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Der Rommé-Club ermittelt

Als Buch hier erhältlich:

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Diese Eifler Seniorinnen lassen sich nichts vormachen!

Die Neuigkeit macht in Himmelrath schneller die Runde als man gucken kann: Der Verbandsbürgermeister Hubert Brandt ist tot. Erschlagen. Mit einem Stein. Tragisch, wirklich! Der Schrecken bei den vier Rommé-Freundinnen Evelyne, Barbara, Ingrid und Rosa sitzt tief. Darauf erst mal ein Schlückchen Wein … Schnell wird klar, dass Barbaras gemütlicher Bruder Hannes, Kriminalbeamter kurz vor der Pensionierung (gedanklich jedoch bereits seit vielen Jahren in Rente), mit diesem Fall maßlos überfordert sein wird. Die vier Rentnerinnen sind sich einig: Warum ihm nicht ein wenig unter die Arme greifen? Er muss ja nichts davon erfahren ...


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908172
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Widmung

Für Christel

PROLOG

Ruhe und Frieden lagen an diesem Montagabend über den blühenden Wiesen und grünen Wäldern von Himmelrath. In der Ferne tauchte die untergehende Sonne die sanft ineinanderfließenden Eifelhügel in ein goldenes Licht. Ein lauer Abendwind fächelte aus dem Fichtenwald den Duft von Harz zu den drei Frauen hinüber, die wie jede Woche auf der Steinterrasse zum Spielabend zusammengekommen waren. Evelyne sog den Geruch geräuschvoll ein. Dabei trommelten ihre schlanken Finger auf dem Holztisch.

»Typisch Barbara … Ich verstehe einfach nicht, wie jemand ständig zu spät kommen kann«, sagte sie ungehalten mit ihrer für eine Frau recht tiefen Stimme.

»Sie hat halt mehr um die Ohren als wir«, verteidigte Ingrid die gemeinsame ehemalige Schulfreundin. »Ich mische schon mal.«

»Lasst uns doch erst mal ein Gläschen trinken«, schlug Rosa vor.

Ihre Tochter schob das Sektglas weit von sich. »Ich nehme Rhabarberschorle.«

Rosa nickte ihr aufmunternd zu. »Gönn dir doch auch mal ein Schlückchen, Kind. Das macht locker.« Doch dafür erntete sie nur einen abweisenden Blick. Ungeachtet dessen wollte sie gerade die Sektflasche aus dem Kühler nehmen, als das tiefe Brummen eines Dieselmotors laut wurde.

Ingrid atmete lächelnd auf. »Da ist sie.«

»Wurde auch Zeit«, befand Evelyne.

»Barbara!«, rief Rosa freudig aus, als die Genannte um die Ecke eilte – klein, rundlich, in Gummistiefeln und grüner Latzhose.

»Entschuldigt bitte …«, stieß sie kurzatmig hervor.

»Warst du etwa bis jetzt im Stall?«, fragte Evelyne erstaunt.

Barbara ließ sich auf den Terrassenstuhl plumpsen. »Ihr glaubt nicht, was passiert ist.«

»Und was?«, erkundigte sich Evelyne im Ton der strengen Schulrektorin, die sie bis vor ihrer Frühpensionierung gewesen war.

»Unser Verbandsbürgermeister …«

Evelyne zog die dunklen Brauen zusammen. »Was ist mit ihm?«

»… tot.«

Ein paar Sekunden lang hörte man nur das Brummen einer Fliege, die unschlüssig über der Schale mit Erdnüssen kreiste.

»Tot?«, wiederholten Rosa und Ingrid wie aus einem Mund.

Barbara nickte. »Ermordet.«

Rosa lehnte sich zurück. »Das wundert mich gar nicht«, murmelte sie in sich hinein.

»Das gibt’s doch nicht!«, sagte Evelyne und schüttelte ungläubig den Kopf. Der Zweifel stand ihr auf dem schmalen Gesicht geschrieben.

»Erschlagen mit einem Stein.«

»Wer sagt das?«

»Kurz bevor ich mich umziehen wollte, hat mein Bruder angerufen und erzählt, dass Hubert Brandt heute Morgen von seiner Frau als vermisst gemeldet und kurz darauf von zwei Wanderern vor seiner Jagdhütte gefunden worden sei. Erschlagen. Der blutige Stein lag neben ihm.«

»Mein Gott …« Ingrid schlug ein Kreuz vor dem tiefen Ausschnitt ihrer zart roséfarbenen Seidenbluse.

Beklommene Stille breitete sich über der Steinterrasse aus. Selbst die Vögel in den Apfelbäumen unterhalb des Hauses verstummten.

»Die arme Friderike«, sagte Evelyne schließlich wie zu sich selbst. »Und erst Jan. Der hat doch sowieso in der letzten Zeit Lernschwierigkeiten.«

»Und die Brandts hatten eine so glückliche Ehe«, sinnierte Ingrid laut, während ihr Blick zu den üppig blühenden Bauernhortensien schweifte, die in großen Kübeln auf den Natursteinen standen. Jede am Tisch wusste, dass sie gerade an ihre eigene Ehe dachte, die vor acht Jahren geschieden worden war, weil ihr Mann sie wegen einer anderen verlassen hatte.

»Das wird Friderike nicht so schnell verkraften. Die ist doch ohne diesen Mann völlig hilflos«, warf Evelyne ein.

»So ein Quatsch!« Ihre Mutter schüttelte energisch den Kopf, sodass ihre goldenen Ohrringe schaukelten. »Keine Frau ist ohne ihren Mann hilflos. Ich bin zweiundachtzig, seit zwölf Jahren Witwe, und es geht mir prächtig.«

»Na ja, Mama, du musst schon zugeben, dass du …« Ihre Tochter sah sie bedeutungsvoll an.

»Irrtum, Evelyne! Wenn ich dich nicht hätte, hätte ich zwar ein bisschen mehr Arbeit, aber solange ich körperlich noch so fit und im Kopf klar bin … Außerdem haben wir ja auch Tine.«

»Es geht jetzt nicht um uns beide, Mutter«, schnitt Evelyne energisch das Thema ab, das sonst vielleicht ausgeufert wäre, und wandte sich mit besorgter Miene an Barbara. »Aber den Fall bearbeitet doch nicht etwa dein Bruder, oder?«

Ihre Freundin lachte ihr glucksendes Lachen. »Doch. Der fällt in den Zuständigkeitsbereich der Kriminaldirektion Koblenz, und Hannes ist jetzt total im Stress. Er findet es ungerecht, dass ihm sein Chef ein paar Monate vor der Pensionierung noch einen Mordfall aufs Auge drückt.«

Alle drei nickten wissend. Hannes Neffgen war für sein gemütliches Naturell bekannt. Und auch dafür, dass er nicht die hellste Kerze auf der Torte war – wie Rosa es mehr als einmal ausgedrückt hatte. Schon öfter hatte sich Evelyne gefragt, wie Barbaras Bruder es überhaupt bis zum Kommissar geschafft hatte.

Rosas schwarze Augen, ein Erbe ihres sizilianischen Vaters, blitzten auf. »Und wenn wir vier Hannes dabei ein bisschen unter die Arme greifen würden? Natürlich ohne, dass er davon weiß. Wisst ihr …«, mit verklärtem Ausdruck schaute sie von einer zur anderen, »von so einer Gelegenheit habe ich immer schon geträumt.«

»Mutter! Wir können uns doch nicht in die Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei einmischen.«

»Papperlapapp. Durch mein jahrelanges Interesse für Krimis bin ich inzwischen bestimmt genauso versiert, was die Vorgehensweise einer solchen Ermittlung angeht, wie unser Herr Kommissar. Und du, Evelyne, bist sogar mit der Witwe des Opfers befreundet. Dadurch kannst du uns Informationen beschaffen, an die die Kripo gar nicht rankommt.«

»Mutter, dabei könnten wir uns strafbar machen«, wandte Evelyne streng ein.

Ihre Mutter lächelte sie milde an. »Wenn du mit von der Partie bist, wirst du uns bestimmt davor bewahren.«

»Warum eigentlich nicht?«, sagte da Ingrid für alle überraschend. »Ich liebe es, Rätsel zu lösen. Und Rosa hat recht. Wir kennen hier viele Leute, die uns bestimmt mehr erzählen werden als Hannes.«

»Das Ganze ist doch völliger Blödsinn«, erwiderte Evelyne barsch.

»Ich könnte meinen Bruder sicher dazu bekommen, mich über seine Ermittlungsergebnisse auf dem Laufenden zu halten«, fügte Barbara ungeachtet dieses Einwandes mit nachdenklicher Miene hinzu. »Hannes dürfte natürlich nichts von unserer Ermittlungstätigkeit wissen.«

Voller Unverständnis schüttelte Evelyne den Kopf. »Entschuldigt bitte, aber ihr spinnt.«

»Du bist doch immer so für Gerechtigkeit und Ordnung«, hielt Rosa ihr entgegen. »Willst du einen Mörder etwa frei herumlaufen lassen, nur weil die Polizei sich überfordert fühlt? Und denk auch mal an die hilflose Friderike …«

»Also – ich bin dabei.« Barbara griff beherzt in die Schale mit den Erdnüssen und lehnte sich zufrieden zurück. »Vorausgesetzt, wir werden meinem Bruder wichtige Erkenntnisse, die zur Lösung des Falles beitragen könnten, zukommen lassen. Schließlich ist er der Kommissar.« Damit warf sie sich die Handvoll Nüsse in den Mund.

»Klar«, sagte Ingrid sofort.

Evelyne schwieg.

Ihre Mutter erwiderte mit verbindlichem Lächeln: »Noch sind wir nicht so weit.« Dann strahlte sie in die Runde. »Also ist es jetzt abgemacht. Darauf stoßen wir an!« Sie stand auf, nahm die Sektflasche aus dem Kühler und ließ den Korken knallen.

»Auf uns!«, rief Barbara kauend aus.

»Auf uns«, echote Ingrid vergnügt.

Rosa hob den rechten Daumen. »Auf die Rommé-Cops und ihren ersten Fall!«

Evelyne verdrehte die Augen und stieß schließlich mit ihrem Glas Rhabarberschorle mit den anderen an.

1. KAPITEL

Evelyne öffnete die Terrassentür. Mit dem Frühstückstablett auf den Händen blieb sie stehen. Zu dieser frühen Stunde strahlte die Sonne bereits in voller Pracht vom blitzblanken Himmel und versprach wieder einen herrlichen Julitag. Die milde Luft duftete nach den rosa-violetten Blüten der Zitronengeranien auf der Tuffsteinbrüstung. Unterhalb der Steinterrasse funkelten noch ein paar Tautropfen in den blühenden Wiesen, und die Vögel sangen ihr Morgenlied. Ihr Elternhaus stand in Alleinlage auf einer Anhöhe von Himmelrath, das oberhalb von Adenau lag. Von hier aus hatte man einen unverstellten Blick auf die Eifelhügel, die sich im Morgendunst am Horizont hintereinander aufstellten.

Welch eine Idylle! Kaum zu glauben, dass hier ganz in der Nähe vor kaum mehr als sechsunddreißig Stunden ein brutaler Mord geschehen war! Evelyne schauderte.

»Guten Morgen, mein Kind«, erklang da die muntere Stimme ihrer Mutter in ihrem Rücken.

Evelyne schrak zusammen und drehte sich um. »Guten Morgen, Mama.«

Rosa trug noch ihren Rüschenmorgenrock, rote Rosen auf schwarzem Grund. Wahrscheinlich hatte sie wieder bis tief in die Nacht gelesen. Ihr weißes, modisch geschnittenes Haar war jedoch schon tipptopp gestylt, und ihre Lippen leuchteten in dem frischen Rot, das sie stets auch auf den Nägeln trug.

»Welch ein Tag!«, rief ihre Mutter voller Inbrunst aus, stellte ihren doppelten Espresso auf den Tisch und zog eine Tablettenpackung aus der Tasche des Morgenrocks. »Hier, deine Allergietabletten. Heute fliegt bestimmt wieder viel durch die Luft.«

Evelyne musste lächeln. Sie konnte so alt werden wie Methusalem – ihre Mutter würde sie immer noch als ihr kleines Mädchen betrachten, das bemuttert werden musste.

Sie positionierte die quadratische Schüssel mit dem Bio-Müsli vor sich, exakt parallel zur Tischkante. Ihr Kaffeebecher mit der Sojamilch fand neben dem oberen rechten Winkel der Schale seinen Platz.

»Und? Hast du dir schon überlegt, wie wir vorgehen?«, erkundigte sich Rosa, kaum, dass sie sich hingesetzt hatte.

Evelyne lächelte ihre Mutter an. »Du meinst eure Agatha-Christie-Ambitionen? Du weißt, wie ich darüber denke. Aber ja, ich fahre gleich mal zu Friderike, um zu kondolieren.«

»Gut. Dann kannst du ihr am besten gleich ein paar Fragen stellen: Hatte ihr Mann Feinde? Wenn ja, welche? Und wo war sie vorgestern Abend? Was …«

»Mutter! Zuerst gebietet es ja wohl der Anstand, zu fragen, wie sie sich fühlt und ob ich etwas für sie oder Jan tun kann«, erwiderte Evelyne empört. »Schon vergessen? Sie hat gerade ihren Ehemann verloren, der nur einen Kilometer Luftlinie von hier entfernt vor ein paar Stunden brutal erschlagen worden ist!«

Rosa nippte an ihrem Espresso und schwieg. Dabei sah sie in die Richtung, in der die Jagdhütte des ehemaligen Verbandsbürgermeisters lag. »Ja, natürlich«, räumte sie kleinlaut ein. »Das meinte ich auch nicht so. Aber wir hatten doch gestern Abend beschlossen, Hannes aus guten Gründen bei seiner Ermittlung ein bisschen unter die Arme zu greifen.«

»Ihr hattet das beschlossen«, berichtigte Evelyne sie. »Außerdem – glaubst du etwa wirklich, dass der gute Hannes nicht gestern schon Friderike alle wichtigen Fragen gestellt hat?«

»Da hast du vermutlich recht. Aber vielleicht hörst du als Frau noch etwas anderes aus ihren Antworten heraus.«

»Und dann möchtest du, dass wir uns mit Hannes austauschen, oder wie?«

»Natürlich nicht. Der darf doch nichts von unserer Ermittlungsarbeit wissen.«

»Also weißt du, Mama, ich halte das Ganze für völligen Unsinn. Lassen wir doch die Kripo ihre Arbeit machen, und wir halten uns raus.«

Rosa wirkte enttäuscht. »Ingrid und Barbara waren auch dafür. Und so ein bisschen umhören schadet doch nichts.«

Evelyne schwieg, aß ein paar Löffel Müsli und schob schließlich die Schüssel von sich weg. Ihr fehlte der Appetit. In der Nacht hatte sie schlecht geschlafen. Ob es daran lag, dass sie gestern Abend beim Rommé haushoch verloren hatte? Oder an dem Verbrechen, das plötzlich Eingang in ihre so harmonische Welt gefunden hatte? Vielleicht hatten ihre Freundinnen und ihre Mutter sogar recht. Womöglich konnten sie tatsächlich dazu beitragen, den Mörder schneller zu fassen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Wenn sie der Kripo auch nur einen einzigen, entscheidenden Tipp würden geben können, der zum Erfolg beitrug … Dann hätten sie schon eine gute Tat vollbracht.

Sie sah ihre Mutter an. »Möchtest du noch einen Espresso?«

»Gerne, Kind.«

Als sie mit der Tasse wieder ins Freie trat, erkundigte sich Rosa: »Sag mal, wann bist du eigentlich mit Dr. Groß verabredet?«

Evelyne seufzte auf. »Heute in einer Woche.«

»Freu dich doch! Ich finde, es ist eine sehr nette Geste von ihm, dir den Scheck persönlich bei einem schönen Abendessen überreichen zu wollen.«

»Dieser alte Schwerenöter hat doch nur eine Gelegenheit gesucht, mal wieder mit einer Frau auszugehen.«

»So reich, wie der ist, würde er auch andere finden.«

»Aber nicht in meinem Alter. Der ist doch mindestens schon neunzig.«

»Na ja, so jung bist du nun auch nicht mehr.« Rosa warf kokett den Kopf in den Nacken. »Ich zum Beispiel würde sofort mit ihm essen gehen.«

»Du würdest auch altersmäßig besser passen«, entgegnete Evelyne leicht schnippisch. »Übrigens, du kannst nächsten Montagabend gerne für mich einspringen. Er hat einen Tisch im Burghotel bestellt. Da bist du doch früher so gerne mit Papa hingegangen.«

»Da würde ich tatsächlich noch einmal gerne hin, aber so was würde sich nicht gehören. Einfach für eine andere Frau einspringen …« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich mag ihn einfach nicht, und ich bereue es, dass ich zugesagt habe«, sagte Evelyne entschlossen. »Soll er mir doch mein Preisgeld auf mein Konto überweisen, und ich leite es dann weiter an die Wiederaufbaugesellschaft der Ahr. Punkt.«

Voller Unverständnis sah ihre Mutter sie an. »Dieser Mann hat bei dem Spendenlauf zweitausend Euro auf dich gesetzt! Der muss von deiner Fitness sehr überzeugt gewesen sein.«

Evelyne reckte das Kinn. »Ich bin ja auch noch sehr fit – für mein Alter«, fügte sie mit süffisantem Lächeln hinzu.

Rosa wedelte mit der beringten Hand durch die Morgenluft. »Wie dem auch sei. Für dieses Vertrauen kannst du wenigstens mit ihm essen gehen. Das ist auch mal wieder eine Gelegenheit, dich hübsch zu machen.«

»Das fehlte noch!« Evelyne pustete den grau melierten Pony ihres exakt geschnittenen Pagenkopfes aus der Stirn. »Er hat darauf bestanden, mir vor dem Lauf meine Nummer mit seinem Firmennamen persönlich am Trikot zu befestigen – wie einem Rennpferd vor dem Start. Ich sag dir, das ist ein Schmecklecker ohnegleichen. Wer weiß, was der sich von diesem Abendessen erhofft.«

Rosa lachte. »Je öller, je döller.«

»Genau. Und deshalb werde ich mich ganz bestimmt nicht wie ein Pfingstross aufzäumen.«

»Du kannst aber auch nicht in Jeans und Sneakers gehen.«

»Das werde ich entscheiden, wenn es so weit ist.«

»Zieh am besten das weiße Etuikleid an. Das ist schlicht und trotzdem elegant«, empfahl ihre Mutter ihr. »Und dazu ein bisschen Lippenstift. Der bringt Farbe ins Gesicht. Ich kann dir einen geben …«

»Mutter, bis nächste Woche fließt noch viel Wasser die Ahr runter.«

»Stimmt. Vielleicht lebt Dr. Groß bis dahin auch längst nicht mehr.«

Evelyne schlug den Blick zum blauen Himmel und stand auf. »Ich fahre jetzt zu Friderike.«

Sie wollte sich schon umdrehen, als ihre Mutter sagte: »Wie wäre es, wenn wir uns in zwei Stunden bei Barbara treffen? Die wohnt doch nur ein paar Hundert Meter entfernt. Dann kannst du uns alles direkt berichten.«

Evelyne zögerte zuerst, willigte dann jedoch ein. »Okay, dann so gegen Mittag bei Barbara. Sagst du ihr und Ingrid Bescheid?«

Rosa strahlte. »Nichts lieber als das.«

2. KAPITEL

Evelyne achtete im Straßenverkehr grundsätzlich darauf, die vorgeschriebene Geschwindigkeit einzuhalten – auch in so ländlichen und wenig befahrenen Gegenden wie der Eifel. Die Dorfstraße durch Himmelrath ließ jedoch ohnehin kein schnelles Fahren zu. Nicht nur, weil sie kurvig und eng war, sondern weil Evelyne immer wieder nach rechts und links grüßen musste. Vor Helgas Lebensmittelladen, der neben einem kleinen Sortiment für den täglichen Bedarf auch über eine Theke mit frischen Brötchen und Eifler Brot verfügte, standen Barbaras Cousinen. Die beiden waren gestenreich mit zusammengesteckten Köpfen ins Gespräch vertieft. Als sie an ihnen vorbeifuhr, winkten sie ihr fröhlich zu. Ein paar Meter weiter stellte Monika Hammes gerade vor ihrer Metzgerei die Tafel mit den Tagesangeboten auf. Monika hob kurz die Hand. Ihre Miene wirkte alles andere als fröhlich. Merkwürdig.

Als Evelyne am Gasthof zum Schwarzen Adler vorbeifuhr, saßen dort bereits der ehemalige Drogist von Himmelrath, der seine Apotheke inzwischen an seine Nichte Jutta abgegeben hatte, mit dem pensionierten Dorfschulrektor Mühe unterm Sonnenschirm beim Frühschoppen zusammen. Beide hatten ein Glas Rotwein vor sich stehen. Evelyne schmunzelte – war sie sich doch sicher, dass sich bei dem schönen Sommerwetter schon bald ein paar weitere pensionierte Herren aus dem Dorf zu den beiden gesellen würden.

Nachdem der Dorfkern hinter ihr lag, wanderten ihre Gedanken zu Hubert Brandt. Mit vielen Stimmen, vor allem weiblichen, und großen Hoffnungen war der clevere Finanzmakler Hubert Brandt aus Adenau vor knapp acht Jahren zum Verbandsbürgermeister gewählt worden. Er hatte viel dafür getan, stets und überall präsent zu sein. Meistens in Begleitung seiner Frau und seines Sohnes. Die drei waren die perfekte Vorzeigefamilie. Ob beim Aufrichten des Maibaumes in Adenau, beim Hahnenköppen, beim traditionellen Himmelrather Waffelfest oder bei Schützen- und Feuerwehrfesten in der Gemeinde – Hubert Brandt war stets tatkräftig dabei, was ihm besonders die Sympathie der traditionsbewussten Bürgerinnen und Bürger eingebracht hatte. Er war attraktiv, beredt, jovial und charmant. Jede Frau, ob jung oder alt, beneidete Friderike um diesen Mann. Seit der Flut jedoch, die das Leben im Ahrtal verändert hatte, war es in der Bevölkerung gegenüber Brandt zu einem Stimmungswechsel gekommen. Zur Verbandsgemeinde Adenau gehörten auch ein paar kleine Ortschaften, die von der Katastrophe betroffen waren. Statt sich um deren raschen Wiederaufbau zu kümmern, widmete sich Brandt lieber dem Ausbau der Windenergie. Um sich bei der Landesregierung, die eine Windenergiequote vorschrieb, beliebt zu machen – so munkelten viele. Denn Brandt machte keinen Hehl daraus, einen Sitz im Landesministerium in Mainz anzustreben. Ob sein Mörder vielleicht bei den von der Flut Betroffenen zu suchen ist?, ging es Evelyne durch den Kopf.

Als ihr dieser Gedanke kam, fuhr sie gerade an Barbaras Hof vorbei, der abseits der Straße in den blühenden Wiesen ruhte. Achthundert Meter weiter hatte sie dann auch schon ihr Ziel erreicht. Die Villa der Brandts lag etwas außerhalb von Himmelrath. In seinem mediterranen Stil wirkte der terrakottafarbene Bau wie ein Fremdkörper in der Eifellandschaft. Da das große Grundstück nur spärlich bepflanzt war, entdeckte Evelyne schon von Weitem Friderikes Kleinwagen vor der Doppelgarage neben dem schwarzen Kombi, der ihrem Mann gehört hatte. Ihre Sportfreundin, die sie vor Jahren in einer Yogagruppe kennengelernt hatte und mit der sie seither regelmäßig zum Joggen ging – obwohl Friderike zwanzig Jahre jünger war als sie! –, war also zu Hause.

Evelyne spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Sie war keine schüchterne Person, war es zeitlebens gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, aber dieser Gang machte ihr doch zu schaffen. Friderike lag ihr am Herzen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie die Freundin mit der Situation umgehen würde. Sie rechnete mit dem Schlimmsten. Auch fiel es ihr schwer, in solchen Situationen die richtigen Worte zu finden – emotionale Worte, die ihr grundsätzlich nicht so leicht über die Lippen kamen.

Als sie aus dem Wagen stieg, öffnete sich die weiße Kassettentür, und Friderike trat heraus. Sie trug einen pfirsichfarbenen Hausanzug, der sie noch blasser machte, als sie ohnehin meistens war. Das dünne blonde Haar war im Nacken zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst. Als sie Friderikes rosafarben geschminkte Lippen und die getuschten Wimpern bemerkte, war sie doch überrascht. Friderike schminkte sich nur selten. Unwillkürlich musste sie an den Spruch ihrer Mutter denken, die vor ihrer Geburt Kosmetikerin mit einem eigenen kleinen Salon – dem Schminktöpfchen – in Bonn gewesen war: Ein gepflegtes Äußeres ist wie ein Korsett, das einen vor dem inneren Zusammenbruch bewahren kann. Ein Spruch, den sie selbst für absoluten Blödsinn hielt.

»Hallo, ich habe ein Auto kommen hören«, begrüßte Friderike sie. Ihre Stimme war weich und leise, was sie allen Menschen auf Anhieb sympathisch machte.

»Komme ich ungelegen?« Evelyne bemühte sich, ihrer sonst eher kräftigen Stimme auch einen weichen Klang zu geben.

»Nein, komm rein.« Friderike trat zur Seite und gab den Weg frei in die Eingangshalle.

So häufig sie sich auch zum Laufen trafen, bei den Brandts zu Hause war sie noch nie gewesen. Hubert braucht privat seine Ruhe, hatte die Erklärung stets gelautet. Nun führte die alleinige Hausherrin sie durch eine doppelte Flügeltür aus Glas in ein riesiges Wohnzimmer mit einem Mobiliar aus Acryl, Chrom und schwarzem Leder, das eine sachliche und kühle Atmosphäre schuf. Das konnte unmöglich Friderikes Geschmack sein!

»Wollen wir nach draußen gehen?«, fragte Friderike.

Die Gestaltung der Terrasse nahm den mediterranen Stil der Architektur des Hauses wieder auf. Überall standen terrakottafarbene Gefäße. Die meisten waren leer. Nur in einigen warteten ein paar vom Eifelwind gebeutelte Palmen auf Wasser. Im Swimmingpool trieben eine Luftmatratze, die dringend aufgeblasen werden musste, sowie ein lederner Fußball.

»Wo ist Jan?«, erkundigte sich Evelyne angesichts des Balls. Jan war ein leidenschaftlicher Fußballspieler im Adenauer Jugendverein.

»Bei meiner Schwester in Bonn. Sie hat ihn gestern Nachmittag, nachdem die Kripo weg war, abgeholt. Es sind ja Ferien. Kaffee?« Friderike zeigte auf das Tablett mit den diversen bunten Bechern, der Thermoskanne und der Schale mit Gebäck.

»Gerne. Erwartest du Besuch? Vielleicht passt es jetzt doch nicht so …« Evelyne war verwirrt, was nicht oft vorkam. Das Haus der Brandts, seine Atmosphäre, den großen Garten hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Mehr mit dem Leben und der Wärme einer glücklichen Familie erfüllt.

»Alles gut«, hörte sie ihre Freundin in ihre Gedanken hinein sagen. »Ich dachte, wahrscheinlich schauen heute ein paar Leute aus der Gemeindeverwaltung vorbei. Zum Kondolieren. Inzwischen hat es sich bestimmt herumgesprochen.«

Sie beobachtete, wie Friderike mit ruhiger Hand Kaffee einschenkte. Erstaunlich, wie gelassen sie war! Ihr zart geschnittenes Gesicht zeigte weder Spuren einer durchweinten Nacht noch Trauer oder Verzweiflung. Das konnte nur der Schock sein, der alle Gefühle blockierte. Was auch kein Wunder war. Wie sollte ein Mensch so schnell begreifen, was da so plötzlich in sein Leben hereingebrochen war!

»Wie geht es dir?«, fragte sie vorsichtig, nachdem sie am Kaffee genippt hatte.

Friderike hatte den roten Becher mit beiden Händen so fest umfasst, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich weiß es selbst noch nicht. Ich fühle mich, als hätte ich mit alledem nichts zu tun.«

»Wenn ich dir oder Jan helfen kann, sag es mir.« Ein paar Augenblicke lang hielt Evelyne inne. Sie tat sich schwer mit dieser Situation, die ganz anders war als die, auf die sie sich innerlich eingestellt hatte. Sie hatte eine in Verzweiflung aufgelöste Witwe erwartet. Mit unerwarteten Wendungen konnte sie grundsätzlich nur schlecht umgehen. »Jetzt kommt eine Menge Behördenkram auf dich zu«, sprach sie weiter. »Wenn du möchtest, kann ich dir dabei helfen.«

Friderike nickte mit abwesendem Blick. »Die Leiche muss erst freigegeben werden. Du weißt ja, die Obduktion …«

»Hast du sie identifizieren müssen?«

Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Gott sei Dank nicht. Hannes Neffgen kannte Hubert. Die Kripo wusste also sofort, wer das Opfer war.«

Evelyne räusperte sich entschlossen. »Du wirkst sehr gefasst.«

»Ich habe erst gestern früh bemerkt, dass er in der Nacht von Sonntag auf Montag nicht heimgekommen ist«, erzählte Friderike. »Ich hatte abends eine Schlaftablette genommen. Und dann habe ich sofort die Polizei angerufen.«

Merkte man tatsächlich nach jahrelanger Ehe nicht, wenn der Platz neben einem im Bett leer blieb?, fragte sich Evelyne im Stillen. Okay … Darin hatte sie natürlich keine Erfahrung.

»Dann ist die Kriminalpolizei gekommen. Wegen unserer Alibis. Herr Neffgen war sehr mitfühlend und rücksichtsvoll. Er sagte, dass wohl ein Kampf stattgefunden haben muss. Hubert hatte Blutergüsse wie von kräftigen Hieben am Körper. Und sein Gewehr muss der Mörder mitgenommen haben.« Friderike seufzte, bevor sie fortfuhr: »Der Kommissar hat mich gefragt, ob Hubert irgendwelche Feinde gehabt hat …«

Evelyne wurde hellhörig. »Und? Hatte er?«

»Na ja, sein Verhalten nach der Flut …« Friderike hob die Schultern. »Da gibt’s schon ein paar …« Sie zögerte.

»Wen denn?«, erkundigte sich Evelyne mit schlechtem Gewissen. Eigentlich hatte sie ihre Freundin nicht aushorchen wollen, aber ihre Neugier war jetzt doch plötzlich geweckt.

»Du kennst doch bestimmt den Hoch- und Tiefbauunternehmer Peter Thelen aus Adenau. Der hat auch an der Ausschreibung zum Wiederaufbau des Ahrtals teilgenommen, aber aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht warum, hat Hubert ihm den Zuschlag verweigert – obwohl sie sich von der Jagd kannten. Dadurch ist dem natürlich ein Millionengeschäft entgangen. Vor noch nicht allzu langer Zeit stand er abends hier vor der Tür und hat Hubert beschimpft und gedroht, dass er sich rächen würde. Ich muss allerdings dazusagen, dass Thelen ziemlich betrunken war. Aber, man weiß ja nie …«

»Und das hast du Kommissar Neffgen erzählt?«

»Natürlich!« Friderike sah sie mit großen Augen an.

»Gibt es noch andere, die ein Motiv gehabt haben könnten?«, fragte Evelyne vorsichtig.

Ihre Bekannte massierte sich die Schläfen, während sie zögerlich antwortete: »Ich will natürlich keinen verdächtigen. Das habe ich auch gestern dem Kommissar gesagt. Aber da ist noch Gustav Engels, der Elektriker. Mit dem stand Hubert auch auf Kriegsfuß. Oder besser gesagt, andersherum. Herr Engels hat vor einem Vierteljahr heftige Drohungen gegenüber Hubert ausgestoßen, weil er ein Stück Land für den Bau von Windrädern abgeben sollte.«

»Und wie hat dein Mann darauf reagiert?«

»Er hat gesagt, dass er ihn anzeigen wird, falls er sich das noch einmal erlauben würde. Und danach war auch Ruhe.« Friderike seufzte. »Und da war auch noch die Feindschaft zwischen Hubert und dem Hammes. Aber davon weiß ja jeder hier. Die besteht schon seit fast acht Jahren.«

Evelyne erinnerte sich an den Zwist zwischen Hubert Brandt und dem Metzgermeister, der seinen Höhepunkt vor nur zwei Monaten auf der 1.-Mai-Feier auf dem Buttermarkt in Adenau gefunden hatte. Brandt hatte den Fünfzigjährigen vor allen Leuten runtergeputzt, weil der ihm prophezeit hatte, ihn bei der Bürgermeisterwahl diesen Jahres um den Sieg zu bringen. Plötzlich fiel ihr ein, dass dessen Frau Monika eben, als sie an der Metzgerei vorbeigefahren war, ziemlich besorgt ausgesehen hatte. Ob etwa Hammes …?

Friderike ließ sich zurück in das anthrazitfarbene Kissen sinken. »Aber weißt du … Das alles sind doch eigentlich keine Motive, um jemanden umzubringen.«

»Na ja, wer weiß, was zwischen denen sonst noch passiert ist, von dem dein Mann dir nichts erzählt hat«, mutmaßte Evelyne verunsichert.

»Hubert hat mit mir immer über alles gesprochen.«

Das bezweifelte Evelyne.

»Ein paar Plätzchen?« Friderike zeigte auf die Schale mit dem Buttergebäck.

»Nein, danke. Sag mal, war dein Mann am Sonntagabend eigentlich allein auf Jagd?«

»Er geht eigentlich immer allein jagen. Manchmal geht Jan mit, aber eher selten. Hubert sagt immer, dass er auf der Jagd am besten runterkommen kann. Da kann er keine anderen Menschen um sich vertragen. Nur bei Treibjagden natürlich nicht.«

»Und wer wusste davon, dass er jagen war?«, tastete sich Evelyne vorsichtig weiter vor.

Friderike sah sie irritiert an. »Ich … und Jan natürlich.«

Insgeheim wunderte sich Evelyne, wie leicht ihr all die Fragen über die Lippen gingen. Aber jetzt war es auch genug. Weiteres Nachforschen war ihr peinlich. Sie schwiegen wieder eine Weile, während sie auf die sanften Hügelketten am Horizont blickten. Dabei hatte sie das Gefühl, dass vonseiten ihrer Bekannten irgendetwas Ungesagtes zwischen ihnen stand.

»Da ist noch etwas«, sagte Friderike dann auch schließlich in die Stille hinein. »Ich möchte dir gegenüber offen sein. Falls es doch mal rauskommen sollte, sollst du nicht denken, ich hätte dir was verheimlicht. Der Kripo habe ich das natürlich nicht gesagt. Es hat ja nichts mit dem Mord zu tun«, fügte sie rasch hinzu.

Evelyne fühlte sich wie elektrisiert. Was kam denn jetzt?

»Es geht um Jan.« Friderike zögerte, spielte mit ihren zarten Fingern und schien zu überlegen. Schließlich hob sie den Blick und sah sie mit ihren großen wasserblauen Augen an. »Du bist die Einzige, mit der ich hier überhaupt darüber sprechen kann. Du kennst Jan durch die Nachhilfe und warst jahrzehntelang Lehrerin. Wahrscheinlich hast du beruflich auch schon mit diesem Thema zu tun gehabt. Und ich weiß, dass du das nicht in Himmelrath oder Adenau herumerzählen würdest. Denn dann wäre Huberts Ruf ruiniert. Und das möchte ich nicht.«

Was Evelyne in den nächsten Minuten zu hören bekam, ließ sie erblassen.

3. KAPITEL

Wie benommen saß Evelyne zehn Minuten später hinterm Steuer und fuhr die lange, ungepflegt wirkende Ausfahrt der Villa zur Straße hinunter. Friderike hatte sie, bevor sie aufgebrochen war, das Versprechen gegeben, am nächsten Tag wiederzukommen. Sie war froh, jetzt zu Barbara fahren zu können, um sich das gerade Gehörte mit gutem Gewissen von der Seele reden zu können. Denn weder ihre Freundinnen noch ihre Mutter würden etwas davon weitererzählen. Und womöglich hatte es ja doch etwas mit dem Mord zu tun – entgegen Friderikes Meinung. Doch daran wollte sie eigentlich gar nicht denken.

Kurz hinter dem Ortseingang von Himmelrath lag der Bauernhof der Hofmanns – ein über einhundert Jahre altes Steingebäude mit roten Fensterläden und einer roten, kunstvoll geschreinerten Haustür. Von den Fensterbänken flossen rote und weiße Geranien. Wie ein Schmuckstück ruhte er in den Wiesen, auf denen die schwarz-weiß gefleckten Kühe standen, die Barbara die Milch für die Herstellung ihres Eifler Rohmilchkäses und des cremigen Camemberts gaben.

Während Evelyne über den unbefestigten Weg fuhr, der das Bauernhaus mit der Straße verband, kündeten die beiden Gänse bereits ihr Kommen an. Der feuerrote Fiat ihrer Mutter und Ingrids schwarzes Golf-Cabrio standen schon vor dem Haus. Nur wenige Sekunden später kam Barbara aus der Haustür. Ihr rundes Gesicht strahlte mit der Sonne um die Wette. »Komm rein, jetzt sind wir vollzählig.«

Sie betraten das Untergeschoss, das mit seinen Holzbalken, niedrigen Decken und dem riesigen Kachelofen Heimeligkeit und Geborgenheit vermittelte.

»Geh schon mal nach draußen«, sagte Barbara, »ich brühe noch mal frischen Kaffee auf.«

Evelyne trat durch die Flügeltür auf den gepflasterten Innenhof. Ihre Mutter und Ingrid saßen unter dem beigen Marktschirm. Auf dem Holztisch standen drei leere Piccolos und drei Sektgläser, die Evelyne geflissentlich übersah. Auch hier rankten üppig blühende Geranien von den Fensterbänken. In der warmen, flirrenden Luft mischte sich der Geruch von warmer Milch und Kuhmist mit dem süßen Duft der Phlox-, Rittersporn- und Sonnenhutpflanzen, die in großen Steinguttöpfen den Innenhof zum Sommerparadies machten. Eigentlich war das Anwesen, das Barbaras Mann mit in die Ehe gebracht hatte, viel zu groß für die beiden, nachdem die Kinder aus dem Haus waren.

»Und? Wie war’s?« Rosa und Ingrid sahen sie erwartungsvoll an.

Im nächsten Moment kam Barbara mit einem Tablett mit Kaffee und selbst gebackenem Kirschkuchen aus der Küche.

»Hast du gebacken?«, wunderte sich Evelyne, während sie sich an den Tisch setzte.

»Ich backe doch ständig.« Ihre Freundin lachte. »Matthias und die Kleinen lieben Süßes.«

»Wo ist dein Mann überhaupt?«

»Mit unserem Sohn in Aachen auf einer Rinderauktion.« Barbara ließ sich in den Terrassensessel fallen. »Erzähl! Wie geht es Friderike?«

Evelyne musste seufzen. »Ich glaube, die steht noch unter Schock. Sie ist völlig gefasst, völlig normal. So, als wäre nichts geschehen. Sie war sogar geschminkt.«

Rosa nickte wissend. »Der Tod eines Partners ist ein Lebenseinschnitt. Danach verändern sich viele.«

Verständnislos schüttelte Evelyne den Kopf. »Aber doch nicht schon am zweiten Tag. Und schon gar nicht nach einem Mord! So was sind doch lange Prozesse.«

Ingrid hob die Schultern. »Die Menschen reagieren halt unterschiedlich auf Freude oder Leid.«

Evelyne half Barbara, Kuchen und Kaffee zu verteilen. Als alle versorgt waren, forderte Rosa sie ungeduldig auf: »Jetzt erzähl mal, Kind! Und zwar ganz genau, lass kein Detail aus. Jede kleine Beobachtung kann zum großen Durchbruch einer Ermittlungsarbeit führen«, fügte sie mit sachkundiger Miene hinzu.

Wie es ihre Art war, rückte Evelyne ohne Umschweife mit dem Wichtigsten heraus. »Also – hinter den Kulissen der Vorzeigefamilie Brandt sah es in Wirklichkeit ganz anders aus, als alle gedacht haben. Brandt ist seinem Sohn gegenüber einige Male gewalttätig geworden. Besonders in den letzten Monaten.«

»O nein!« Ingrid fasste sich ans Herz.

Rosa starrte sie nur fassungslos an.

»Na ja, Streitereien kommen doch überall mal vor, wenn man Kinder hat. Besonders in der Pubertät«, meinte Barbara abmildernd.

»Barbara, ich rede hier nicht von Streitereien, sondern von Gewalt an Kindern«, erwiderte Evelyne scharf.

»Und was haben wir uns darunter vorzustellen?«, erkundigte sich ihre Mutter sachlich.

»Wenn Brandt gestresst war, hat er Jan verprügelt. Und zwar so, dass es Spuren hinterlassen hat.« Evelyne merkte, wie sich ihr Hals zusammenzog. Sie klopfte sich auf die Brust, auf das dunkelblaue Poloshirt. »Mir sind diese Spuren – blaue Flecken und Blutergüsse – sogar einmal während der Nachhilfestunde aufgefallen. Aber Jan hat gesagt, die kämen vom Fußballspielen. Und ich habe keinen Verdacht geschöpft! Nie hätte ich gedacht …« Sie pustete sich den Pony aus der Stirn, bevor sie mit Grabesstimme hinzufügte: »Das kann ich mir nicht verzeihen. Obwohl mir das Thema Gewalt an Kindern durch die Schule nicht fremd ist, wäre ich bei Hubert Brandt niemals darauf gekommen und …« Mitten im Satz brach sie ab. Sie spürte, wie ihr Puls raste.

»Und Friderike?«, fragte Ingrid sichtlich betroffen.

»Die hat versucht, einzugreifen, aber wir kennen sie ja. Sie hat sich nie gegen diesen Typen durchsetzen können. Brandt hat es im Nachhinein angeblich auch immer leidgetan. Das typische Muster. Dann hat er sich besonders um Jan bemüht. Sie haben Fußball gespielt, er hat seinen Sohn zum Schießstand mitgenommen oder zur Jagd, und alles schien wieder gut zu werden, bis dann erneut alles aus dem Ruder geriet.«

Barbara war unter ihrer frischen Hautfarbe ganz blass geworden und schwieg.

Rosa sah Evelyne forschend an. »Und du glaubst jetzt …?«

»Was soll ich jetzt glauben?«, fragte Evelyne gereizt.

»Dass Friderike vielleicht die Täterin ist.«

»Ich glaube gar nichts. Ich bin noch viel zu betroffen und entsetzt über meine Ignoranz, als dass ich schon logische Schlüsse ziehen könnte.«

»Könnte Jan womöglich seinen Vater umgebracht haben?«, fragte Ingrid mit großen Augen in die Runde.

»Vielleicht war es eine Gemeinschaftstat«, erwog Barbara.

»Jetzt macht aber mal einen Punkt«, empörte sich Evelyne. »Was sollen denn jetzt solche Spekulationen? Außerdem haben Friderike und Jan ein Alibi. Die waren beide am Sonntagabend zu Hause. Das haben sie der Polizei bestätigt, wie mir Friderike gesagt hat.«

Ihre Mutter hob die exakt nachgezogenen Brauen. »Vielleicht schützen sie sich gegenseitig. Sie haben beide ein Motiv. Und mit der Frage nach dem Motiv fängt jede Ermittlung an.«

»Mutter …!«

»Wer wusste denn eigentlich noch davon?«, erkundigte sich Barbara nun.

»Laut Friderike nur ihr Vater. Aber der lebt in Mainz. Sie stammt ja von dort. Friderikes Mutter ist vor drei Jahren gestorben.«

»Vielleicht Jans Großvater …«, mutmaßte Ingrid vorsichtig. »Der hätte dann auch ein Motiv. Nämlich, seine Tochter und seinen Enkel zu schützen.«

Die drei anderen schwiegen betroffen.

Ingrid wandte sich an Barbara. »Müssen wir Hannes nicht darüber unterrichten? Was meinst du?«

»Wir erzählen zurzeit niemandem etwas davon«, ergriff Evelyne energisch das Wort, woraufhin ihre Mutter ihr nur einen erstaunten Blick zuwarf.

Eine Weile war es in dem Innenhof so still wie in der Kirche. Das Summen und Brummen der Bienen und Insekten, die eilfertig von Blüte zu Blüte flogen, war das einzige Geräusch, das zu hören war.

»Warum hat Friderike dir das überhaupt erzählt?«, fragte Rosa schließlich.

»Keine Ahnung. Vielleicht wollte sie es sich einfach von der Seele reden. Vermutlich hat sie im Nachhinein ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht entschlossener eingeschritten ist. Außerdem ist die ganze Situation total belastend für sie, und sie ist bestimmt am Ende ihrer Kräfte.«

»Dass sie es dir erzählt hat, ist doch ein Beweis dafür, dass sie und Jan nichts mit dem Mord zu tun haben können«, schlussfolgerte Ingrid. »Sonst hätte sie doch wohl eher den Mund gehalten.«

»Stimmt.« Barbara nickte entschlossen.

»Hat Hubert Brandt auch seine Frau verprügelt?«, fragte Rosa.

Evelyne schüttelte den Kopf. »Davon hätte sie mir erzählt.«

Ingrid seufzte, bevor sie sich wieder ihrem Kirschkuchen zuwandte. »Unter jedem Dach ein Ach.«

Rosa tupfte sich mit der geblümten Papierserviette über die Lippen und wandte sich dann Barbara zu. »Hast du eigentlich inzwischen mal mit deinem Bruder über den Fall gesprochen?«

»Heute Morgen. Der geht plötzlich ganz in seiner Arbeit auf und ist entsprechend redselig«, verkündete Barbara vergnügt. »Also … Der jetzige Stand der Ermittlungen ist folgender: Die Ermittler haben den Tatort sowie Brandts Jeep, die Jagdhütte und den Hochsitz nach möglichen Spuren abgesucht. Nach Fingerabdrücken, Reifen- und Fußspuren und all so was … Die Auswertung durch die KTU wird in ein paar Tagen erwartet. Die KTU …«

»Die Abteilung für kriminalistische Untersuchungen«, belehrte Rosa die anderen.

Barbara nickte. »Genau. Also, die KTU arbeitet auf Hochtouren. Heute ist übrigens die Obduktion. Hannes meint aber, dass dabei nichts Überraschendes mehr zutage kommen wird. Etwa Gift im Körper oder so … Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der Stein die Tatwaffe. Danach wird die Leiche freigegeben.« Mit ungläubigem Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Ich sage euch, Hannes hängt sich richtig in den Fall rein. Er sagt, das sei sein letzter, und jetzt will er mal zeigen, was er draufhat. Was für uns nur von Vorteil sein kann. Das, was er mir erzählt, ist natürlich alles unter dem Mantel höchster Verschwiegenheit«, fügte sie zwinkernd hinzu.

»Friderike hat gesagt, dass Brandt Blutergüsse hatte, wie nach einem Kampf«, erzählte Evelyne den anderen. »Und sein Jagdgewehr hat die Polizei nicht gefunden. Wahrscheinlich hat es der Täter mitgenommen.«

Rosa zog die schwarzen Brauen zusammen. »Vielleicht wegen möglicher Fingerabdrücke? Vielleicht hat der Täter es Brandt aus den Händen gerissen, als der schießen wollte«, murmelte sie vor sich hin. Dann sah sie Barbara an. »Gibt es denn schon Verdächtige?«

»Oh!« Barbara schlug die Hand vor den Mund. »Danach habe ich Hannes gar nicht gefragt«, gestand sie zerknirscht.

Evelyne verdrehte die Augen. Dass man so etwas Wichtiges vergessen konnte! Sie setzte sich aufrecht hin. »Aber dazu kann ich euch was sagen. Friderike hat der Kripo drei mögliche Verdächtige genannt.«

Die drei sahen sie erstaunt an. »Und wen?«, wollte Rosa wissen.

»Elektriker Engels, Metzgermeister Hammes und den Hoch- und Tiefbauunternehmer Thelen. Alle drei waren Brandts Erzfeinde.«

Ingrid blinzelte verwirrt. »Engels?«, fragte sie erstaunt. Dabei glitt ihre Hand fahrig über die Rüschen ihrer cremefarbenen Seidenbluse, deren fließende Qualität ihren nicht gerade kleinen Busen betonte.

»Engels hat Brandt bedroht, weil dieser ihm Land wegnehmen wollte wegen der Windräder.«

Ingrid räusperte sich. »Ich kenne Gustav Engels. Er ist ein langjähriger Bekannter meines Ex. Der kann es auf keinen Fall gewesen sein«, fügte sie mit einer Entschlossenheit hinzu, die man sonst nicht von ihr kannte.

Evelyne zuckte mit den Schultern. »Das wird sich rausstellen. Wenn er ein Alibi hat …«

Ihre Freundin biss sich auf die Lippe. »Und wenn nicht?«

»Das wäre schlecht für ihn«, erwiderte Rosa trocken. »Ein Alibi ist das A und O, um die Unschuld eines Tatverdächtigen zu beweisen.«

Evelyne bemerkte, wie betroffen Ingrid plötzlich war. Aber so war sie schon immer gewesen – sehr empathisch und etwas nah am Wasser gebaut.

»Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt mal zum Tatort fahren und uns dort umsehen«, schlug Barbara vor. »Die Jagdhütte ist doch ganz in der Nähe. Und jetzt sind wir gerade alle zusammen.«

»Was soll denn das bringen?«, fragte Evelyne unwirsch.

»Der Tatort steht immer im Mittelpunkt der Ermittlungen«, dozierte ihre Mutter. »Hier wurde die Tat begangen. Hier finden sich die entscheidenden Spuren.«

»Die Kripo hat dort doch schon längst alle Spuren aufgenommen«, widersprach ihre Tochter ihr kopfschüttelnd.

»Frauenaugen sehen anders«, konterte Rosa knapp und stand auf.

4. KAPITEL

Die Fahrt zur Jagdhütte dauerte nur acht Minuten. In Barbaras großem Defender bogen sie hinter Himmelrath in Richtung Blankenheim ab. Evelyne kannte den Weg. Im vergangenen Herbst hatte Friderike dort mit zwölf Jungen Jans dreizehnten Geburtstag gefeiert. Bei Lagerfeuerromantik, mit Schnitzeljagd und Zelten im Wald. Evelyne hatte ihre Freundin bei der Organisation und der Betreuung der Jugendlichen unterstützt.

Die Hütte lag auf einer Lichtung an einem kleinen, kreisrunden See. Vereinzelte Basaltbrocken, die sich in dem dichten Schilfgürtel versteckten, erzählten davon, dass auch dieser See – genauso wie die großen Maare der Eifel – einmal vor Jahrtausenden durch den Ausbruch eines Vulkans entstanden war. Die Mittagssonne malte silberne Streifen auf den blaugrünen Spiegel. Über ihm spielten bunt schillernde Libellen, die wie pastellfarbene Edelsteine mit Flügeln aussahen. Die Holzhütte, von deren Terrasse ein Steg hinaus aufs Wasser führte, duckte sich unter dem Blätterdach einer alten Rotbuche. Am gegenüberliegenden Ufer stand ein neu gezimmerter Hochsitz.

Barbara parkte den Defender vor dem rot-weißen Plastikband, der Absperrung zum Tatort. Sie stiegen aus. Die warme Luft roch nach dem Harz, das die Mittagssonne aus den Stämmen der Fichten trieb. Eine sakrale Stille hing über der Lichtung, die die vier schweigen ließ.

»Los geht’s«, sagte Rosa schließlich entschlossen.

Ingrid band sich den lichtblauen Seidenschal, der locker um ihren Hals gelegen hatte, um den Kopf und setzte die Sonnenbrille auf.

Auf Rosas und Barbaras verblüfften Blick hin erklärte sie todernst: »Schließlich ermitteln wir hier undercover.«

Evelyne unterdrückte ein Lachen, ihre Mutter und Barbara schüttelten nur verständnislos den Kopf. Aber Ingrid war eben für jeden Anlass passend ausgestattet.

»Also – da hinten hat er gelegen«, sagte Rosa mit unterdrückter Stimme und zeigte auf die aufgesprühte weiße Farbe, die die Umrisse des Opfers nachzeichnete.

»Und das in dieser Idylle«, flüsterte Ingrid.

»Kommt! Lasst uns mal sehen, ob wir noch was finden«, schlug Rosa resolut vor. Ohne lange zu fackeln, hob sie das Absperrband hoch und schlüpfte mit einer für ihr Alter bewundernswerten Wendigkeit darunter hinweg.

»Mutter!«, rief Evelyne entsetzt aus. »Das ist ein Tatort! Den dürfen wir nicht betreten.«

»Papperlapapp!«, rief ihre Mutter. »Hier sind in den vergangenen Stunden bestimmt auch schon andere Leute gewesen. Dort hinten geht der Eifelwanderweg vorbei. Außerdem sieht uns doch niemand. Oder seht ihr irgendjemanden?«

Barbara und Ingrid schauten sich gleichzeitig um. Tatsächlich waren sie ganz allein auf weiter Flur, was Evelyne schon fast ein bisschen unheimlich vorkam. So nah am Ort eines Verbrechens, dessen Täter noch frei herumlief … Ihre beiden Freundinnen schienen da weniger empfindlich zu sein. Wie Rosa schlüpften sie unter der Absperrung hindurch. Doch um die Umrisse auf der Erde machten sie einen großen Bogen.

Welch ein Quatsch, dachte Evelyne mit aufsteigendem Ärger. Als wenn wir jetzt das entscheidende Indiz zur Lösung des Falles fänden! Sie kam sich plötzlich so albern vor, dass sie mit der festen Absicht, sich nicht länger auf diese Scharade einzulassen, zum Wagen zurückging. Schließlich hatte sie zwanzig Jahre der Realschule in Adenau vorgestanden und war eine Respektsperson gewesen! Und jetzt sollte sie hier auf der Erde herumkriechen und Detektiv spielen? Und das in ihrem Alter? Lächerlich!

Sie setzte sich auf den langen Baumstamm, neben dem Barbara geparkt hatte. Mit aufgewühltem Gemüt sah sie sich um. Über ihr hüpfte ein rotbraunes Eichhörnchen von Ast zu Ast, schielte neugierig mit seinen glänzenden Perlenaugen auf sie herunter. Sein tschuk-tschuk hörte sich an, als würde die kleine Eichkatze über sie lachen. Doch dann durchfuhr sie ein Blitz. Eine Hand! Aus dem Laub des vergangenen Jahres stachen fünf Finger heraus. Ihr stockte das Blut in den Adern. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie auf die braunen Fingerkuppen. Dann jedoch erkannte sie, dass sie aus braunem Leder waren und eingedrückt. Eigentlich konnte keine Hand drinnen stecken. Also nur ein Handschuh? Zwei, drei hämmernde Herzschläge lang zögerte sie noch. Dann nahm sie sich ein Herz, bückte sich und zog das Objekt mit spitzen Fingern aus dem Laub hervor. Tatsächlich ein Männerhandschuh! Er sah nicht so aus, als hätte er seit Herbst hier gelegen. Im Gegenteil. Er wirkte sauber und ziemlich neu. Wie kam er hierhin? Wem gehörte er? Warum hatte die Kripo ihn nicht gefunden? Waren die Ermittler im wirklichen Leben gar nicht so gründlich wie im Fernsehen?

Sie schaute hinüber zu den anderen. Ingrid lehnte in ihrem hellen Rock, den Pumps und der Seidenbluse an der Hüttenwand, die Sonnenbrille auf der Nase. Sie schien über etwas nachzudenken. Barbara und ihre Mutter krochen noch im Unterholz herum.

Sie stand auf, den Handschuh wie eine Trophäe in die Luft haltend. »Ich habe was gefunden!«

Rosa und Barbara tauchten sofort aus dem Gebüsch auf. Ingrid drehte sich zu ihr um und nahm die Brille ab.

»Wo hast du denn den gefunden?«, fragte Rosa überrascht, während sie auf sie zukam. Die beiden anderen folgten ihr auf dem Fuß.

»Reiner Zufall«, erwiderte Evelyne.

Ihre Mutter nickte wissend. »Es sind oft völlig unerwartete Dinge, mit denen man einen Verbrecher zur Strecke bringt. Aber wo ist der andere?«

Ein paar Minuten später stellten sie fest, dass es weit und breit keinen zweiten Handschuh gab.

»Wem mag er wohl gehören?«, fragte Ingrid.

»Friderike hat irgendwann mal erwähnt, dass ihr Mann immer mit Handschuhen geschossen hat, besonders im Sommer, wenn die Hände verschwitzt sind«, erinnerte sich Evelyne.

»Dann zeig ihr morgen doch einfach den Handschuh. Wenn er Brandt gehört, kann er nicht vom Täter sein«, schlug Barbara vor.

»Der muss von der Spurensicherung untersucht werden«, erwiderte Evelyne streng. »Da könnten DNA-Spuren des Täters dran sein – auch wenn Brandt ihn getragen hat.«

»Vielleicht hat ihn auch ein Wanderer hier verloren«, meinte Ingrid.

»Wir sollten die Sache mit gesundem Menschenverstand angehen«, schaltete sich Rosa ein. »Wenn er Brandt gehört, kommt er erst mal zu uns in die Asservatenkammer. Das ist ein Raum, in dem alle Indizien aufbewahrt werden. Warum die Kripo einschalten und ihr Arbeit machen, wenn es nicht nötig ist? Wir können immer noch alle unsere Ergebnisse an Hannes weiterreichen.«

»Mutter, das ist Zurückhalten von Beweismaterial. Dafür können wir wegen Strafvereitelung belangt werden.«

Rosa schnaubte durch die Nase. »Nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht wird.«

»Und wie geht’s jetzt weiter?«, erkundigte sich Ingrid.

»Ich schlage vor, wir treffen uns morgen Abend, nachdem Evelyne nochmals mit Friderike gesprochen hat. Dann hat Evelyne bestimmt neue Fakten«, sagte Barbara.

»Und wo?«, wollte Ingrid wissen.

»Am besten bei uns«, meinte Rosa. »Ich koche uns Spaghetti al ragù nach dem Rezept meiner nonna Anna.«

»Da sagen wir nicht Nein«, erwiderten Ingrid und Barbara gleichzeitig.

5. KAPITEL

Nach dem Frühstück am Mittwochmorgen, das Mutter und Tochter bei schönem Wetter wie immer auf der Terrasse eingenommen hatten, machte sich Evelyne auf, um zu Friderike zu fahren. Im Flur steckte sie den Handschuh in ihren Stoffbeutel, auf dem in bunten Lettern Abschluss 2020 Realschule Adenau stand – was ihre Mutter mit wohlwollendem Blick kommentierte.

»Wenn sie ihn als Handschuh ihres Mannes identifiziert, kann er nicht vom Mörder sein«, betonte Rosa nochmals. »Dann müssen wir ihn gar nicht erst an die Kripo weiterleiten. Die wollen wir doch erst mal außen vor halten und auf eigene Faust recherchieren.«

Evelyne nickte nur, obwohl ihr bei der ganzen Sache immer mulmiger wurde. Niemals war sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und jetzt bekam sie langsam das Gefühl, dass sich das, wenn sie sich weiterhin in diesen Mordfall einmischte, bald ändern könnte.

»Wir sehen uns dann heute am Spätnachmittag«, fuhr ihre dreiundachtzigjährige Mutter fort. »Ich fahre gleich nach Bonn. Gegen siebzehn Uhr bin ich zurück. Wenn du wieder da bist, kannst du schon mal die Bolognesesoße aus dem Kühler nehmen. Dann müssen wir nur noch die Nudeln kochen, wenn die beiden kommen.«

Evelyne stieg gerade in ihren alten Volvo V70, als ihr Handy klingelte.

»Ich bin’s – Friderike. Ich bin gerade in Adenau und dachte, dass wir uns doch auch hier irgendwo treffen könnten.«

Sie schlug ein Bistro auf der Strecke zum Nürburgring vor, das während der Woche nur wenig frequentiert war. Klar, die meisten Leute in der Umgebung kannten sie. Bei den öffentlichen Auftritten ihres Mannes war sie stets an seiner Seite gewesen, ging Evelyne durch den Kopf, als sie in den Wagen stieg. Die Traumfamilie schlechthin. Sie seufzte in sich hinein. Das Leben war doch eine einzige Täuschung. Man konnte nichts und niemandem trauen. Davon konnte auch sie ein Lied singen. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Daran wollte sie eigentlich überhaupt nicht mehr denken. Punkt.

Durch die Wiesen, die Löwenzahn, Glockenblumen und Wiesenschaumkraut in ein einziges Blumenmeer verwandelten, fuhr Evelyne von ihrem Elternhaus hinunter ins Dorf. Als sie an der St.-Donatus-Kirche vorbeikam, bepflanzte Lena, eine ehemalige Schülerin von ihr, gerade die beiden Blumenkübel neben dem Eingang. Als die junge Frau ihren Wagen hörte, drehte sie sich um und winkte ihr zu. Kurz vor dem Ortsausgang in Richtung Adenau kam ihr der Backes-Karl in seinem Postauto entgegen. Er blinkte auf und hob die Hand. Sie grüßte zurück und schmunzelte vor sich hin. Vom Backes-Karl erzählte man sich im Dorf hinter vorgehaltener Hand, dass er nicht nur die Post ausbrachte, sondern bei der einen oder anderen Hausfrau auch mal ein Schäferstündchen verbrachte.

Hinter Himmelrath ging die Fahrt durch einen dichten Buchenwald bergab. Die Sonnenstrahlen, die durch das dichte Geäst schienen, malten ein Muster von Licht und Schatten auf den Asphalt. An dieser kurvenreichen Strecke standen rechts und links immer wieder Wegkreuze aus dunklem Basalt. Eines dieser Kreuze hatte sie vor Jahren mit einer ihrer Klassen hier aufgestellt. Auf die Rückseite hatten die Kinder ihre Namen eingeritzt, und Pfarrer Heidenreich hatte es gesegnet. In Erinnerung daran lächelte Evelyne versonnen vor sich hin.

Nach ein paar Hundert Metern kam sie unten in Adenau an. Im Kreisverkehr bog sie rechts ab in Richtung Nürburgring. Adenau, ein lang gestreckter Ort mit Kleinstadtflair, war der Verwaltungssitz der Verbandsgemeinde. Hier hatte bis vor drei Tagen noch Hubert Brandt residiert. Kaum zu glauben, dass er jetzt tot war!

Evelyne mochte den Ort mit seinen schmucken alten Fachwerkhäusern aus dem 17. Jahrhundert. Jahrzehntelang hatte sie hier gearbeitet. Auf der Durchgangsstraße mit ihren Geschäften, Boutiquen und Lokalen herrschte schon reger Betrieb. Unter einem der riesigen Sonnenschirme auf dem Marktplatz entdeckte sie zwei Mütter ihrer ehemaligen Schüler, die ein Gläschen Ahrwein vor sich stehen hatten. Eine von ihnen winkte ihr zu, und sie winkte herzlich zurück. Auch Luise, die Blumenfrau, die vor ihrem Laden gerade blaue und weiße Hortensien arrangierte, hob die Hand, als sie langsam an ihr vorbeifuhr. Bei dem schönen Sommerwetter waren an diesem Morgen auch schon viele Touristen unterwegs, die mit Rucksäcken und in Wanderstiefeln von hier aus in die waldreiche Umgebung starteten.

Evelyne ließ den Buttermarkt mit der Bronzeplastik der Buttermarktfrau und der Kapelle rechter Hand liegen und fuhr in Richtung Nürburgring weiter. Kurz hinter der Nordschleife gab es ein Bistro, das zu Rennzeiten sehr überlaufen war. Doch an diesem Vormittag stand nur Friderikes blauer Fiesta auf dem Parkplatz. Sie stellte sich daneben und stieg aus. Die Terrasse des kleinen Lokals lag im Schatten, und es wehte ein belebter, warmer Südwind, wie oft hier oben nahe der Hohen Acht. Sie schlüpfte in ihre Strickjacke, die sie stets im Auto liegen hatte, und ging auf ihre Freundin zu.

Friderike trug Schwarz. Hose, Ballerinas und eine Strickjacke, die sie sich über die weiße, ärmellose Bluse gelegt hatte. Die Trauerfarbe gab ihrer Blässe etwas Dramatisches. Aber auch heute hatte sie sich wieder dezent geschminkt.

»Wartest du schon lange?«, begrüßte Evelyne sie, wobei sie kurz mit liebevoller Geste ihre Hand auf Friderikes Arm legte. Dann setzte sie sich ihr gegenüber und bestellte ein Mineralwasser bei der Kellnerin, die wie aus dem Nichts viel zu schnell neben ihr auftauchte.

»Erst ein paar Minuten«, erwiderte Friderike mit mattem Lächeln. »Ich war heute Morgen schon ganz früh beim Bestattungsinstitut. Huberts Leiche ist gestern freigegeben worden.«

»Weißt du schon, wann die Beerdigung ist?«

»Nächsten Dienstag.«

»Wird er hier begraben?«

»Klar. Er stammt doch aus Adenau. Seine Familie liegt auch hier.« Friderike seufzte sichtlich erleichtert auf. »Die kümmern sich um alles. Die regeln auch alle Formalitäten bei den Behörden. Damit hatte ich gar nicht gerechnet.«

»Bei meinem Vater war es damals genauso«, antwortete Evelyne und verbot sich, einen weiteren Gedanken daran zuzulassen. Selbst nach zwölf Jahren erfüllte sein Tod sie noch mit Trauer.

»Ich habe einen Text für die Annoncen in der Zeitung und für die Trauerkarten ausgesucht«, unterbrach ihre Bekannte ihre schweren Gedanken. »Jetzt muss ich nur noch alle Adressen raussuchen und denen geben.«

»Wenn du möchtest, können wir die Liste gemeinsam erstellen«, bot sich Evelyne an.

»Das nehme ich gerne an.« Friderike lächelte ihr dankbar zu. »Ich bin froh, dass Jan erst mal bei Ulrike in Bonn ist«, fuhr sie fort. »Alles, was gerade passiert, dreht sich nur um dieses Unglück. Die vielen Telefonate … Wahrscheinlich wird auch die Kripo noch mal kommen. So sieht man’s ja immer im Fernsehen. Das alles würde ihn nur noch mehr belasten. Er hat sehr an Hubert gehangen. Trotz allem.« Mit bebender Hand nahm sie eine Schachtel Zigaretten aus der Handtasche, die neben ihrer Kaffeetasse stand.

»Du rauchst wieder?«, fragte Evelyne verblüfft. Sogleich jedoch merkte sie, dass sie gerade wieder einmal wie die maßregelnde Lehrerin geklungen hatte, die sie einst gewesen war. Schnell schickte sie hinterher: »Das kann ich sogar verstehen – in deiner Situation. Da macht man vieles, was man sonst nicht tun würde.«

»Ich rauche schon seit einiger Zeit wieder«, gestand ihr Friderike gelassen. »Natürlich nicht beim Sport oder auch nicht direkt danach. Deshalb hast du es bisher nicht bemerkt. Auch Hubert hat es nicht gutgeheißen.«

»Und du hast es trotzdem gemacht?«, kam es Evelyne ungläubig über die Lippen.

»Wenn er nicht da war. Und dann auch nur draußen.«

Wahrscheinlich macht sie tatsächlich eine Wandlung durch, sagte Evelyne sich. Die jedoch musste, wie sie gerade gehört hatte, schon vor der Ermordung ihres Mannes ihren Anfang genommen haben.

Die Kellnerin brachte das Wasser. Gleichzeitig kam wieder ein Windzug auf, der nicht nur die Bierdeckel vom Tisch wehte, sondern auch Friderike die Strickjacke von der rechten Schulter. Bevor Friderike sie wieder richten konnte, entdeckte Evelynes scharfes Auge die Verletzung – einen handtellergroßen blau-roten Fleck am Oberarm, der geblutet hatte. Die Narbe war noch frisch.

Der Anblick ließ Evelyne den Atem stocken. Friderike bemühte sich, eiligst mit dem Arm in den Jackenärmel zu schlüpfen, verhedderte sich jedoch und ließ schließlich unverrichteter Dinge Arme, Schultern und Kopf sinken.

»Dein Mann?«, fragte Evelyne leise, nachdem sie sich von dem Anblick brutaler Gewalt erholt hatte.

Ihre Freundin schwieg, immer noch mit gesenktem Kopf und der Strickjacke im Schoß.

»Hat Hubert dich auch geschlagen?«, wiederholte Evelyne entsetzt.

Als Friderike immer noch nichts sagte, drängte sie sie: »Sag es mir bitte, falls es so ist …«

Da kam wieder Bewegung in ihre Freundin. Friderike schlüpfte in die Jacke, sah sie an und erwiderte in herausforderndem Ton: »Wenn es so wäre, hätte ich doch ein Motiv, oder?«

»Nein … Ja … So ein Blödsinn …«, stammelte Evelyne und hob die Schultern. »Du hast doch ein Alibi.«

Friderike seufzte und zündete sich endlich die Zigarette an, die sie schon die ganze Zeit zwischen den Fingern gehalten hatte. Nachdem sie den Rauch in die Luft gestoßen hatte, vertraute sie Evelyne mit belegter Stimme an: »Unsere Ehe war schon lange nicht mehr so toll, wie es immer den Anschein gehabt hat. Hubert hat sich durch seinen Ehrgeiz, politisch Karriere machen zu wollen, im Laufe seiner Amtszeit verändert. Wenn ich nicht nach seiner Pfeife getanzt habe, hat er mir mit Scheidung gedroht und mir genüsslich vorgerechnet, dass ich dann zum Sozialfall werden würde.«

Evelyne zog die Brauen hoch, woraufhin Friderike ihr erklärte: »Vor einigen Jahren hat er auf einen Ehevertrag mit Ausschluss eines gegenseitigen Unterhalts bestanden. Unser Haus, das seit einem Jahr schuldenfrei ist, gehörte ihm allein. Im Fall einer Scheidung hätte ich also wieder arbeiten müssen. Doch in meinem ehemaligen Beruf als Laborassistentin kann ich wegen einer Allergie nicht mehr tätig sein.« Sie zog an ihrer Zigarette, stieß den Rauch scharf aus und schwieg, während sie den Rauchwölkchen nachsah, mit denen der Wind sein Spiel trieb.

Evelyne hatte ihr voller Mitgefühl zugehört. Sie wusste, dass Friderike kaum so enge Freundinnen wie sie hatte, denen sie sich anvertrauen konnte.

»Und warum hast du überhaupt in den Ehevertrag eingewilligt?«, fragte sie voller Unverständnis.

»Das weiß ich inzwischen auch nicht mehr. Hubert war dominant, aber er konnte auch sehr charmant sein, und wenn er etwas durchsetzen wollte, bediente er sich all seiner Stärken – wie auch seiner Schwächen.«

»Wozu wohl eindeutig auch dieser Fleck an deinem Arm gehört«, fügte Evelyne trocken hinzu.

Friderike seufzte. »Ich weiß, das kannst du nicht verstehen. Du hast immer auf deinen eigenen Beinen gestanden, hast dich nie von einem Mann abhängig gemacht. Aber so was ist auch nur wenige Male passiert. Und danach hat er es immer sofort bereut und versucht, es mit Geschenken wiedergutzumachen«, verteidigte sie sich selbst und ihren Mann, bevor sie ihre Zigarette mit einer einzigen Bewegung ausdrückte.

»Und wann war das?« Evelyne zeigte auf ihren Oberarm.

Friderike zögerte zuerst, antwortete dann jedoch: »Sonntag, bevor er zur Jagd gefahren ist. Wir hatten uns mal wieder gestritten, weil er Jan einen Loser genannt hatte. Da war Jan Gott sei Dank bei einem Freund. Er ist erst zurückgekommen, als Hubert schon im Auto saß. Die beiden haben dann noch in der Auffahrt miteinander gesprochen. Ich habe sie noch lachen hören.«

Evelyne griff nach dem Wasser und trank ein paar Schlucke. »Weiß da...

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