weißgekleidet, geht mit kleinen Schritten über den Steg. Das erhitzte Gesicht von Werner, der sein Fahrrad an den Zaun gelehnt hat, kommt mir entgegen. Und der See, in allen Jahreszeiten all der Jahre.

Warum dieses Nordwärtsgehen, frage ich mich.

Länger als ein Jahr lebe ich hier. Ein Tag läßt den anderen verblassen in der Hast dieser Stadt. Aber es geht mir gut: ich bin bei Pietro. Das wollte ich.

Warum also wieder dieses Fortwollen, Umschlag des Fernwehs? Will man woanders sein, um anders zu sein? Hofft man immer noch darauf? Alle die anderen Ichs, die man leben könnte, sind, glaubt man, nur an anderen Orten möglich. Weg, zurück: nur nicht hier.

Der Drachen gab sich nicht preis, wir blieben Fremde. Er war schön und vornehm, ich fand ihn hochmütig; er war leicht zu bedienen und lief mit dem Wind, mir flößte er Mißtrauen ein, ich fand ihn kompliziert. Ich irrte mich nicht nur in ihm. Ich studierte Literaturwissenschaft, die Kunst als Widerspiegelung der Wirklichkeit, aber die wirkliche Wirklichkeit begriff ich nicht. Unfaßbar blieb mir der Unterschied zwischen wirklichem und scheinbarem Wind; die Bewegung der Baumwipfel konnte ich nicht lesen und nicht die Kräuselschrift der Böen auf dem Wasser.

Auf der »Rohrdommel« übte ich segeln. Die »Rohrdommel« war eine alte Wanderjolle, ein leichtes, flaches Schwertboot, das jedem Windhauch antwortete, sich neigte, aufrichtete, schwankte. Der Nachbar überließ es mir zum Üben, zeitweilig mit einem grauhaarigen Onkel, der früher zur See gefahren war und der mir seine Kommandos, mit Trost und Zuspruch gemischt, ins Ohr schrie. Ich mußte hart am Wind segeln, gegen sein drohendes Brausen ankämpfen und gegen den Galopp meines ängstlichen und unerfahrenen Herzens. Abfallen! schrie Onkel Lehmann, und erleichtert fiel ich ab, wurde ruhiger, da das Boot sich einen Augenblick aufrichtete, aber nur einen Augenblick, denn schon wieder kam das Kommando »hart am Wind!«, und ich krampfte die Hände um die Großschot und warf mich auf die Luvseite. Eine Angst-Lust war das, den See hinauf und hinunter auf der hüpfenden »Rohrdommel«, die Augen aufs Wasser geheftet, um die herankommenden Böen rechtzeitig zu erkennen, und gleichzeitig zur Mastspitze gerichtet, auf das flatternde Standerfähnchen, und noch höher hinauf, zum Himmel mit den weißen Wolken, deren Ränder Windstöße brachten, dabei hinauslehnen über den Bordrand, Segel nachgeben, aber keine Fahrt verlieren!

Jetzt lernte ich, was das bedeutet: am Wind, beim Wind, vorm Wind. Ich fühlte es, ich atmete anders, angespannt oder gelassen, auch Stimmen und Blicke änderten sich. Kurs, häufig gelesenes Zeitungswort, das eine Zeitlang mit dem Attribut »neu« gebraucht worden war, wurde jetzt, auf der »Rohrdommel«, die Wahl zwischen Ankommen und Kentern. Dauernde, anstrengende Entscheidungen. Es hängt von dir ab, ob du ins Schilf taumelst oder den Pfosten fassen kannst, über das Wie mußt du dich mit deinem Mitsegler unter dem Druck des Windes eilig und schreiend einigen.

Atemlos kam ich an Land, in einem wilden Ritt hatte ich den See abgemessen mit meinen Herzschlägen; atemlos, durstig, windzerfetzt. Onkel Lehmann, ehemaliger Maat, stieg lachend mit seinem steifen Bein aus dem Boot. Ich hatte den Himmel in den geblendeten Augen, die Sonne, die weißen Kumuli, den flatternden Stander; das Klatschen des Segels war mir in den Ohren geblieben und das Rauschen, das der Bug aus dem Wasser schnitt.

Vom Ufer aus sah er uns zu. Ihm war es lieber, daß ich das Boot des Nachbarn und nicht seinen Drachen für meine Segelversuche benutzte. Mir war es auch lieber. Auch Onkel Lehmann, der schon vor der Ausfahrt einen gezischt hatte, wie er gern zugab, war mir lieber, er gab mir auf der krängenden »Rohrdommel« mehr Sicherheit als ein Drachenkiel. Mein Vater sah zu, manchmal von der Veranda aus mit dem Fernglas.

In dem sommers heißtrockenen Kiefernwald auf dem oberen Teil des Grundstücks stand ein zweites Holzhäuschen. Es war eines jener Behelfsheime, sechs mal sechs Meter im Grundriß, die von Stadtbewohnern während des Krieges gebaut worden waren, ganz fertig war es nicht mehr geworden. Die Ortsansässigen hatten es in den Nachkriegsjahren als Quelle für Baumaterial betrachtet und es bis auf eine fenster- und türenlose Schale abgebaut: Fundament, Holzbalken, Holzwände, Zwischendecke und spitzes Ziegeldach waren geblieben. Als mein Vater das Grundstück pachtete und das Haus am Ufer ausbauen ließ, hatte er an der Waldhütte ein Schild anbringen lassen, das in drohend-offiziellem Ton die »Entnahme von Baumaterial« verbot. Die angekündigte strafrechtliche Verfolgung und der von Titeln geschmückte Name schreckten niemanden in einer Gegend, wo man »besorgte«, was man brauchte, und wo nur Fakten wie »Vorsicht! Bissiger Hund« galten. Die Haus-Hülle wurde dünner.

In einem jener Sommer ließ er unter dem Dach der Waldhütte ein Kämmerchen ausbauen: Dachschrägen und Wände mit gelblich lackierten Hartfaserplatten verkleidet, hellgestrichene Fußbodenbretter, ein Fenster mit Blick auf Kiefern, Birken und Sonnenuntergang. Eine Tür trennte das nach Farbe riechende Zimmer von der verstaubten Wirrnis des übrigen Hausinnern, eine Holztreppe, solide Zimmermannsarbeit, führte hinab zur Erde. Dieser kleine Raum, den der Käptn meiner Schwester und mir eines Tages aufschloß und ironisch und stolz »das Prinzessinnenpalais« taufte, wurde, damals wußte ich es noch nicht, ein Ort meines Lebens. Wurde, war, ist? Ich will es jetzt dahingestellt sein lassen: ich verdanke ihn ihm, der den Abstand zwischen uns verringern wollte. Er gab uns noch eine Gelegenheit, ihn kennenzulernen, spät, aber er gab sie uns.

Das Boot lag leuchtend am Steg, Sommer um Sommer. Jedes Frühjahr kam es verjüngt aus der Werft zurück, es alterte nicht. Er alterte, obwohl ich vermied, es zu bemerken. Die Flasche Wodka war nicht mehr nötig abends, um müde zu werden und etwas wegzuspülen, was ich nicht verstand. Drei Gläser genügten. Zwei Gläser. Der weißbärtige Nachbar, Eigner der »Rohrdommel«, kam zum Skat und half die Flasche leeren. Prost, Arturo, sagte mein Vater in den Zigarrenrauch hinein.

Auf dein Wohl, Professor.

Er war über siebzig. Die Zeit der Ehrungen war vorbei. Er war aus dem Spiel. Er spielte Skat und Boccia. Er hatte Zeit. Er suchte uns und stellte sich unseren Anwürfen, die aber keinen Sinn mehr hatten. Alle hatten die Meinung geändert.

Aber die »Allee« ist doch wenigstens noch eine Straße! sagte er. Ich verstand erst später, daß das keine Verteidigung war, sondern ein Blick über sich selbst hinaus.

Er saß zwischen uns, als wir im Sommer auf seiner Terrasse tanzten, er verzog sich nicht, sondern saß dabei, zwischen Kerzen und Rotweinflaschen, und streichelte ein Mädchen, alberne Worte flüsternd. Er meinte es ernst, er wollte den Abstand vermindern. Fanden wir ihn ein wenig lächerlich? Mit Werner ging ich hinauf in das Dachzimmerchen der Waldhütte.

Im Sommer nach seinem Examen war Werner an den See gekommen. Die ganze Strecke von der letzten Berliner S-Bahn-Station bis an unser Ufer hatte er per Fahrrad zurückgelegt. Es war ein heißer Juli, er trug ein verschwitztes altes Hemd und zu weite, verschlissene Popelineshorts. Ich sah nur sein Gesicht, dieses heiße Leuchten, das auf mich zukam, während er sein Fahrrad an den Zaun lehnte. Mein Kommilitone. Mein Kompagnon. In den Prüfungswochen seines Staatsexamens hatte ich, ohne an die eigenen Zwischenprüfungen zu denken, im Korridor seines Instituts auf ihn gewartet. Jedesmal war er mit diesem Gesicht aus dem Examensraum gekommen; über dem Blauhemd, das alle Prüflinge trugen, hatte ich das Flammende erkannt, die Anrennerstirn, das Lachen: im großen Abschlußmatch hatte er wieder einen Mathematiker oder Gesellschaftswissenschaftler bezwungen. Werner lehnte das Fahrrad an den Zaun, er hatte die lange Strecke durch den Wald und die sommergelben Wiesen geschafft, er richtete sein entflammtes Gesicht auf mich. Wir gingen hinauf in das Dachzimmerchen, das nach Kiefernwald roch.

Wir segelten zusammen auf der »Rohrdommel«. Wir hatten Angst und schrien gegen den Wind. Wir landeten stolz. Mein Vater stand auf dem Steg. Ich glaubte zu sehen, wie er den Kopf schüttelte, aber eigentlich tat er so etwas nicht.

Manchmal, wenn er bei schönem Wetter mit dem Drachen hinausfuhr, legte er mir die Ruderpinne in die Hand. Er ließ sie nicht ganz los, aber ich konnte den Druck des Wassers spüren, der sich als Zittern auf die Pinne übertrug und dem ich antworten mußte. Das Boot ist luvgierig, sagte er, fühlst du es? Er bremste meine ruckartigen Manöver. Such dir einen festen Punkt am Ufer und richte den Bug darauf. Gefühl, mehr Gefühl! sagte er. Die Fock durfte nicht flattern, und das Großsegel mußte sich bauchen und in derselben Linie wie der Stander stehen.

Wenn ich heute, nach so vielen Jahren, die Hand auf die vibrierende Ruderpinne lege und den Wind als Wasserdruck in meinem Arm spüre und dagegendrücke, aber nicht scharf, nicht herrisch, denn die Elemente leben, und ich will mit ihnen leben, dann ist mir, als säße er neben mir.

III

Wir fahren Wein kaufen. Dunst steht in der Ebene. Ein fahles Licht spielt über Pappelreihen und Weidenknorren. Auf den Hügeln des Piemont liegt gealterter Schnee. Auch die Weinberge sind weiß, um jeden Weinstock ist ein runder schwarzer Fleck Erde, wie ein ausgestanztes Muster. Die Weinbauern sind gelassen und würdevoll, sie lassen kosten und warten ab. Wir halten den eisigen Wein in den Gläsern, die Hände können ihn nicht erwärmen, sondern gefrieren selbst sofort, wir trinken einen Schluck und schmecken nichts, bei solcher Kälte kann man nichts schmecken. Wir kaufen dann doch, denn dazu sind wir hergefahren.

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