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Der Traum vom Tor

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1954: Ganz Deutschland befindet sich im Freudentaumel, denn die Nationalelf hat die Fußballweltmeisterschaft gewonnen! Auch die junge Luise, die mit drei sportbegeisterten Brüdern aufgewachsen ist, interessiert sich brennend für die angesagte Sportart, vor allem, da fünf der frisch gekürten Weltmeister aus ihrer Heimatstadt stammen. Mit Feuereifer nimmt sie am Training einer neu gegründeten Frauenmannschaft teil. Das stößt nicht überall auf Gegenliebe, denn die öffentliche Meinung besagt noch immer, dass Fußball unweiblich und zu rabiat für zarte Frauenkörper ist. Überall spürt Luise Gegenwind, bei ihren Freundinnen und in ihrer Familie. Auch ihr Schwarm Robert ist nicht begeistert von ihrem neuen Hobby.

Dann verbietet der Deutsche Fußballbund Frauenmannschaften. Finden Luise, ihre Mitstreiterinnen und der attraktive Trainer Max dennoch eine Möglichkeit, weiterhin den Ball übers Feld kicken zu dürfen?


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906925
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

KAISERSLAUTERN, 4. JULI 1954

»Deutschland im Endspiel, das ist eine Riesensensation, das ist ein echtes Fußballwunder.« Die Stimme des Kommentators Herbert Zimmermann tönte empathisch aus dem flimmernden Fernsehgerät, das den Mittelpunkt der guten Stube bildete. Nur an besonderen Feiertagen hielt man sich hier auf, das war bei Nachbarsfamilie Stolle nicht anders als in Luises eigener Familie. Sie rutschte ein Stück auf dem maisgelb bezogenen, auf dünnen Holzbeinen stehenden Sofa nach vorne, um ans Buffet zu gelangen.

Nachbarin Stolle hatte sich nicht lumpen lassen und reichlich aufgetan. Auf dem niedrigen Tisch in Nierenform standen Platten mit gefüllten Eiern und Doppeldeckern aus runden Pumpernickelscheiben, aus denen der Kräuterfrischkäse quoll, sowie Schüsseln voll kaltem Nudelsalat und Knabbergebäck. Die Kinder der Stolles, Klaus und Cordula, hockten im Schneidersitz zwischen den zahlreichen Gästen und kauten knackend eine Salzlette nach der anderen. Da Stolles einen Gemischtwarenladen besaßen, der sich nur drei Häuser weiter von Luises bescheidenem Elternhaus in der Weidenstraße befand, konnten sie sich großzügig zeigen, auch wenn die Zeiten noch immer hart waren. Als Einzige in der engen Gasse besaßen sie einen Fernseher, und es war Ehrensache, dass sämtliche Anwohner heute eingeladen waren, um das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zu sehen.

Deutschland im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft! Man vermochte es kaum zu glauben, hatte die deutsche Elf doch in der Gruppenphase zuvor gegen die Ungarn verloren, die als unbesiegbar galten.

»Hol dir den Ball, komm schon!«, rief Stolle, das feiste Gesicht rot angelaufen vor Aufregung, als Kapitän Fritz Walter den Ball anvisierte. In der guten Stube wurde es laut, man feuerte Walter an und erhob die Bowlegläser auf ihn. Als Sohn der Stadt genoss er besondere Beliebtheit unter den Zuschauern.

»Das sind meine!« Luise schlug ihrem um ein Jahr jüngeren Bruder Peter auf die Finger, als er sich an ihren Trauben vergreifen wollte, die von einem monströsen Käseigel stammten. »Hol dir selbst was.«

In der guten Stube war es stickig und aufgeheizt, obwohl Frau Stolle die Fenster weit geöffnet hatte. Draußen war es totenstill, kein Laut drang herein. Natürlich, ganz Deutschland saß gebannt vor den Bildschirmen. Die Luft knisterte vor Spannung, Luise war nicht die Einzige, die kaum wagte zu atmen.

»Sei keine Zicke. Hier ist einfach zu wenig Platz.« Ächzend schob sich Peter nach vorne, um über die Köpfe einiger Jugendlicher von gegenüber ans Buffet zu gelangen. Mindestens dreißig Menschen hielten sich im Raum auf, drängten sich auf dem Sofa, auf den Sesseln aus rotem Lederimitat, auf Hockern oder auf dem Teppich. Der Bruder belud seinen Teller und schlang gierig mehrere mit Wurstsalat gefüllte Tomaten hinunter, was ihm einen mahnenden Blick der Mutter einbrachte.

Luise starrte auf den Fernsehapparat. Obwohl der Bildschirm klein war, erkannte sie deutlich, dass es im Wankdorf-Stadion in Bern regnete. Dicke Tropfen prasselten auf die Hüte der männlichen Zuschauer, durchweichten die Kopftücher der Frauen. Es sah nicht gut aus, bereits nach acht Minuten schossen die Ungarn ihr zweites Tor.

»Sollte das Spiel nicht unterbrochen und verschoben werden, so wie es regnet?«, fragte Mutter unbedarft, was ihr lediglich ein Schnauben einbrachte.

»Die Jungs sind ja nicht aus Zucker«, brummte Georg, mit vierundzwanzig Jahren Luises ältester Bruder. Er saß vornübergebeugt, die Hände baumelten über den gespreizten Oberschenkeln, und schaute versunken auf das schwarz-weiße Geflimmer.

»Tor für Deutschland, es steht nur noch 2:1!« Herbert Zimmermanns Stimme erklang enthusiastisch aus dem Off, und wie für die Mannschaft in Bern gab es für ein, zwei Minuten auch in der Weidenstraße kein Halten mehr. Alle sprangen auf, bejubelten den Halbstürmer Max Morlock, prosteten sich zu, die Kinder und Jugendlichen gaben ein begeistertes Siegesgeheul von sich.

Über Georgs Schulter hinweg, der sie stürmisch umarmte, blickte Luise sehnsüchtig auf den Bildschirm. Es musste herrlich sein, dem Wetter zu trotzen, die Feuchtigkeit und den Wind auf den Wangen zu spüren, zu rennen, bis die Lungen brannten, und nach dem Ball zu jagen. In diesem Moment beneidete sie die Fußballspieler, zu gerne hätte sie es ihnen gleichgetan, statt in ihrem weißen, rot gepunkteten Sonntagskleid mit dem weit ausgestellten Rock, unter dem der Petticoat knisterte, artig auf dem Sofa zu sitzen. Sicher, sie liebte es, sich herauszuputzen, aber heute war einer der Tage, an denen sie mehr wollte, als ein adrettes Püppchen zu sein. Sie wollte rennen, ihren Körper, jeden Muskel spüren.

Peter drängte sich erneut an ihr vorbei, um sich einen Pumpernickelberg vom Buffet zu holen, und rempelte sie dabei unsanft mit dem Ellenbogen an, sodass sich das mit Himbeersirup gesüßte Wasser, an dem sie gerade nippte, über ihr Kleid ergoss.

»Pass doch auf, du Trampel.« Ärgerlich wischte sie an dem rosaroten Fleck herum, der sich auf ihrer Brust ausbreitete. Der Bruder schenkte ihr keinen weiteren Blick, denn in diesem Augenblick fiel durch Rahn das zweite Tor für Deutschland.

»2:2! Gleichstand!« Die versammelte Nachbarschaft raste im Überschwang des Triumphs. Luises ruiniertes Kleid war vergessen, sie umklammerte wie im Fieber Peters Arm, rief, flehte, trampelte mit den Füßen, blickte in die verzückten, siegessicheren Gesichter ringsum. Selbst Mutter stand neben der Verwunderung darüber, dass ein simples Spiel mit einem Mal eine Sache von nationaler Wichtigkeit geworden war, die Anspannung ins Gesicht geschrieben.

Keiner der Nachbarn saß mehr, alle hatten sich erhoben und feuerten im weiteren Verlauf des Spiels mit blitzenden Augen die deutschen Spieler an, allen voran natürlich Fritz Walter, Werner Liebrich, Horst Eckel, Werner Kohlmeyer und Ottmar Walter, die Söhne der Stadt. Aus der pfälzischen Provinz auf den internationalen Fußballrasen, das sollte erst mal jemand nachmachen!

»Kommt, Jungs, noch ein Tor, noch ein Tor!«, brüllte Luises nächstälterer Bruder Ulrich mit erhobener Siegerfaust, und der achtjährige Klaus Stolle skandierte: »Deutschland vor, noch ein Tor!«

Die Angst, den Ungarn könne in der letzten Viertelstunde ein weiteres Tor gelingen und sie würden den Sieg davontragen, schwebte wie ein übler Geruch in der Stube. Luises Käse-Trauben-Spieß verharrte ungegessen in der Luft.

»Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder … Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist alle vier Jahre, und wann sieht man ein solches Endspiel, so ausgeglichen, so packend!« Die Worte Herbert Zimmermanns überschlugen sich fast. »Jetzt Deutschland am linken Flügel durch Schäfer. Schäfers Zuspiel zu Morlock wird von den Ungarn abgewehrt – und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn am Ball. Er hat den Ball – verloren diesmal, gegen Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopfball – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen …«

Außer dem Brechen der Salzletten, die die kleine Cordula nervös in sich hineinstopfte, war kein Laut zu vernehmen. Die Zeit schien stillzustehen. In Luises Ohren rauschte es, als befände sie sich unter Wasser. Noch wenige Minuten bis zum Schlusspfiff. Minuten, die darüber entscheiden würden, ob Deutschland untergehen oder seine Schwingen zu einem unfassbaren Sieg emporheben würde.

»… Rahn schießt – Tooor! Tooor! Tooor! Tooor!«

Eine Sekunde herrschte die Stille eines bevorstehenden Erdbebens in der Stube, dann brandete aus allen Ecken ein noch nie erlebter Jubel hoch, die Nachbarn fielen sich in die Arme, klopften sich auf den Rücken, imitierten wie trunken Zimmermanns »Tooor! Tooor! Tooor!«, kippten die Schnäpschen, die Hausherr Stolle mit Tränen in den Augen servierte. Seine Hand zitterte so stark, dass er die Hälfte der kostbaren Flüssigkeit auf den Teppich verschüttete, aber seine Frau war selbst zu bewegt von den tumultartigen Szenen, die sich gerade auf dem Bildschirm abspielten, um zu schimpfen.

Auch Luise bekam einen Schnaps, der brennend ihre Kehle hinunterrann. Ihr Kopf war wie benebelt; wie herrlich, wie ergreifend musste es sein, völlig verschwitzt und verschmutzt auf dem nassen Gras des Stadions zu stehen, den dröhnenden Jubel der 65 000 Zuschauer im Ohr zu haben und zu wissen, dass die Welt, buchstäblich die ganze Welt!, in diesem Moment auf einen schaute?

»3:2 für Deutschland, fünf Minuten vor dem Spielende!«, brüllte der Kommentator völlig außer sich. »Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt …! Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus.«

Die Fernsehkameras schwenkten von den Spielern, die sich in den Armen lagen, zum Publikum, das tobend weiße Taschentücher schwenkte.

Luise ließ sich von ihren Brüdern umarmen, aufgelöst und lachend, und betupfte sich die Augen. Deutschland war Weltmeister.

Stolle gab eine weitere Runde Schnaps aus. »Freunde – wir sind wieder wer in der Welt.«

Kapitel 1

KAISERSLAUTERN, AUGUST 1954

Luise hasste die Samstagvormittage. Eigentlich müsste die Aussicht auf das vor ihr liegende Wochenende sie aufmuntern, doch bevor dieses anbrach, galt es, die kleine Schneiderei, in der sie angestellt war, auf Vordermann zu bringen. Die Meisterin, Frau Nagelschmidt, eine resolute Mittfünfzigerin in engem taubengrauen Tweedrock, bei dem die Nähte spannten, trieb ihre drei jungen Mitarbeiterinnen allerdings nicht nur dazu an, in der Nähstube zu fegen und aufzuräumen, sondern trug ihnen allerlei Tätigkeiten auf, die so gar nichts mit dem Beruflichen zu tun hatten.

Margrit, mit ihren neunzehn Jahren um ein Jahr älter als Luise, steckte ihren kurz geschnittenen hellbraunen Haarschopf durch die Badezimmertür. »Jetzt lässt sie mich wieder den Wochenendeinkauf für sie und ihren Männe erledigen. Davon steht nichts in meinem Arbeitsvertrag.« Dann blickte sie mitleidig zu Luise, die eine groß geblümte Kittelschürze trug und gerade einen Spritzer Ata auf ein Baumwolltuch gab, um das Waschbecken zu putzen. »Na ja, vielleicht sollte ich mich nicht beschweren, einzukaufen ist immer noch besser, als das herrschaftliche Privatbad zu schrubben.«

»Du sagst es.« Verbissen rieb Luise mit dem Tuch über das helle Porzellan des Waschbeckens, auf dessen Rand ein Zahnputzbecher mit zwei Zahnbürsten stand, die dem Ehepaar Nagelschmidt gehörten. »Sei froh, dass du die Älteste von uns dreien bist und das Privileg besitzt, zum Laden an der Ecke gehen zu dürfen.«

»Mach dir nichts draus, Luise, Catrin hat es noch schlimmer erwischt. Sie muss die Betten frisch überziehen.« Kichernd drehte Margrit sich auf dem niedrigen Absatz ihrer Ballerinas herum, und gleich darauf hörte Luise die Haustür zuschlagen.

Seufzend öffnete sie das Fenster, durch das blütengetränkte, warme Sommerluft strich, die ihr Gesicht liebkoste, und klopfte den plüschigen Toilettenvorleger aus. Manchmal schüttete sie ihrer Familie ihr Herz über die unliebsamen Arbeiten aus, die die Nagelschmidt ihnen aufbrummte, stieß dort aber auf wenig Verständnis.

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre«, pflegte ihr ältester Bruder Georg mit ernster Miene zu dozieren, worauf sie ihm jedes Mal einen empörten Rippenstoß verpasste. Sie war mit ihren achtzehn Jahren kein Lehrling mehr, sondern hatte vor wenigen Monaten die Gesellenprüfung bestanden.

Dass sie ausgerechnet Schneiderin geworden war, war ein Zufall. Nach der Schulzeit hatte sie sich nicht so recht für einen Beruf entscheiden können, sodass Georg sie kurzerhand bei Anita Nagelschmidt in der Beethovenstraße in die Lehre gegeben hatte. Nachdem der Vater nicht aus Russland zurückgekehrt war, nahm der Bruder seit Kriegsende die Position des Familienoberhauptes ein, und was er sagte, war Gesetz, nicht zuletzt aufgrund der Autorität, die er als junger Polizist an den Tag zu legen wusste.

Im Grunde bereitete Luise das Nähen Spaß, denn wie jede junge Frau interessierte sie sich für Mode, aber an Tagen wie diesem konnte sie es kaum erwarten, der Nagelschmidt’schen Wohnung mit der angegliederten Nähstube zu entkommen, sich Vaters altes, rostiges Fahrrad zu schnappen und kräftig in die Pedale zu treten, um nach Hause zu fahren.

Zwanzig Minuten noch, dann würden aus dem Kofferradio, das Frau Nagelschmidt von morgens bis abends laufen ließ, die Zwölf-Uhr-Nachrichten ertönen, und sie wäre erlöst.

Nach einem letzten Blick in den Badezimmerspiegel – ihre Wangen waren von den sommerlichen Temperaturen gerötet, ihre kurzen rotblonden Haare mit dem gewellten Pony, das sie sich in Anlehnung an Audrey Hepburn hatte schneiden lassen, zerzaust – trat sie zu der Meisterin in die Stube. »Fertig.«

»Ich auch.« Catrin, die als einziges Mädchen aus Luises Freundeskreis noch einen langen, geflochtenen Zopf trug, der etwas altbacken anmutete, tauchte aus dem Schlafzimmer auf.

»Und ich bin auch wieder da.« Mit einem spitzenbesetzten Taschentuch tupfte Margrit sich die Schweißperlen von der Stirn, während sie drei prall gefüllte Einkaufsbeutel auf dem Teppich abstellte. »Röstfein war aus, aber ich habe gesehen, dass Sie im Vorratsschrank noch Muckefuck stehen haben.«

»Ich mag es nicht, wenn ihr Mädchen meine Vorratskammer inspiziert.« Anita Nagelschmidt schürzte die Lippen, wirklich böse war sie aber nicht. Die von grauen Fäden durchzogenen Wasserwellen auf ihrem Kopf hingen ihr schlapp über die Ohren, die aufgeheizten Temperaturen setzten ihnen allen zu.

»Dürfen wir Feierabend machen, Chefin?«, fragte Margrit, die meistens die Sprecherinnenrolle übernahm. »Wir haben alles erledigt.«

Luise band die Bänder ihrer Kittelschürze auf, doch die unwirsche Ansage Anita Nagelschmidts ließ sie in der Bewegung innehalten. »Das wäre ja noch schöner. Immerhin ist es erst zwanzig vor zwölf. Ich bezahle euch nicht fürs Nichtstun.«

Luise, die in Gedanken bereits auf ihrem Fahrrad saß und zu beiden Seiten die Häuser an sich vorbeiziehen sah, fiel in sich zusammen. »Aber Chefin, es gibt nichts mehr zu tun.«

Sie wechselte einen verdrossenen Blick mit Catrin, die an den Rüschen ihrer Schürze zupfte. Konnte die Nagelschmidt nicht mal fünf gerade sein lassen? Bestimmt dachte sie sich nun wieder eine unnütze Beschäftigung aus, um ihnen keine Minute mehr Freizeit zu gönnen.

Suchend sah die Meisterin sich um, mit den Händen ihren Rock glattstreichend, der über dem Bauch unvorteilhafte Falten schlug. »Setzt euch noch mal an den Nähtisch, Mädchen, aber flugs! Faulenzen könnt ihr das ganze Wochenende noch. Nehmt euch die Schachteln mit den Knöpfen und dem Garn vor und sortiert alles farblich.«

Die Mädchen stöhnten auf, gehorchten aber und setzten sich finster guckend an den länglichen Holztisch mit den Nähmaschinen, während die Meisterin in ihrer Küche verschwand.

»Die geizige Kuh«, flüsterte Margrit, die mit lang ausgestreckten Beinen auf ihrem Stuhl flegelte. Die Knöpfe, die in allen Formen und Größen – aus Perlmutt, aus Hirschhorn, Holz oder Metall – in Blechdosen lagen, ließ sie lediglich durch die Finger rinnen, statt sie zu sortieren. »Bei dem herrlichen Wetter heute hätte sie wirklich ein Auge zudrücken können. Wollen wir heute Abend was unternehmen?«

Catrin hielt einen Moment inne, blaue Garnrollen ordentlich nebeneinander in ein Kästchen zu legen. »Da bin ich auf jeden Fall dabei!«

»Was schwebt euch vor?« Luise zog Stecknadeln mit bunten Köpfchen aus den prallen Nadelkissen, um sie gleich darauf an anderer Stelle wieder hineinzustecken. Eine ebenso sinnvolle Aufgabe wie das Sortieren von Faden und Knöpfen. Mit ihren Freundinnen hatte sie meistens Spaß – allerdings war am Samstagabend auch zu Hause immer etwas los. Mit drei Brüdern, die oft Freunde mitbrachten, fand die Party sozusagen in der eigenen Stube statt. Halbstarke, nannte Nachbarin Stolle die Bekannten und Kollegen von Georg, Ulrich und Peter, die auf ihren Motorrollern geräuschvoll durch die enge Gasse knatterten und die Musik in der Küche laut aufdrehten.

»Wir könnten in die neue Milchbar in der Eisenbahnstraße gehen«, schlug Catrin vor. »Die haben die neuesten Schlager auf der Jukebox.«

»Eine Milchbar? Um Eis zu essen oder Limonade zu trinken?« Margrit rümpfte die Nase. »Wir sind doch keine Volksschüler mehr.«

»Wir könnten uns schon am Nachmittag treffen und eine Radtour an den Vogelwoog machen. Wir können ein Picknick machen und die Füße ins Wasser hängen. Das muss bei der Hitze herrlich erfrischend sein.« Sie saßen in der Schneiderei schon den ganzen Tag an ihren Nähmaschinen, Luise verspürte wenig Lust, in ihrer Freizeit in einer Milchbar oder einem der aus dem Boden sprießenden italienischen Eiscafés zu sitzen. Um wie viel schöner wäre es, sich zu bewegen, zu spüren, dass man jung und lebendig war!

»Das können wir noch tun, wenn wir alt sind, dreißig oder so.« Margrit stützte das Kinn auf den Ellenbogen und schaute verträumt aus dem Fenster. »Wie wäre es, wenn wir tanzen gingen?«

Catrin wickelte mit gesenktem Blick himmelblaues Garn auf eine Spule. »Würde ich gerne, falls mein Vater es erlaubt. Ihr wisst, seit er aus der Gefangenschaft zurück ist, ist er an manchen Tagen so unnahbar und streng und behandelt mich wie ein kleines Kind.«

»Du wirst ihn schon irgendwie rumkriegen.« Margrit warf der jüngeren Kollegin lediglich einen knappen Blick zu. »Und du, Luise?«

»Ich bin mit von der Partie.« Tanzen war um einiges besser, als auf einem der hohen Hocker in der Milchbar zu kauern und nichts anderes zu tun, als mit dem Strohhalm an einem Getränk zu saugen.

»Abgemacht.« Margrit nickte zufrieden, dann schloss sie die Deckel der Knopfkisten und sah demonstrativ zu der großen Uhr, die über der Tür hing. Noch zehn Minuten bis Feierabend.

»Nicht trödeln.« Anita Nagelschmidt erschien mit einer dampfenden Tasse Früchtetee, der herb aromatische Duft hing wie eine Wolke in der Stube. Wie man bei dem Wetter ein solch heißes Getränk zu sich nehmen konnte, war Luise ein Rätsel.

Ein spitzer Schrei riss sie aus ihren Gedanken.

Die Meisterin war gerade im Begriff gewesen, sich mit dem Tee auf ihren angestammten Stuhl am Nähtisch zu setzen, schnellte jedoch sofort wieder hoch, das Gesicht schmerzhaft verzogen. Hektisch stellte sie die Tasse ab und rieb sich mit beiden Händen über den Hintern. »Was zum …«

»Was ist mit Ihnen, Chefin?« Margrits Miene spiegelte nichts als unschuldige Sorge. Catrin lief rot an, während Luise rasch einen Husten vortäuschte, um ihr Lachen zu verbergen. Margrit hatte es faustdick hinter den Ohren. Offenbar hatte sie wieder ihren üblichen Streich abgezogen und das Sitzkissen der Meisterin mit Stecknadeln versehen, die sich dieser nun äußerst unangenehm in den Allerwertesten bohrten. Wie Igelstacheln schauten die roten, blauen und gelben Köpfchen aus dem Stoff ihres Rockes hervor.

»Ich habe mich versehentlich auf ein paar Nadeln gesetzt«, jammerte Anita Nagelschmidt und griff wild um sich. In ihrer Aufregung erhaschte sie kaum eine der Nadeln, es wirkte, als schlüge sie sich selbst auf den Hintern. Der Anblick war zu komisch. Luise biss sich auf die Lippen, um nicht hervorzuprusten.

»Nun helft mir schon, statt Maulaffen feilzuhalten«, fuhr die Chefin sie alle drei an.

Luise und Catrin beeilten sich, ihr zu Hilfe zu kommen und die spitzen Nähutensilien zu entfernen, während Margrit aufreizend langsam die Schachteln mit den Knöpfen ins Regal räumte.

»Ich muss wohl besser aufpassen, mein Zeug nicht überall herumliegen zu lassen.« Nachdem sie von ihrer Qual erlöst worden war, sank Anita Nagelschmidt auf das nun nadelfreie Sitzkissen. Erschöpft winkte sie mit der Hand. »Macht Feierabend und geht nach Hause, Mädchen, die letzten fünf Minuten schenke ich euch. Man muss ja nicht überkorrekt sein mit der Zeit.«

Wie wohltuend es war, der stickigen Nähstube zu entkommen und nach Hause zu radeln! Die Mittagssonne stand hoch am azurblauen Himmel und brannte auf ihren Haaren, doch das hinderte Luise nicht daran, sich kräftig ins Zeug zu legen, um voranzukommen. Die Häuser zu beiden Seiten der breiten Mannheimer Straße flogen nur so an ihr vorbei. Es war Sommer, es war Wochenende, und sie war gesund und unternehmenslustig. Manchmal war das Leben einfach herrlich.

Als sie in die Weidenstraße einbog, musste sie einen großen Schlenker um Klaus Stolle und einige andere Nachbarjungen fahren, die mit einem bereits reichlich abgenutzten Lederball auf dem in der Hitze flimmernden Asphalt kickten.

»He, nicht so stürmisch!« In letzter Sekunde wich sie dem Ball aus, der auf sie zu donnerte, und hielt an. »Du bist nicht Helmut Rahn, Klaus!«

Der sommersprossige Junge grinste sie an und strich sich mit einer schmutzigen Hand durch die verstrubbelten Haare. »Aber bald, Luise! Ich trainiere jeden Tag, um in den FCK aufgenommen zu werden, wenn ich groß bin.«

Luise schmunzelte und stieg vom Rad. Nach der gewonnenen Weltmeisterschaft vor einigen Wochen träumte jedes Kind der Stadt, ja, wahrscheinlich ganz Deutschlands, davon, einmal in den Fußball-Olymp aufzusteigen wie die Nationalelf. Und dass der Verein ihrer Provinzstadt gleich fünf Weltmeister hervorgebracht hatte, war noch immer unglaublich. »Das ist prima, Klaus. Aber du solltest noch ein bisschen an deiner Treffsicherheit üben.«

»Er kann nicht Weltmeister werden, er muss später mal unseren Laden übernehmen«, ließ sich Cordula vernehmen, die in einem gebügelten altrosa Kleid mit aufgestickten Blumen auf einem Mäuerchen saß und den Jungen zusah. Makellos, wie aus dem Ei gepellt. So wie man es von einem Mädchen erwartete.

Luises Herz zog sich bei ihrem Anblick zusammen. »Was ist mir dir, Cordula? Willst du nicht mitspielen?«

»Nein.« Trotzig schabte die Siebenjährige mit der Spitze ihrer glänzend polierten Schuhe über ein paar Gräser, die aus dem aufgebrochenen Asphalt wucherten. »Mutti sagt, ich soll mich nicht dreckig machen.«

Impulsiv wollte Luise zu einer Erwiderung ansetzen, brach dann aber ab und sagte lediglich: »Schade.« Ihre eigene Mutter und Georg schärften ihr immer ein, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Und sie hatten ja recht – auf der Straße zu toben, sich schmutzig zu machen und zu raufen war nun einmal das Vorrecht der Jungs, auch wenn ihr das gehörig gegen den Strich ging.

Zum Glück hängte Herr Stolle in diesem Moment das Geschlossen-Schild in die Glastür seines Ladens, und Frau Stolle rief die Kinder zum Mittagessen. Der Duft nach Eintopf schwebte über die Straße, und als Luise ihr Fahrrad weiterschob, drangen ihr noch weitere Gerüche in die Nase, nach würzigen Bratkartoffeln und allerlei Gemüse. Es war halb eins, in der Weidenstraße ging man zu Tisch. Aus den Fenstern der dicht an dicht stehenden kleinen Häuser vernahm man das Klappern von Besteck und leise Unterhaltungen. Da es überall in der Straße sehr hellhörig war – einige Gebäude teilten sich eine Hauswand –, bekam man mehr von den Tischgesprächen der Nachbarn mit, als einem manchmal lieb war, hier und da untermalt von den Klängen eines Radios.

Im handtuchgroßen Vorgarten der Pfeifers stellte Luise ihr Fahrrad ab. Das Haus war windschief, alles sah auf seltsame Art verzogen aus, vom Dach mit dem krummen Schornstein bis zu der Haustür, die sich nur durch Trick siebzehn öffnen ließ. Als Kind hatte sie es immer mit einem Hexenhäuschen verglichen, genauso wenig Platz bot es auch. Als einziges Mädchen genoss sie das Privileg, eine winzige Kammer ihr Eigen zu nennen, während ihre Brüder sich ein Zimmer teilen mussten. Mutter schlief in der guten Stube, die eh nur an Feiertagen genutzt wurde.

»Hallo, Mutti. Ich habe einen Bärenhunger.« Luise wollte bereits auf die schmale Eckbank rutschen, doch Edith Pfeifer hielt sie am Arm zurück.

»Hände waschen, Fräulein.«

Luise verdrehte die Augen. »Bis ich das erledigt habe, hat Peter schon die ganzen Kartoffeln verdrückt.«

Der jüngere Bruder, der wenig elegant auf der Bank lümmelte, grinste sie schadenfroh an. »Als Mann stehen mir auch mehr Kalorien zu, ob’s dir gefällt oder nicht.«

»Mann?« Luise lachte spöttisch auf und hielt sich die Hände unter den angenehm kalten Strahl des Wasserhahns. »Du bist eher eine halbe Portion. Du gehst sogar noch zur Schule.«

So ganz konnte sie es noch immer nicht verwinden, dass Peter als der Jüngste in der Familie das Albert-Schweitzer-Gymnasium besuchen durfte, während bei ihr eine höhere Schullaufbahn von vornherein ausgeschlossen worden war. Das Geld war knapp, wie Georg und Ulrich, der in einer Schreinerei arbeitete, musste sie zum Haushalt beitragen. Für das Nesthäkchen galten anscheinend andere Regeln. Außerdem war sogar Mutter, die ihrer einzigen Tochter gerne mal den einen oder anderen kleinen Sonderwunsch erlaubte, dagegen gewesen, dass Luise weiterhin zur Schule ging. »Du wirst doch sowieso einmal heiraten«, hatte es geheißen.

»Streitet nicht, Kinder.« Edith Pfeifer wirkte müde, natürlich, sie war nach ihrer Putzstelle sofort nach Hause geeilt, um zu kochen. Nach den schweren Kriegsjahren, in denen sie vier Kinder allein hatte durchbringen müssen, und dem Verlust ihres Mannes sah sie ausgezehrt aus, die rosigen Wangen waren seit Langem verschwunden, stattdessen wirkte sie fahl, und dunkle Schatten lagen unter den Augen.

Luise warf Peter hinter dem Rücken ihrer Mutter einen bedeutungsvollen Blick zu, woraufhin er ihr die Zunge herausstreckte und sich einen Berg Kartoffeln auf den Teller türmte.

»Wo Georg und Ulrich nur bleiben?«, wunderte sich Edith kurze Zeit später, als Peter bereits seine dritte Portion verschlungen hatte und Anstalten machte, sich noch einmal nachzunehmen. Sie zog ihm die Schüssel weg. »Das reicht jetzt, Junge. Es muss noch was für deine Brüder übrig bleiben.«

In diesem Moment vernahmen sie von draußen das Brummen eines Motors. Es kam äußerst selten vor, dass sich ein Auto in die enge Gasse verirrte. Luise sprang auf, zog die pfefferminzgrünen Vorhänge beiseite und spähte aus dem Fenster.

»Ein Lieferwagen! Georg und Ulrich steigen aus! Was zerren sie da heraus? Es sieht aus wie …«

Vor Neugierde hielt sie nichts mehr im Haus, und sie lief nach draußen, gefolgt von Peter und Mutter.

Georg und Ulrich wuchteten ein riesiges weißes Ungetüm aus dem Laderaum des Wagens, wobei sie kurz innehielten und sich mit den Hemdsärmeln über die schweißbesetzte Stirn wischten. »Mannomann, das Ding ist wirklich kein Leichtgewicht.«

Edith stützte sich fassungslos gegen den Rahmen der Haustür, die daraufhin ein verstörendes langgezogenes Quietschen von sich gab. »Was ist das?«

»Was glaubst du denn, Mutti?« Peter packte mit an und half seinen Brüdern, das quaderförmige Stück über den kurzen Weg durch den Vorgarten zu tragen. »Ein Kühlschrank ist es, Halleluja, endlich zieht der Fortschritt bei der Familie Pfeifer ein!«

Unter Luises Haut kribbelte es vor Aufregung. Ein Kühlschrank! Unglaublich. Stolles und die Nagelschmidt besaßen bereits ein solches Teil, aber die waren ja auch erheblich betuchter als die eigene Familie. Bisher waren technische Errungenschaften wie ein Kühlschrank, ein Staubsauger oder eine moderne Waschmaschine mit einer Glastür zum bequemen Befüllen an der Vorderfront undenkbar gewesen. Die Geräte kosteten schließlich ein Vermögen.

»Wo habt ihr den Kühlschrank her? Wieso habt ihr uns vorher nichts verraten? Wie viel hat er gekostet?«, sprudelte es aus ihr hervor, während sie den Brüdern Platz machte, damit sie das kostbare Teil durch die Haustür bugsieren und in der Küche abstellen konnten. »Und woher ist der Lieferwagen?«

»Mal sachte, Schwesterchen. Gib uns einen Moment.« Georg lehnte sich schnaufend gegen die Neuerwerbung. Sein blasses Gesicht war von der Anstrengung rot angelaufen, Ulrich und Peter rangen ebenfalls um Atem. Während Luise den Kühlschrank inspizierte, befüllte Mutter geistesgegenwärtig drei Gläser mit Wasser für ihre durstigen Söhne.

»Danke, Mutti.« Georg trank das Glas in einem einzigen Zug aus. »Der Kühlschrank sollte eine Überraschung für dich sein, deswegen haben wir nichts verraten. Den Lieferwagen habe ich mir von einem Kollegen ausgeliehen, den bringe ich nachher gleich zurück. Gefällt dir die Überraschung, Mutti?«

Edith strich mit der Hand unschlüssig über die weiße, etwas staubige Oberfläche des Küchengeräts. »Ich weiß nicht … Brauchen wir so etwas Neumodisches überhaupt? Verbraucht der Kühlschrank nicht zu viel Strom? Bisher sind wir ohne ausgekommen. Und war er nicht viel zu teuer?«

Ulrich, der genauso rotblond war wie Luise und ihr äußerlich am meisten glich, stöhnte auf. »Mutti! Du bist doch nicht von vorgestern! Man muss mit der Zeit gehen. Ist es nicht toll, wenn wir unsere Getränke kühlen können oder du die Essensreste, vor allem, wenn es so heiß ist wie jetzt?«

»Außerdem – es ist ein Frigor!«, verkündete Peter und schlug mit der flachen Hand triumphierend auf den Kühlschrank. »Ein Frigor, stell dir das mal vor!«

»Und?« Luise blieb unbeeindruckt. War nicht ein Kühlschrank wie der andere? »Ist das was Besonderes?«

»Aber natürlich. Du dumme Pute kannst das nicht wissen.« Peter hob den Deckel der Eckbank und zog eine seiner Fußballzeitschriften hervor, um darin zu blättern. »Hier, schau mal.«

Widerstrebend blickte Luise auf einen Artikel, in dem es um Geschenke ging, die Fritz Walter, der Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, nach dem Sieg an die Spieler verteilt hatte.

»Der gute Fritz hat nach der WM allen Weltmeistern einen Frigor geschickt! Und wir haben jetzt auch einen.« Peter riss ihr die Zeitschrift aus der Hand, verstaute sie wieder im Fach unter der Eckbank und ließ die Sitzfläche laut zufallen.

Wider Willen war Luise ein wenig stolz darauf, den gleichen Kühlschrank zu besitzen wie die Fußballweltmeister. Das war schon eine großartige Sache.

»Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wie viel das gute Stück gekostet hat.« Edith ließ sich auf ihren Stuhl fallen, als fehle ihr die Kraft, noch weiter herumzustehen.

»Nur sechshundert Mark, Mutti«, sprach Georg beschwichtigend auf sie ein.

Edith griff sich ans Herz. »Nur … sechshundert Mark? Habt ihr den Verstand verloren? Wie um Himmels willen …«

»Mach dir keine Sorgen, Mutti.« Ulrich setzte sich neben sie und streichelte ihr beruhigend die Hand. »Erstens verdienen wir alle Geld und können zusammenlegen, außer dem kleinen Prinzen …« Er warf Peter, der schief grinste, einen nachsichtigen Blick zu. »Zweitens hat Georg Ratenzahlung vereinbart. Vierundzwanzig Monatsraten à fünfundzwanzig Mark. Das kriegen wir locker hin.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte Edith. Dann schien sie sich zu berappeln und stand auf, um mit energischen Bewegungen die Teller Georgs und Ulrichs zu befüllen. »Nun setzt euch, ihr beiden, und esst. Ihr habt eine anstrengende Woche hinter euch. Ach, und – danke. Danke, meine Lieben.«

Nach dem Essen half Luise ihrer Mutter, das Geschirr zu spülen, Wäsche zu waschen und das Haus zu putzen, wobei sie aus dem Gähnen nicht mehr herauskam. Gab es etwas Öderes, als sich um derlei nervtötende Angelegenheiten zu kümmern? Noch dazu war es nach der Putzorgie bei der Nagelschmidt bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass sie den Lappen schwang.

Georg und Ulrich brachten den Lieferwagen zurück, und Peter lag derweil auf seinem Bett im Jungenzimmer und hörte Musik – Shake, Rattle and Roll von Bill Haley –, während er offiziell Lateinvokabeln paukte. Luise stieß mit dem Besen in die Küchenecken vor und schnaubte verdrossen, wusste doch die ganze Familie, wie faul der Bruder war und dass er für die Schule keinen Finger rührte, sodass er gerade immer so durchkam.

Auch am Nachmittag noch, als sie sich nach getaner Arbeit durchgeschwitzt in ihre kleine Kammer zurückzog, schallte Rock ’n Roll durchs Haus. Gut, dass sie erst für den Abend verabredet war, sie wäre viel zu ausgelaugt gewesen, um jetzt gleich aufzubrechen. Heimlich hatte sie Peters Fußballzeitschrift aus der Eckbank stibitzt und sog die Artikel darin in sich auf. Die Fußballspieler waren durchaus patente Erscheinungen. Ob sie einen der Kaiserslauterer einmal persönlich treffen würde, möglich wäre es ja durchaus? Sie träumte davon, dass Werner Liebrich, dieser gut aussehende Fußballgott mit dem markanten Gesicht und den welligen rotblonden Haaren, unverhofft durch die Tür der Schneiderei schneien würde, um … Ja, warum sollte er das tun? Nun, er könnte sich zum Beispiel ein maßgeschneidertes Hemd anfertigen lassen oder einen Anzug oder … Noch während sie im Geiste ein fiktives Gespräch mit Liebrich führte, döste sie weg.

Am Abend schloss sie ihren alten Drahtesel an einem Laternenpfahl vor dem Tanzcafé Wiegeschritt in der Kerststraße an und richtete ihren vom Fahren zerdrückten pfirsichfarbenen Rock. Catrin wartete bereits; schüchtern hielt sie sich im Schatten einer Platane auf, durch deren Äste orange glühendes Licht fiel, das bald schon sanfteren Tönen weichen würde. Motorroller mit Halbstarken, die den Mädchen freche Bemerkungen zuriefen, dröhnten durch die Straße, ein alter Herr mit Hut und Spazierstock drehte sich empört nach ihnen um und beschwerte sich über die Lärmbelästigung, bis sie endlich abebbte.

»Du siehst toll aus.« Ehrfürchtig betrachtete Catrin Luises weit schwingende Rockbahnen. »Das hast du selbst genäht, oder?«

»Natürlich.« Luise zupfte eine Falte zurecht. Der Petticoat, den sie unter dem glänzenden Stoff trug, war steif, hatte sie ihn doch zu Hause in Zuckerwasser getränkt, damit er möglichst ausladend blieb. Diesen Trick hatte sie Margrit zu verdanken, die regelmäßig die Brigitte las, die vor drei Monaten erstmals erschienen war. »Die Nagelschmidt bezahlt uns ja leider nicht genug, um im Kaufhaus einzukaufen.«

»Da kommt Margrit.« Catrin, die mit ihrer Flechtfrisur ein wenig bieder wirkte, was sie durch ihr limonengelb gestreiftes Sommerkleid und die Ballerinas wieder wettmachte, blickte der Dritten im Bunde entgegen. »Zu spät wie immer.«

»Warum steht ihr hier herum wie bestellt und nicht abgeholt?« Margrits Erscheinungsbild stellte das ihrer Kolleginnen mühelos in den Schatten. Sie trug nicht nur einen, sondern gleich zwei Petticoats übereinander, sodass ihr weißes Kleid mit dem breiten Gürtel um die schmale Taille wie ein aufgespannter Regenschirm wirkte. Die kurzen hellbraunen Haare hatte sie zu geschmeidigen Locken geformt, und an ihren Ohrläppchen schimmerten matte Perlen. »Lasst uns reingehen.«

Luise und Catrin warfen sich einen amüsierten Blick zu und betraten das Lokal. Es roch durchdringend nach Parfum, Schweiß und Bier. Blauer Dunst waberte wie von einer Nebelmaschine abgefeuert durch den Raum, denn die am Tresen lehnenden jungen Männer rauchten eine Zigarette nach der anderen, während sie nach Damen Ausschau hielten, die als Tanzpartnerin oder mehr infrage kamen. Ein Quintett, bestehend aus Musikern in schwarzen Anzügen und Schlips, spielte gerade Verzeih’, mon ami, und die Tanzfläche begann sich mit Paaren zu füllen, die gemächlichen Slowfox tanzten.

»Einen Gin Fizz!«, rief Margrit einem befrackten Kellner zu, der geschäftig an dem runden Tischchen vorbeieilte, um das sie sich drängten. »Und ihr, Mädels?«

»Eine Coca-Cola reicht mir.« Ulrich würde es sicherlich nicht gutheißen, wenn er Luise nachher abholte und sie beschwipst vorfand, von Georgs Reaktion ganz zu schweigen. Ihre Brüder wachten äußerst besorgt über ihre Tugend, manchmal fragte sie sich, ob ihr Vater genauso streng mit ihr gewesen wäre, würde er noch leben. Der Verzicht auf Alkohol fiel ihr allerdings nicht schwer; in erster Linie wollte sie tanzen und ein bisschen Spaß haben.

»Mir auch«, fiel Catrin sogleich ein.

Margrit verzog das Gesicht, als habe sie es mit bockigen Ziegen zu tun. »Kinder, Kinder, was seid ihr für Spaßbremsen! Lasst euch doch mal ein bisschen gehen, ist es nicht schon schlimm genug, dass wir tagaus, tagein von der Nagelschmidt und unseren Familien gegängelt werden?«

»Was hat Alkohol mit Spaß zu tun? Tanzen kann ich auch, wenn ich Cola trinke, dann wird mir wenigstens nicht so schnell schwindlig bei den Drehungen.« Luise bemerkte über Margrits Kopf hinweg, wie sich ein junger Mann in dunkelblauer Denimhose näherte. Die sogenannte »Cowboyhose« gab es erst seit Kurzem zu kaufen, sie galt als Symbol der Lässigkeit und Rebellion gleichermaßen. Georg hätte sich niemals in solch einem Stück sehen lassen, aber als Polizist verkörperte er ja sowieso Recht und Ordnung und musste selbst in seiner Freizeit respekteinflößend daherkommen. »Ich glaube, dein Typ wird verlangt, Margrit.«

Die Kollegin schnellte herum und unterzog den Mann einer ungenierten Musterung. »Hm, ja, ganz okay.«

Luise und Catrin verbargen ein belustigtes Grinsen, als der Mann, er mochte wohl Anfang zwanzig sein, sich andeutungsweise vor Margrit verbeugte und sie auf die Tanzfläche zog. Vergessen war ihr Gin Fizz, den der Kellner zusammen mit der Cola auf den Tisch stellte.

Auch Luise und Catrin wurden bald aufgefordert und bewegten sich zu Ich tanze mit dir in den Himmel hinein. Erst eine ganze Weile später trafen sie wieder alle drei an ihrem Tisch ein, um durstig ihre Getränke hinunterzustürzen. Der beißende Geruch nach Nikotin hing in ihren Kleidern, und ihre mit so viel Mühe frisierten Haare waren feucht an den Ansätzen und klebten an ihren Schläfen.

»Heute Abend ist zum ersten Mal seit Langem wieder passables Heiratsmaterial vorhanden«, schrie Margrit über die Klänge des Quintetts hinweg, dass sie jemand an den Nebentischen hören konnte, interessierte sie wenig. »Der Erste, mit dem ich getanzt habe, erwies sich als Langweiler, trotz der todschicken Cowboyhose. Der Zweite zwar auch, denn er quasselte ununterbrochen von seinem Auto, aber wenigstens besitzt er eins, stellt euch das nur vor! Ein Mann mit Auto! Himmlisch.«

Luise wischte sich lachend über die Stirn. »Meine Güte, denkst du an nichts anderes als daran, den passenden Mann fürs Leben zu finden? Ich dachte, wir wären lediglich zum Vergnügen hier.«

Margrit rollte die stark geschminkten Augen. »Natürlich bin ich in erster Linie darauf aus, einen guten Fang zu machen. Und ihr solltet das ebenfalls tun. Besteht euer Lebensziel etwa darin, jahrelang bei der Nagelschmidt zu schuften und ihre Wohnung zu putzen?«

»Nein, aber …« Luise nippte an ihrer Cola, die inzwischen recht lauwarm schmeckte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bisher noch nicht großartig über ihre Zukunft nachgedacht. Irgendwann würde sie heiraten und Kinder bekommen, was sollte sie sonst tun?, aber sie war doch noch so jung, und es fühlte sich gut an, von Mutter umsorgt zu werden und mit den Geschwistern zusammenzuleben, alle unter einem Dach, auch wenn die Brüder für ihren Geschmack manchmal zu fürsorglich waren und ihr Vorschriften machten. »Ich meine, so weit kommt’s noch, dass ein Tanzabend in Arbeit ausartet und ich die anwesenden Herren der Schöpfung auf ihre Ehetauglichkeit überprüfe.«

Catrin nickte so heftig, dass einige Haarsträhnen, die sich beim Tanzen aus ihrer Flechtfrisur gelöst hatten, hin und her flogen. »Meine Mutter sagt, ich bin noch viel zu jung zum Heiraten.«

»Du vielleicht, mit deinen süßen Siebzehn bist du ja wirklich noch ein Baby.« Margrit schnippte mit den Fingern, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. »Bei mir sieht die Sache schon anders aus, werde du erst mal neunzehn, dann sprechen wir uns wieder.«

Von hinten näherte sich ein weiterer junger Mann mit verwegener Schmalzlocke über der Stirn und Lederjacke, der sich grinsend vor ihr verbeugte. Damit war die Diskussion unter den Freundinnen schlagartig beendet, und Margrit verschwand strahlend auf der Tanzfläche, die immer voller wurde. Das Orchester spielte Plim-Plim! Plum-Plum von Peter Alexander. Kurzerhand zog Luise Catrin zwischen die Tanzenden, und auch sie schoben sich hin und her und bewegten sich im Takt, Schulter an Schulter mit den anderen Gästen. Was scherte es Luise, dass sie mit der Freundin tanzen musste statt mit einem feschen Jungen, ihre Freude an der Musik und der Herumhopserei wurde dadurch kein bisschen geschmälert. Das Licht der roten Glühbirnen, die von der niedrigen Holzdecke strahlten, badete die Szene in warmem Schein. Die Pflichten der hinter ihr liegenden Arbeitswoche blätterten von ihr ab wie alter Rost, und sie fühlte sich leicht und frei.

Ulrich wartete bereits, als sie erhitzt und mit Blasen an den Füßen – Catrin war ihr im Tanzgetümmel zudem ein paar Mal schmerzhaft auf die Zehen getreten – aus dem Wiegeschritt trat. Er stand gegen den Stamm der Platane gelehnt, rauchte eine Zigarette und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere.

»Du hättest mich wirklich nicht abholen müssen«, versicherte sie, nachdem sie das Schloss aufgeschlossen hatte und ihr Fahrrad die Straße entlangschob. Ulrich ging gemächlich neben ihr her, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Ich hätte problemlos allein nach Hause fahren können.«

»Kommt nicht in die Tüte.« Ulrich kickte einen Kieselstein vom Trottoir. »Wir Brüder sind für dich verantwortlich, nur über meine Leiche würden wir dich zu so später Stunde allein durch die Stadt radeln lassen. Stell dir vor, was dabei passieren könnte!«

»Was denn?«, fragte Luise herausfordernd.

Ulrich brummte. »Das willst du gar nicht so genau wissen.«

Es war noch nicht ganz dunkel, noch zeigte der Himmel jene tiefe tintenblaue Färbung, die er an solch klaren, warmen Sommerabenden präsentierte. Die Fenster in den umliegenden Häusern waren weit geöffnet, aus vielen Wohnstuben hörte man ein Radio. Die Finsternis lauerte bereits an den Rändern des Horizonts, und die Stadt würde bald in saumseliger Stille schlafen.

»Und was habt ihr heute Abend getrieben?«

»Marlene ist rübergekommen, sie und Georg haben stundenlang ihre Hochzeit durchdiskutiert.« Ulrich klang desinteressiert, die seit Langem geplante Festlichkeit war ihm nicht wichtig. Georg und Marlene, die in einer Bäckerei arbeitete, waren bereits seit Monaten verlobt, aber sie wollten erst noch ein wenig sparen, bevor sie den endgültigen Schritt wagten. »Sie wollen jetzt doch unseren Dachboden ausbauen, um sich nach der Hochzeit darin einzuquartieren. Das ist für sie am billigsten.«

»Du meine Güte, dann wird’s eng im Hause Pfeifer.« Luise schob das Fahrrad an einigen Mülltonnen vorbei, die mitten auf dem Gehweg standen.

»Elsbeth war auch da – das heißt, sie ist noch da, genau wie Marlene. Wir Männer haben Fußball gespielt, und die Frauen haben uns zugeschaut.«

Irrte sie sich, oder überzog eine verräterische Röte Ulrichs glattrasierte Wangen? In der zunehmenden Dunkelheit vermochte sie es nicht richtig zu erkennen, aber ihr als kleiner Schwester konnte man nichts vormachen.

»Elsbeth, soso«, sagte sie genüsslich. »Sie tritt in letzter Zeit öfter auf den Plan, oder?«

Ihr Bruder stellte sofort seine Stacheln auf. »Na und, was dagegen?«

»Nö.« Luise lächelte in sich hinein. »Ich hoffe nur, sie klebt von nun an nicht unaufhörlich an dir, so wie deine letzte Flamme, wie hieß sie doch gleich? Hilde oder Heide? Die sprach ja nach einer Woche von Heirat.«

»Keine Angst, ich hab Elsbeth sofort ausgebremst. Zuerst muss Georg unter die Haube, das habe ich ihr klipp und klar zu verstehen gegeben.«

Sie bogen von der breiten, alleenartigen Mannheimer Straße in die Weidenstraße ein, und sofort empfing sie die Intimität der kleinen Gasse. Einige wenige Laternen warfen gelbe Lichtpfützen auf den maroden Asphalt, trotzdem war es nicht so ruhig, wie Luise erwartet hatte. Georg und Peter sowie einige andere Jugendliche und junge Männer aus der Nachbarschaft kickten einen Lederball umher, der von der Finsternis verschluckt wurde, bis er wieder durch den Lichtkegel einer Lampe rollte. Spielte im Moment ganz Deutschland Fußball? In ihrer Straße zumindest war das der Fall, am Mittag waren es die Kinder gewesen, die sich damit vergnügt hatten, nun die Erwachsenen.

»Sie spielen ja immer noch, ein nächtliches Spiel …« Luise hielt inne, beide Hände am Lenker, und sog die Atmosphäre wie einen Zaubertrank in sich auf. Die Rufe und Pfiffe der Spieler, die von Hauswand zu Hauswand schallten, die geröteten, nassgeschwitzten Gesichter, die starken, sehnigen Körper, die sich mit vollem Einsatz darum bemühten, den Ball zu bekommen, die Rempeleien, Tricksereien … Marlene und Elsbeth, die mit einem Glas Eistee in den Händen grazil auf einem niedrigen Mäuerchen saßen, in ihren gepunkteten Kleidern makellos wie Schaufensterpuppen … Luise war, als würde sie sich einen Film anschauen, der in prächtigsten Farben und verheißungsvollen Bildern ein Sommermärchen malte.

»Tor! Tor!«, brüllte Georg, nachdem er den Ball gegen die Hauswand der Stolles geschossen hatte, wobei er das Schaufenster des Krämerladens knapp verfehlte.

»Verdammter Mist!« Erwin Neumer, der dürre Junggeselle, der in Nummer zehn wohnte – er arbeitete in der Pfaff Nähmaschinenfabrik –, trat vor Wut gegen die Stelle, die der Ball berührt hatte, während Marlene und Elsbeth die Pfeifer-Jungs begeistert anfeuerten.

»Gleich noch mal drauf aufs Tor, ihr schafft das!«

»Ich bin auch wieder dabei!« Ulrich zog sich sein Hemd über den Kopf und warf sich im weißen Unterhemd ins Getümmel. Da ging ein Ruck durch Luise. Achtlos ließ sie ihr Fahrrad im Pfeifer’schen Vorgarten auf den sandigen Pfad fallen, lief durch die weit geöffnete Haustür und kramte im Schuhschrank nach den uralten, ausgetretenen Turnschuhen von Peter, die sie in ihrer Schulzeit im Sportunterricht getragen hatte, tauschte diese gegen ihre Ballerinas und stürmte hinaus. Voller Tatendrang mischte sie sich unter ihre Brüder und Nachbarn.

Georg prallte gegen sie, als er versuchte, Erwin den Ball abzuluchsen. »Was soll das, Schwesterherz?«

»Na, ich spiele mit.« Ihr feiner Rock samt in Zuckerwasser getränktem Petticoat interessierte sie in diesem Augenblick wenig, sollten die Sachen doch schmutzig werden. Morgen hätte sie genug Zeit zum Waschen.

»Du?« Georg brach in schallendes Gelächter aus, ließ sie aber gewähren und schoss Manfred aus Nummer zwölf geschickt den Ball weg. Der Schuss bekam solchen Schwung, dass das abgenutzte Lederteil weit flog. Luise sah ihre Chance gekommen, preschte hinterher, wehrte durch eine gekonnte Drehung Peter ab, der ihr dicht auf den Fersen war, und zielte aufs provisorische Tor.

»Tor!« Sie riss die Arme hoch, verwirrt über ihren Erfolg, mit dem sie nicht gerechnet hatte.

Marlene und Elsbeth auf dem Mäuerchen kicherten verhalten. »Na, du bist ja ein echtes Fräuleinwunder«, spottete Marlene und nippte geziert an ihrem Eistee.

»Ich wette, ihr würdet am liebsten auch mitspielen«, versetzte Luise gutmütig und strich sich die zerzausten Haare aus der Stirn.

Elsbeth verdrehte die Augen, als habe Luise etwas völlig Schwachsinniges von sich gegeben. »In hundert Jahren nicht, das kannst du mir glauben. An deiner Stelle würde ich lieber aufpassen, mir nicht das Kleid zu ruinieren, statt wie ein Mannweib über die staubige Straße zu rennen.«

Luise zuckte die Achseln. Mannweib, Ulrichs neue Eroberung hatte sie wohl nicht mehr alle! Manche Menschen wussten einfach nicht, wie man sich amüsierte.

In diesem Moment wurden im Stockwerk über dem Gemischtwarenhandel die Fensterläden aufgestoßen, und Stolles entrüstetes Gesicht erschien, umrahmt von Dunkelheit. »Was soll dieses Spektakel? Die Frau und ich liegen schon seit einer halben Stunde im Bett und warten, dass das Remmidemmi aufhört, aber jetzt reicht es mir! Nach Hause mit euch, aber dalli!«

»Entschuldigung, Herr Stolle«, murmelte Luise, und die anderen schoben eine zerknirschte Bitte um Verzeihung hinterher. Ihre Siegeslaune hatte einen Dämpfer erhalten. Vielleicht war es doch nicht die beste Idee, spät am Abend auf der Straße Fußball zu spielen, aber es machte solchen Spaß, und ein Tor geschossen hatte sie auch! Peter war ganz grün vor Neid.

»Entschuldigung, Entschuldigung! Davon kann ich mir nichts kaufen, wenn ihr meine Scheibe einwerft.« Stolle redete sich in Rage. »Geht ins Bett, so wie es sich um diese Zeit gehört!«

Der Zauber der Augustnacht war gebrochen. Marlene und Elsbeth erhoben sich von dem Mäuerchen und wischten sich den Staub von den Röcken, und die Jungs versammelten sich, um sich zu verabschieden.

»Ich habe ein Tor geschossen«, flüsterte Luise mit glänzenden Augen, als sie, von Peter flankiert, ins Haus ging. Georg und Ulrich hakten ihre Freundinnen ein und machten sich auf den Weg, um sie nach Hause zu begleiten.

Luise konnte es noch immer kaum glauben. So mussten sich die Nationalspieler in Bern gefühlt haben, so euphorisch, von ihrem eigenen Können durchdrungen.

»Jaja,«, spottete Peter. »Du Fußball-As, du.« Sie setzten sich nebeneinander auf die schmale Holzbank beim Eingang, um sich die Schuhe auszuziehen. Ihre Mutter schien bereits zu schlafen, in der nachlassenden Wärme des Tages ächzten die Holzbalken des alten Gemäuers, ein vertrautes Geräusch, das nach Zuhause klang.

»Neidisch?«, zog Luise ihn auf.

»Ach was.« Peter erhob sich im Funzellicht der spärlichen Flurbeleuchtung und schaute aus seiner stattlichen Höhe auf sie herab, er war mindestens einen Kopf größer als sie. »Sagen wir es mal so: Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn.«

»Spar dir deinen Spott, damit willst du nur darüber hinwegtäuschen, dass ich besser gespielt habe als du.« Luise lachte ihm ins Gesicht, dann lief sie barfuß die steile Stiege hinauf in ihre kleine Kammer. Dort öffnete sie das winzige Fenster und schaute sehnsüchtig hinauf in den schwarzen Himmel, an dem die Sterne blinkten wie Glühwürmchen. War das da nicht eine Sternschnuppe, die wie Goldregen herabstürzte? Schnell, sie musste sich etwas wünschen, gewiss würde es in Erfüllung gehen … Sie stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und grübelte. Was sollte sie sich nur wünschen? Die samtene Nacht schien so voller Verheißung, voller Versprechen, Möglichkeiten … Eine unbekannte Unruhe ergriff sie, prickelte in ihr wie Ahoi-Brause. Was würde das Leben ihr bringen?

Kapitel 2

Luise rührte mit dem Löffel die dickflüssige vanillegelbe Masse um und atmete genüsslich den zuckrigen Duft ein, der dem Topf entstieg.

»Wie lange braucht der Pudding noch?« Peter schaute ihr über die Schulter und versuchte, einen Finger in die süße Versuchung zu stecken, um ihn abzulecken. Aber Luise war schneller als er und schlug ihm mit dem Löffel auf die Hand.

»Aufhören! Wenn du mich weiterhin nervst, bekommst du gar nichts ab.«

Peter rieb empört seine Hand. »Stell dich nicht so an und mach hinne. Es wird schon keine Stunden brauchen, den Pudding zu kochen, ist doch ein Fertigprodukt von Dr. Oetker. Du hast ihn uns als Nachtisch für den Sonntagmittag versprochen, also steht er uns zu, und wir haben noch was vor, wie du weißt.«

Luise rührte stoisch weiter. Natürlich wusste sie, dass ihre Brüder mit ein paar Freunden und Kollegen in den Park wollten, um auf einer der dortigen Wiesen Fußball zu spielen. Eigentlich wäre sie gerne mitgegangen, aber Mutter saß mit einem ganzen Korb voll löchriger Männersocken auf der Eckbank, und sie konnte sie schlecht alleine stopfen lassen. »Rede nicht so viel, ich will die Sendung hören.« Im Radio wurde gerade ein Interview mit Horst Eckel, einem der Kaiserslauterer Weltmeister, gesendet, und sie hörte aufmerksam zu, um sich von ihrem Frust, nicht wie die Geschwister in den Park gehen zu können und die warme Augustsonne auf ihren nackten Armen zu spüren, abzulenken.

»Was für ein Gefühl war es, als in den letzten Minuten des Endspiels klar wurde, dass Deutschland gesiegt hatte? Dass Sie Weltmeister werden würden?«, drang die souveräne Stimme des Moderators aus dem kleinen Gerät, das zwischen Pfannen und Schüsseln auf einem Regalbrett stand.

»Zum Abendessen sind wir wieder da, Mutti.« Georg saß neben Mutter auf der Bank und wartete wie Peter und Ulrich auf den Pudding. »Darf Marlene dazustoßen? Ich kann sie erst heute Abend sehen, da sie den ganzen Tag auf Verwandtenbesuch ist.«

»Natürlich.« Edith Pfeifer begann, sich nach Marlenes Verwandtschaftsverhältnissen zu erkundigen, und Luise stellte das Radio lauter. Dass in dieser Familie aber auch immer mehrere Leute gleichzeitig sprechen mussten! Nie konnte man sich in Ruhe eine Rundfunksendung anhören, mochte sie einen noch so sehr interessieren.

»Am Anfang haben wir gar nicht so richtig realisiert, dass wir Weltmeister waren«, erzählte Horst Eckel bedächtig. »Wir dachten: Naja, dann haben wir das Endspiel eben gewonnen. Am Abend nach dem Spiel haben wir es eigentlich gar nicht so sehr krachen lassen.«

»Du, Luise, so langsam könnte der Pudding wirklich mal fertig werden«, drängte Georg und schob ungeduldig seine noch ungefüllte Dessertschale hin und her. »Robert, mein Kollege von der Wache, müsste jeden Moment hier sein, er möchte mit uns in den Park und …«

»Ich kann nicht hexen.« Luise verdrehte die Augen und stellte den Lautstärkeregler noch höher. »Das nächste Mal kocht ihr euch euren Pudding selbst.«

»So weit kommt’s noch.« Peter schlug sich grölend auf die Oberschenkel. »Kochen ist deine Lebensaufgabe, nicht unsere.«

»Nun ärgert mir das arme Luischen nicht allzu sehr.« Mutter mischte sich selten in die geschwisterlichen Streitigkeiten ein, nun sah sie sich offenbar gezwungen, ein Machtwort zu sprechen. »Schluss jetzt, Jungs!«

Luise schob den Topf vom Herd und nahm einen Schöpflöffel aus dem mit weißem Schleiflack verzierten Küchenschrank, um den Pudding zu verteilen. »Erst als wir einen Tag nach dem Endspiel mit einem eigens für uns bereitgestellten Zug von Bern nach Deutschland zurückfuhren, dem Weltmeisterzug, wie die Aufschrift lautete, dämmerte uns, dass wir großen Bahnhof bekommen würden. Schon in München empfingen uns Zehntausende mit ohrenbetäubendem Jubel und Applaus, und so ging es weiter. Selbst im kleinsten Dorf, durch das wir fuhren, drängten sich unzählige Menschen auf die Gleise, um uns durch die Fenster Geschenke zu überreichen oder uns um Autogramme zu bitten. An manchen Bahnhöfen wollten wir aussteigen und uns die Beine vertreten, doch das war unmöglich, so sehr pressten sich die Menschenmassen von außen gegen die Zugtüren. Es war unglaublich. Es war das Aufregendste, was ich jemals erlebt habe. Und erst da, wirklich erst in diesen Momenten, wurde uns klar, was es bedeutete, Fußballweltmeister zu sein.«

Luise war so sehr in den Bericht Horst Eckels vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, dass ihre Brüder den Pudding inzwischen fast völlig verputzt hatten.

»Luise, schnapp dir deinen Teil, sonst gehst du leer aus«, rief Mutter, und sie erwachte aus ihrer Versunkenheit.

»Das wäre ja noch schöner.« Rasch schob sie Peter auf der Eckbank unsanft zur Seite und quetschte sich neben ihn, um ihre Dessertschale mit dem kläglichen Rest zu füllen. Wer drei Brüder hatte, durfte nicht zimperlich sein. »Da stehe ich ewig am Herd, und zum Schluss schaue ich in die Röhre. Das könnte euch so passen.«

»Ob das deiner schlanken Linie guttut?«, zog Peter sie auf.

»Was ist mit deiner?«, gab sie zurück und fixierte das weiße, zugegebenermaßen nicht sehr üppige Stück Bauch, das unter seinem hochgerutschten T-Shirt durchblitzte.

»Wir trainieren uns die Kalorien im Park ab. Aber nimm noch ein bisschen von mir, wir können gern teilen.« Georg schob ihr friedfertig seinen letzten Rest Pudding hin, doch in dem Moment läutete es an der Haustür. »Ah, das wird Robert sein.«

Kurz darauf kam er mit seinem Freund in die kleine Wohnküche zurück. »Mutti, das ist mein Kollege Robert König. Er ist mein neuer Partner, wir gehen zusammen auf Streife.«

»Guten Tag, Herr König.« Edith Pfeifer erhob sich und goss dem Gast rasch ein Glas Wasser aus der Karaffe an. »Sie sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen. Schrecklich heiß draußen, nicht wahr?«

Luise leckte ihren Löffel ab und musterte den Neuankömmling neugierig. Er sah aus, als habe er bereits ein schweißtreibendes Fußballspiel hinter sich, denn seine braunen, akkurat geschnittenen Haare waren feucht, und unter den Achseln seines karierten Kurzarmhemdes prangten dunkle Flecken.

»Da haben Sie recht, Frau Pfeifer.« Robert König trank durstig. »Allerdings bin ich nicht nur wegen der Hitze so derangiert, sondern vor allem, weil mein Moped unterwegs den Geist aufgegeben hat. Ein Reifen ist geplatzt, es gab einen heftigen Knall.«

Der junge Polizist wirkte sehr niedergeschlagen, weshalb Luise sofort Mitgefühl mit ihm empfand.

»Mann, das ist übel.« Georg kratzte sich unschlüssig am Kopf. »Kickst du trotzdem eine Runde im Park mit uns, oder …«

»Nein, daraus wird wohl nichts.« Dankbar nahm Robert König ein weiteres Glas Wasser von Edith entgegen. »Ich werde mich wohl daran machen, meinen fahrbaren Untersatz wieder heimzuschieben, damit ich ihn morgen früh gleich in die Werkstatt bringen kann.«

»Können wir dir helfen?«

»Nö, geht ihr ruhig Fußball spielen, wir sehen uns morgen auf der Wache.«

Georg schien erleichtert, keine Hilfsdienste leisten zu müssen, zumal Ulrich und Peter bereits ihre an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Turnschuhe über die Schultern geworfen hatten und aufbruchbereit waren. »Na dann, bis morgen, altes Haus.«

Nachdem die Haustür knarrend hinter den Brüdern zugefallen war, bot Edith Robert an, sich frischzumachen, bevor er den Rückweg antrat, was er gerne annahm.

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