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Der Sommer, der uns trennte

hier erhältlich:

Die Gedanken wirbeln erbarmungslos durch Middies Kopf. Wenn es stimmt, bricht ihre Welt zusammen. Gemeinsam aufs College gehen, verloben, heiraten, all das würde es nie mehr geben. Niemand scheint Middie in ihrem Schmerz zu verstehen. Bis auf Lee - Nates besten Freund, mit dem sie nie gut klargekommen ist. Aber er ist der Einzige, an den sie sich anlehnen kann. Und plötzlich erwächst aus der gemeinsamen Sorge etwas Neues …


  • Erscheinungstag: 15.08.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • Altersempfehlung: 16
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679626

Leseprobe

Cat Jordan

Der Sommer, der uns trennte

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Ivonne Senn

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HarperCollins YA!®

HarperCollins YA!® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins YA!

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Leaving Season

Copyright © 2016 by Cat Jordan

Erschienen bei: Harper Teen, New York

Published by arrangement with

Harper Teen, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Cover-/Umschlaggestaltung: Formlabor, Hamburg

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Trevillion

ISBN eBook 978-3-95967-962-6

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Nate nannte es eine Schattenbox.

„Ein Schatten ist eine Erinnerung“, hatte er mir einst erzählt. „Das, was von einem Menschen übrig bleibt, nachdem er gegangen ist, oder von einem Ort, an dem man sich nicht mehr aufhält.“

Die Schachtel war für geliebte Objekte, Erinnerungen, Kuriositäten, die speziellen Dinge, an denen man festhalten und an die man sich für immer und immer erinnern wollte. Nate hatte ungefähr ein Dutzend davon. Alle aus Holz gefertigt, ein paar mit Intarsien aus Perlmutt, andere fein geschnitzt, einige so glatt geschmirgelt, dass ich mein Spiegelbild darin sehen konnte. Er hatte sie an den verschiedensten Orten aufgetrieben, und jede war etwas ganz Besonderes für ihn.

Die kleine Kiste, die ich ihm für seine Reise gekauft hatte, war die erste, die er je von mir bekommen hatte, was irgendwie verrückt war, wenn ich genauer darüber nachdenke. In all den Jahren, die wir zusammen waren, hatte ich ihm nie eine geschenkt. Nicht, weil ich es nicht versucht hätte; ich habe nur nie die richtige gefunden. Aber diese Schattenbox war perfekt, und das wusste ich so genau, weil Nate sie selbst ausgesucht hatte.

Vor etwa einem Jahr fuhren wir von Sunset Bay zurück, wo wir ein Wochenende im Sommerhaus seiner Familie verbracht hatten – schwimmen, wandern und Strandgut sammeln und … nun ja, nichts von alldem tun. Der Souvenirladen neben der Tankstelle in Tenmile hatte ungefähr die Größe eines Besenschranks und war vom Boden bis zur Decke mit einem oder zwei Stücken von allem gefüllt. Nate hätte das ganze Wochenende darin verbringen und jedes Regal ganz genau durchstöbern können.

Das Einzige, was er wollte, war jedoch eine rechteckige Holzkiste mit verschnörkelter Schnitzerei und Weinlaub und wilden Tieren auf dem Deckel sowie einem vergoldeten Verschluss und ebenfalls vergoldeten Scharnieren. Sie war ungefähr zwanzig Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit – die Größe und Tiefe von zwei schönen Taschenbüchern. Im Inneren war sie mit dem feinsten Samt ausgeschlagen, den ich je berührt hatte.

Nate liebte sie. „Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich da reintue, nicht nur ewig halten, sondern auch Glück bringen wird, weißt du?“

Wenn ich sie mir hätte leisten können, hätte ich sie sofort gekauft.

Eine Woche später beschloss Nate, zwischen Highschool und College ein Jahr auszusetzen und sich Global Outreach anzuschließen, einer Non-Profit-Organisation, die sich um Impfungen für unterprivilegierte Kinder in Zentralamerika kümmerte. Ich wusste, dass ich ihm die perfekte Schattenbox schenken – und sie mit unseren Erinnerungen füllen musste, damit er sie mitnehmen konnte. Ein Jahr lang legte ich jeden Tag etwas in die Kiste – eine kleine Nachricht, ein Objekt, eine Erinnerung –, das für uns stand.

Erstes Date? Check.

Erster Kuss? Check. (Notiz: Nicht am gleichen Tag.)

Es gab Namen und Daten und Orte und Glasperlen und einen flachen Flitschstein, einen kleinen abgefahrenen Knoten aus rotem und grünem Garn. Ich lächelte, als ich an die fusseligen Fäden dachte. Weihnachten vor zwei Jahren, als Stricken kurz mal angesagt war, hatte ich Nate einen Pullover gemacht. Er hatte ein unmögliches Muster aus roten Schneeflocken auf einem neongrünen Hintergrund und in meiner Vorstellung wesentlich besser ausgesehen als in echt. Ich war so sicher gewesen, dass er an ihm richtig gut aussehen würde, aber als der Pullover fertig war, musste ich feststellen, dass er für jemanden gestrickt war, der mindestens zehn Zentimeter größer und ungefähr zehn Kilo schwerer war als Nate.

Ich war am Boden zerstört, als ich sah, wie er an ihm herabhing, aber Nate liebte ihn und trug ihn mit Stolz.

„Am liebsten hättet ihr doch auch so einen von eurer Freundin“, erklärte er, die Arme fest um meine Schultern geschlungen, seinen Basketballkollegen. „Ihr seid doch nur neidisch.“ Er war so überzeugend und unerschütterlich, dass mir ganz warm wurde ums Herz.

Bevor ich den Deckel der Schattenbox zuklappte, legte ich noch ein letztes Stück hinein. Unter dem Samtfutter gab es ein Geheimfach. Nate würde die Kiste komplett leeren müssen, damit er es finden konnte – wenn er es denn finden würde.

Ich stellte ihn mir am Ende seines Jahres in Honduras vor, voller Vorfreude auf zu Hause und mich, die Schachtel endlich leer nach dreihundertfünfundsechzig Tagen. Er würde die Falten im Samt sehen und seine Finger dazwischenschieben. Neugierig würde er so lange herumtasten, bis er den doppelten Boden entdeckte. Er würde überrascht lächeln, und dann … würde er weinen?

„Oh Middie, ich liebe dich“, würde er sagen.

Und genau das wollte ich. Denn ich liebte ihn auch. Für immer und bis in alle Ewigkeit.

„Middie! Komm rein, komm rein!“ Nates Mutter musste das aufgeregte Getöse im Haus übertönen, um sich verständlich zu machen. „Du siehst so hübsch aus!“ Sie hielt mich auf Armeslänge von sich und ließ ihren Blick von meinem französischen Zopf zu meinen griechischen Sandalen wandern. „Ich liebe dieses Kleid!“

Mrs. Bingham musste es wissen: Sie war so modisch, wie man es in Roseburg, Oregon, nur sein konnte, wo die meisten Frauen den Katalog von L. L. Bean als Bibel des guten Geschmacks betrachteten. Für Nates Abschiedsparty trug sie ein dunkelrotes Sommerkleid mit pinkfarbenen Säumen und einem weichen Gürtel um die Taille, der zeigte, was für eine tolle Figur sie nach vier Kindern immer noch hatte. Sie war barfuß, wie so oft im Sommer, und ihre Zehen waren in der gleichen tiefroten Farbe lackiert, die ihr Kleid hatte. Sie sah umwerfend aus, und es war nicht schwer zu erkennen, woher Nate sein gutes Aussehen und die goldbraunen Strähnen in seinen Haaren hatte.

„Oh, das hier? Danke!“ In Wahrheit hatte ich mich mit der Auswahl des Kleides stundenlang gequält. Es war aus blass-blauer Baumwolle mit aufgenähten Blumen auf dem Rock und einem gesmokten Oberteil. Sehr klassisch. Ich war froh, dass es Nates Mom gefiel, denn sie und Nate hatten einen ähnlichen Geschmack.

„Komm, sag allen Hallo.“ Sie hakte sich bei mir unter und führte mich aus dem Flur mit der hohen Decke in das Wohnzimmer, wo die gesamten Binghams – Cousinen und Kinder und Babys und Tanten und Onkel – sich versammelt hatten. In den zehn Jahren, die ich die Familie kannte – fünf davon als die Freundin –, hatte ich ausreichend Gelegenheit gehabt, jeden von ihnen kennenzulernen.

Doch es gab eine, die kannte ich noch nicht. „Das ist meine Großtante Pamela aus Eugene“, stellte Mrs. Bingham mir eine ältere Frau in praktischen Khakihosen und einem orangefarbenen Strickoberteil vor. Sie trug in beiden Ohren Hörgeräte.

„Auntie Pam, das ist Nates Freundin“, sagte Mrs. Bingham ein wenig lauter.

Die Frau lächelte unsicher. „Hallo.“

„Ich bin Meredith Daniels …“

„Middie Daniels“, meinte Nates Mom und schaute mich dann an. „Hoppla. Tut mir leid, Süße.“

„Oh, ist schon in Ordnung.“ Middie war seit meiner Kindheit mein Spitzname. Ich war das mittlere Kind zwischen meiner zwanzigjährigen Schwester Allison und der neunjährigen Emma. Es störte mich nicht im Geringsten, von meiner Familie und Nate so genannt zu werden – auch wenn ich schon seit einer ganzen Weile versuchte, Meredith zu sein.

Tante Pamela beugte sich zu Nates Mom. „Sie ist die Eine, oder nicht?“, sagte sie laut genug, dass das gesamte Universum es hören konnte. „Die, die er heiraten wird?“

Oh mein Gott. Meine Wangen wurden ganz heiß, so peinlich war es mir, dass alle sich zu mir umdrehten. Mrs. Bingham rettete die Situation elegant. „Tantchen, bis dahin ist noch viel Zeit, aber wir alle lieben unsere Middie!“

Das waren die letzten Worte, die ich hörte, als ich aus dem Wohnzimmer in die zum Glück menschenleere Küche flüchtete. Oh mein Gott, oh mein Gott. Es war eine Sache, wenn Nate und ich über die Zukunft sprachen, allerdings eine ganz andere, seine Mutter und seine Großtante darüber reden zu hören.

Ich ließ ein wenig Wasser in die Spüle laufen, wobei ich darauf achtete, nicht den Aufschnitt und die Sandwiches nass zu spritzen, die Mrs. Bingham kunstvoll auf einer Servierplatte auf der Arbeitsfläche arrangiert hatte, und wusch mir die Hände. Das kalte Wasser beruhigte meinen rasenden Puls.

Wieso war ich eigentlich so nervös? Tante Pamelas Ausrutscher machte mir nicht wirklich etwas aus, genauso wenig, wie Middie genannt zu werden, oder dass ich einen Monat gebraucht hatte, um das Kleid auszusuchen.

Es war Nate. Es war Nate, der nicht am Lewis & Clark College studieren würde, das nur drei Stunden mit dem Auto entfernt lag, sondern ein Jahr von mir getrennt verbringen würde – in Zentralamerika, in einem winzigen Dorf ohne sauberes Wasser und Internetanschluss, ohne verlässliche Telefon- oder Busverbindungen.

Was, wenn ihm etwas passierte?

Sei nicht albern, Middie. Ich hörte Nates Stimme in meinem Kopf, die die Frage beantwortete, die ich schon tausend Mal gestellt hatte: Global Outreach ist nicht irgendeine Hinterwäldlerorganisation. Und ich wohne in Oregon. Ich habe viel Zeit in der Wildnis verbracht. Ich komme schon klar.

Das wusste ich. Und trotzdem …

Ich öffnete meine Handtasche und befühlte die Schattenbox darin. Sie war in Recyclingpapier eingewickelt und hatte eine Schleife, die ich aus dem Cartoon aus der Sonntagszeitung gebastelt hatte. Nate war sehr umweltbewusst, das gefiel ihm bestimmt.

Durch das Fenster sah ich seine Zwillingsschwestern und seinen jüngeren Bruder im Garten mit ihren Cousinen spielen. Die Mädchen waren auf den Schaukeln, die Jungs waren am Basketballkorb, aber Nate konnte ich nirgendwo entdecken. Ich schloss die Augen und lauschte nach seiner Stimme, stellte mir vor, wo er sich aufhalten könnte. Ich kannte jede Ecke und jeden Winkel dieses Hauses, jede knarrende Stufe der Holztreppe, jedes Kreischen der Wasserrohre. Ich wusste, welche Türen in der Sommerhitze in ihren Rahmen aufquollen und an welchen man besonders fest ziehen musste, um sie im Winter zu schließen. Ich wusste, dass das Badezimmer der Jungen im ersten Stock immer nach Katzenstreu roch, obwohl die Binghams keine Katzen hatten, und ich wusste auch, dass die seitliche Veranda der schlimmste Ort war, um rumzumachen, weil die Geräusche das ganze Haus erfüllten.

Es war tröstlich, diese Dinge zu wissen. Es gab mir das Gefühl, hierher zu gehören, als wenn ich einen besonderen Platz in dieser Familie hätte. Natürlich hatte ich auch meine eigene Familie – und ich liebte sie –, doch Nates Familie war anders, genau wie Nate selbst anders war. Er war … wie die Schattenbox in meiner Handtasche. Perfekt.

Ich spürte Hände an meinen Augen und schrie unwillkürlich auf. „Nate!“ Ich drehte mich um und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Spüle, während Nate sich an meinem Hals entlangküsste. Er schlang seine Arme um meine Taille und drückte seine Brust an meine.

Oh Gott! Wie ich das vermissen werde, wenn er weg ist, dachte ich, während wir uns küssten. Vor fünf Jahren hatten wir uns das erste Mal unbeholfen auf den Mund geküsst, nachdem wir mit einer Gruppe von Freunden von der Junior-High Schlittschuhlaufen gewesen waren. Und auch wenn wir darüber längst hinausgewachsen waren – Nate zu küssen, war für mich immer noch so aufregend wie damals. Ich hoffte, dass es bei uns immer so bleiben würde.

Als er mich schließlich losließ, kribbelten meine Lippen, als hätte ich einen kleinen Elektroschock verpasst bekommen. Ich strich mit den Fingern darüber. Nate war ein guter Küsser, aber mal ehrlich, was war das?

Er bemerkte meine Verwirrung und lachte. „Das kribbelt, hm?“ Seine Stimme war rau, und er zog eine dunkle Augenbraue hoch.

„Äh, ja …“ Ich lachte und spürte, wie ich errötete.

„Lippenbalsam“, meinte er. „Den haben mir Cassidy und Chelsea für meine Reise gegeben. Er schmeckt nach Zimt und soll angeblich einen Lichtschutzfaktor von einer Million oder so haben.“ Er schüttelte grinsend den Kopf.

„Süßes Geschenk!“

Sein Lächeln wurde kaum merklich schwächer, aber ich kannte ihn so gut, dass ich die winzige Veränderung sofort bemerkte, und mir war klar, dass er daran dachte, wie sehr er seine Schwestern vermissen würde. „Ich glaube, ihnen hat vor allem gefallen, dass die Verpackung violett ist.“

Ich nahm seine Hände und hielt sie fest. Er hatte Schwielen an den Fingerspitzen vom Basketball, und seine Hände waren rau, weil er den ganzen Sommer mit seinem Vater Bäume gefällt hatte. „Sie wollten sich um ihren großen Bruder kümmern“, entgegnete ich.

Erneut lachte er. „Du weißt, dass sie darauf hoffen, endlich mein Zimmer zu kriegen. Chelsea hat bereits Pläne geschmiedet, wie sie es umdekorieren will. Pink spielt da eine ziemlich große Rolle.“

Ich legte meinen Kopf an Nates Brust und lauschte dem steten Rhythmus seines Herzens. Er würde für ein ganzes Jahr fortgehen. Ich wünschte, ich könnte seine Ruhe einfangen und in mich aufnehmen.

Ein Jahr … Ich spürte, wie mir der Atem stockte und die Tränen in den Augen brannten. Nicht weinen, Meredith Daniels! Nicht jetzt. Noch nicht! Ich fächelte mir mit der flachen Hand etwas Luft zu und schaute einen Moment zu Boden, bevor ich wieder Nates Blick auffing. „Wie hast du es eigentlich geschafft, dich so leise an mich ranzuschleichen?“

Er grinste und zeigte auf seine Füße. „Neue Turnschuhe.“

Es waren ganz leichte Laufschuhe aus blauem Nylon mit hellgelben Streifen und grüner Sohle.

„Ein weiteres Geschenk von den Zwillingen?“

„Nein, die hat Scotty ausgesucht. Mein kleiner Bruder hat Geschmack.“

„Ja, hab ich, oder?“

Wir drehten uns beide zur Seitentür, wo Nates elfjähriger Bruder stand. Sein übergroßes Trikot und die langen Shorts waren schwarz, rot und weiß – die Farben der Portland Trail Blazers. Er war ein Mini-Nate mit genau den gleichen goldbraunen Strähnen in den zerzausten Haaren und den Sommersprossen, die bei Nate weniger geworden waren.

Scotty verdrehte die Augen, sowie er unsere Umarmung bemerkte. „Ihr zwei! Macht das nicht in der Nähe des Essens. Mein Gott!“ Um seinen Worten noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen, ließ er einen Basketball einmal auf dem Küchenfußboden aufprallen.

„Was sollen wir nicht machen? Das hier?“ Nate fasste mich mit beiden Händen und gab laute Kussgeräusche von sich.

„Nate, du hast gesagt, du wirfst mit uns ein paar Körbe!“, protestierte Scotty.

„Das tue ich auch noch.“

Scotty dribbelte mit dem Basketball herum, und es klang wie ein Echo von Nates Herzschlag.

„Scotty, nimm den mit nach draußen, bitte, und lass Nate in Ruhe“, sagte Mrs. Bingham, als sie in der nüchternen, effizienten Art, die ich so oft an Nate gesehen hatte, in die Küche rauschte. Sie nahm die Platte mit den Sandwiches und hob sie über unsere Köpfe.

„Hey, Mom, wir gehen mit Rocky spazieren, okay?“, rief Nate ihr hinterher.

Ich war überhaupt nicht dafür angezogen, mit dem Hund im Wald herumzulaufen, aber als ich ihn anschaute, grinste er nur.

Oh, so ein Spaziergang. Ich lächelte und wandte den Blick ab.

„Meinetwegen.“

„Aber Nate!“, jammerte Scotty. „Du hast es versprochen!“

„Scott, was habe ich dir gerade gesagt?“, fragte seine Mutter. „Zisch ab.“

Scotty stöhnte und stapfte wütend nach draußen in den Garten. Nate lächelte und griff nach meiner Hand. „Komm, wir gehen mit dem Hund spazieren“, flüsterte er.

Meine Finger kribbelten auch ohne magischen Balsam unter seiner Berührung.

„Äh, ihr zwei?“, meinte Mrs. Bingham. „Habt ihr nicht etwas vergessen?“

Wir schauten uns beide in der Küche um, und mir fiel auf, dass meine Handtasche noch neben der Spüle lag. Die Schattenbox! Schnell warf ich mir den Träger über die Schulter. „Danke, Mrs. Bingham.“

Sie lächelte wissend und nickte in Richtung der seitlichen Veranda, wo ein älterer Hund im Sonnenlicht lag. „Ich meinte Rocky.“

Nate klatschte in die Hände, und der Hund erhob sich langsam mit zitternden Beinen. „Komm, Rocky. Komm, mein Junge.“ Es tat mir jedes Mal in der Seele weh, wenn ich miterlebte, wie Nate versuchte, mit seinem Hund zu spielen. Und Rocky war Nates Hund, daran gab es keinen Zweifel. Sie hatten beinahe das gleiche Alter. Rocky war gerettet worden, als Nate ein kleiner Junge war, direkt vor der Geburt von Scotty. Er hatte immer zu Nates Füßen geschlafen, ihn jeden Tag nach der Schule oder dem Training freudig begrüßt, jedes Kommando von ihm ausgeführt, egal, wie schwer es ihm irgendwann fiel, sich zu bewegen.

So sentimental, wie Nate war, überraschte es mich immer wieder, dass er sich nicht genauso fühlte wie ich: traurig. „Wenn ich Rocky anschaue, sehe ich den Welpen, der er mal war“, hatte er mir einmal erzählt. „Ich sehe ihn nie als alten Hund.“

Was einem eigentlich alles verrät, was man über Nate wissen muss.

Kaum hatten wir das Haus verlassen, wurden wir beinahe von den rotblonden Zwillingen Chelsea und Cassidy überrannt, die von ihren Schaukeln sprangen und auf Nate zuliefen. Er war ein bisschen wie ein Rockgott oder Superheld in diesen Tagen.

„Nate, schubs uns an! Schubs uns an!“, riefen sie im Chor. Nate drückte meine Hand und flüsterte: „Nur einmal, okay?“

Ich schob meine Ungeduld beiseite. Sie mussten schließlich auch ein Jahr auf Nate verzichten. Es war nur richtig, etwas großzügig zu sein.

Nate schubste die Mädchen mit beiden Händen so fest an, wie er konnte, und schickte sie hoch in die Luft. Sie kreischten vor Vergnügen, während ihre Cousinen darum bettelten, auch mal dranzukommen.

„Nate! Nate! Nate!“

Es war wie ein Hindernisparcours aus kleinen Kindern. Ich biss die Zähne zusammen und akzeptierte es einfach, wie es war. Während ich dastand und wartete, spürte ich eine kalte Nase, die gegen meine Hand stieß. Ich schaute hinunter und entdeckte Rocky, der mich aus großen Augen um etwas Aufmerksamkeit anflehte. Er sah so aus, als ob er lächelte, als ich begann, ihn zu kraulen.

Endlich, nachdem jedes Kind einmal geschaukelt hatte, täuschte Nate Erschöpfung vor und ließ sich gegen mich fallen. „Komm, lass uns abhauen, bevor sie merken, dass ich das nur spiele.“

Er fasste mich an der Hand, und gemeinsam liefen wir zum Rand des Grundstücks der Binghams, wo ein Holzzaun den Wald vom Garten trennte. Ein paar Douglaskiefern ragten majestätisch über uns auf, als wollten sie uns im Wald willkommen heißen.

Das war das Schöne daran, in einer Holzfällerstadt im Nordwesten der USA aufzuwachsen: Wir kannten unsere Bäume. Fichten, Pinien, Hemlocktannen – jede hatte eine eigene Persönlichkeit. Für mich waren die Fichten immer schützende Wächter gewesen – immergrüne Wachen, die auf uns aufpassten.

Ja, ich weiß, ziemlich kitschig.

Nate führte mich tiefer in den Wald zu einer Lichtung an einem Bach, der von den Bergen kommend an seinem und an meinem Haus vorbeifloss. An einem Sommertag wie heute glitzerte das Wasser, als wäre es aus Diamanten gemacht. Rocky trank gierig davon, bevor er sich an einer sonnigen Stelle auf den Waldboden fallen ließ.

Nate setzte sich auf einen alten Baumstumpf und zog mich auf seinen Schoß.

„Vorsichtig mit meinem Kleid!“, rief ich, da ich beinahe auf ihn fiel. „Das ist ganz neu.“

„Für mich?“

„Ja – na ja, für deine Party.“

„Ah, das wäre nicht nötig gewesen.“ Vorsichtig zupfte er mein Kleid zurecht, sodass es nicht mit dem Waldboden in Berührung kam. „Du hättest nichts anziehen brauchen, und ich wäre genauso glücklich gewesen.“

Ich lachte, als er mich kitzelte. „Ja, das kann ich mir vorstellen!“ Im Gegenzug hielt ich mich mit beiden Händen an seinem Nacken fest und steckte ihm die Zunge ins Ohr – nicht auf romantische Weise, sondern einfach nur nass und eklig. Wie die Eidechse aus dem Disneyfilm über Rapunzel, die er so lustig fand.

Sofort zuckte er zurück. „Igitt. Mach das nicht noch mal.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über das Ohr.

„Wie wäre es stattdessen hiermit?“ Ich beugte mich vor und gab ihm einen sanften Kuss. Er erwiderte ihn. Es war ein Kuss, der sagte: Wir sind allein, und das gefällt mir.

Keine Kinder. Keine Eltern, die stören. Keine Hunde, die betteln – zumindest nicht dieser hier, der glücklich neben dem Bach lag. Die einzigen Geräusche hier im Wald waren das Gluckern des Wassers, das Zwitschern einiger Sperlinge, das Rauschen in den Baumwipfeln.

Nate löste sich von meinen Lippen und vergrub sein Gesicht unter meinem Zopf an meinem Hals. „Oh Middie, ich weiß gar nicht, wie ich es so lange ohne dich aushalten soll.“

Ich atmete aus. „Ich auch nicht. Ich werde so … einsam sein.“

„Du?“, fragte er. „Nein. Du hast ausreichend zu tun, während ich weg bin.“ Mit einem Finger zeichnete er die Linie von meinem Kinn zu meinem Ohr entlang und spielte dann mit meinem Ohrring, einer langen, herzförmigen Perle an einem goldenen Reif.

„Was denn zum Beispiel?“

„Zum Beispiel … ich weiß nicht. Dich fürs College bewerben? Deinen Abschluss machen? Es ist schließlich dein letztes Jahr an der Highschool.“

„Und?“

„Und … wir haben Pläne. Du musst es auf die Lewis & Clark schaffen, damit wir zusammen sein können, wenn ich wieder da bin, weißt du noch?“

Ich lächelte. „Ja, das tue ich.“

„Wenn ich zurück bin, beginnen wir mit dem Rest unseres gemeinsamen Lebens.“ Er nahm meine Hand und küsste meine Fingerspitzen, eine nach der anderen. „College, Verlobung, Medizinstudium, Heirat, Familie …“

Ein Schauer überlief mich, als er beim letzten Wort meinen kleinen Finger küsste. Familie. Unsere Familie. Seine und meine. Es fühlte sich so weit weg an von da, wo wir gerade waren …

„Das wäre schön.“ Sanft schnippte ich mit den Fingern. Er küsste mich erneut, und mir wurde in seinen Armen ganz schwindelig. College, Verlobung, Medizinstudium, Heirat, Familie … dachte ich.

Doch erst einmal musste er zu mir zurückkommen.

Die Schattenbox schien ein Loch in meine Handtasche zu brennen. Kaum dass wir den Kuss unterbrachen, um Luft zu holen, griff ich hinter mich und holte sie heraus.

„Ta-da!“

Er wirkte überrascht. „Was ist das?“

„Du glaubst doch nicht, dass ich vergessen hätte, dir ein Abschiedsgeschenk zu besorgen, oder?“

„Äh, nein, aber …“

„Von deinem Bruder hast du Turnschuhe bekommen …“

„Er hat sie ausgesucht, aber nicht selbst gekauft.“

„Und die Zwillinge haben dir einen Lippenbalsam geschenkt …“

„Ich glaube, Cassidy hat ihn in Moms Handtasche gefunden.“

„Und deine Eltern schenken dir eine große Party …“

„Sie sind meine Eltern, da gehört sich das so.“

„Nate! Ich schenke dir etwas“, meinte ich und drückte ihm das Kästchen in die Hand.

Verlegen lächelte er. „Okay.“ Er nahm das Päckchen und drehte es in seinen Händen, um jeden Zentimeter zu untersuchen.

Warum riss er es nicht einfach auf? Manchmal war es zum Verrücktwerden, wie geduldig er war!

Er grinste mich an. „Du hasst das, oder?“

„Was?“

„Dass ich immer ewig brauche, um ein Geschenk zu öffnen.“

„Och …“ Ich versuchte, lässig mit den Schultern zu zucken, aber er kannte mich zu gut. „Mach es einfach auf, okay?“

Vorsichtig löste er die Schleife und knibbelte den Tesafilm mit unglaublicher Ruhe ab. Dann grinste er. „Ich will das vielleicht noch mal verwenden.“

„Oh mein Gott, ich bringe dich um!“ Ich entriss ihm das Papier, knüllte es zusammen und warf es Rocky hin. Der Hund schnüffelte einmal daran und legte sich wieder schlafen.

Als Nate sah, was sich unter dem Papier verbarg, atmete er scharf ein. „Middie … die Kiste. Du … du hast mir die Kiste gekauft?“

Ich lächelte stolz und verschränkte die Hände im Schoß. „Ja, hab ich.“

Er strich mit einem Finger über die Schnitzerei. „Aber die war so teuer.“

„Ich, äh, hatte ein wenig Geld gespart. War nicht so schlimm.“ Ich habe meine samstäglichen Latte macchiatos im Matchbox aufgegeben, ein paar zusätzliche Schichten als Babysitter und Nachhilfelehrerin eingelegt … Doch das musste er nicht wissen. „Gefällt sie dir?“

Statt einer Antwort drückte er mich. „Ich finde sie ganz toll.“ Er wollte gerade den Deckel öffnen, da hielt ich ihn zurück.

„Nein! Noch nicht. Warte, bis du da bist … in Honduras.“

„Warum?“

„Weil da … Sachen drin sind.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Sachen? Aber hoffentlich nichts, was mich an der Grenze in Schwierigkeiten bringt?“

„Haha.“ Ich nahm ihm das Kästchen ab und drehte es in meinen Händen. „Es sind nur ein paar Dinge, um dich an mich – an uns – zu erinnern. Jeden Tag, an dem du fort bist, kannst du hineingreifen und dir eine Sache herausholen. Ein ganzes Jahr lang.“

„Ein ganzes Jahr kann ich jeden Tag etwas herausholen?“ Ich nickte und wurde mit einem beeindruckten Grinsen belohnt. „Das sind dreihundertfünfundsechzig Sachen, Middie. In dieser Kiste.“

„Äh, ja, Nate, ich glaube, ich weiß, wie lang ein Jahr ist.“ Ich lachte und gab ihm die Kiste zurück.

Jetzt war er wirklich beeindruckt. Er schaute mich mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht glauben.“

„Dass ich dreihundertfünfundsechzig Dinge da hineingestopft habe? Einige von ihnen sind wirklich wahnsinnig winzig.“

„Nein. Nur …“ Er hielt inne. „Du hast dreihundertfünfundsechzig Dinge gefunden, die dich an uns erinnern.“

Ich legte meine Hände an seine Wangen und presste meine Lippen auf seine. „Eher eine Million. Ich kenne eine Million Dinge, die mich an uns erinnern.“

Wir küssten uns erneut, die Schattenbox zwischen uns; ihre Kanten bohrten sich hart in meine Rippen, allerdings bemerkte ich es kaum. Für den Moment gab es nur Nate und mich und diesen riesigen Wald. Soweit es mich betraf, existierten auf der Welt nur wir beide.

Einer unserer letzten Küsse für ein ganzes Jahr, dachte ich. Ich küsste ihn gierig, sog ihn förmlich mit meinen Lippen, meinen Händen in mich auf. Gab es auf der anderen Seite der Stadt, auf der anderen Seite des Landes andere Mädchen wie mich, die gerade das Gleiche taten? Immerhin war es die Abschiedssaison, die Hundstage des Sommers, wenn die Highschoolabsolventen zum ersten Mal aufs College gingen. Die von uns, die zurückgelassen wurden, versuchten verzweifelt festzuhalten, weil wir Angst hatten, wir würden vergessen werden oder aufhören da zu sein, sollten wir loslassen. Aber vielleicht ging das auch nur mir so.

„Middie …“, hörte ich ihn flüstern. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe …“

Bzzz! Bzzz!

„Ich lie…“

Bzzz!

Nate ließ mich kurz los und zog sein Handy aus der Hosentasche. Er zeigte mir das Display. „Mom.“ Er schaltete den Ton ab und schickte ihr eine kurze Nachricht.

Ich lehnte mich gegen den Baum und rieb mit meinen Händen über die raue Rinde. In dem Moment vibrierte mein Handy in meiner Handtasche. Ich holte es heraus und warf einen Blick aufs Display. Dad. Ich schickte auch eine kurze Nachricht. Bin auf dem Weg.

„Da ist sie wieder, die reale Welt“, meinte Nate seufzend. Er half mir auf die Beine, und wir klopften uns gegenseitig die Nadeln und Blätter ab.

Die reale Welt? dachte ich; kann das hier nicht die reale Welt sein?

Eine Stimme in meinem Kopf antwortete: Das wird sie – schon bald wird sie das sein.

Ich nahm Nates Hand und schwang sie sanft vor und zurück, während wir zur Party zurückkehrten. Nate drückte sich lächelnd die Schattenbox gegen die Brust. Ich konnte nicht anders, ich lächelte auch, weil mein Geschenk ihn glücklich gemacht hatte.

Ich wollte ihn für den Rest meines Lebens glücklich machen.

2. KAPITEL

Die Spinde an unserer Highschool waren gewissermaßen heilig: Die Mitarbeiter der Schule hielten sich raus und erlaubten uns, das Innere so zu dekorieren, wie wir wollten. Sie baten nur darum, kein Essen über Nacht darin zu lassen und sie am Ende jedes Schuljahres auszuräumen. Die Mädchen klebten sich Fotos von Freundinnen und ihrem festen Freund hinein, bewahrten Liebesbriefe und To-do-Listen auf, vielleicht auch eine getrocknete Blume vom Abschlussball, während die Jungs ein oder zwei Pin-up-Fotos hinter ihren Terminplänen fürs Footballtraining oder die Bandproben versteckten.

Ich war eine der Ersten an der Schule. Noch bevor mein Wecker geklingelt hatte, war ich aufgewacht, weil ich mich darauf freute, mich mit Nate zu unserem üblichen Morgenlauf zu treffen. Erst als ich schon fast aus der Tür war, fiel mir wieder ein, dass Nate am Tag zuvor nach Honduras abgereist war. Ich hatte sogar ein paar Mal nach meinem Handy gegriffen und nach Nachrichten von ihm geschaut. Natürlich gab es keine. Mein Morgen fühlte sich seltsam leer an.

Es war noch fast eine Stunde Zeit, bis die erste Unterrichtsstunde begann, und ich sortierte in aller Ruhe die Sachen in meinem Spind: ein Foto von Nate und mir, aufgebrezelt für den Frühlingsball im letzten Jahr, ein weiteres von uns bei einer Poolparty. Als ich die Bilder an die Metallwände klebte, dachte ich an andere Tage, Events und Partys, Verabredungen und Küsse mit ihm. Irgendwie war mein Spind so etwas wie meine eigene Schattenbox.

Gerade, als ich letzte Hand an die Dekoration legte, hörte ich meinen Namen. Haley Larking, seit der Grundschule eine meiner besten Freundinnen, rannte auf mich zu. Ihr blonder Zopf tanzte hinter ihr her, und quer über der Brust trug sie ihre Büchertasche. „Middie! Middie, wir sind im Abschlussjahr!“ Sie fasste mich an den Händen und wirbelte uns mitten auf dem Korridor herum. „Woohooo!“

Ich verdrehte die Augen, musste jedoch lachen. „Hast du gerade eben echt ‚Woohooo‘ gesagt, Haley?“

„Ja, allerdings, habe ich. Woo-hoo! Abschlussjahr!“ Haley hatte ein ansteckendes Lächeln. Ihre blauen Augen funkelten und schimmerten, wenn sie glücklich war, was sie oft war. Sie war einfach ein positiver Mensch und verbreitete Sonnenschein, wo immer sie ging. Außer, wenn sie auf dem Softballplatz stand. Dann war nicht zu spaßen mit ihr. „Das hier wird der beste erste Tag aller Zeiten“, sagte sie vergnügt.

„Unser letzter erster Tag“, sagte ich, als sie aufhörte, uns herumzuwirbeln. Ich kehrte zu meinem Spind zurück, um die Bücher für die erste Stunde herauszuholen.

„Bei dir klingt das so grässlich“, sagte sie. Ihr Blick blieb an den Fotos in meinem Spind hängen, und es zuckte um ihre Mundwinkel. „Glaubst du, dass du ohne ihn keinen Spaß haben kannst?“

„Ich denke, ich kann ein Jahr ohne meinen Freund auskommen.“

Ein Jahr? Ich schluckte meine Angst herunter. Ich würde das schaffen. Ich hatte Haley und meine Freunde und meine Kurse und meine Familie und eine Million andere Dinge, die mich beschäftigt halten würden. Wahrscheinlich war das Jahr schneller vorbei, als ich dachte, genau wie Nate gesagt hatte.

„Natürlich kannst du das! Ich helfe dir dabei.“ Sie tippte mit dem Finger gegen ihr Kinn und kniff die Augen zusammen, als würde sie angestrengt nachdenken. „Weißt du … am Wochenende gibt es eine Party.“

„Aha.“ Ich musterte sie misstrauisch.

„Dr. Haley glaubt, ein bisschen Feiern und Spaß ist genau das, was du jetzt brauchst.“

„Tja, vielleicht …“

„Wirklich?“ Haleys Augen leuchteten auf.

Nate und ich gingen nicht oft aus. Wir blieben lieber im Fernsehzimmer bei seinen Eltern. Haley hatte zwar immer Verständnis dafür gehabt, aber sie hätte sich gefreut, wenn ich sie öfter begleitet hätte.

„Eine Kick-off-Party zum letzten Schuljahr mit meiner besten Freundin!“ Sie klatschte vor Freude in die Hände. „Das wird umwerfend!“

Die typischen Kick-off-Partys sahen normalerweise so aus, dass man sich um irgendein Gewässer versammelte – entweder ein See am Rande der Stadt oder ein Pool in irgendeinem Garten. Es gab Bier vom Fass, wenig zu essen und viel Herumgemache. Nate und ich waren letztes Jahr hingegangen, und es war eigentlich ganz okay gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es dieses Jahr groß anders sein würde.

Die Glocke zur ersten Stunde klingelte. Wir hatten noch drei Minuten, um zu unserem Klassenraum zu kommen.

„Okay, los geht’s.“ Haley nahm den Stundenplan aus ihrer Tasche.

Ich schnappte mir meinen aus dem Spind und hielt ihn zum Vergleich neben ihren. „Hmmm … Englisch? Wirklich?“

Sie nickte. „Alle unsere Kurse sind für Nerds.“

Ich stieß sie mit dem Ellbogen an. „Halt den Mund.“ Haley schlug meine Spindtür für mich zu. „Abschlussjahr, wir kommen.“

Ich schaute den Korridor entlang und sah, wie er sich immer schneller mit Schülern füllte: Footballspieler und Cheerleader in Uniform, verloren aussehende Neulinge auf der verzweifelten Suche nach einem freundlichen Gesicht, Zehntklässler, die froh waren, dass sie nicht länger die Neulinge sein mussten. Ich schloss die Augen und roch irgendjemandes Frühstück – ein Sandwich mit gebratenem Ei –, den süßen Kaffee in dem Becher eines Lehrers und einen Hauch von dem Putzmittel, mit dem die Spinde gereinigt wurden.

Das würde ich später alles in einem Brief an Nate niederschreiben.

„Middie, komm doch bitte rein.“ Mr. Ziegler, den wir alle nur Mr. Z nannten, hob seine Stimme ein wenig an, um das letzte Klingeln zu übertönen. Er war seit meinem ersten Jahr an der Highschool mein Vertrauenslehrer, auch wenn ich nur selten Rat von ihm benötigt hatte. Heute jedoch ging es um meine Collegebewerbungen.

Mr. Zs Wangen waren rund und rötlich, und er trug eine Brille, die er auf der Nasenspitze balancierte. Er reiste unheimlich gern, und sein Büro war voller Mitbringsel von seinen Trips um die Welt. Jeden Sommer bereiste er ein fremdes Land und strich es nach seiner Rückkehr glücklich von seiner Liste ab.

Er räumte einen Stapel Italienischbücher beiseite, damit ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch setzen konnte. „Wie sieht dein neues Jahr so aus?“

Ich hätte ihm am liebsten gesagt, dass das neue Jahr gerade erst angefangen hatte und ich noch gar nichts darüber sagen konnte. Stattdessen ratterte ich meine Kurse hinunter: „Englisch für Fortgeschrittene, Spanisch, Geschichte, Mathe und Chemie.“

Er nickte beeindruckt. „Also, es soll das Lewis & Clark werden, richtig?“

„Ja, Sir. Ich habe für den November eine Führung über den Campus gebucht.“

„Gutes College. Hast du sonst noch welche in der Auswahl?“

Ich zögerte. „Nein, eigentlich nicht.“

Er beugte sich vor und sah mich sehr eindringlich an. „Warum nicht?“

„Weil …“ Weil Nate dorthin geht. Aber das konnte ich nicht sagen. Das klang zu … Mr. Z würde es nicht verstehen. „Es gefällt mir“, sagte ich also.

Ich hatte den Campus erst einmal zuvor mit Nate besucht. Es war ein schönes, grünes Gelände, das sich nicht groß von unserer kleinen Stadt unterschied. Ehrlich gesagt war es wie unsere Stadt mit den hübschen Backsteingebäuden, Cafés, grünen Rasenflächen und einem vernünftigen Footballstadion. „Ich folge dem Rektor auf Twitter.“ Ich hielt mein Handy hoch, als müsste ich ihn daran erinnern, was Twitter war.

Er runzelte die Stirn. Vermutlich kannte er sich doch besser aus mit Twitter, als ich dachte. „Das ist alles gut und schön, Middie, aber es ist nicht schlecht, noch eine zweite oder vielleicht eine dritte Wahl parat zu haben.“

Mein Puls beschleunigte sich. „Sie glauben nicht, dass ich zugelassen werde? Liegt es an meinen Noten?“

„Ich möchte nur, dass du Optionen hast. Das ist alles. Es ist eine große Welt da draußen.“

„Ach so. Ja, mach ich, Mr. Ziegler.“ Aber ich brauchte keine zweite Wahl. Ich hatte nur eine. Ich nahm meine Bücher und erhob mich vom Stuhl. „Sonst noch etwas, Mr. Z?“

Er grinste, als ich ihn bei seinem Spitznamen nannte. „Keine Sorge. Geh und mach dein Ding.“ Ich konnte mir vorstellen, wie er dachte: Mach dein Ding … das sagen die coolen Kids doch so, oder? Als ich die Tür zu seinem Büro hinter mir schloss, lächelte ich vor mich hin.

Auf dem Weg zu meinem Vorbereitungskurs auf den SAT-Test vibrierte mein Handy in meiner Tasche. Eine SMS. Vermiss dich. Lieb dich. xo

Ich lächelte und spürte, dass ich errötete. Nate. Irgendwie hatte er es geschafft, ein paar Buchstaben zu verschicken.

Meine Finger flogen über die Tastatur. Vermiss dich mehr. NM4eva.

NM4eva – Nate und Middie forever.

Einen Moment später vibrierte es erneut. Durch irgendein Wunder hatte Nate in Zentralamerika eine Handyverbindung gefunden.

Doch es war Haley. Party! Wooo-hooo! las ich. Lachend schüttelte ich den Kopf. Ich schickte ihr eine Nachricht zurück: !!!!!!!!!

Nate hatte den Gemeinschaftsgarten vor zwei Jahren gefunden, als er auf der Suche nach einer ehrenamtlichen Tätigkeit gewesen war, die gut auf seiner Collegebewerbung aussehen würde. Er wollte etwas draußen machen, weil er gern an der frischen Luft war, und natürlich hatte er mich – und später auch ein paar andere – davon überzeugt, mitzumachen.

Normalerweise ernteten wir an ein oder zwei Tagen in der Woche und verbrachten dann einen Tag damit, das frische Gemüse einzupacken und den Leuten in der Stadt zu bringen. Mich machte es immer etwas nervös, bei den Leuten zu Hause vorbeizugehen, aber Nate war da viel selbstbewusster. Jeder kannte ihn und freute sich, wenn er vor der Tür stand.

Heute war Erntetag. Als ich ankam, machte ich ein Foto von dem Gemüse, das wir ernten würden, und schickte es an Nate.

Im Büro winkte ich ein paar von den älteren Freiwilligen zu, deren Schicht für den Tag beendet war und die sich gerade die Hände an dem breiten Steinwaschbecken wuschen.

Eine von ihnen rief mir über das laufende Wasser hinweg zu: „Hast du schon mit Nate gesprochen?“

„Nein, noch nicht.“

„Wenn du es tust, grüß ihn schön von den alten Ladies.“

„Das mache ich.“

Sie kicherten hinter vorgehaltenen Händen, wie meine kleine Schwester Emma es getan hätte. Nate fühlte sich sicher geschmeichelt, wenn ich ihm von seinem Fanclub erzählte.

Ich schnappte mir ein paar Gartenhandschuhe, die an einem Nagel an der Wand hingen, über dem ein Schild mit meinem Namen klebte. Daneben hingen die von Nate. Während meine mit bunten Blumen bedruckt waren, waren seine blau-weiß gestreift. Ich strich mit dem nackten Finger über seine Handschuhe, als könnte ich ein wenig von ihm mitnehmen, bevor ich mir einen Werkzeuggürtel um die Taille schnallte und mit einem Weidenkorb in der Hand in den Garten ging.

Hoffentlich konnte ich bald mit ihm sprechen.

„Keine Handys am Abendbrottisch“, sagte mein Dad, den Mund voll Roter Bete. Einer der Vorteile des Gemeinschaftsgartens war das kostenlose Gemüse, das meine Eltern liebten und das Emma hasste. Sie hätte es viel besser gefunden, wenn ich bei McDonald’s gearbeitet und ihr stattdessen Chicken McNuggets mitgebracht hätte.

Heute hatte Mom die Rote Bete mit Basilikum und Olivenöl gebraten und sie zu kaltem Hühnchen gereicht. Der Abend war so warm, dass wir auf der Terrasse unter den Sternen sitzen konnten. Auf dem Tisch brannten Citronellakerzen, um die Mücken abzuhalten. Der Mond war nur eine ganz dünne, silberne Sichel, aber er schien hell genug, um unseren Garten zu beleuchten.

„Dad, du weißt doch, dass ich darauf warte, dass Nate sich meldet.“ Seufzend lehnte ich mich auf meinem Stuhl zurück.

Meine Mutter zog die Stirn kraus. „Ich dachte, du hättest gestern mit ihm gesprochen.“

Ich nahm mir ein Stück Rote Bete von meinem Teller und steckte es mir in den Mund. Der Saft hinterließ rote Flecken an meinem Daumen und Zeigefinger. „Nein. Wir wollten eigentlich, aber … Es ist seltsam. Wahrscheinlich ist er zu beschäftigt.“ Ich ließ mein Handy auf dem Tisch kreisen in der Hoffnung, so einen Anruf auszulösen. Doch alles, was ich für meine Anstrengungen bekam, war eine weitere Nachricht von Haley bezüglich der Party am Freitag.

Emma schaute über meine Schulter und las die SMS. Dann öffnete sie den Mund, als wolle sie etwas sagen.

„Ja?“, forderte ich sie heraus.

Meine kleine Schwester steckte ihre Nase gerne in Angelegenheiten, die sie nichts angingen. Sie hatte mich sogar mal verpetzt, als ich ein paar Minuten nach der verabredeten Zeit nach Hause gekommen war.

Sie hielt meinen Blick einen Moment fest und wandte ihn dann ab. „Es klingelt.“

„Was?“

Sie zeigte auf mein Handy auf dem Tisch. „Dein Telefon. Es klingelt.“

„Mein Telefon … klingelt!“ Ich hatte es auf stumm geschaltet und vergessen! Schnell schnappte ich es mir. „Nate!“ Sein Bild erschien auf dem Display; er rief mich über FaceTime an. Ich nahm das Gespräch an.

Meine Mutter winkte in meine Richtung. „Geh bitte nach drinnen.“

Ich hielt mir das Handy vors Gesicht und rannte hinein. Nate war auf dem Display zu sehen, er verzog das Gesicht. „Hör auf zu rennen, Middie! Mir wird ganz schlecht.“

Ich lachte, wurde aber erst langsamer, als ich oben in meinem Zimmer angekommen war. Dort ließ ich mich aufs Bett fallen und legte das Handy auf meine Knie. Ich wollte das Display mit Küssen bedecken, begnügte mich aber mit einem Luftkuss in der Nähe von Nates Lippen.

„Wo bist du? Wie geht es dir? Ist es sehr schlimm? Geht es dir gut?“ Die Worte strömten nur so aus mir heraus, bevor ich Nate auch nur die Chance gegeben hatte, Hallo zu sagen. Ich atmete tief durch und lächelte. „Hi.“

„Hi.“ Sein Lächeln war sanft, seine Augen wirkten müde. Ein kleiner Bartschatten lag auf seinem Kinn. Ich fragte mich, wie lange er schon wach war. Der Zeitunterschied zwischen Zentralamerika und Oregon betrug nur eine Stunde. „Ich bin gerade etwas außerhalb von Tegucigalpa“, sagte er. „Hier sind noch zwei weitere Amerikaner, und wir werden gerade von den Ärzten angelernt. Und bekommen Spanischunterricht.“

„Aber du sprichst doch Spanisch.“

„Das ist hier ganz anders“, sagte er. „Ich meine, ich kenne die Sprache, aber wenn alle um mich herum nur Spanisch sprechen …“ Er verdrehte ein bisschen die Augen. „Das ist gar nicht so leicht.“ Sein Lächeln verrutschte ein wenig und verriet mir, wie angespannt er war. Mein Nate machte sich Sorgen?

„Das kriegst du schon hin“, beruhigte ich ihn. „Wie ist die Ausbildung? Magst du die Ärzte?“

„Sie sind ganz toll!“ Er erzählte mir von den Ärzten und den Sozialarbeitern, die Teil des Teams waren, von den anderen Freiwilligen aus den USA und Kanada. Ich bekam nicht alles mit, weil die Verbindung immer schlechter wurde. Während Nate sprach, stand ich langsam auf und ging zum Fenster in der Hoffnung, dort einen besseren Empfang zu haben.

„… Regenwald …“, hörte ich. Und dann: „… Gangs …“

Gangs? Wir hatten uns vorher ein wenig über die Gefahren unterhalten, die ihn in Honduras möglicherweise erwarteten. Sah er bereits erste Anzeichen von den Unruhen in Zentralamerika, noch bevor sie das Basiscamp verlassen hatten?

„Was? Nate, du klingst ganz abgehackt.“ Sein Gesicht auf dem Display wurde pixelig und dann wieder klar, als ich mich aus dem Fenster lehnte und der Empfang besser wurde. „Nate?“

„Ich bin hier“, sagte er und winkte mir zu. „Middie?“

„Ich bin auch hier.“ Ich winkte zurück.

„Das hier ist vermutlich das Beste, was wir für eine Weile hinkriegen“, gab er stirnrunzelnd zu. „Die Verbindung wird noch schlechter werden, wenn wir zum Dorf aufbrechen.“

Ich spürte, wie mir ganz eng um die Brust wurde. „Was ist mit SMS?“

Er hielt sein Handy etwas weiter vom Gesicht weg, und ich sah, dass er mit den Schultern zuckte. Ich wollte zu gerne sehen, was hinter ihm war, mir ein Bild davon machen, wo er war und was er tat. Ich konnte jedoch nur Bruchteile von einer Pinnwand in seinem Rücken erkennen, auf der eine Landkarte hing, und die Ecke eines Etagenbetts aus Metall.

Sein Bild wurde wieder komisch. Nein, nein, nein! Ich lehnte mich noch weiter aus dem Fenster, bis ich mit Kopf und Armen draußen hing. Dann füllte ich meine Lunge mit der klaren spätsommerlichen Luft, als wenn ich sie für Nate einsaugen könnte. Es gab so viel, was ich ihm erzählen wollte: von dem Vorbereitungskurs auf den SAT-Test, von seinen Fans im Gemeinschaftsgarten, von der Party am Wochenende. Aber das alles verblasste im Vergleich mit dem, was Nate gerade machte.

„Middie? Ich muss Schluss machen. Ich bin furchtbar müde und muss morgen ganz früh raus.“

„Oh, klar.“ Aber ich wollte nicht, dass er ging – noch nicht. „Hast du die Kiste geöffnet?“

„Die Kiste? Nein, hätte ich das tun sollen?“

„Hol sie! Mach sie auf. Aber nimm dir nur ein Teil, okay?“ Ich wartete, während er in seinem Rucksack nach der Schattenbox suchte, die ich ihm geschenkt hatte. Als er ans Telefon zurückkam, hielt er sie hoch. „Schließ die Augen und greif hinein“, sagte ich.

Er tat, wie ihm geheißen, und schloss die Augen. Er sah aus, als würde er mit einem Lächeln im Gesicht schlafen. „Kann ich meine Augen jetzt wieder aufmachen?“ Er hob ein Lid und presste das andere fest zu.

„Ja! Was hast du?“ Ich sah aufgeregt zu, wie er etwas anschaute, das ich nicht sehen konnte. Dann grinste er. „Was? Was ist es?“

Er hielt den Zettel aus dem Glückskeks in die Kamera. Die Liebe deines Lebens ist immer schon direkt vor deinen Augen gewesen. „Dein Glückskeks“, sagte er. „Von unserem Dinner im Kung Pao letztes Jahr zu unserem Jahrestag.“

Ich schlug mir die Hand vor den Mund und lachte. „Ja! Du erinnerst dich?“

Er verdrehte die Augen. „Middie, ich erin… alles.“ Sein Bild wurde wieder pixelig. Seine Stimme knackte und brach immer wieder ab.

„Nate? Nate?“

„…iddie?“

„Du fehlst mir, Nate.“

„… mir … auch …“ Du mir auch, ergänzte ich die fehlenden Worte.

„Ich liebe dich.“ Aber es war zu spät. Er war weg, und ich starrte auf die Worte Verbindung unterbrochen auf meinem schwarzen Display. Morgen, sagte ich mir. Wir konnten morgen Abend wieder miteinander telefonieren, und dann würde er mir sagen, er liebe mich auch.

Ich hielt mich am Fensterbrett fest und lehnte mich rückwärts hinaus, um zu den Sternen hinaufzuschauen, die die samtige Schwärze des Himmels sprenkelten, als wären sie aus dem Kaleidoskop eines Riesen gefallen. Der Hellste von ihnen wirkte so nah, als könnte man ihn berühren. Ich wusste einfach, wenn ich jetzt eine Leiter hinaufklettern würde, könne ich ihn zwischen seinen funkelnden Freunden pflücken und in meinen Armen halten.

Ich schaute den Stern an und wünschte mir, dass das mit Nate und mir für immer halten würde.

3. KAPITEL

Die Scheune am alten Dayton Feed war nur noch eine höhlenartige Struktur aus verwittertem Holz und einem halben Dach, aber eine Gruppe älterer Schüler hatte sie in eine Partylocation verwandelt: Lichterketten waren quer zwischen den Balken gespannt, frische Heuballen waren aufeinandergestapelt, um kuschelige Rückzugsplätze zum Fummeln zu bieten, und in einer alten Kutsche standen die Bierfässer. Haley und ich kamen an, als die Party schon in vollem Gange war. Wir kannten beinahe jeden dort – alle Gruppen aus der Schule waren versammelt, nicht nur die üblichen Sportskanonen, sondern auch die Nerds und Musiker, die Mathe-Asse, die handwerklich begabten Mädels und die Theaterfreaks.

Haley schlang ihre Arme von hinten um mich, als wir uns einen Weg durch die Menge zu den Bierfässern bahnten. „Oh mein Gott, Middie, das hier macht es offiziell zu unserem Abschlussjahr. Lass dir nichts davon entgehen!“ Sie ließ ihren Blick durch die Scheune schweifen und ein wenig auf einer Gruppe von Jungen verweilen, die in einer Ecke zusammenstanden und redeten. „Hmmm … ich wusste gar nicht, dass Rick McKinnon so groß ist.“

Rick sah nicht schlecht aus, fand ich. Zum Glück verbargen die Schatten, die von den Lichterketten auf ihn geworfen wurden, seine Akne. „Vielleicht ist er über den Sommer gewachsen?“

Haley grinste frech. „Du weißt, was man über große Jungs mit großen Händen sagt.“

Ich lachte schnaubend und spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg. „Haley! Mein Gott!“

„Was?“ Sie tat ganz unschuldig. „Sie tragen große Handschuhe.“ Kichernd zapfte sie zwei Biere und reichte mir eines. Der Becher war halb mit Schaum gefüllt, was mich nicht wirklich störte, weil ich heute die Fahrerin war und ohnehin nicht vorhatte, es zu trinken. Nate und ich waren keine großen Partygänger. Er mochte nicht mal den Geschmack von Bier.

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