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Der Spielmacher

Als Buch hier erhältlich:

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Wenn du nicht mitspielst, wird deine Familie sterben. Wenn du verlierst, stirbst du.

Ein Killer, der seine Opfer als Schachfiguren nutzt, in einem Spiel um Leben und Tod. Auch Detective Norris und seine Kollegin Rose sind nicht mehr als Spielfiguren, welche einem abartigen Regelwerk ausgeliefert sind. Können sie den Killer mit seinen eigenen Waffen schlagen, bevor eine neue Runde des Spiels beginnt und noch mehr unschuldige Leben genommen werden?


Nach »Ein Freund«, der neue packende Thriller von Charlie Gallagher

Ein absolut fesselnder, spannungsgeladener Krimi, der Ihnen den Atem raubt.



  • Erscheinungstag: 23.01.2024
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004449

Leseprobe

Für Julia James

PROLOG

Shannon drängte sich wieder an die Wand, so fest, dass der hervorstehende Ziegelstein in ihren Rücken drückte. Sie hielt den Hintern oben und die Füße nach vorn gestreckt. Sie scharrte damit im Stroh und schob es in Richtung der schlammbedeckten Stiefel, die sie unter der verwitterten Tür hindurch sehen konnte. Mit angehaltenem Atem betete sie stumm, dass diese Stiefel sich wegdrehen mögen, egal wohin, und dann weitergingen. Ihre Hände zuckten unkontrolliert, als würde jemand anderes sie lenken, und ihre Finger streiften den Draht, der seit ihrer Ankunft um ihre Taille gewickelt war und sie an die Wand fesselte.

Die Tür klapperte. In der Akustik der leeren Scheune klang es fast wie eine Kugel, die zwischen den offenen Stahlpfosten hin- und herschlug. Die Tür erzitterte, nur ein bisschen, aber genug, um zu wissen, dass sie entriegelt wurde. Shannon hielt immer noch den Atem an und starrte so konzentriert auf die Tür, dass sie halb erwartete, sie in Flammen aufgehen zu sehen.

Dann drehten sich die Stiefel weg und verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Schlurfend und kratzend entfernten sie sich, ein Geräusch, das verriet, dass sie dem Träger zu groß waren. Er würde nicht reinkommen. Es würde keine weiteren Anweisungen geben, keine weiteren Drohungen oder Versprechungen.

Der letzte Teil hatte begonnen.

Der erste Klang der Glocke bestätigte das. Die Glocke war sogar noch lauter als das Schloss, und ihr Widerhall machte es unmöglich, die Quelle des Geräuschs zu erkennen. Shannon rappelte sich auf die Füße, und es fiel ihr unerwartet schwerer als sonst. Der Draht um ihre Mitte hing plötzlich leicht durch, und sie konnte sich nicht länger dagegenstemmen. Dafür konnte sie einige Schritte gehen, bevor er sie wieder zurückhielt und sich schmerzhaft um ihre Taille spannte. Sie war einen Meter näher an der Tür. Einen Meter Boden, der irgendetwas Nützliches enthalten musste.

Sie ging auf die Knie und begann, wie wild das trockene Stroh zu zerpflücken, das den Boden der Stallbox bedeckte. Sie suchte irgendetwas, das ihr die Arbeit erleichterte. Mit nackten Händen warf sie Brocken getrockneten Tierdungs zur Seite und stieß mit den Fingern wieder so fest hinein, dass ihre Nägel und Fingerkuppen über den Betonboden kratzten. Nichts.

Die Glocke ertönte erneut. Zwei von fünf. Waren das wirklich schon zehn Sekunden? Der Draht wurde wieder schlaffer und erlaubte ihr erneut ein paar Schritte. Sie warf sich der Tür entgegen und stolperte in ihrer Hast. Sie wäre nach vorne gestürzt, doch der Draht hielt sie auf, presste die Luft aus ihren Lungen und grub sich diesmal in ihren Magen. Sie begann wieder, den Boden abzusuchen, bog in ihrer Eile die Finger durch, spürte den Schmerz, doch ihr blieb keine Zeit innezuhalten. Ihre Fingerkuppen stießen gegen etwas. Sie zog daran, und es wurde immer länger: ein Gürtel. Leder, mit einer kleinen Schnalle. Nicht, was sie sich gewünscht hätte, aber möglicherweise nützlich. Sie legte ihn um ihre Hüften und versuchte, ihn mit tauben, unsicheren Fingern zu schließen, während sie mit ihren Blicken schon wieder den Boden nach etwas anderem absuchte. Der dritte Klang der Glocke ließ sie aufwimmern, und Verzweiflung übermannte sie. Sie kratzte an den Kanten der Stallbox entlang, dort, wo das Stroh fester und plattgetrampelt war und sich mit mehr Dung zu einer dichten Masse verbunden hatte. Da war noch etwas. Mit den Nägeln kratzte und scharrte sie daran, bis sie es herausziehen konnte. Ein Hammer! Dieses Mal wimmerte sie vor Erleichterung. Das war etwas, was sie benutzen konnte. Das ihr eine Chance gab. Er war klein, ein Glashammer für Notfälle, wie man sie in Bussen hängen sah. Egal. Er war immer noch besser als ihre Fäuste. Sie rappelte sich wieder auf die Füße und strauchelte vorwärts, erst einen Schritt, dann zwei. Der dritte war nur ein Halbschritt, dann stoppte sie der Draht wieder so abrupt, dass sie auf einem Fuß balancierend dastand, das andere Knie angehoben und die Arme wild nach vorne zur Tür wedelnd.

Die Glocke erklang zum vierten Mal.

Noch zehn Sekunden.

Die Zeit für ihre Suche war vorbei. Der Draht, der sie festgehalten hatte, fiel schlaff zu Boden. Sie trat einen Schritt zurück, und diesmal wurde ihr bewusst, wie schwer sie atmete, wie tief sie ihre Lungen füllte. Sie musste das unter Kontrolle kriegen. Sie keuchte nicht so sehr vor Anstrengung, sondern vor Angst und Anspannung vor dem, was als Nächstes kam. Mit schmerzenden Fingern löste sie die Drahtschlinge, die auf ihre Füße fiel. Sie stieg darüber hinweg und löste den Blick nicht von der geschlossenen Tür. Sie wusste, was geschehen würde, wenn sie vor der letzten Glocke die Box verließ. Mit dem nackten Fuß tastete sie nach der Wand, benutzte sie als festen Grund, um sich davon abzustoßen und sich den besten Start zu ermöglichen. Sie beugte sich vor, die Hände auf dem Boden und den rechten Fuß angezogen, wie eine Sprinterin im Startblock. Sie hatte noch einen Augenblick, um an ihrem angespannten Körper hinabzuschauen, zu dem Gürtel, der locker an ihrer Hüfte baumelte, und auf den Hammer, der unbequem in ihrer rechten Hand lag, während die Knöchel darum sich in den Boden drückten, aber sie wagte nicht, ihn loszulassen, nicht mal für eine Sekunde. Sie trug ein lockeres rotes Kleid aus einem rauen Stoff, das sichtlich schmutzig war. Auch ihr angezogener Schenkel war mit Tierexkrementen und Dreck überzogen.

Sie hob den Kopf für einen letzten Blick auf den soliden steinernen Balken über der Tür. Sie war überzeugt, dass sich das Muster und die Reihe von Zahlen, die darin eingekratzt waren, auch in ihren Verstand geritzt hatten, und zwar so tief, dass sie sie niemals wieder vergessen könnte. Aber was, wenn sie ihr genau dann nicht einfielen, wenn sie sie brauchte? Was, wenn sie sie vergaß? Sie schüttelte den Kopf und versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Es waren nicht nur ihre Gedanken, die vor Zweifel und Anspannung kopfstanden, sondern auch ihr Magen, während ihre Brust von der Anstrengung brannte. Sie sank auf ein Knie, ruhte sich einen Augenblick aus. Das letzte Klingen der Glocke brauchte länger, da war sie sicher – die Zeit hätte längst abgelaufen sein sollen. Man spielte mit ihr.

Dann erfüllte der fünfte Glockenlaut den Raum.

Shannon stieß sich ab und sprintete los, die rechte Hand fest um den Hammer geschlungen. Zwei Schritte, dann ein Sprung und zur Seite drehen, und die Tür sprang so kraftvoll auf, dass sie unwillkürlich die Augen schloss und fast das Gleichgewicht verloren hätte. Mit gesenktem Kopf preschte sie aus ihrer Box, gerade als der Lärm einer zweiten auffliegenden Tür erschallte, die ihr gegenüber gegen die Wand krachte. Sie hob den Blick und sah eine andere zu Tode verängstigte junge Frau, die aus ihrer Box herauspreschte. Für einen Augenblick stand die Zeit für beide still. Stumm tauschten sie Blicke, dann wandte sich die andere Frau nach links und hetzte auf den Eingang zu, der grellweiß leuchtete: Tageslicht.

»Scheiße!« Shannon lag jetzt schon hinten. Sie sprintete hinterher. Die andere Frau trat als Erste ins helle Sonnenlicht, das ihr weißes Kleid verschwimmen ließ, während sie davonjagte. Und sie war unglaublich schnell. »Scheiße, scheiße!« Sobald Shannon aus der Scheune kam, veränderte sich der Boden. Er war immer noch aus Beton, aber rissig, und immer noch schmutzig, aber befleckt von etwas, das ihn rutschig machte. Steinchen stachen in ihre Fußsohlen, und als sie diesmal stolperte, gab es nichts, das sie zurückhielt, und sie stürzte auf Knie und Handflächen. Sie hatte keine Zeit für die Schmerzen. Sie sprang wieder auf die Füße, senkte den Blick, suchte nach Stellen, an die sie treten konnte. Die Frau in Weiß war immer noch vor ihr und kam besser voran. Sie war bereits auf einem Pfad, der sich einen steilen Hügel hinaufschlängelte. Und sie rannte immer noch.

Shannon erreichte ebenfalls den Pfad. Er war weniger rau unter ihren Füßen, da Autos zwei Spuren zwischen den Steinen geschaffen hatten. An der Spitze des Hügels veränderte sich der Boden wieder zu glattem Asphalt. Sie sah zwei Landstraßen, die fünfzig Meter vor ihr in einer Kreuzung zusammentrafen. Die Frau in Weiß war schon dort. Aber sie zögerte, war sogar stehen geblieben – lange genug, um zurückzuschauen. Dann schien sie eine Entscheidung zu treffen und sprintete weiter, schnurgeradeaus.

Shannon wurde an der Kreuzung ebenfalls langsamer. Die Entscheidung der anderen Frau warf Zweifel und Verwirrung in ihr auf. Der eingeritzte Plan hatte eine Abbiegung nach links gezeigt. Oder doch nicht? Sie blieb stehen, ihre Lungen brannten von dem Aufstieg am Hügel. Ihr Mund war voller Speichel, und sie beugte sich vor, um ihn auszuspucken. Sie ging ein paar Schritte nach links. Sie war ohnehin zu weit hinter der Frau in Weiß, um denselben Weg zu nehmen. Sie musste daran glauben, dass sie richtiglag, dass die andere Frau einen Fehler begangen hatte. Es war ihre einzige Hoffnung.

Shannon rannte weiter. Wenigstens war es hier flacher, die Straße dehnte sich vor ihr aus, zu beiden Seiten von festen Schlammstreifen begrenzt. Als sie den Wald vor sich erreichte, veränderten sich die Geräusche, ihre Schritte hallten vom Blätterdach über ihr wider. Als Nächstes müsste eine Schikane kommen, die sie zwang, langsamer zu laufen, erst scharf rechts, dann links. Die eingeritzte Karte hatte nicht deutlich gemacht, wann die Kurve kommen sollte. Aber sie sollte kommen. Kam keine, dann war sie falsch gelaufen. Und das durfte nicht sein.

Die Rechtskurve kam als brutaler Schnitt in den Wald und durchdrang den Schlammstreifen in einem spitzen Winkel. Sie folgte ihr. Fast sofort kam eine Linkskurve, und sie hoffte, dass sie hier richtig war.

Sie hatte inzwischen schwer zu kämpfen. Ihre Lungen brannten stärker, und ihr Herz klopfte wild. Ihre Beine standen kurz vor einem Krampf, und sie wusste, dass sie langsamer werden musste. Sie entschied sich dafür, schnell zu gehen, mit langen Schritten, um sich ein bisschen zu erholen, so wie man es ihr in der Laufgruppe gezeigt hatte. Sie müsste genügend Zeit haben. Sie stemmte die Hände in die Hüften und zog die Schultern nach hinten, um tief die Luft einzusaugen. Sie spürte den Hammer an ihrem Hüftknochen. Sie warf einen Blick über die Schulter. Eine Frau in einem lockeren weißen Kleid kam auf sie zu. Schnell.

»Ach, verdammt!« Shannon wurde klar, dass sie zu erschöpft war, um zu rennen, und dass sie die Frau stattdessen aufhalten konnte, die Sache hier und jetzt beenden. Sie packte den Hammer fester, doch als sie sich auf ihn konzentrierte, wirkte er kleiner in ihrer Hand – und leichter. Was, wenn die andere Frau ebenfalls etwas gefunden hatte? Etwas Besseres? Wenn sie von der in den Stein geritzten Karte ausging, sollten sie fast am Ziel sein. Sie nahm die Beine in die Hand und lief weiter.

Diese paar Augenblicke der Rast hatten ihr geholfen. Sie war schneller – stärker. Als Nächstes sollte wieder eine Rechtskurve kommen. Sie kam. Dieses Mal sah Shannon sie schon von Weitem. Sie waren aus dem Wald heraus und wieder auf Feldern, und die Böschung neben der Straße wurde langsam immer flacher. Als sie noch einen Blick über die Schulter warf, krabbelte die andere Frau gerade die Anhöhe rechts von ihnen hinauf. Sie versucht abzukürzen!

Shannon reagierte, indem sie ebenfalls nach rechts bog, blieb jedoch auf der Straße, aus Angst, die Böschung runterzustürzen, wenn sie versuchte hinaufzuklettern. Die Rechtskurve schien endlos zu sein, doch schließlich wurde die Straße wieder gerade, und Shannon lief, so schnell sie nur konnte. Die andere Frau hatte aufgeholt, aber Shannon war auf der Zielgeraden. Das Feld links von ihr rauschte als unscharfer gelber Schemen vorbei, Rapssamen flogen durch die Luft und sanken auf ihre Nase und in ihren Rachen, während sie vorbeisprintete. Doch ihre ganze Aufmerksamkeit war nach vorn gerichtet, auf das grelle Rot der Telefonzelle in der Ferne. Der Anblick verlieh ihr neue Kraft. Sie würde es schaffen, und sie würde die Erste sein!

Die Tür der Zelle ging nach außen auf. Sie war schwer und Shannon kraftlos. Sie war noch immer in Bewegung, weshalb die Tür gegen ihre Schulter und ihr Gesicht stieß. Der Stoß schlug ihr den Hammer aus der Hand, und sie musste ihn erst wieder aufheben, wobei sie nach hinten schaute. Die andere Frau war zehn Meter entfernt und brüllte ihre Verzweiflung hinaus, die Augen aufgerissen, die Hand erhoben. Sie hielt etwas darin.

Shannon schloss die Tür hinter sich. Die Telefonzelle war aus Stahl und an den vier Ecken am stabilsten. Die kleinen Glasscheiben in allen vier Seiten wurden von kreuzförmig verlaufenden, dünneren Stahlstreben gehalten. Ein Großteil der Glasscheiben fehlte, entweder rausgedrückt oder zerschmettert, sodass nur noch Scherben am Boden lagen. Sie drehte sich um und sah, dass die andere Frau die Telefonzelle fast erreicht hatte. Shannon brauchte mehr Zeit.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, fummelte sie an dem Gürtel herum, den sie um ihre Hüfte trug. Er löste sich, und sie führte ihn durch eine glasfreie Fensteröffnung und um die untere Ecke der Tür, sodass man sie nicht mehr aufziehen konnte. In ihrer Hast schnitt sie sich an einem herausragenden Stück Glas. Blut floss aus der Wunde, aber sie reagierte nicht. Sie spürte es nicht einmal. Sie musste ihre vor Adrenalin zitternden Hände beruhigen, um den Gürtel dreimal herumzuführen und dann, etwas langsamer, das Ende durch die Schnalle zu ziehen. Der Türrahmen war zu dick, um den Gürtel dreimal herumzuführen, darum reichte der Metallstift nicht bis zu den Löchern, aber es fehlte nur ein kleines Stück. Sie hatte keine Zeit, es besser zu machen. Sie zog am Gürtel und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten. Das Leder knarzte und der Metallstift kam dem ersten Loch äußerst nahe.

»Komm schon!«, flehte Shannon.

Die andere Frau warf sich so heftig gegen die Telefonzelle, dass diese bockte und rote Rostflocken von der Decke herabrieselten. Ein Glasfenster weiter oben zerbarst nach innen, das klirrende Geräusch mischte sich mit dem Kreischen der Frau und dem Poltern, mit dem sie an der Tür rüttelte. Der Gürtel war immer noch nicht fest und begann, sich zu lösen, wenn die Frau an der Tür zog. Shannon sprang auf die Füße und schlug mit dem Hammer gegen eine weitere Glasscheibe fast ganz oben in der Telefonzelle. Die Scherben regneten nach außen und über die Frau vor der Tür, die erneut aufschrie und instinktiv die Hände hob, um sich zu schützen, wobei Shannon sah, dass sie einen ganz ähnlichen Nothammer festhielt. Shannon ging wieder auf die Knie, zog erneut an dem Ledergürtel und wickelte sich den noch freien Teil um ihre Hand, um mehr Halt zu haben. Der Gürtel spannte sich, schnitt in ihre verletzten Finger. Sie nutzte den Schmerz, um sich selbst anzuspornen, um ein letztes Mal mit aller Kraft zu ziehen. Die Bewegung des Metallstifts war quälend langsam, doch er sank in das Loch. Die Frau draußen hatte wieder begonnen, an der Tür zu rütteln, doch das Poltern und Klappern wurde gedämpfter. Der Gürtel sah aus, als würde er halten. Es blieb keine Zeit abzuwarten. Stattdessen drehte sich Shannon von der Tür weg und zu dem Telefon. Hinter ihr stieß die Frau erbarmungswürdige, verzweifelte Schreie aus, die langsam in ein Wehklagen übergingen. Dann hörte sie noch mehr Glas zerspringen, während noch mehr Scherben in ihre Haare fielen und sich zu ihren Füßen sammelten.

Shannon nahm den Hörer ab. Es kam ein Freizeichen – Gott sei Dank kam ein Freizeichen! Wieder rüttelte es an der Tür hinter ihr, dann erschien eine Hand in der Telefonzelle und sie spürte ein übles Kneifen hinten im Rücken. Sie wirbelte zu dem Schmerz herum und schlug reflexartig mit dem Hammer in ihrer rechten Hand zu. Shannon spürte den Treffer und die Frau in Weiß sprang zurück und stieß ein schmerzerfülltes Jaulen aus.

Shannon schaute wieder zum Telefon, auf das Tastenfeld vor sich. Eine silberne Münze lag oben auf dem Apparat, so wie man es ihr versprochen hatte. Sie war eisig kalt und das Gefühl drang durch ihre Panik hindurch. Die klagende Frau kam schnell zurück und versuchte, durch die Fensteröffnungen hindurch nach ihr zu schlagen. Noch immer erzitterte die Telefonzelle und zerbarsten Fenster – Shannon spürte immer wieder ein Stechen unter ihren Füßen –, doch sie musste sich konzentrieren, nur für eine Sekunde, um sich an die Zahlenreihe zu erinnern, die direkt unter der Karte in den steinernen Türbalken geritzt worden war. Sie hatte sofort gewusst, dass es eine Telefonnummer war. Sie tippte sie ein … 07652 … sie zögerte. Immer, wenn sie sich selbst abgefragt hatte, hatte sie beim zweiten Teil Fehler gemacht. Die letzten Zahlen wollten einfach nicht hängen bleiben, und in mindestens der Hälfte der Fälle hatte sie falschgelegen. Und sie hatte nur eine Münze.

»Fifty, fifty«, murmelte sie, während es weiter an der Tür rüttelte und ein weiteres Kreischen die Luft zerschnitt. Shannon spürte Schläge auf dem Rücken und den Armen. Sie war gerade weit genug weg, dass sie nicht viel Wucht hatten, doch es lenkte sie ab. Sie tippte die Ziffern ein, von denen sie glaubte, dass es die richtigen waren, und aus dem Hörer erklang ein gleichmäßiges Tuten. Sie hielt ihn an ihr Ohr. Auf dem Mundstück war ein festes Stück Klebeband, das ihre Lippen streifte, während sie wieder und wieder dasselbe Wort vor sich hinmurmelte: bitte, bitte, bitte!

Sie drehte sich zu der Frau in Weiß draußen um, die endlich ihre Angriffe aufgegeben hatte. Sie stand reglos und still da, die rechte Hand fest um eine der Querstreben zwischen den Fenstern geschlossen, während sie stark aus den Knöcheln blutete. Die beiden Frauen starrten sich an. Dann begann die Frau draußen, langsam zurückzuweichen, während sie den Kopf schüttelte und ihr mit einem Mal dicke Tränen über die Wangen liefen.

»Hallo!« Jemand meldete sich am anderen Ende der Leitung. Die Panik und der Schrecken waren deutlich zu hören, und das Wort klang eher wie ein hektisch ausgestoßener Atemzug als eine Stimme.

Shannon erstarrte einen Moment. Der Satz, den sie sagen sollte, wollte ihr nicht einfallen. »Hallo?«, meldete sich die Stimme erneut.

»Ich musste gewinnen«, sagte Shannon. Die Worte brannten den ganzen Weg aus ihrer bebenden Brust hinauf bis zu ihrem rauen Hals. Die Frau draußen reagierte auf den Satz, als hätte man sie rückwärts gestoßen. Sie strauchelte, konnte sich endlich losreißen und einmal um sich selbst drehen und dabei hilflos suchend durch die Landschaft blicken.

»O Gott, nein! Bitte!« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang trauernd und verzweifelt, und Shannon wollte sie nicht mehr hören. Sie ließ den Hörer fallen. Er schlug gegen die Wand und schwang am Kabel über der Stelle hin und her, an der sie jetzt zusammensank. Glas stach und schnitt in ihren Hintern und ihren Rücken und rieselte aus den Haaren. Ihre Füße bluteten heftig auf eine Schicht aus Schmutz. Aber es war ihr egal.

Für sie war es vorbei.

KAPITEL 1

Der erste Schlag mit der Linken diente nur als Führung für die harte Rechte, die mit einem satten Geräusch gegen den Sandsack klatschte und ihn nach oben und hinten drückte, bevor er mit einem weiteren satten Geräusch von seinem Seil gestoppt wurde. Es folgte das Quietschen des Mechanismus, das klang wie ein waidwundes Tier auf der Flucht, als der Sack darin zuckte und tanzte, erst nach hinten, bevor er für den nächsten Treffer wieder nach vorne flog. Diesmal traf er noch härter, genug, dass ihm Schweiß von der Augenbraue flog.

»Detective Inspector Joel Norris!« Die Stimme dröhnte durch den Raum und klang streng genug, dass Joel seinen Angriff auf den Punching Ball einstellte, aber nicht genug, um sich zu der Stimme umzudrehen. Es war halb sieben Uhr morgens, und er war in der Sporthalle. Um diese Tageszeit brauchte er nicht auf seinen vollen Dienstgrad zu reagieren. Er war erst in einer Stunde im Dienst. »Falls Sie ein Bild von jemandem an dem Ding befestigen würden, wen würden Sie nehmen?«, fragte die Stimme. Joel kannte sie nicht und schlug noch einmal zu, als wäre es ihm auch egal. Was gelogen war. Er drehte der Stimme immer noch den Rücken zu, als er nach seiner Wasserflasche griff, einen großen Schluck nahm und einen ersten Blick auf den Störenfried warf.

Ein Mann, Anfang fünfzig, die Hände in den Hüften und mit einer Haltung und einem Lächeln, die Selbstvertrauen ausstrahlten. Seine dunklen Haare waren ordentlich und kurz geschnitten, und von den Seiten her breitete sich ein leichtes Grau darin aus, wie Grauschimmel in einer Tanne. Er hatte ebenfalls etwas zu trinken dabei, heiß, in einem Thermosbecher. Der Dampf, der daraus aufstieg, erschien als einzelne Tröpfchen in dem starken Sonnenstrahl, der steil zwischen ihnen beiden nach unten stach. Er trug Hemd und Krawatte und hatte die Ärmel bereits an seinen kräftigen Armen hochgekrempelt. Auf dem rechten Unterarm war eine Tätowierung zu erkennen, blass genug, um als Jugendsünde zu gelten. Und er war sehr groß, vielleicht sogar größer als Joel mit seinen einen Meter fünfundachtzig.

»Ich hab mit meinem Gewerkschaftsvertreter gesprochen«, sagte Joel und legte nun ebenfalls die Hände in die Hüften. »Er meinte, dass jeder Kontakt der Dienstaufsicht offiziell stattfinden müsse. Das hier fühlt sich nicht offiziell an. Sie hätten sich zumindest ankündigen sollen.«

»Ich muss mir wohl wirklich Gedanken über meine Krawatten-Hemd-Kombination machen, wenn Sie glauben, dass ich von der Dienstaufsicht bin. Nach allem, was man so hört, kennen Sie ohnehin die gesamte Abteilung schon persönlich.« Die Antwort des Fremden passte zu dem Selbstvertrauen, das er ausstrahlte.

Joel zuckte mit den Achseln. »Es kommen immer wieder Neue dazu. Was wollen Sie?«

»Ich bin Ihr Boss, Joel.«

»Mein Boss?«

»Detective Chief Inspector Jim Kemp. Ihr neuer DCI

Joel nahm noch einen Schluck aus der Flasche und nutzte die Zeit, um den Mann vor ihm besser einzuschätzen. »Vermutlich wäre mir die Dienstaufsicht lieber gewesen. Denen kann ich immerhin sagen, dass sie sich verpissen sollen.«

DCI Kemp antwortete mit einem halben Lächeln und einem Achselzucken. »Vor acht sind Sie nicht im Dienst – technisch gesehen können Sie mir sagen, dass ich mich verpissen soll, wenn Sie das möchten. Ich kann Ihnen aber ein paar Gründe nennen, warum Sie das nicht tun sollten.«

»Einer würde reichen.«

»Ich bin nicht hier, um Ihnen ans Bein zu pinkeln, Joel. Ich habe es schon mit vielen Vorgesetzten zu tun gehabt, einige davon gut, andere weniger gut. Wissen Sie, was ein guter DCI sein sollte?« Er machte eine Geste mit seinem Becher. »Ein Sandsack. Je höher man steigt, desto weniger kraftvoll werden die Schläge, die man sich einfängt. Das heißt, solange man nicht richtig Scheiße baut. Ich hab gestern mit der Dienstaufsicht gesprochen, mit jemandem auf meiner Stufe. Ich hab denen gesagt, dass sie, egal worüber sie mit Ihnen sprechen wollen, erst mit mir sprechen müssen.«

Joel trank noch einen Schluck, um mehr Zeit für die Antwort zu haben. Das war nicht die erste Person, die ihm seit dem Ende seines letzten Falls Hilfe anbot, aber selbst bei den hilfreichen Stimmen hörte Joel unterschwellige Vorwürfe heraus. Unschuldige hatten ihr Leben verloren, und in den zwei Monaten seither waren die, die hinterher ohnehin immer alles besser wussten, zu zwei unterschiedlichen Ergebnissen gekommen: Entweder hatte er die erfolgreiche Verhaftung und Anklage eines äußerst gefährlichen Mannes durchgeführt und mit seinem schnellen und mutigen Handeln Leben gerettet, oder es war eine absolute Vollkatastrophe gewesen, die Menschen ihr Leben gekostet hatte, darunter eine Polizistin und ein junges Mädchen.

Nicht einmal Joel wusste, welche Version er glauben sollte.

Ob nun erfolgreich oder nicht, unstrittig war sein Mangel an Erfahrung. Es war seine erste Mordermittlung gewesen und jetzt, zwei Monate später, wurde immer klarer, dass es auch seine letzte gewesen war.

»Egal, ob sie erst mit Ihnen sprechen oder mich vor meiner Schicht in der Sporthalle aufsuchen, ich werde nicht mit der Dienstaufsicht sprechen. Nicht mehr. Das habe ich ihnen deutlich gesagt.« Joel postierte sich so, dass er Detective Chief Inspector Jim Kemp gerade gegenüberstand, und er machte ihm nur zu gern deutlich, dass er ihn abschätzte.

»Dann werde ich denen dasselbe sagen. Falls Sie direkt angesprochen werden, schreiben Sie sich den Namen auf und sagen Sie mir Bescheid. Ich kümmere mich darum.«

»Und bringen mich um die Gelegenheit, denen zu sagen, wohin sie sich das stecken können? Ich arbeite nicht mehr, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen – alles, worauf ich mich noch freuen kann, ist die Möglichkeit, ab und zu die Dienstaufsicht anzupöbeln. Nehmen Sie mir das nicht auch noch.«

»Warum geben die Ihnen keine Fälle mehr?« Kemp ließ ein Lächeln aufblitzen, das auf seinen Lippen erstarb. Er schätzte Joel ebenso ab und beobachtete aufmerksam, wie er reagierte.

»Sagen Sie’s mir, Boss. Im Augenblick parken die mich in einem Büro, das ich in diesen wahnsinnig professionell aussehenden Ermittlungsbereich umgekrempelt habe. Ich habe Leute eingestellt … und wofür? Es sind Fälle reingekommen, die wir hätten bearbeiten können, und Debbie Marsden hat sie mit einem freundlichen Winken an das Dezernat für Schwerverbrechen durchgereicht. Ich will Polizeiarbeit machen – wenn ich das nicht tue, was bin ich dann?« Debbie Marsden: die Frau, die Joel aus seinem vertrauten und geliebten Job als Sergeant in den Rang eines Inspectors gedrängt und ihn zum Leiter einer Taktischen Unterstützungsgruppe gemacht hatte, in der ihm nun mehrere Kriminalermittler unterstanden. Dass sie der Superintendent war, bedeutete, dass zwangsläufig irgendwann noch jemand den Rang zwischen ihnen würde bekleiden müssen, aber niemand hatte ihm gesagt, dass das so schnell passieren würde. Joel drückte seine Frustration als Wut aus, und das in letzter Zeit immer häufiger. In der Folge hatten sich die meisten Leute von ihm distanziert. Aber Jim Kemp rührte sich nicht.

»Ich habe mich gestern sehr ausführlich mit Superintendent Marsden unterhalten. Sie spricht in höchsten Tönen von Ihnen.« Diesmal rang sich Kemp ein länger anhaltendes Lächeln ab. Offensichtlich sagte er die richtigen Worte.

»Was meine aktuelle Situation nur umso bizarrer macht. Wenn sie mich und mein Team zu würdigen weiß, muss sie uns Arbeit geben.«

»Debbie sagte, dass Sie Schwierigkeiten haben, erfahrene Ermittler zu finden …«

»Ich weiß nicht, ob ich erfahrene Ermittler möchte«, fiel Joel seinem neuen DCI ins Wort. »Alles, was ich zu hören bekomme, ist, welche Fehler ich gemacht habe. Der einzige Fehler, den ich gemacht habe, war der Versuch, jemand zu sein, der ich nicht bin. Zu versuchen, so wie die zu sein. Ich bin nicht wie die.« Damit war Joels Wandel von Frust zu Wut komplett.

»Das sind Sie nicht. Sie wissen, dass Debbie Sie überhaupt deswegen erst auf diesen Posten gesetzt hat?«

»Dann muss sie auch zu ihrer Entscheidung stehen.« Plötzlich war Joel danach, mit dem Training fortzufahren.

»Und genau deshalb bin ich hier. Das Dezernat für Schwerverbrechen mag Sie nicht, aber sie kennen mich nicht. Ich habe ein bisschen Mäuschen gespielt und mir alles durchgelesen, was über Ihren letzten Fall geschrieben wurde. Außerdem habe ich mit Polizisten gesprochen, mit denen Sie früher zusammengearbeitet haben, Menschen, die Sie kennen. Wissen Sie, warum Kollegen wie die vom Schwerverbrechen Sie nicht mögen? Weil Sie anders sind. Weil Sie um sechs Uhr morgens in der Trainingshalle stehen. Weil Sie die Eier haben, eine Tür einzutreten, wenn Sie das vielleicht besser nicht tun sollten, oder dem Beamten in der Materialausgabe zu drohen, der Ihnen nicht geben wollte, was Sie brauchten, und um sich vor den Lauf einer geladenen Schrotflinte zu stellen. Glauben Sie, einer von denen hätte so etwas getan? Keine Chance. Jeder von denen hätte gewartet, bis das bewaffnete Einsatzteam eintrifft, um die Risiken einzugehen.«

»Was das Richtige gewesen wäre, wenn man der Dienstaufsicht glaubt.«

»Das Richtige, um Ihre Karriere zu schützen. Etwas, worin erfahrene Detectives Experten geworden sind, etwas, was sie sogar noch besser können, als die bösen Jungs zu schnappen. Wenn Sie genug Zeit in Ihrer Karriere damit zubringen, den Vorschriften zu folgen und makellose Ermittlungen zu leiten, dann vergessen Sie vielleicht das wichtigste Versprechen, das Sie zu Beginn Ihres Berufslebens gegeben haben: Leib und Leben zu schützen. Nichts ist wichtiger als das. Sie haben das getan, so gut Sie es konnten. Und natürlich sind Sie noch in weiteren Bereichen anders. Sie sind stämmig gebaut, das heißt, Sie achten auf sich, Sie haben kein Alkoholproblem, von dem ich wüsste, und Sie sehen nicht wie ein Raucher aus …« Er machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion. Joel schüttelte den Kopf, und allmählich breitete sich ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Und wie man mir sagte, noch in erster Ehe verheiratet, dazu zwei Töchter, keine davon ein Bastard?« Kemps Lächeln wurde breiter.

»Nicht im technischen Sinne des Wortes.« Joel konnte sein Lächeln nicht länger unterdrücken.

»Und keine Geliebte, keine schlüpfrigen Bürogeschichten oder eine Spielsucht?«

»Nein. Ist das am Ende ein Fehler?«

»Wenn Sie beim Dezernat für Schwerverbrechen akzeptiert werden wollen, dann ja. Absolut. Sie haben wirklich nicht das Geringste mit denen gemeinsam.« Der DCI nahm einen Schluck aus seinem Thermosbecher. Er hielt ihn in der linken Hand, sodass Joel sah, dass er keinen Ehering trug, und sich fragte, wie sehr sein neuer Boss gerade sich selbst beschrieben hatte.

»Die letzten Monate bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht ändern werde. Ich habe versucht, so wie die anderen zu sein, und habe mir dauernd Sorgen gemacht, was sie von mir halten – reine Zeitverschwendung. Ist mir scheißegal. Ich weiß, was ich kann, und darauf konzentriere ich mich, den Rest kann Lucy erledigen.«

»Detective Sergeant Lucy Rose«, sagte Kemp, als pflichtete er ihm bei. »Eine weitere vielversprechende Kandidatin.«

»Der einzige Mensch, der mir beigestanden hat, und eine gute Ermittlerin. Ich habe Glück, sie in der Truppe zu haben.« Das meinte er aufrichtig. Ihr Start war holprig gewesen. Lucy hatte sich vom Kinderschutz zu ihm versetzen lassen, doch ihre Beweggründe dafür waren ein bisschen ungewöhnlich. Die ermordete Polizistin, um die es in dem Fall gegangen war, war eine Freundin von ihr gewesen, und sie hatte offen zugegeben, wie unglücklich sie darüber war, dass jemand mit Joels mangelnder Erfahrung die Ermittlungen leitete. In ihrem ersten Gespräch hatte Lucy Rose ausführlich dargelegt, warum sie ihn nicht respektierte. Er konnte es damals nicht wissen, aber das Gespräch war der Beginn einer äußerst effektiven Partnerschaft gewesen, die Joel gerne weiter ausbauen wollte. Doch dafür bräuchten sie einen neuen Fall.

»Was brauchen Sie, Joel? Ich meine, von mir?« Es war deutlich, wie ernst Kemp die Frage meinte.

»Wir müssen nur wieder zurück an die Arbeit. Mehr nicht.«

DCI Jim Kemp ließ ein strahlendes Lächeln aufblitzen, das im Sonnenlicht funkelte. Dann drehte er sich weg und ging in Richtung Tür.

»Ich hab gehofft, dass Sie das sagen!«, rief er und lehnte sich an die Tür. »Wir haben einen klassischen Fall für das Dezernat für Schwerverbrechen. Kam gerade rein. Eine Frau, die mit ihrem Hund spazieren war, hat eine Leiche gefunden. Eine junge Frau, und die Verletzungen klingen wirklich grausig. Ich hab alles aus dem Polizeicomputer ausgedruckt. Liegt auf Ihrem Schreibtisch. Die Einsatzzentrale weiß, dass Sie gleich heute früh reinkommen, und die Leute vom Schwerverbrechen sind die Schwergenervten. Die Nachtschicht ist bereits am Tatort. Ich habe ihnen gesagt, dass meine besten Leute unterwegs sind.« Jetzt war sein Lächeln äußerst verschmitzt.

»Kam gerade erst rein?«, fragte Joel. »Woher wissen Sie dann überhaupt davon?«

»Meine erste Amtshandlung bestand darin, die Einsatzzentrale wissen zu lassen, dass sie mich sofort informieren soll, wenn was Großes reinkommt. Zufällig habe ich diese Sache über Funk mitangehört, als sie gemeldet wurde, darum war ich ihnen einen Schritt voraus. Aber sie haben mich angerufen. Das System hat funktioniert.«

»Sie haben am frühen Morgen vor Ihrem Polizeifunk gesessen?«, fragte Joel. Kemp zuckte mit den Achseln.

»War vor knapp einer Stunde, also kaum früh am Morgen. Und ich schlafe nicht gut. Das brocken einem eine gescheiterte Ehe, Spielsucht und Kinder von zwei verschiedenen Frauen nun mal ein.« Sein Grinsen wurde noch breiter, dann stieß er die Tür auf und verschwand.

Joel schlug noch einmal zu. Noch vor wenigen Minuten waren seine Hiebe mit Frustration und Abscheu geladen gewesen, doch jetzt ruckte der Sack unter Schlägen, die von Hoffnung und Vorfreude erfüllt waren. Ein neuer Fall und ein neuer Boss. Und beide hatten das Potenzial, äußerst interessant zu werden.

TAG 1

KAPITEL 2

»Ah, Detective Sergeant Rose. Wir sprachen gerade von Ihnen.« Seine Kollegin kam ins Büro des Dezernats für Schwerverbrechen im Polizeipräsidium von Kent, und er schob ihr eine Tasse Kaffee hinüber. Sie waren im Hauptteil eines Gebäudekomplexes untergebracht, nur wenige Gehminuten von der Polizeischule in Kent und der Sporthalle entfernt, in der vermutlich immer noch der Sandsack hin- und herschwang. »Und ich habe Ihnen Kaffee gekocht.« Er zeigte zur Uhr. »Zehn vor sieben. Wie ein Uhrwerk. So vorhersehbar.«

»Für manche ist es ›vorhersehbar‹ und für andere ›zuverlässig‹«, murmelte Lucy Rose und schnappte sich die Tasse. Sie trug sie zu ihrem Tisch, ließ ihren Rucksack und die leichte Jacke zu Boden fallen und setzte sich. »Ach, sind wir wieder bei DS Rose

Eine wache Lucy Rose hätte den bewussten Versuch, sie zu provozieren, erkannt. »Selten hat jemand einen Kaffee dringender gebraucht«, gab Joel zurück »Harte Nacht?«

»Ich hab schlecht geschlafen.« Wie zur Bestätigung rieb sich DS Rose die Augen. Joel und Lucy arbeiteten erst ein paar Monate zusammen, aber er kannte sie jetzt schon gut genug, um nicht weiter nachzubohren. Trotzdem wusste er bisher nur eines über sie, und das stand nicht in ihrer Personalakte: Sie hasste es, DS Rose genannt zu werden. Das hatte er während ihres ersten Monats durchgängig getan, bis sie schließlich explodiert war und ihm erklärt hatte, wie sehr sie es hasste, immer gehasst hatte und ob er sie nicht einfach nur Lucy nennen konnte? Sie war ein verschlossener Typ und neigte dazu, vieles aufzustauen, bis sie explodierte. Das würde noch interessant werden.

»Warum sind Sie heute überhaupt so gut gelaunt?«, fragte DS Rose. »Ich glaube, ich bevorzuge Sie grummelig.«

»Wir haben einen Fall. Wir dürfen endlich etwas tun!«

»Einen Fall? Jemand hat uns einen Fall anvertraut?«

»Unser neuer DCI«, erklärte Joel.

»Wir haben einen neuen DCIDS Rose zog die Stirn kraus.

»Ja. Und wir haben Kollegen von der Streife, die uns auf einem Feld in Maidstone erwarten. Das Opfer ist eine junge Frau, zwei Arten von Verletzungen: möglicherweise Schuss- und Stichwunden. Klingt nach einem üblen Abgang. Eine Frau war mit ihrem Hund spazieren und fand die Leiche in einer Telefonzelle.«

»Telefonzelle! Die gibt es noch?« DS Rose schaute über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

»Von allem, was ich gerade erzählt habe, bleibt das hängen?«

Lucy stand auf. Laut schluckend kippte sie ihren Kaffee hinunter. »Na dann los, gucken wir uns diese Telefonzelle an.«

Joel stand in der drückenden Hitze, die zu dieser Tageszeit nur ein schlechter Witz sein konnte. Die Stelle, die sie am Ende ihrer Wegbeschreibung gefunden hatten, war typisch für Kent: Das grelle Licht der Sonne schien auf eine Landschaft, die vor Leben vibrierte und summte, aber sehr, sehr durstig war. Das hohe Gras, das die Straßen begrenzte, war braun und lückenhaft, während die Nebenstraße, die an dem Willkommen in Lenham-Schild vorbeiführte, von einer Schicht aus festgetrocknetem Schlamm bedeckt war, der inzwischen wie Straßenbelag wirkte – Überbleibsel eines Winters, der so lange her zu sein schien, dass man meinen könnte, es wäre in einem anderen Leben gewesen. Die Telefonzelle stand mitten auf einer Böschung, die von einem gepflasterten Weg durchschnitten wurde. Das Gras zu beiden Seiten war anders und leuchtete in sattem Grün. Den unteren Teil der Böschung, dicht über der Straße, zierte ein tränenförmiges Blumenbeet. Die Erde darunter war dunkelbraun, offenbar war der gesamte Bereich vor Kurzem gewässert worden. Zweifellos pflegte einer der Einheimischen den Bereich. Auf keinen Fall würde die Bezirksverwaltung Wasser für Blumenbeete verschwenden, nachdem sie wegen der herrschenden Dürre Einschränkungen beim Wasserverbrauch angeordnet hatte. Welcher Einheimische, war eine andere Frage. Die paar Häuser, die Joel gesehen hatte, standen weit von der Straße entfernt und ragten zwischen hohen Bäumen oder dichten Hecken hervor. Meist sah man nicht mehr als ein reetgedecktes Dach oder das helle Weiß eines Fensterrahmens. Joel kam in den Sinn, dass wenn die Telefonzelle, die inmitten des mit Flatterband abgesperrten Bereichs stand, noch funktionierte, dann vermutlich nur, weil jemand vergessen hatte, dass sie überhaupt existierte.

»Kaum zu glauben, dass am Wochenende ein Sturm aufziehen könnte«, sagte Joel. Er bezog sich auf den Sturm »Andrea«, den die Nachrichten über ganz Europa hinweg verfolgten. Es hieß, er war auf dem Weg, den Ärmelkanal zu überqueren, und in den Nachrichten wurde bereits davor gewarnt.

»Ich hab gehört, dass er komplett an uns vorbeizieht«, gab Lucy zurück und streckte sich, als hätte die Fahrt viel länger gedauert als die fünfzehn Minuten aus dem Zentrum von Maidstone.

»Morgen.« Ein Streifenpolizist kam ihnen entgegen. Sein Polizeiwagen stand quer auf der Straße, und an seiner geschlossenen Beifahrertür war ein Ende des langen Absperrbandes befestigt, auf dem stand: POLIZEI – BETRETEN VERBOTEN. Der Lack blendete so stark in der Morgensonne, dass es in den Augen schmerzte, wenn man zu direkt hinschaute. Der Beamte beäugte sie zuerst misstrauisch, entspannte sich jedoch deutlich, als Joel seinen Dienstausweis zückte und ihn und seine Kollegin vorstellte. Ein Stück weiter stand noch ein Streifenpolizist und sprach mit einer älteren Frau, die sich alle erdenkliche Mühe gab, einen aufgebrachten Spaniel zu beruhigen.

»Ist das unsere Zeugin?«, erkundigte sich Joel.

»Nein, die ist auf der Wache, um ihre Aussage zu machen. Wir sprechen mit jedem, der hier vorbeikommt, nur für den Fall.« Er zuckte mit den Achseln, als wüsste er selbst, dass die Chancen bei null standen, dass hier draußen irgendjemand etwas Nützliches gesehen haben könnte.

»Und Sie beide sind allein hier?«, fragte Joel weiter.

»Ja, nur wir beide.«

»Ist noch jemand unterwegs?« Trotz des abgelegenen Tatorts würde Joel ein sehr viel größeres Gebiet sichern müssen.

»Die Frühschicht weiß Bescheid. Unsere Kollegen von der Nachtschicht waren die ganze Zeit beschäftigt. Eigentlich sollte der Boss mit zwei anderen Streifen hier hochkommen, aber sie wurden abgezogen. Ein Verkehrsunfall und ein 136er kamen gleichzeitig rein, und da die Kollegen vom Verkehr den Hintern nicht hochbekommen haben und sämtliche sicheren Zellen in der Psychiatrischen belegt waren …« Er beendete den Satz nicht, sondern überließ den beiden den gleichen Gedanken: Die Frühschicht würde noch gemütlich um den Konferenztisch hocken und Tee schlürfen, während sie auf einen Notfall warteten, der ihnen eine Entschuldigung gab, nicht herkommen zu müssen. Niemand sicherte gern einen Tatort ab.

»Wir müssen den abgesperrten Bereich ausweiten«, erklärte Joel. »Und die Straße von der anderen Seite absperren.«

»Wir haben am anderen Ende ein Schild aufgestellt. Seit wir hier sind, ist niemand durchgekommen.«

»Es ist noch früh. Sobald die Leute rausfinden, was hier los ist, dürfen wir den üblichen Strom an Mordtouristen erwarten. Und denen möchte ich es gerne so schwer wie möglich machen. Können Sie sich ans Funkgerät klemmen und der Frühschicht etwas Feuer unterm Hintern machen? Ist schon alles für die Spurensicherung vorbereitet?«

»Wird bei erstbester Gelegenheit erledigt, Sir. Da ist noch niemand im Büro, es gibt keine Nachtschicht mehr.«

»Natürlich nicht!« Joel konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Manchmal blieb einem angesichts der Einsparungen bei der Polizei nichts anderes übrig, als zu lächeln und den Kopf zu schütteln. Er ging wieder weg und rief den Polizisten zu, dass er selbst ein paar Anrufe an den Leiter der Nachtschicht tätigen würde, vielleicht konnte er ihn und seinen Kollegen ja dazu bewegen, außerhalb der Dienstzeit einzuspringen. Der Mangel an Einsatzkräften war auch für Joel ein Problem, wenn auch aus anderen Gründen. Tatsächlich hatte er ausreichend Budget, um noch mehr Personal in sein Team zu holen, aber dafür brauchte er Detective Constables, die bereit waren, aus einer anderen Abteilung zu ihm zu wechseln, und dafür mussten sie in ihrem aktuellen Team entbehrlich sein und trotzdem gut genug, um Joels Team zu verbessern. Diese Quadratur des Kreises sich widersprechender Bedürfnisse machte das Einstellen neuer Leute nahezu unmöglich – für alle Beteiligten.

Superintendent Debbie Marsden hatte ihm seinen neuen Posten mit den Worten schmackhaft gemacht, die Polizei verändert sich. Das Dezernat für Schwerverbrechen gehörte zur alten Garde und hatte ein Team in jedem der drei Bezirke, und sie legten ein äußerst territoriales Verhalten an den Tag: Wenn im nördlichen Teil des Countys ein Mordfall gemeldet wurde, dann rührten zwei von drei Teams keinen Finger und räumten ihre Schreibtische auf, während sie darauf warteten, dass in ihrem »Zuständigkeitsbereich« etwas geschah. Joels Truppe war ein zentralisiertes Ermittlungsteam aus dem Präsidium. Sie gingen dorthin, wo sie gebraucht wurden, und übernahmen die Leitung, dann nutzten sie die örtlichen Ressourcen nach eigenem Gutdünken. Zumindest in der Theorie. Der Widerstand gegen Veränderungen war stärker, als er erwartet hatte, doch jetzt, wo er an der frischen Luft war und sich in einen neuen Fall vergraben konnte, gestärkt von seinem Gespräch in der Sporthalle einige Stunden zuvor, wagte Joel den Gedanken, dass das Schlimmste überstanden sein mochte.

»Ab wann ist die Spurensicherung besetzt?« Joel kannte die Antwort schon, er dachte nur laut nach. DS Rose antwortete ihm trotzdem.

»Acht Uhr. Zur selben Zeit, zu der unser restliches Team eintrifft.« In ihrer Stimme war nicht länger die sonst übliche Ironie zu hören, wenn sie das Wort Team benutzte. Das bedeutete, dass mindestens die nächste Stunde nichts geschehen würde. Immerhin gab ihnen das genug Zeit, den Tatort in Augenschein zu nehmen, bevor die Spurensicherung übernahm.

Die Telefonzelle war in schlechtem Zustand. Joel war begeisterter Radfahrer, ein Hobby, bei dem er Dörfer und Landstraßen im ganzen County kennenlernte. Er wusste also, wo sich noch ein paar der roten Telefonzellen in den kleineren Ortschaften versteckten. Für gewöhnlich waren sie allerdings extravagante Gartenverzierungen für reiche Leute oder Büchertauschstationen im Gemeinschaftsgarten einiger gut situierter Dörfer. Diese hier wirkte anders: Sie schien noch zu funktionieren. Sie hatte sogar einen Hörer, auch wenn dieser herunterhing, wie er durch den Spalt in der Tür sehen konnte, die von einem herausragenden Bein offen gehalten wurde.

Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Opfer, eine junge Frau. Sie lag auf der Seite, das linke Bein angewinkelt unter dem ausgestreckten rechten.

Joel trat näher und zog sich ein Paar Einweghandschuhe über, um die Tür so weit wie möglich aufzuziehen und besser gucken zu können. DS Rose stand direkt hinter ihm.

»Himmel«, murmelte sie dicht an seinem Ohr. »Da hat es jemand ernst gemeint.«

Joel konnte ihr nicht widersprechen. Jetzt konnte er die junge Frau besser sehen. Sie hatte nicht die geringste Chance gehabt. Sie sah aus wie Mitte zwanzig. Hübsch. Sportlich, mit langen blonden Haaren, die teilweise ihr Gesicht bedeckten. Das angezogene Bein war schwer verwundet, wie von einer Explosion. An einer Stelle waren die Haut und Knochen schwarz und schartig und entblößten das Schienbein. Der Knochen selbst war dicht über dem Knöchel gebrochen, und es fehlte ein beträchtliches Stück. Ihr nackter Fuß war nur noch durch einen Hautlappen mit dem Bein verbunden und nach hinten bis unters Knie gezogen. Joel schaute an ihr hinauf und entdeckte weitere Verletzungen. Sie trug ein locker sitzendes weißes Kleid, das weit genug hochgerutscht war, um eine Reihe hässlicher Stichwunden in ihrem Bauch zu zeigen. Joel beugte sich dichter ran.

»Sehen die für Sie aus, als ob sie eine gerade Reihe bilden?«

»Ja. Würde ich sagen«, stimmte DS Rose ihm zu.

»Wie eine Wurst auf dem Grill«, sagte Joel.

»Falls Sie meinen, wie von einer Gabel aufgespießt, dann ja, das klingt sinnvoll.«

»Nur in unserer Welt kann eine Frau in einer Telefonzelle, die mit einer riesigen Gabel erstochen wurde, sinnvoll klingen.«

»Also eine Mistgabel? Meinen Sie das?«, fragte DS Rose.

Joel trat einen Schritt zurück, um ein Stück Boden zu untersuchen, das frisch aufgeworfen wirkte. Die Tür der Telefonzelle öffnete sich nach außen, in Richtung der Straße. Der gepflasterte Weg davor war schmal, während die Böschung sehr viel sanfter wirkte als von unten. Das Gras war hoch genug, um eine Spur anzuzeigen, auf der es platt getreten worden war. Sie führte dicht genug an dem Blumenbeet vorbei, dass ein paar Nachtviolen umgeknickt waren, was das Bild verstärkte, dass die junge Frau dort längs geschleift worden war. Die Blumenstängel wiesen alle einen einheitlichen Knick auf, der eine Richtung andeutete: von der Straße, die Böschung hinauf bis zur Telefonzelle. Die dünne Schlammschicht, die auf der Straße festgetrocknet war, war nicht alles, was man hier fand. Es gab auch Blut. Eine Menge. Zuerst sah man es mitten auf der Straße, wo der Belag auch anders aussah. Der eingetrocknete Schlamm war verschwunden. Entfernt durch irgendeine Methode, die eine frisch aussehende weiße Narbe hinterlassen hatte, wie von einer Explosion. Noch mehr Blut verteilte sich über die Straße in Richtung der Telefonzelle. Es klebte Grasbüschel zusammen, während es eine Spur die Böschung hinaufzog. Joel und DS Rose sahen sich an.

»Also, einer jungen, barfüßigen Frau in einem weißen Kleid wird der linke Unterschenkel weggesprengt, von … ja wovon? Einer Schrotflinte? Dann schleift man sie über die Straße und erledigt sie in der Telefonzelle mit einer Mistgabel. Läuft es darauf hinaus?«

»Ich glaube nicht«, sagte DS Rose. »Jedenfalls nicht so ganz. Sehen Sie sich das Blut an.« Sie zeigte zur Straße runter. »Es gibt ein Muster, Stellen, an denen das Blut sich gesammelt hat, und dann, wo es einen verschmierten Streifen bildet.«

»Und das heißt?«

»Ich glaube, sie hat sich selbst hier hochgeschleppt.«

»Während ihr Fuß an einem Hautfetzen hing?«, fragte Joel.

»Eine Mischung aus Adrenalin und Verzweiflung. Es wäre möglich. Wir wissen alle, wozu Menschen in der Lage sind. Sie muss die Telefonzelle gesehen und versucht haben, Hilfe zu holen.«

Joel seufzte lang und schwer. »Sie wäre langsam gewesen. Äußerst langsam. Sie hätte es nur bis zur Telefonzelle geschafft, wenn der Schütze es zugelassen hätte. Das bedeutet ein Risiko. Es ist eine öffentliche Straße. Was, wenn ein Auto vorbeikommt?«

»Schauen Sie sich doch um. Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist.«

Es gab drei gleichmäßig voneinander entfernte Straßenlaternen, die aus der grasbedeckten Böschung herausragten. Offenbar war nur dieser Abschnitt der Straße beleuchtet. Aber das war nur hilfreich, wenn hier irgendjemand irgendetwas gesehen hätte. Er zog die Tür der Telefonzelle wieder auf. »Könnten Sie das wohl mal kurz halten?«, bat er. DS Rose hielt die Tür auf. Sie trug ebenfalls Einweghandschuhe. Keiner von ihnen hatte den Griff berührt. DS Rose hockte sich etwas hin, um die Tür unten anzufassen, während Joel nach dem Kinn der Frau griff und seine Finger an ihren Hals drückte, um nach einem Puls zu fühlen.

»Das haben die Kollegen schon gemacht«, bemerkte DS Rose.

»Alte Gewohnheiten«, gab Joel zurück. Er versuchte, ihren Kopf am Kinn etwas nach oben zu drücken. Der menschliche Schädel ist ziemlich schwer, aber diesen hier konnte er überhaupt nicht bewegen. Joel wollte nicht zu viel Druck aufwenden und ließ es bleiben. »Was wissen Sie über Leichenstarre?«, fragte er.

DS Rose zuckte mit den Achseln. »Braucht ein paar Stunden, bevor sie einsetzt, ist bei jedem anders und kann extreme Unterschiede aufweisen, je nach Temperatur, Position der Leiche …«

»Temperaturextreme haben wir hier nicht. Und so, wie sie hier sitzt, müsste sie im Kiefer und Hals beginnen. Für gewöhnlich setzt die Leichenstarre nach zwei bis vier Stunden ein. Ihr Hals fühlt sich ziemlich steif an, aber ihre Arme und Beine sind noch ziemlich flexibel. Die Extremitäten werden als Letztes betroffen.«

»Da hat jemand seine Fachliteratur gelesen!«, unkte DS Rose.

»Ich dachte, ich müsste mich mal etwas fortbilden«. Joel betrachtete immer noch die Leiche. Er versuchte verzweifelt, irgendwelche weiteren Verletzungen zu entdecken. Sie war schmutzig, vor allem ihre Hände, und vermutlich steckte irgendein entscheidender Beweis unter diesen Fingernägeln. Die Spurensicherung würde bald hier sein, aber Geduld war nicht seine größte Tugend. »Der Hörer«, sagte er, während er sich wieder aufrichtete. Seine Schenkel brannten allmählich. »Ich wüsste nicht, wie sie den von der Gabel bekommen haben sollte, egal wie viel Adrenalin sie im Blut hatte.«

»Dann war es vielleicht jemand anderes? Meinen Sie das? Der Mörder vielleicht?«

»Vielleicht … oder vielleicht war sie schon am Telefon gewesen, bevor man sie wieder rausgezerrt hat. Aber ich glaube …« Joel hielt inne, als vor seinem inneren Auge plötzlich grausige Bilder erschienen, die so gar nicht in diese pittoreske Landschaft passen wollten. »Ich glaube, am Ende hat man nur noch mit ihr gespielt.«

KAPITEL 3

Einige Stunden zuvor

Margaret Marshall beobachtete durch ihr Küchenfenster, wie ein neuer Tag anbrach. Es war nicht direkt ein Sonnenaufgang – eher ein gleichmäßiges Hellwerden, das von einem Lichtstreifen ausging, der über der Spitze des Hügels auf der anderen Talseite lag. Sie hatte es immer als großes Glück empfunden, hier zu leben, wo sie diese weite Aussicht hatte, die um diese Jahreszeit wie ein Muster aus grünen, braunen und maisgelben Flecken erschien. Es gelang ihr fast, sich einzureden, dass das Tal, das sie sah, und all die Natur darin die ganze Welt waren. Dass sie ganz allein und vollkommen sicher war.

Aber sie hatte sich noch niemals so gefürchtet wie jetzt.

Ihr Telefon klingelte. Wie erstarrt stand sie da und glotzte das Telefon nur an. Auf dem Display stand eine Nummer mit der örtlichen Vorwahl. Man hatte ihr erzählt, dass, falls ein Anruf käme, er aus dieser Gegend wäre. Er käme bei Tagesanbruch. Und sie müsse rangehen. Deswegen hatte sie die ganze Nacht lang hier gesessen und zugesehen, wie der große, helle Mond langsam über das Tal wanderte, während sie darum betete, dass er stehen bliebe, damit der Tagesanbruch niemals käme.

Sie nahm ihr Telefon mit so stark zitternden Händen auf, dass es ihr fast zu Boden gefallen wäre. Sie schloss fest die Augen.

»Hallo!« Ihre Stimme war ebenfalls zittrig. Es dauerte, bis eine Antwort kam. Erst, als Margaret sich erneut meldete, drang die fremde Stimme – sie klang außer Atem – zu ihr durch.

»Ich musste gewinnen!«

Margaret wurde auf der Stelle eiskalt. Das Gefühl breitete sich von ihrer Brust im ganzen Körper aus. Ihre eigene Stimme drang an ihre Ohren wie durch einen Dämmstoff, als würde jemand anderes sprechen, nicht sie.

»O Gott, nein! Bitte! Bitte tun Sie ihr nicht weh!«

Vom anderen Ende der Leitung kam ein dumpfes Geräusch. Margaret war so angespannt, dass sie erschrak, und sie zog so schnell die Luft ein, dass sie ein Pfeifgeräusch ausstieß. »Bitte!«, versuchte sie es noch einmal, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, und nur ein Wimmern kam heraus. Jetzt hörte sie eine Stimme, weit weg, tief und rufend. Eine Männerstimme. Dann erklang ein knarrendes Geräusch, wie von einer Tür im Horrorfilm. Ein anderes Geräusch erfüllte die Leitung, so allgegenwärtig, dass sie nichts anderes vernahm. Es war ein Kreischen, lang und kraftvoll, bevor es zu einem Weinen wurde. Es folgte ein Rufen, diesmal von einer Frau. Und diese Stimme kannte sie. Es war Kelly. Und sie bettelte um ihr Leben.

Margaret stieß die Worte aus: »Kelly! KELLY!« Es nutzte nichts, Kelly klang, als wäre sie weit entfernt vom Telefon, zu weit, um sie zu hören. Dann wurde alles andere übertönt von einem lauten BUMM! Margaret hielt den Atem an. Es folgten weitere Schreie, dann wieder Kellys Stimme, doch diesmal sagte sie nichts, flehte sie nicht, diesmal war es purer Schmerz. Schrille Schmerzensschreie, die näherkamen, langsam, aber stetig, als würde Margaret ein verwundetes Tier an einem Seil näher zu sich heranziehen. Sie presste sich das Telefon so fest ans Ohr, dass sie durch den ganzen Schrecken hindurch den Schmerz spürte. Wieder ein knarrendes Geräusch. Jetzt waren Kellys Schreie sehr viel dichter, dicht genug, dass sie Margaret vielleicht hören konnte.

»Kelly! KELLY! KELLY, sprich mit mir, Kelly … KELLY!« Die Stimme gab keine Antwort, sondern wieder war ein Flehen zu hören, diesmal nur ein Wort, das sie immer wieder wiederholte: »Nein.« Lauter, schneller, jedes Mal panischer. »Nein. Nein, NEIN! NEEEIIIINNN

Die Stimme erstarb. Margaret hielt das Telefon vom Ohr weg, um aufs Display zu schauen, ob die Leitung noch stand. Als sie es wieder an ihr Ohr hielt, war da etwas. Eine Art Husten, das sie immer noch als Kellys erkannte, als versuche sie vergeblich, den Hals freizubekommen. Dann veränderte sich das Geräusch erneut.

Diesmal hörte sie, wie Kelly ertrank.

Margaret hielt sich das Handy ans Ohr, die andere Hand fest auf den Mund gepresst, so fest, dass sie nicht atmen konnte. Ein Klicken ließ sie zusammenzucken – alle Geräusche waren verstummt.

Die Leitung war tot.

KAPITEL 4

Zusammen mit DS Rose marschierte Joel an den zwei Reihen leerer Schreibtische vorbei, die der Tür am nächsten standen, bis er das vorderste Büro erreichte, in dem zumindest ein bisschen Leben herrschte. Ihm waren ein neues Team und ein neues Büro versprochen worden. Bisher hatte er einen gekaperten Büroraum, zwei Detectives und eine Datenanalystin, die noch ganz neu im Polizeigeschäft war. Mit eben dieser Datenanalystin wollte er sprechen, und wie üblich war sie die einzige Person im Büro.

»Eileen … ich hoffe, Sie haben etwas für mich. Ich glaube, wir haben den einzigen Flecken öffentlichen Boden im ganzen Land gefunden, an dem jemand in aller Seelenruhe den denkbar lautesten Mord begehen kann, bevor er in der Nacht verschwindet.«

»Lautesten?« Eileen Holmans lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf und blinzelte. Sie trug eine Brille mit schmalen Gläsern, und Joel war überzeugt davon, dass sie sie gar nicht brauchte. Sie benutzte sie nur, um ihn über ihre Gläser hinweg anzuschauen, damit er ihre Ablehnung deutlicher sah. Jetzt gerade tat sie es wieder. »Soll ich das so in den Bericht schreiben? Soll das der erste Tatort-Eindruck von DI Norris sein? ›Muss laut gewesen sein?‹«

»Sie können das gerne etwas hübscher formulieren. So was wie: ›Der gut aussehende und charismatische Detective bemerkte Spuren auf dem Asphalt, die zu einem Schuss aus einer Schrotflinte passen …‹«

Eileen musterte ihn weiterhin über ihre Brille hinweg, bevor sie ohne jede Regung erwiderte: »Ich denke, ich sollte lieber selbst die Formulierungen für den Bericht wählen.« Joel lachte. Er konnte nicht abstreiten, dass die Brille zu ihr passte. Sie trug üblicherweise einen langen Rock und eine dicke Strickjacke. Ohne ihre Bewerbungsunterlagen gesehen zu haben, hätte er ihr Alter nicht schätzen können. Sie war erst sechsundfünfzig und hatte fast dreißig Jahre als Lehrerin gearbeitet, bevor ihr Mann plötzlich erkrankte und alle Pläne für einen gemeinsamen Ruhestand ruiniert waren. Daraufhin hatte sie viele Veränderungen in ihrem Leben vorgenommen, eine war ihre Arbeit. Nachdem sie alles Notwendige erledigt hatte, um ihre volle Pension aus den Jahren als Lehrerin zu erhalten, hatte sie angefangen, für die Bezirksverwaltung in Kent zu arbeiten, wo sie sich auf eine Stelle beworben hatte, in der sie Fällen von illegaler Abfallentsorgung nachspürte. Offensichtlich war das Vergnügen, den Abschaum von Kent dazu zu bewegen, seinen Müll gefälligst selbst wegzuwerfen, nicht ausreichend gewesen, um sie zu halten, und in ihrem Bewerbungsgespräch hatte sie erklärt, dass sie verzweifelt etwas suchte, das mehr Aufregung versprach. Da lag es nahe, sich bei der Polizei zu bewerben, aber die Hausschuhe, die sie an ihrem ersten Tag aus der Handtasche geholt und angezogen hatte, deuteten – zumindest für Joel – darauf hin, dass sie weiterhin dafür sorgen würde, dass es nicht zu aufregend wurde. Niemand sonst aus dem Bewerbungsgespräch wollte sie nehmen, doch Joel war auf der Stelle von ihr begeistert gewesen. Er sah in ihr eine Frau, die unglaublichen Wert auf Details legte, mit Fähigkeiten am Computer und bei der Analyse, die ihren Lebenslauf Lügen straften – und sie besaß ein echtes Talent dafür, das zu kriegen, was sie wollte. Ihm war völlig egal, ob sie dabei Hausschuhe trug. Und es kam Joel gelegen, jemanden im Team zu haben, die er ohne Bedenken an einen Computer setzen konnte, von dem aus sie bei Bedarf Zugriff auf sämtliche Polizeisysteme hatte. Sie hatte den Job als Datenanalystin in der Sekunde gehabt, als sie ihm zum ersten Mal diesen düsteren Blick über ihre Brille hinweg zugeworfen hatte.

»Soll mir recht sein«, antwortete er.

»Und es war unzweifelhaft eine Schrotflinte?«, fragte Eileen.

»So sah es für mich aus. Kurze Entfernung, möglicherweise bearbeitet oder abgesägt, wenn man sich die Streuung anschaut. Wurde nach unten auf ihren Knöchel abgefeuert.«

»Dann schreibe ich, dass erste Anzeichen darauf hindeuten, dass eine Schrotflinte benutzt wurde. Und das Opfer lag am Boden, als ihr die Wunde zugefügt wurde?«, wollte Eileen weiter wissen.

»Erste Anzeichen deuten darauf hin.« Joel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, doch als er weitersprach, verlor es sich. »Sie hatte jede Menge Blutergüsse und Spuren an den Armen, im Gesicht und dem Oberkörper. Die Spurensicherung wird uns ein genaueres Bild geben, wenn sie sie untersuchen, aber ich würde sagen, dass sie zu Boden geschlagen wurde.«

»Zu Boden geschlagen, den Fuß quasi abgeschossen, und anschließend hat sie sich in die Telefonzelle geschleppt, wo sie mit einer Mistgabel erstochen wurde.« Es war das Erste, was DS Rose sagte, und der Schrecken in ihrer Stimme wurde bei jedem Wort deutlicher.

»Okay, natürlich sind das im Augenblick alles Vermutungen«, erwiderte Eileen, ohne zu zögern.

Joel wandte ein: »Was auch immer passiert ist, es war ein grausiges Ende. Deshalb müssen Sie uns alles über den Durchbruch bei der Durchsicht der Telefonlisten erzählen, damit wir diesen Bastard aufscheuchen und festnageln können.«

Eileen hörte auf zu tippen und schaute wieder über ihre Brille zu ihm hoch. »Ich weiß nicht, ob Sie irgendwen aufscheuchen, um ihn dann festzunageln, und ich bin mir auch nicht sicher, ob diese Wortwahl hier angemessen ist. Immerhin wissen wir noch nicht sicher, dass es sich hier um einen gewalttätigen Partner handelt. Oder möchten Sie, dass ich diese Beschreibung im Bericht erwähne – natürlich auch nur als Vermutung?«

»Was ist denn mit den Telefonlisten?«, fragte Joel und ignorierte ihre Zurechtweisung.

»Ich fürchte, im Augenblick habe ich nicht viel anzubieten. Ich habe mit der Telefongesellschaft gesprochen. Sie haben bestätigt, dass die Telefonzelle angeschlossen ist, auch wenn sie für einen Abbau vorgemerkt ist, sobald der nahe gelegene Mobilfunkmast eingerichtet ist, der das Netz erweitert. Sie haben nur zu gerne eine Liste bereitgestellt, welche Nummern von der Zelle aus angerufen wurden – das waren zehn Anrufe in den letzten ...

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