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Der Tote vom Elbhang

Als Buch hier erhältlich:

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Spektakulärer Leichenfund im Elbvorort: Der erste Fall für Svea Kopetzki

Ein besonderer Fund präsentiert sich Svea Kopetzki und ihrem Team vom Morddezernat Hamburg: Menschenknochen, sorgsam gesäubert und in Fell eingewickelt. Auf einem zur Zwangsversteigerung ausgeschriebenen Grundstück am Falkensteiner Ufer waren sie vergraben. Sind die Knochen der Grund, warum der stadtbekannte Immobilieninvestor Kampmann bei der Versteigerung des Anwesens bereit war, einen Rekordpreis zu zahlen? Woher hat der mittellose Eigentümer Dreyer plötzlich das viele Geld, um seine Schulden zu begleichen?
Neu-Hamburgerin Svea stellen sich viele Fragen um den Toten vom Elbhang …

»Ein spannender Plot und vor allem viel Lokalkolorit.« NDR 90,3 Kulturjournal

»Die in Hamburg lebende Autorin malt in ihrem Debüt-Krimi ein facettenreiches Bild der Hansestadt, ihrer Gesellschaft und ihrer dunklen Seite. Spannung von der ersten bis zur letzten Seite.« Evangelische Zeitung

»Solides […] Regionalkrimi-Debüt mit gut durchdachtem Plot, sympathischen Ermittlern […] und viel Hamburger Lokalloriot.« ekz Bibliotheksservice


  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Aus der Serie: Svea Kopetzki
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678445
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gleißendes Licht fließt durch dich hindurch. Du betrachtest den Mann vor dir auf dem Boden. Wie hingegossen liegt sein Körper da. Blut sickert aus der Wunde, die deine Axt geschlagen hat, bekränzt seinen Schädel. Ein scharlachroter Heiligenschein.

Was keine Nachahmung schafft, egal wie sehr du dich bemühst, schafft der Tod wie von selbst. Das totale Werk.

Du tippst mit dem Fuß gegen die Leiche. Der Heiligenschein zerläuft. Der Geruch von Eisen steigt dir in die Nase und lässt dich aus deiner Verzückung erwachen. So kann der Mann hier nicht liegenbleiben! Aber zum Glück weißt du, was zu tun ist. Du hast immer noch alles da. Fell, Schnur, bloß die Schachteln werden nicht reichen.

MONTAG, 13.04.2015

»Ich rufe auf den Versteigerungstermin 541 K 8-13. Bitte eintreten.« Rechtspfleger Alexander Heidenich ließ den Lautsprecherknopf des Pultmikrofons los und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Oder auch nicht«, murmelte er, während er sich die Schläfen rieb. Diese Massen! Er wusste nicht, wann der Saal im Amtsgericht Hamburg-Blankenese zuletzt so voll gewesen war. Immer noch drängten Bietinteressenten vom Flur herein und zwängten sich zwischen die Anwesenden. Wer keinen Stuhl ergattern konnte, hockte sich auf eine der Fensterbänke oder lehnte sich hinter der letzten Sitzreihe an die Wand.

Heidenich roch versagendes Deodorant und feuchte Wollpullover. In der dritten Reihe biss eine Schwangere in ein Käsebrot. Tilsiter, tippte er. Zwei Plätze weiter verzog ein Mann in Jackett und Krawatte das Gesicht und hielt sich die Hand vor die Nase. Heidenich mochte das kräftige Aroma von reifem Käse. Und gern auch einen guten Roten dazu.

Er wandte den Kopf nach rechts. Protokollführerin Birthe Kruse blickte an ihrem Computermonitor vorbei in den Saal. »Wie in der Kirche an Heiligabend«, stellte sie fest.

»Meinen Sie die anstehende Geburt?«

Birthe Kruse krauste die Stirn.

Um Vergebung bittend faltete Heidenich die Hände, aber Birthe Kruse starrte schon wieder auf den Bildschirm. Ihr Glaube war eine ernste Sache für sie. Das vergaß er dummerweise immer wieder, nachher in der Kantine würde sie ihn daran erinnern. Dabei konnte er sie in diesem Fall verstehen. Auch ihm würde es besser gefallen, wenn er seine Schäfchen nicht nur heute, sondern jede Woche so zahlreich um sich scharen könnte. Doch wegen der niedrigen Hypothekenzinsen kam es in letzter Zeit immer seltener zu Zwangsversteigerungen. Meistens ging es dann um Tiefgaragenplätze oder Brachflächen mit nur einer Handvoll Interessenten. Heute jedoch stand ein freistehendes Einfamilienhaus zum Gebot, klein und heruntergekommen, aber in Bestlage am noblen Falkensteiner Ufer. Das hatte Leute angelockt, die sich sonst eher selten zu Zwangsversteigerungen verirrten.

Heidenich wartete, bis die Letzten einen Platz im Saal gefunden hatten. Als endlich Ruhe eingekehrt und nur noch das Singen der Neonröhre über ihm zu hören war, erhob er die Stimme: »Guten Morgen, meine Damen und Herren.« Er atmete tief durch. Was er jetzt sagen musste, würde die Leute nicht freuen, ihn hatte es ja selbst überrascht. »Ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen, dass mich vor einer halben Stunde der Hauseigentümer angerufen hat. Er hat versichert, seine Schulden in den nächsten Tagen zu tilgen.«

»Oh Gott, war’s das jetzt?« Die Schwangere stöhnte und presste eine Hand an ihren Bauch.

»Nein. Der Anruf kam zu kurzfristig. Wir werden die Versteigerung durchführen, nur erteile ich am Ende nicht wie gewohnt dem Meistbietenden den Zuschlag. Die Entscheidung darüber wird für eine Woche ausgesetzt. Das heißt, wenn der Schuldner tatsächlich innerhalb dieser Frist zahlt, haben Sie hier zwar Ihren Spaß gehabt, nur leider immer noch kein Haus.«

»Das ist ja wohl das Letzte!« Ein Kapuzenpulliträger schoss von seinem Stuhl hoch. »Dafür habe ich mein Meeting gecancelt.« Schimpfend drückte er sich durch die Menge nach draußen.

Heidenich musste ein Grinsen unterdrücken. »An dieser Stelle weise ich gern noch einmal darauf hin, dass ich in erster Linie nicht dazu da bin, Ihnen ein schönes neues Zuhause zu verschaffen. Vielmehr geht es darum, dass der Gläubiger sein Geld bekommt.« Verhaltenes Gelächter im Saal. Heidenich räusperte sich. »Wenn nicht noch jemand gehen möchte, verlese ich jetzt den Veröffentlichungstext.« Er schlug den Aktendeckel zurück und begann: »Es geht heute um die Zwangsversteigerung des in Hamburg-Blankenese im Falkenstieg 18 belegenen Flurstücks Nummer 1318. Das Grundstück ist bebaut mit einem unter Bestandsschutz stehenden Einzelhaus, Baujahr 1932, laut Gutachten seit Längerem unbewohnt und von Hausschwamm befallen. Letzteres wurde bereits behördlicherseits gemeldet. Der festgesetzte Verkehrswert beträgt 480.000 Euro. Das geringste Gebot beträgt 9.770 Euro und setzt sich aus den Verfahrenskosten zusammen.«

Er schloss die Akte wieder und fuhr fort: »Es gelten die gesetzlichen Versteigerungsbedingungen, als da sind: Eigentum wird erst durch die Erteilung des Zuschlags erworben, die gesetzliche Mindestbietzeit beträgt dreißig Minuten, jeder Bieter muss sich ausweisen und eine Sicherheitsleistung in Höhe von zehn Prozent des Verkehrswertes vorlegen, wie immer erfolgt die Versteigerung unter Haftungsausschluss. Es gilt, gekauft wie besehen oder nicht besehen.«

Während Heidenich sprach, glitt sein Blick über die Menge. Seine beiden Stammgäste, wie Birthe Kruse und er die Berufsbieter nannten, saßen wie üblich möglichst weit voneinander entfernt. Die stumpfhaarige Blonde in ihrem immergleichen Nadelstreifenblazer thronte auf ihrem Platz am mittleren Fenster. In der letzten Reihe rückte Nermin Melic seine haferflockenfarbene Schirmmütze auf der frisch rasierten Glatze zurecht.

Ein kurzer Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Damit stelle ich fest, es ist 10:37 Uhr. Die Bietstunde ist eröffnet.«

In der ersten Reihe schoss ein junger Typ in Jeans und Outdoorjacke hoch. Die linke Hand reckte er wie in der Schule, mit der rechten nestelte er in seiner tiefhängenden Hosentasche nach dem Portemonnaie. Seine Finger zitterten, als er den Personalausweis herauszog und vor Heidenich auf den Tisch legte.

»Herr Röder«, las Heidenich und schob den Ausweis zu Birthe Kruse herüber, damit sie die Personalien aufnahm. Dann fragte er: »Wie viel bieten Sie?«

»Äh, das Geringste.«

»Sie müssen mir schon eine Zahl sagen.«

»Äh … wie viel war das noch?«

Manche Bieter raubten einem den letzten Nerv. Normalerweise besuchten die Leute erst einen Termin als Zuschauer, um den Ablauf kennenzulernen, bevor sie dann selbst mitsteigerten. Das erleichterte die Sache für alle Beteiligten, war von Röder aber offensichtlich nicht für nötig befunden worden. Heidenich biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzustöhnen, und schlug die Akte wieder auf.

»Neuntausendsiebenhundertsiebzig«, las er vor, artikulierte jede Silbe mit einer extra Pause nach der Tausender- und der Hunderterstelle.

Röder wiederholte die Zahl, nahm seinen Ausweis zurück und setzte sich sofort wieder.

Heidenich fasste sich in den Nacken und presste Daumen und Zeigefinger in die verhärteten Muskeln rechts und links der Halswirbel.

»Herr Röder!« Er wurde kurz laut.

Röder zuckte auf seinem Stuhl zusammen.

»Haben Sie eine Sicherheit dabei?«

Röder sprang auf und reichte ihm ein fleddriges Papier. Heidenich faltete es auseinander: ein Verrechnungsscheck über 48.000 Euro. Immerhin, die Summe stimmte.

»Danke.« Er legte den Scheck neben sich ab und wandte sich an das Publikum. »Herr Röder bietet 9.770 Euro. Bietet jemand mehr?«

»Zweihundertachtzigtausend!«, rief Melic vom hinteren Ende des Saales. Er reservierte seinen Stuhl mit der Schirmmütze, zwängte sich durch die Menge nach vorn und gab Ausweis und Scheck ab.

Heidenichs Nackenmuskulatur begann sich wieder zu lockern. Zumindest auf seine Stammgäste war Verlass. »Herr Melic bietet 280.000 Euro. Das derzeitige Meistgebot ist wirksam abgegeben von Herrn Melic.«

»285.000«, schrie Röder. Seine Hand schoss erneut in die Höhe.

Melic stoppte auf dem Rückweg zu seinem Platz und rieb sich die breite Stirn. »350.000.«

»355.000.«

»400.000.«

»455.000.«

»500.000!« Melic blickte triumphierend zu Röder.

Fehlt nur noch, dass er ein Bündel Geldscheine aus der Tasche zieht und damit herumwedelt, dachte Heidenich.

»505.000.« Röder ließ nicht locker.

Noch zehn Minuten bis zum Ende der Mindestbietzeit, und der Verkehrswert war bereits knapp überschritten. Melic setzte sich wieder. Er schien nicht nachlegen zu wollen. Dafür blickte Heidenich in das sorgfältig geschminkte Gesicht einer rotgelockten Frau im Businesskostüm.

»550.000«, sagte Katja von Trott. Der Name stand auf dem Ausweis, den sie ihm zeitgleich mit ihrem Gebot unter die Nase hielt. Mit ihren High Heels war sie bestimmt eins achtzig groß. Als sie ihre Haare zurückwarf, loderten diese wie Flammen. Nicht sein Typ, aber besonders, wirklich besonders. Während er ihr Gebot verkündete, begann ein Vogel zu zwitschern.

»555.000«, rief Röder und wühlte hektisch in seiner Jackentasche. Der Vogel wurde lauter.

Heidenich schüttelte den Kopf. »Sie bieten 555.000 und machen bitte sofort Ihr Handy aus!« Was war heute nur los?

Im Saal kam derweil immer größere Unruhe auf. »Lass uns gehen, das bringt nichts«, sagte die Schwangere zu ihrem Nebenmann. Ihr Käsebrot hatte sie mittlerweile aufgegessen. »Die sind alle verrückt! So viel für die rottige Hütte.« Als sie mit ihrem Begleiter an der Hand den Saal verließ, schlossen sich weitere Zuschauer an. Der Rest sah gespannt nach vorn.

Die nächsten Minuten vergingen ohne ein weiteres Gebot. Heidenich lehnte sich zurück und lauschte dem Geklacker von Birthe Kruses Tastatur. Die Leute fingen gerade wieder an zu tuscheln und mit den Stühlen zu rücken, als er mit erneutem Blick zur Uhr feststellte: »Jetzt haben wir die gesetzliche Mindestbietzeit erreicht.« Kurze Pause. »Bietet jemand mehr als 555.000 Euro?« Niemand reagierte. Heidenich hob an: »555.000 zum Ersten, 555.000 zum …«

»Dann biete ich noch mal«, unterbrach ihn von Trott. »600.000.«

»605.000«, rief Röder prompt.

»650.000.«

»655.000.«

»Ich erhöhe auf 750.000.« Von Trott schüttelte ihre feurige Mähne.

»755.000.«

»800.000.«

»805.000.«

Den Mund leicht geöffnet, verfolgte Heidenich das Bietduell. Er war ja einiges gewohnt, aber jetzt begann sein Adrenalin zu pulsieren.

Von Trott stemmte ihre goldberingten Finger in die Hüften und wandte sich wie in Zeitlupe zu ihrem Kontrahenten. »895.000.« Sie sprach betont deutlich.

Heidenich wartete auf Röders Gegengebot, doch der schwieg. Vielleicht war er zur Vernunft gekommen. Spät, aber nicht zu spät. So viel, wie diese von Trott womöglich zahlen müsste, waren das Haus und das Grundstück einfach nicht wert. Um Längen nicht.

Heidenich atmete tief ein und sagte: »895.000 zum Ersten. 895.000 zum Zweiten. 895.000 zum Dritten!« Er sah ein letztes Mal auf seine Uhr. »Es ist 11:23 Uhr. Damit schließe ich die Versteigerung.«

Sofort wurde es laut im Saal. Die Leute drängten zur Tür, die meisten redeten auf ihren Begleiter oder ihr Smartphone ein. Mit ihrem absurden Höchstgebot hatte von Trott ihnen den Traum vom Schnäppchen in den Elbvororten gründlich vermasselt.

»Beantragt die Bieterin ihren Zuschlag?«, fragte Heidenich.

Von Trott nickte, und an die wenigen im Saal Verbliebenen gerichtet, fuhr er fort: »Der Verkündungstermin ist am Montag, den 20.04., pünktlich um zehn. Die Sicherheitsleistung des Meistbietenden behalte ich bis dahin ein. Alle anderen können ihre Schecks jetzt gleich mitnehmen.«

Ein letztes Mal kam auch Röder an Heidenichs Tisch. Wortlos nahm er seinen Scheck entgegen, zerdrückte ihn in der Faust und stopfte ihn im Hinausgehen in die Jackentasche.

Heidenich wartete nur noch darauf, dass von Trott ihren Mantel von der Stuhllehne nehmen und ebenfalls den Saal verlassen würde. Demonstrativ stand er auf und klemmte sich die Akte unter den Arm. Jetzt eine Zigarette! Seine Finger tasteten nach dem Tabakpäckchen in seiner Jacketttasche. Von Trott verharrte noch immer neben ihrem Stuhl. Erst als Röders Schritte auf dem Gang verklungen waren, kam sie auf ihn zu.

»Ich habe mein Gebot in verdeckter Vollmacht für Janpeter-Kampmann-Immobilien abgegeben.« Sie zog eine notariell beglaubigte Vollmacht aus ihrer Aktenmappe und ließ sie auf seinen Tisch gleiten. Grußlos stöckelte sie davon, in der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Bis in zehn Tagen.«

Heidenich schluckte. Ein Immobilienhai, der das große Geschäft witterte. Das hätte ihm gleich klar sein müssen. Aber wenn Kampmann sich da mal nicht täuschte. Abreißen und einen Mehrfamilienklotz aufs Grundstück setzen – hier nicht. Der Bestandsschutz ließ sich nicht aushebeln. Es sei denn, der Gutachter hatte etwas übersehen. Aber das sollte nicht seine Sorge sein.

1

Svea Kopetzki zerrte ihr Schlafhemd über den Kopf und schlüpfte in ihre Laufsachen. Im Flur schnappte sie sich die dünne schwarze Jacke mit den Reflektoren, ihr Smartphone schob sie in die Tasche am Oberarm. Bereitschaftsdienst hinderte zum Glück nicht daran zu joggen.

Als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, zeigte die Apothekenuhr auf der anderen Straßenseite 2:30 Uhr und immer noch elf Grad Celsius an. Ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Kein Mensch war zu sehen, kein Auto unterwegs, Svea zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Anschlag hoch und wandte sich Richtung Elbe. Ihre Schritte federten über den Asphalt, nur einmal musste sie kurz anhalten, um ein Taxi und zwei SUV-Schlachtschiffe vorbeizischen zu lassen. Dann trabte sie locker den Elbhang hinab.

Am gegenüberliegenden Ufer spiegelten sich die Lichter der Containerbrücken im Wasser und verwandelten den Fluss in ein Glitzermeer. Svea kniff die Augen bis auf einen Spalt zusammen, sie spürte das Dröhnen und Wummern der Kräne beim Be- und Entladen der Schiffe, als käme es aus ihrem Innern. Der Hafen gehörte zum Wenigen, das ihr an Hamburg gefiel. Diese verdammte Schnöselstadt, aus der sie lieber heute als morgen wieder verschwinden wollte. Aber dann wäre ihre Karriere am Arsch.

Unten angekommen, steigerte sie das Tempo. Zwei Schritte ein. Drei Schritte aus. Eine Stunde Joggen wirkt genauso gut wie eine Beruhigungstablette, hatte der Hausarzt gemeint, als sie vor drei Monaten auf seiner Behandlungsliege gelegen hatte, nach einer Woche nahezu ohne Schlaf. Seitdem lief sie mindestens zweimal die Woche. Gerne nachts.

Hinter Teufelsbrück wurden die Abstände zwischen den Laternen größer. Nur das Flugzeugwerk sandte seinen schwachen orangefarbenen Lichtschein herüber. Svea kannte die Strecke gut genug, um trotzdem einen Sprint einzulegen.

Als es an ihrem linken Trizeps vibrierte, stockte sie und wäre beinahe gestolpert. Keuchend blieb sie stehen. Mit einer Hand rieb sie sich den Knöchel, mit der anderen zerrte sie ihr Smartphone hervor.

»Alles klar?«, herrschte die Stimme am anderen Ende.

»Ja, warum?«

»Weil Sie so stöhnen.«

»Mann, ich laufe gerade.«

»Aha.« Kurze Pause. »Mitten in der Nacht?«

»Rufen Sie an, um mit mir übers Joggen zu reden?« Svea holte Luft. »Dann laufe ich lieber zurück nach Hause, mein Bett wartet.«

»Jetzt reicht’s mir langsam! Wir haben was für Sie. Menschliche Knochen. Ich stehe hier in einem Garten in Blankenese. Da sind ein paar Kinder eingestiegen. Also wenn das meine wären, denen würde ich …«

»Adresse?«

»Falkenstieg 18, aber ich würde …«

»Okay, bis gleich.« Svea drückte das Gespräch weg. Kristian Brandt vom Kriminaldauerdienst war ein netter Kerl, sie mochte seine verquatschte Art. Aber nur in der Kantine, nicht im Einsatz.

Das erneute Vibrieren des Telefons ignorierte sie und tippte stattdessen die Adresse in die Kartenapp. Noch 3,26 Kilometer. Immer an der Elbe entlang und dann kurz bergan. Keine 20 Minuten. Hätte Brandt erst ein Auto angefordert, würde es doppelt so lange dauern.

Blaulicht huschte zwischen den Baumskeletten am Hang umher und wies Svea die Richtung, als sie vom Uferweg in den Falkenstieg abbog. Von Rhododendren und Thuja-Büschen gesäumt, wand sich die schmale Asphaltstraße den Berg hinauf. Perfekt, um sich vor neugierigen Blicken zu verstecken. Nirgends in Hamburg war die Millionärsdichte so hoch wie hier am Falkenstein. Schnaufend rannte sie weiter, bis zwei Streifenwagen mit eingeschalteten Scheinwerfern den Weg versperrten. Gleich dahinter parkte der Transporter der Spurensicherung, etwas weiter weg am Straßenrand erkannte Svea einen roten Toyota Corolla Kombi. Tammes Familienkutsche. Wie hatte ihr Stellvertreter es geschafft, aus Farmsen-Berne so schnell hierher ans andere Ende der Stadt zu kommen? Sie setzte an, um über das rotweiße Absperrband zu steigen, aber ein Streifenbeamter hielt sie am Arm zurück.

»Sie dürfen hier nicht durch!«

»Hauptkommissarin Kopetzki, ich leite die Mordbereitschaft.«

Sein Griff verstärkte sich.

»Loslassen, sofort!« Svea hätte ihm jetzt gern ihre Dienstwaffe unter die fleischige Nase gehalten. Sie beließ es bei ihrem Ausweis und hastete weiter.

»Ich habe auch meine Vorschriften«, rief er ihr hinterher.

Das Tor knirschte in den Angeln, als sie es zur Seite schob und das Grundstück betrat. Unkraut überwucherte den gepflasterten Zufahrtsweg. An seinem Ende, dort, wo Svea eine Protzhütte erwartet hatte, kauerte ein kleines Fachwerkhaus. Krumm und schief zeichnete sich sein Giebel gegen den Nachthimmel ab. Durch die halb geöffnete Eingangstür schimmerte Licht. Eicheln knackten unter Sveas Füßen, während sie darauf zuging. Oder waren es Bucheckern? Svea fröstelte. Was hatte Brandt gesagt? Menschliche Knochen. Sie hielt kurz inne. Weiter links am Hang ragten Fichten auf, ein Wäldchen aus ausgedienten Weihnachtsbäumen, umzingelt von Scheinwerfern. Im Unterholz blitzten die Schutzanzüge der Techniker.

»Herr Brandt«, rief Svea, als sie den bulligen Typ erkannte, der zwischen den Stämmen hervortrat. Keine Reaktion, dafür wandten die beiden Personen hinter ihm den Kopf in ihre Richtung. Der rothaarige Hüne war unverwechselbar: Tamme. Und daneben, schmal, staksig und blondlockig: Franziska. Was soll ich mit so einer Barbie?, hatte Svea gedacht, als sie ihr frisch von der Fachhochschule zugeteilt worden war. Mittlerweile würde sie die selbstbewusste, kluge Kommissarin nicht mehr hergeben wollen. Auch wenn sie ihr in letzter Zeit ein bisschen zu forsch wurde. Ein zweigeteiltes grünes Herz blitzte in Sveas Kopf auf. Das Cover des Buches, das Franzi ihr gestern unaufgefordert auf den Schreibtisch gelegt hatte. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich Franzis Einmischung in ihr Privatleben zu verbitten.

Sie verließ den Plattenweg, um den dreien entgegenzugehen. Mit jedem Schritt versank sie knöcheltief in einem Teppich aus modrigem Laub. Brandt nickte nur knapp zur Begrüßung. Sie hatte ihn wohl zu brüsk abgewürgt.

»Ich muss weiter. Einbruch in Osdorf. Ich habe Ihrem Stellvertreter schon berichtet.« Er blickte kurz zu Tamme, bevor er davonstapfte, zurück in Richtung Straße.

»Was ist los?«, fragte Svea.

»Das sollte ich dich fragen«, gab Tamme zurück. »Brandt hat mehrfach versucht dich anzurufen. Warst du joggen? Um die Zeit?«

Sie sah auf ihr Telefon. Drei Anrufe in Abwesenheit, zwei davon bereits vor einer Dreiviertelstunde. Verdammt, wieso hatte sie das Vibrieren nicht gespürt? Sie verfluchte ihre Unaufmerksamkeit. Kalter Schweiß rann ihr vom Nacken bis ins Kreuz hinab.

»Scheiße«, sagte sie laut. »Funkloch.« Sie hoffte, dass Tamme und Franzi die Ausrede schluckten.

»Soll ich dir ein Handtuch holen?«

»Nicht nötig. Schieß los.«

»Zwei Mädchen vom Campingplatz sind gestern Nachmittag beim Spielen dort hinten über den Zaun geklettert und über lose herumliegende Knochen gestolpert. Ihre Eltern haben später die Polizei gerufen.« Tamme klappte sein Notizbuch auf. »Die Kollegen sind um 22:10 Uhr hier vor Ort eingetroffen. Weil alles im Dunkeln lag, haben sie ein bisschen gebraucht, um die Dinger zu finden. Menschenknochen. Eindeutig. Sie haben gleich den KDD verständigt.«

Er blickte Svea an, Besorgnis lag in seinen hellblauen Augen. Wahrscheinlich stellte er sich gerade seine eigenen Mädchen vor, wie sie so etwas fanden. »Die Knochen liegen noch am Fundort. Wird gerade alles abgescannt.« Er steckte das Büchlein zurück in die Tasche seines Anoraks. »Eins ist eine Beckenschaufel, das andere wohl ein Oberarmknochen. Komm mit.« Er wandte sich um in Richtung Fichtenwäldchen.

»Warte, was ist im Haus?«

»Nichts.«

»Nichts?«, warf Franzi ein und schob sich eine Locke hinters Ohr. »Das ist ein Saustall.«

»Ja. Ich meinte, nicht noch mehr Knochen oder so. Seit die letzte Bewohnerin, eine Annegret Dreyer, vor ein paar Jahren gestorben ist, steht das Haus leer und verfällt. Allerdings geistert ab und zu der Sohn hier rum. Hat wohl das Haus geerbt. Komischer Typ, sagt der Kollege von der Streife.«

»Woher will er das wissen?«

»Wegen der ganzen Alarmanlagen in der Gegend kommen sie oft hier vorbei. Dabei haben sie ihn wohl getroffen.«

»Jetzt ist niemand da?«

»Die Tür war verschlossen. Aber es gibt Schuhspuren vorm Eingang und drinnen im Staub. In der Küche steht ein Campingkocher, es ist noch Gas in der Flasche.«

»Vergiss nicht den Topf mit dem grünen Flausch«, brachte Franzi sich ein.

»Es ist ziemlich verwahrlost. Der Strom ist abgestellt. Wasser gibt es auch nicht. Möglicherweise sind die Leitungen geplatzt, so stockig, wie es riecht. Zwei von Freders Leuten nehmen gerade Spuren auf.«

Svea rieb sich die Hände, um warm zu werden. Sie hätte längst nach Hause gemusst. Duschen. Kaffee trinken. »Wir müssen schnellstens mit diesem Sohn sprechen. Habt ihr den Namen? Adresse, Telefon?«

»Die Streife kümmert sich drum.«

»Okay. Dann zeigt mir erst mal die Knochen.«

Sie gingen halb um das Fichtenwäldchen herum, bis ein verwitterter Lattenzaun sie abrupt stoppte. Mannshoch begrenzte er das Grundstück.

»Hier entlang.« Tamme wandte sich zum Zelt der Spurensicherung.

Neben einem gelben Aufsteller mit der Nummer eins lag, wie zufällig fallengelassen, eine Art grobes Schöpfwerkzeug.

»Eine linke Beckenschaufel«, sagte Franzi.

Fundstück Nummer zwei war gleich dahinter platziert. Es war etwa 25 Zentimeter lang und an den Enden wulstartig verdickt.

»Wer hat den denn abgenagt?«, entfuhr es Svea. Der Oberarmknochen war glatt wie ein Spielzeug für Hunde.

»Mit Abnagen liegst du nicht ganz falsch«, meinte Tamme. »Laut Spusi sind die Knochen noch zu jung, als dass das Fleisch an ihnen von selbst komplett verwest wäre. So etwas dauert ja ein bis zwei Jahre. Es scheint irgendwie abgeschabt worden zu sein. Schätzungsweise mit einem Messer. Hier siehst du die Kerben.«

»Also kein Tier?«

»Das sähe wohl anders aus, unregelmäßiger. Aber das sollen dir die Kollegen aus der Rechtsmedizin genauer sagen, meint Freder.«

In diesem Moment tauchte Freder Birk, der Leiter der Spurensicherung, aus dem Dunkel auf. Geblendet vom Licht seiner Stirnlampe, hielt Svea sich die Hand vor die Augen.

»Sorry.« Freder knipste die Lampe aus. »Ich hab noch mehr für euch.«

»Menschenknochen?« Svea beugte sich über das halb verweste Fellbündel, das am Fuß einer Fichte lag. »Sieht mir eher nach Kaninchen aus.« Sie versuchte, den süßlichen, moschusartigen Geruch zu ignorieren, und wollte sich gerade wieder aufrichten, da griff Freder mit seinen behandschuhten Fingern in das Fell und schlug es zurück. Sie stockte. Was dort vor ihr lag, war kein Kleintierkörper.

Sie musste aufstoßen, Galle brannte ihr in der Kehle. Neben ihr pfiff Tamme durch die Zähne.

»Rippen«, sagte Franzi.

Freder ließ ihnen einen Moment Zeit, um den Anblick zu verdauen. Dann wanderte der Lichtkegel seiner Lampe weiter. Ein Erdloch, etwa einen halben Meter tief, der matschige Aushub lag direkt daneben. »Hier wurde das wohl ausgegraben.«

»Von den Mädchen?«, fragte Svea.

»Nein, zumindest wenn sie die Wahrheit gesagt haben und gestern Nachmittag zum ersten Mal hier waren.«

»Wie alt sind die beiden eigentlich?«

Tamme kramte sein Notizbuch hervor. »13 und 15.«

»Das sind keine Mädchen, das sind Teenager.« In dem Alter hatte Svea nicht mehr draußen gespielt. Sie hatte andere Sachen gemacht. Ganz andere. Aber das behielt sie besser für sich.

»Können wir weitermachen?«, riss Freder sie aus ihren Gedanken. »Die Aufgrabung ist zwar noch recht frisch, höchstens ein paar Tage alt, aber der Haufen sowie das Loch sind offensichtlich nass geworden. Und gestern Vormittag hat es zum letzten Mal geregnet.«

»Es kann auch später ein Hund auf den Haufen gepinkelt haben«, gab Svea zu bedenken.

»Der pH-Wert spricht gegen Urin.« Freder grinste. »Nee, im Ernst, das würde anders aussehen. Aber wir überprüfen das natürlich trotzdem. Die Aufgrabung wurde jedenfalls mit einem Spaten gemacht. Hier sieht man noch die Abdrücke.«

»Habt ihr im Gartenschuppen nachgesehen, ob da einer rumsteht?«

»Es gibt keinen Schuppen. Und im Haus ist bis jetzt noch keiner über einen Spaten gestolpert.«

Svea sah sich um. »Für so ein Grundstück braucht man doch Gartengeräte.«

»Oder einen Gärtner?«

»Das wird uns dieser Sohn hoffentlich bald beantworten können«, murmelte Svea. Wichtiger war doch, wer die Knochen überhaupt eingegraben hatte, bevor sie jemand wieder ausgrub. Laut fragte sie: »Hast du eine Ahnung, wie lange das Fellpäckchen in der Erde lag, bevor es wieder ausgegraben wurde?«

»Schwierig.« Er bückte sich und zerbröselte etwas Erde zwischen den Fingern. »Der Boden ist eher sandig, das beschleunigt die Zersetzungsprozesse. Schätzungsweise zwischen zwei und drei Monaten.«

Svea drehte sich zu Tamme und Franzi. »Sorgt dafür, dass die Staatsanwaltschaft die Knochen sofort für die Rechtsmedizin freigibt. Wir müssen wissen, wie lange das Zeug hier herumlag. Und vor allem: Stammt es von derselben Person?« Sie sah zurück zu Freder. »Sonst noch was?«

»Bis jetzt nicht. Aber wir haben noch längst nicht alles durchsucht.«

»Dann durchkämmt das ganze Grundstück. Und den Hang.«

»Vielleicht solltest du dir erst im Hellen ein Bild machen, bevor wir hier alles mit dem Bagger umpflügen.« Freder gähnte und Svea presste die Lippen zusammen, um es ihm nicht nachzutun. Sie hatte den Wink verstanden.

»Franzi, besorgst du uns einen Kaffee?«

»Wo soll ich den um die Zeit herbekommen?«

»Am Campingplatz gibt’s bestimmt ein Büdchen.«

»Büdchen?«

»Oder eine Kneipe, was weiß ich.«

»Ob die jetzt schon geöffnet hat?«

»Wenn du nicht nachguckst, weißt du es nicht.« Immer dieser Widerspruch!

»Kiosk heißt das in Hamburg«, sagte Freder, nachdem Franzi davongestakst und außer Hörweite war. Er zeigte hinter sich. »Und da lang wäre es schneller gegangen.«

Erst jetzt bemerkte Svea die Tür im Zaun. Sie drückte die Klinke herunter und stand am Kopf einer Treppe. Durch ein Gestrüpp aus frischem Giersch, Buchenschößlingen und Brombeerranken führte sie geradewegs den Hang hinunter. Svea blickte zur Seite, rechts und links am Zaun lief ein Trampelpfad entlang. Der Himmel färbte sich bereits hellgrau.

»Tamme, kommst du?«

Sie schickte ihn hangaufwärts am Zaun lang. Sie selbst wandte sich nach links. Dorthin, wo die Mädchen angeblich hinübergeklettert waren.

Etwas Weißes schien vor ihr auf dem plattgetretenen Laub auf. »Wusste ich’s doch«, murmelte sie. Sie zog ihren Ärmel bis über die Finger herunter, griff ihr Fundstück durch den Stoff und steckte es vorsichtig in ihre Jackentasche.

»Alles unauffällig«, rief Tamme. Er stand bereits an seinem Auto, als Svea zum Sprung über den Graben ansetzte, der das Ende des Pfades vom Falkenstieg trennte. »Der Weg geht bis zur Straße am Zaun entlang. Ohne Abzweigungen. Soweit ich es erkennen konnte, sind es bestimmt hundert Meter bis zum nächsten Grundstück.«

»Keine direkten Nachbarn also. Schlechte Chancen, dass jemand etwas bemerkt hat.« Svea lehnte sich neben Tamme und schloss für einen Moment die Augen. »Trotzdem muss jeder im Umkreis von einem Kilometer befragt werden. Regelst du das?« Als sie Schritte näher kommen hörte, öffnete sie die Augen wieder.

Franzi sprintete den Hang hinauf. Sie hob Svea die leeren Hände entgegen.

»Wie ich’s mir dachte. Alles zu.«

Franzi lächelte so freundlich, dass Svea sich fast schämte. »Danke trotzdem.«

»Gibt’s noch was für mich zu tun?«

»Erst mal nicht.« Sie würde Franzi jetzt nicht zum Haus schicken. Das musste sie schnell selbst erledigen. »Du kannst hier warten, wenn du willst. Ich sage Freder Bescheid, dass wir ins Präsidium fahren.«

Svea hielt die Luft an. Franzi hatte nicht übertrieben. Der Mief von durchgeschwitzten Sportklamotten, tagelang in der Tasche vergessen, war harmlos gegen das, was ihr im Eingang des Hauses entgegenschlug.

Eine Kriminaltechnikerin der Spurensicherung trat aus dem Raum links hinter der Tür.

»Kann ich mich kurz umsehen?«, fragte Svea.

»Klar.« Die Frau öffnete einen Alukoffer, reichte Svea ein Paar Schuhüberzieher und wies hinter sich. »Das hier ist die Küche.«

Auf den verkrusteten Platten eines altmodischen Elektroherdes erkannte Svea den Schimmeltopf, auf der Spüle den Campingkocher. Im Becken stand ein Plastikeimer, halb gefüllt mit einer graubraunen Brühe, daneben drei Teller gegen eine Tasse gekippt. Nach der Staubschicht zu schließen, war der Abwasch schon etwas länger her.

Gegenüber der Küche entdeckte sie das Bad. Kloschüssel, Waschbecken, ein Spiegel mit einer abgeschlagenen Ecke, winzig, das Ganze. Svea musste niesen und schlug die Tür wieder zu. Schnell weiter!

Im hinteren Zimmer gab es nichts bis auf eine Anrichte. Helle Umrisse auf dem Dielenboden deuteten die fehlenden restlichen Möbel an. Eine Stiege führte in den Spitzboden.

»Hier oben sind noch zwei Schlafkammern.« Die Stimme der Kriminaltechnikerin hallte hinunter in den leeren Raum.

Als Svea die Stufen erklomm, knirschte und ächzte es bei jedem Schritt. Halt suchend griff sie nach dem Geländer. Es wackelte, als könnte es gleich abbrechen. Sofort ließ sie wieder los.

Wer hier gewohnt hat, kann nicht besonders anspruchsvoll gewesen sein, dachte sie beim Betrachten der grob zusammengezimmerten Betten. Die Einrichtung erinnerte sie an einen ihrer letzten Dortmunder Einsätze. Am Borsigplatz in einer Rumänenabsteige.

»Feine Leute hier am Falkenstein, was?« Die Kriminaltechnikerin ließ einen Schlafsack in einen Plastiksack gleiten. Ihr Kollege kniete auf dem Boden und kratzte etwas Dunkles vom Boden.

»Blut?«, fragte Svea.

»Nee. Außer Dreck ist hier nichts zu holen. Da müssen Sie raus zu unserem Knochenmann gehen.«

Freder stand mit einer Schaufel in der Hand an einem Erdhaufen, nicht weit von der Stelle entfernt, an der Svea ihn zurückgelassen hatte. Auf einer weißen Plane lagerten seine neuen Fundstücke. Matschige Pappreste, so zurechtgelegt, dass sie ein Rechteck andeuteten. Daneben mehrere Fetzen fleckigen Fells, auf den ersten Blick das gleiche, in das auch die Rippen gewickelt waren.

»Guck dir das an!« Freder hielt den Kopf gesenkt und wies mit dem Kinn auf das Loch neben sich.

Svea schauderte, als sie erkannte, was er in den Überresten eines Schuhkartons gefunden hatte. Gebettet auf Fell.

»Die rechte Beckenschaufel?«

»Genau.«

Es war nur ein Gefühl. Trotzdem konnte sie plötzlich schwören, dass das Grundstück noch viel mehr hergeben würde. Zum Glück war das Ausgraben Freders Job. Sie musste sich bloß den Kopf darüber zerbrechen, was hinter dem Ganzen steckte. Wer kam auf die kranke Idee, eine Leiche akkurat zu zerteilen und die einzelnen Knochen im Fellmantel anzurichten?

»Du kommst erst mal allein klar, oder?«, fragte sie Freder. »Ich fahr dann mit Tamme und Franziska ins Präsidium.«

»Warte, wo ist mein Kaffee?«

»Der Ki-osk«, Svea zog die erste Silbe in die Länge, »hatte zu.«

»Hmmm«, brummte Freder. »In meiner Thermoskanne im Auto ist vielleicht noch ein Rest.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Hat mich einer gefragt?«

2

Um kurz vor neun saß Svea an ihrem Schreibtisch im Präsidium in Alsterdorf. Wachgeduscht und mit frischen Klamotten aus ihrem Spind. Als sie den Computer einschaltete, spiegelte sich ihre Silhouette im Bildschirm. Ihre kurzen dunklen Haare, schnell trocken gerubbelt, standen in alle Richtungen ab.

»Soll ich dir meinen Kamm leihen?« Mit drei Bechern in seinen großen Händen kam Tamme zurück vom Getränkeautomaten. An seinen Stiefeln klebten Reste von Tatort-Erde.

Endlich Kaffee! Svea nahm einen Schluck und strich sich mit der freien Hand über den Kopf. »Habt ihr den Sohn der verstorbenen Hausbesitzerin gefunden?«

»Vor zehn Minuten noch nicht. Aber wir geben dir sofort Bescheid.« Mit festem Schritt verschwand Tamme durch die Zwischentür ins Nebenzimmer.

Sveas Telefon klingelte. Der Pförtner. Nicht mal eine Stunde war vergangen, seit sie von unterwegs bei der Familie angerufen hatte, die den Knochenfund gemeldet hatte. Jetzt wartete die Mutter mit ihren Töchtern schon unten im Foyer darauf, abgeholt zu werden. Svea wollte sich selbst ein Bild machen. Dann musste Tamme sie eben in der Morgenrunde vertreten.

»Die Wurst hing an beiden Seiten über den Tellerrand!« Kai Schotts Bassstimme hallte Tamme aus dem großen Konferenzraum am Ende des Flures entgegen. Hier fand wie jeden Tag die Morgenrunde statt, bei der die sechs Teamleiter ihrer Chefin Uta Wienecke berichten mussten.

Als Tamme eintrat, breitete Schott gerade die Arme aus.

»So ein Ding war das. Wer in der Schlachteplatte nicht satt wird, dem ist nicht zu helfen!« Er lachte selbst am lautesten über seine Bemerkung und kniff Tamme zur Begrüßung ein Auge zu. »Moin, Kollege, dass wir uns hier treffen. Wenn das keine gute Zukunftsmusik ist.«

Schott war wie Tamme stellvertretender Teamleiter und heute nur dabei, weil sein Chef im Urlaub war. Helmut Butenschön, das Urgestein der Abteilung. Ein Jahr noch, dann würde Butenschön in Rente gehen. Tamme wusste, Schott rechnete fest damit, nachzurücken. Was das für die Stimmung in der Morgenrunde bedeutete, wenn Schott künftig dauerhaft anwesend wäre, war klar. Schott nannte Wienecke Quoten-Domina, seit sie den Job bekommen hatte, auf den auch er sich beworben hatte. Tamme hielt sich da raus. Er war zufrieden mit seinem bestehenden Status. Wie sollte er sonst fünfzig Prozent der Familienarbeit übernehmen?

»Hast du die Bratkartoffeln probiert?«, fragte jetzt Cem Demir, der gegenüber von Schott saß. »Die sollen dort am besten sein.«

Schott ging nicht weiter darauf ein. »Mir hat der letzte Zipfel Wurst noch aus dem Hals geguckt«, fuhr er fort. »Da wirst du schon gefragt, ob du einen Nachschlag willst.«

Bevor er weiterreden konnte, schaltete Wienecke sich ein: »Hört bitte auf, ich habe noch nicht gefrühstückt.«

Tamme dankte ihr im Stillen. Er musste dran denken, auf dem Rückweg ein paar Brötchen aus der Kantine mitzunehmen. Svea hatte bestimmt auch Hunger.

»Was ist mit Kopetzki?«, fragte Wienecke, ohne ihn anzusehen.

»Zeugenbefragung.« Er schob gleich noch ein »dringend« hinterher. Dann war klar, dass Svea keine Zeit geblieben war, Wienecke ordnungsgemäß über ihr Fernbleiben bei der Morgenrunde zu informieren. Auch wenn Wienecke ansonsten okay war, legte sie großen Wert auf Einhaltung des Dienstwegs. Nicht immer Sveas Stärke.

Als Tamme sich setzte, registrierte er neugierige Blicke. Gestern hatte Svea noch gesagt, dass sie Leerlauf hätten und gern eins der anderen Teams unterstützen könnten. Das hatte sich über Nacht umgekehrt. Jetzt brauchten sie Unterstützung. Dringend.

Schotts Team war allerdings voll ausgelastet mit den Ermittlungen zu einem toten Rentner in einer Kleingartenanlage, wie er als Erster in der Runde wortreich darlegte, nicht ohne sich selbst mehrfach zu loben für seinen sensiblen Umgang mit den Angehörigen.

Tamme fragte sich, ob Schott da nicht irgendetwas verwechselte. Ihm fielen viele Adjektive ein, um den Kollegen zu beschreiben, sensibel gehörte nicht dazu. Egal, immerhin musste er nicht fürchten, in den nächsten Tagen zu einem gemeinsamen Einsatz mit Schott eingeteilt zu werden.

Die anderen Teams waren mit einer noch unbekannten Wasserleiche aus der Dove-Elbe im Osten der Stadt, einer Schießerei vor einem Fitnessstudio in Hammerbrook und Steinewerfern an der A7 ausreichend beschäftigt.

Demir hatte wochenlang im Fall einer Bäckereifachverkäuferin ermittelt, die auf dem Weg zur Arbeit in einem Park erstochen worden war. »Wir sind so weit durch mit der Sache«, schloss er. Gestern war der geständige Ex-Mann dem Haftrichter vorgeführt worden.

Gut, dachte Tamme, so wie es aussah, konnte Demirs Team jetzt Leute erübrigen.

»Hätte die Frau sich mal besser nicht getrennt«, kommentierte Schott und erntete einen strafenden Blick von Wienecke.

Als Tamme letztendlich an die Reihe kam, fasste er die bisherigen Erkenntnisse um den Knochenfund im Falkenstieg zusammen.

»Zwei bis drei Monate alt?«, hakte Wienecke hinsichtlich des geschätzten Alters der Knochen nach.

Tamme nickte.

»Irgendwelche Vermissten aus der Zeit?« Sie blickte in die Runde.

Nachdenkliche Gesichter. Kopfschütteln. Ähnlichkeiten mit anderen Fällen fielen auf die Schnelle auch niemandem ein. Tamme würde die Datenbanken checken müssen.

Wienecke stellte zwei Leute aus Demirs Team zur Unterstützung im Falkenstieg ab, ob für Zeugenbefragungen oder anderes, sollte Svea entscheiden. Dann löste sie die Runde auf.

»Kommt jemand mit in die Kantine?«, fragte Schott.

Spontan entschied Tamme, das Loch in seinem Magen zu ignorieren und direkt in sein Büro zurückzugehen.

»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.« Im Foyer schüttelte Svea zuerst der Mutter der beiden Mädchen die Hand. Trotz des breiten grauen Haaransatzes schätzte Svea sie auf höchstens Mitte dreißig. Ihr türkisfarbener Wollmantel war schief geknöpft. Die beiden Mädchen waren zurechtgemacht wie Zwillinge: die gleichen knallengen Jeans mit Löchern an Knien und Oberschenkeln, die gleiche schwarze Kapuzenjacke mit Teddyfutter. Lange blonde Haare hingen ihnen ins Gesicht. Trotz der frühen Stunde hatten sie sich geschminkt, als würden sie sich gleich ins Nachtleben stürzen. Als die Kleinere ihre Hand in Sveas legte, musste Svea an einen Fisch denken. Kalt, feucht und tot. »Du bist Leonie?«

»Die beiden haben kaum geschlafen. Da habe ich sie krankgemeldet.« Die Mutter stockte. »Das ist doch nicht verboten, oder?«

Svea überhörte die Frage und hielt ihre Magnetkarte vor die Zwischentür zum Flur des Morddezernats. »Sind Sie öfter mitten in der Woche auf dem Campingplatz? Das ist ja ein ziemliches Stück von Ihrem Zuhause in Dulsberg.«

»Wir mussten das trockene Wetter nutzen, um das Vorzelt aufzubauen. Wir sind erst vor zehn Tagen wieder aus dem Winterlager umgezogen.«

»Winterlager?«

»Weil die Wohnwagen direkt am Strand in den Dünen stehen, ist der Platz von Oktober bis März wegen Hochwassergefahr komplett gesperrt.«

»Sie haben keine Ahnung von Camping, oder?«, nuschelte das größere der Mädchen unter ihrem Haarvorhang.

»Kim!«

»Wenn du dich da mal nicht täuschst.« Svea blieb vor dem Besprechungsraum stehen. »Ich würde Ihre Töchter gern getrennt voneinander als Zeugen befragen. Vielleicht ist der einen etwas aufgefallen, was die andere übersehen hat.«

»Leonie ist nicht meine Tochter.«

»Aha.« Da hatte der Blankeneser Kollege bei der Aufnahme der Aussage wohl geschlampt.

»Sie wohnt nur vorübergehend bei uns, bis ihre Mutter wieder da ist.«

»Wo ist deine Mutter denn?«

Achselzucken.

»Krankenhaus. Krebs«, flüsterte Frau Schröder.

»Das tut mir leid.« Svea beugte sich zu Leonie, aber die verzog keine Miene. Einen Moment zögerte Svea, dann hielt sie Frau Schröder die Tür auf. »Können Sie hier mit Kim warten?«

Frau Schröder blickte zu Leonie. Erst als die erneut mit den Achseln zuckte, nickte sie.

»Bedienen Sie sich bitte von den Getränken auf dem Tisch.« Svea rückte die Polsterstühle für Frau Schröder und Kim zurecht und stellte jeder von ihnen ein Glas hin.

Mit Leonie ging sie in ihr Büro auf der anderen Seite des Flures. Für Besucher war es auf dem Plastikklappstuhl vor ihrem Schreibtisch zwar nicht halb so gemütlich, aber Svea konnte sich, ähnlich wie im Vernehmungszimmer, beim Gespräch aufs Wesentliche konzentrieren: ihr Gegenüber und dessen Reaktionen.

»Ihr seid also über den Zaun geklettert?«

Svea rechnete schon mit einem Achselzucken, doch Leonie nickte.

»Wirklich?«

»Ja. Aber das haben wir doch alles schon dem Polizisten erzählt.«

»Ich frage mich nur, warum ihr euch die Mühe gemacht habt, über einen ein Meter achtzig hohen Zaun zu klettern, statt einfach durch die Tür darin zu gehen.«

»Wie denn? Die ist doch immer abgeschlossen.«

»Immer? Geht ihr öfter dort spielen?«

»Kommt vor.«

»Und was spielt ihr so?«

»Verstecken.« Leonie knibbelte den Lack von einem ihrer grünglitzernd lackierten Fingernägel.

»Bist du dafür nicht zu alt?«

»Haben Sie eine bessere Idee?«

Svea hatte tatsächlich eine Idee. Besser war die allerdings nicht, doch um Längen realistischer. Davon war sie überzeugt, jetzt, wo sie die Mädchen gesehen hatte. Aber für den endgültigen Beweis müsste sie sich trotzdem noch etwas gedulden.

»Wart ihr auch im Haus?«, fuhr sie fort.

»Nein.«

»Also nur im Garten?«

»Sag ich doch.«

Auch wenn Leonie Svea leidtat, wie sie vor ihr kauerte und versuchte, cool zu sein, wurde es Zeit, ihr den Ernst der Lage bewusst zu machen. »Du weißt schon, dass das Hausfriedensbruch ist, oder?«

»Na und.«

»Der Besitzer könnte zum Beispiel seine Hunde auf euch hetzen.«

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