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Der kleine Strickladen in den Highlands

Schottland im Herbst, ein altes Fotoalbum, Familiengeheimnisse und die große Liebe

Eisige Winde fegen über den Loch Lomond, und die Hügel der Highlands glühen in den Farben des Herbstes. Erst seit Kurzem weiß Maighread, dass in dieser zauberhaften Landschaft ihre Wurzeln liegen, denn hier lebt ihre Großmutter. Vielleicht ist ein Ausflug in die Vergangenheit ihrer Familie genau die Ablenkung, die sie nach der Trennung von ihrem Freund braucht. Allerdings ist Maighreads Großmutter vorerst alles andere als begeistert vom Auftauchen ihrer Enkelin. Aber Maighread hat genug zu tun, schließlich hat der gemütliche Wollladen in dem kleinen Ort am Loch Lomond ihren heimlichen Traum von solch einem Strickparadies geweckt. Vielleicht ist es genau diese Leidenschaft für das Handarbeiten, die Maighread und ihre Großmutter näher zusammenbringt.

»Herzerwärmend und unterhaltsam.« The Knitter


  • Erscheinungstag: 23.11.2021
  • Aus der Serie: Der Kleine Strickladen
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904686
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle Heldinnen,

die den Mut haben,

mit einem Lächeln

den Stürmen zu trotzen.

Und für jene,

die noch auf der Suche sind

nach diesem Mut.

Und von Herzen für Andrea –

die besondere Worte so sehr liebt.

Kapitel 1

Maighread

»Das war schon lange überfällig. Sieh dir nur den alten Kram an. Wie gut, dass du hier bist und mir hilfst, mein Schatz.«

Maighreads Mum Lindsay lächelte ihre Tochter kurz an, wischte sich mit dem Ärmel ihres Karohemds die rotblonden Haare aus der verschwitzten Stirn und betrachtete zufrieden das Chaos um sich herum.

Wie gut, dass du hier bist, der Satz hallte in Maighreads Gedanken nach. Sie schluckte, die Worte schmerzten, rieben wie kratzige Wolle auf ihrer wunden Seele.

Natürlich war ihr klar, dass Lindsay versuchte, sie aufzuheitern und vom Grübeln abzuhalten. Aber an der Situation war nichts Gutes, überhaupt nichts.

Maighread sollte nicht bei ihrer Mum in Kilmarnock sein, sondern in Edinburgh. Sie sollte nicht alte Sachen aussortieren, sondern an Dylans Seite das Leben genießen, mit ihm an neuen umwerfenden Marketingideen tüfteln und ihm zwischendurch den einen oder anderen Kuss entlocken.

Doch ihr altes Leben gab es nicht mehr, stattdessen saß sie hier auf dem Dachboden und atmete den Staub der letzten Jahrzehnte ein, während sie versuchte, Haltung zu bewahren und nicht in das schwarze Loch zu stürzen, das sich so unvermittelt vor ihr aufgetan hatte.

Energisch schluckte Maighread gegen die aufsteigenden Tränen an. Sie hatte die ganze Fahrt von Edinburgh nach Kilmarnock, die letzte Nacht und den halben Vormittag durchgeheult. Das war mehr als die gesamten letzten drei Jahre – mindestens.

Erst als ihre Hündin Molly es nicht mehr ausgehalten und ihr winselnd das Gesicht geleckt hatte, war es Maighread ihrem treuen Seelentier zuliebe gelungen, das Schluchzen zu stoppen.

Es fiel ihr schwer, aber sie kämpfte energisch gegen neue Tränen an. Sie hatte genug geweint.

Ihre Mum hatte recht, wenn sie sagte, Dylan sei diese Tränen nicht wert. Von Lindsays »Sei froh, dass du ihn los bist« war Maighread allerdings noch meilenweit entfernt. Was auch kein Wunder war, denn bis vor zwei Tagen hatte sie glücklich und unbeschwert in dieser Traumblase gelebt, in der Dylan und sie ein verliebtes Pärchen auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft gewesen waren. Dass Dylan längst abgebogen war und eine andere Richtung eingeschlagen hatte, das hatte Maighread nicht einmal im Ansatz gewusst. Wie hatte sie nur so ahnungslos sein können?

Selbst als er mit ernstem Gesicht meinte, er müsse mit ihr sprechen, waren ihre Alarmglocken nicht angesprungen – im Gegenteil. Ein kleiner Teil ihres Herzens hatte sich sogar auf einen Antrag gefasst gemacht. Und dann hatte Dylan ihr die Ungeheuerlichkeit einfach so vor die Füße geschleudert. Er hatte nicht einmal den Versuch unternommen, es ihr schonend beizubringen.

Es tut mir leid, aber meine Gefühle haben sich verändert, ich liebe dich nicht mehr. Ich halte es für besser, wenn wir künftig getrennte Wege gehen.

Und weil es ihm nicht reichte, ihr das Herz aus der Brust zu reißen, hatte er ihr im selben Moment noch ihren Job genommen und sie gebeten, möglichst bald aus seiner Wohnung auszuziehen.

Was für ein Hohn! Sie hatten zwei Jahre zusammengelebt, die Wohnung gemeinsam gestaltet und sich ein Heim geschaffen. Plötzlich war es seine Wohnung.

Nach dieser Offenbarung war Maighread nichts anderes übrig geblieben, als die Koffer zu packen. Verwirrt und eingehüllt in eine Wolke aus Schmerz war sie zu ihrer Mutter geflüchtet.

Maighread stand noch immer unter Schock. Wenn sie wenigstens noch ihren Job hätte. Wenn sie sich in die Arbeit stürzen und sich dadurch ein Stück Normalität erhalten könnte. Der aktuelle Auftrag, an dem sie bis zu ihrem Rauswurf – also genau genommen bis gestern Vormittag – gearbeitet hatte, war so charmant gewesen und forderte so viel Kreativität.

Die Lorbeeren für ihre Ideen würden ab jetzt andere einheimsen. Er hatte es zwar nicht gesagt, aber Maighread war ziemlich sicher, dass Dylan den neuen Auftrag persönlich übernehmen würde. Und die junge Praktikantin durfte ihm garantiert helfen – vermutlich nicht nur dabei.

Während Maighread darüber nachdachte, wie es dazu hatte kommen können, dass sie jetzt mit ihrer Mum hier oben auf dem Dachboden kramte, zog diese weiter Stück um Stück aus den hintersten Winkeln der Dachschräge und sortierte unerbittlich aus. Sie schien wild entschlossen, keinen Karton auf dem anderen zu lassen.

Mottenzerfressene Vorhänge, altes Spielzeug, Bücher, Schallplatten, Gemälde, Kisten mit Unterlagen, die keinen Menschen jemals mehr interessieren würden. Auf diesem Dachboden hatte sich über viele Jahre von Krempel bis Kunst ein schier unüberschaubarer Fundus angesammelt.

Die aufgewirbelten Staubkörnchen flimmerten im schräg durch das Fenster fallenden Licht der Herbstsonne und kitzelten Maighread in der Nase. Sie musste dreimal hintereinander niesen. Nachher würde sie sich erst einmal unter die Dusche stellen, vermutlich waren ihre dunklen Locken inzwischen staubig und grau.

Maighread kannte dieses Prozedere schon. Hin und wieder packte ein Anfall von Arbeitswut ihre ohnehin immer sehr ruhelose Mum, und sie war nicht mehr zu bremsen. Wenn man das Pech hatte, in so einen Wirbel hineinzugeraten, gab es kein Entrinnen.

Ein wehmütiger Gedanke huschte zum Sofa im Wohnzimmer und Maighreads dort liegendem Strickzeug. Diese wunderbare Aran Falklandwolle in tiefen Beerentönen war genau das Richtige für die herbstlichen Temperaturen. Maighread hatte die handgefärbte Wolle im Frühjahr beim Yarn Festival in Edinburgh erstanden. Wie glücklich sie damals gewesen war mit ihrer wunderbaren Beute. Ihr Leben war rundherum schön gewesen.

Es machte sie fassungslos, dass sie sich so in Dylan hatte täuschen können. Zumindest meine Wolle ist mir geblieben, dachte Maighread und versuchte, den Kloß der Enttäuschung hinunterzuschlucken, den sie plötzlich im Hals spürte.

So wie Lindsay sich hier austobte, würde der Seelenwärmer, den sie als nächstes Strickprojekt angefangen hatte, noch eine Weile warten müssen. Vermutlich gab ihre Mum erst Ruhe, wenn der Dachboden komplett entrümpelt und entstaubt war. Um sich Lindsays Energie entgegenzustellen, fehlte Maighread die Kraft. Ein leises Seufzen stieg in ihr hoch.

Sie saß vor einer Truhe auf dem Boden, in der etliche Fotoalben lagen. Ihre Mum hatte immer sehr viel fotografiert. Maighread begann, den Truheninhalt zu sichten. Als sie das erste Buch aufschlug, stiegen Erinnerungen an die Oberfläche.

So viele Momente, so viele Erfahrungen waren zwischen diesen zwei Buchdeckeln konserviert. Bild für Bild breitete sich ihr Leben vor Maighread aus.

Sie betrachtete die Babyfotos. Ihre Mum hatte wirklich nichts ausgelassen. Es gab Maighread im Kinderwagen, Maighread auf einem Karussell, Maighread auf dem Töpfchen, mit Brei im Gesicht, weinend, lachend, Zunge rausstreckend. Kindergartenbilder, der erste Schultag, unzählige Bilder von ihren Ausflügen, vor vielen Burgen, am Loch Ness, an der Küste. Sie bräuchte eine ausgeprägt narzisstische Ader, um beim Betrachten nicht irgendwann peinlich berührt zu sein. Immer wieder überblätterte Maighread etliche Seiten.

Wie unbeschwert sie als Kind gewesen war. Das Leben war ihr voller Abenteuer erschienen, und Maighreads Kopf war voller Träume gewesen.

»Was treibst du eigentlich da?«, fragte Lindsay, als sie eine kurze Pause machte. Neugierig ging sie neben Maighread in die Hocke. Minuten später saßen Mutter und Tochter Seite an Seite und blätterten sich durch die Vergangenheit.

»Weißt du noch?«, »Ach, sieh nur, das war toll!«, »Himmel, ist das lange her!«, »Diese Frisur! Schrecklich. Und die Klamotten! Ein Albtraum!«, warfen sie sich die Sätze hin und her.

Sie tauchten in alte Zeiten ein, tauschten ihre Erinnerungen aus und vergaßen, dass sie mitten im Chaos auf dem staubigen Dachboden saßen. In den kupferfarbenen Haaren ihrer Mum hatten sich Spinnweben verfangen und schimmerten silbern.

»Dieser Garten ist wunderschön«, hauchte Maighread. Sie hatte das letzte Album aus der Truhe geholt und bestaunte die Bilder eines romantischen Gartens.

Ein Ehepaar mittleren Alters saß auf einer rosenumrankten Bank. Auf einem anderen Foto harkte die Frau in einem Kräuterbeet und lächelte dabei in die Kamera. Ein merkwürdiges Gefühl ergriff Maighread. Sie fühlte sich mit den zwei Menschen verbunden, sie wirkten sehr vertraut, doch es waren Fremde – zumindest hatte Maighread keine greifbare Erinnerung an sie.

»Wo ist das?«, fragte sie und spürte ein ahnungsvolles Zittern in ihrer Stimme. Eine merkwürdige Unruhe hatte sie erfasst. »Wer sind die beiden?«

Lindsays Gesichtsausdruck änderte sich augenblicklich, ihr Blick wurde finster. Plötzlich wirkte sie verschlossen.

»Genug getrödelt«, murmelte sie und räusperte sich. Sie erhob sich rasch, klopfte sich den Staub von der Hose und begann, energisch weiterzuräumen.

Der Zauber ihrer gemeinsamen Reise durch die Zeit war ebenso verflogen wie die gute Stimmung.

Doch so schnell gab Maighread sich nicht geschlagen.

»Komm schon, Mum. Du musst doch wissen, wen du fotografiert hast. Dieser Garten ist wirklich bezaubernd. Gibt es den noch? Kann man ihn besichtigen? Wir wollten doch schon lange mal wieder gemeinsam auf Gartentour gehen.«

Die Liebe zu Gärten hatte sie von ihrer Mum geerbt. Früher hatten sie oft gemeinsame Gartenreisen durch ganz England unternommen. In den letzten Jahren war Maighread jedoch meist alleine oder mit Dylan auf Streifzug gegangen.

Gerade erst vor ein paar Wochen hatte Maighread wieder einmal den Shepherd House Garden in Inveresk besucht. Die Beete und Wege dort gehörten seit vielen Jahren zu ihren Lieblingsplätzen.

Der Garten auf den Bildern erinnerte sie daran, er schien ähnlich angelegt, wenn auch deutlich kleiner.

»Maighread, was meinst du, könntest du bitte schon mal runtergehen und die Kartoffeln schälen? Ich bekomme langsam Hunger. Ich mache das hier noch fertig und komme nach.«

Der Gesichtsausdruck ihrer Mum war so verschlossen und strahlte eine solche Bitterkeit aus, dass Maighread sich geschlagen gab. Was war das für ein Geheimnis, das ihre Mum so entschieden vor ihr zu verbergen suchte?

Maighread stand auf und klopfte sich, wie eben Lindsay, den Staub von der Hose. Dann beugte sie sich nach vorn und schüttelte ihre dunklen Locken, um zumindest einen Teil des Staubes loszuwerden.

»Okay«, sagte sie. »In einer halben Stunde können wir essen.« Noch während sie die Treppe hinabstieg nahm sie sich vor, beim Essen noch einmal ernsthaft mit ihrer Mutter zu sprechen.

In der Küche wurde sie schwanzwedelnd von Molly begrüßt, die froh war, ihr Frauchen wieder bei sich zu haben.

Kapitel 2

Joshua

Joshua McLoughlin kam frisch geduscht und zufrieden vor sich hin summend aus dem Bad. Die Vorfreude auf den Tag machte ihm gute Laune.

Die Probennahme auf dem Loch Lomond war immer wieder ein Vergnügen. Dieses Mal sicher noch mehr als im Hochsommer. Joshua liebte die Zeit auf dem Wasser außerhalb der Saison ganz besonders, denn dann hatte er den See meist für sich allein.

Barfuß durchquerte er sein Arbeitszimmer, trat an die in die Rundung des Turmzimmers eingelassene Fensterfront und warf einen prüfenden Blick nach draußen.

»Verflixtes Wetter«, murmelte er. Plötzlich war er um einiges weniger gut gelaunt.

Callwell Castle lag nur einen kurzen Spaziergang vom See entfernt. Die dazugehörigen Ländereien erstreckten sich bis zum Fuße des Ben Lomond. Hier gab es Natur satt.

Wenn man Einsamkeit suchte, war man hier genau richtig, und dennoch hatte man auch die Möglichkeit, sich unter Menschen zu mischen. Besonders am Südufer des Lochs war immer etwas los.

Heute allerdings konnte Joshua nichts von all der Schönheit sehen, von der er wusste, dass sie sich zu seinen Füßen ausbreitete. Die Wolken hingen so tief, dass sie die von blühender Heide überzogenen Hügel berührten. Noch nicht einmal die Auffahrt zum Castle, die links unterhalb seines Fensters lag, war durch den Nebel erkennbar.

Joshua seufzte ein wenig frustriert. Er liebte das raue Wetter, und auch der häufige Regen, wie er für Schottland typisch war, störte ihn nicht. Wenn aber so wie heute aus den Regenschauern Sturzbäche wurden und der Wind dafür sorgte, dass das Wasser von allen Seiten gleichzeitig kam, dann verlor selbst er die Lust am Draußensein. Das war kein Regenwetter mehr, es glich eher einer Sturmflut. Noch ein bisschen mehr, und er müsste beginnen, eine Arche zu bauen.

Der Herbst hatte es in diesem Jahr eilig. Es war erst Ende September, und er präsentierte sich schon jetzt von dieser rauen Seite.

Hier drinnen allerdings knisterte das Kaminfeuer und schenkte dem Raum Behaglichkeit, die Hunde lagen dösend davor und ließen sich das Fell wärmen.

Mit Blick auf den Holzstapel neben der Feuerstelle rieb Joshua sich über seinen frisch gestutzten Bart. Er würde noch einmal für Nachschub sorgen müssen, damit sie Callwell Castle warm durch den Winter brachten. Der Vorrat im Schuppen war schnell verbraucht, wenn es so früh mit der Kälte losging.

Die Jogginghose saß locker auf Joshuas Hüfte, und auf seiner nackten Brust schimmerte die Haut noch feucht von der Dusche. Gedankenversunken rubbelte er sich die rotbraunen Haare trocken. Eigentlich müsste er sie mal wieder schneiden lassen, aber mit dem Winter vor der Tür kam ihm die Wolle auf dem Kopf gerade recht. Die Schafe scherte man schließlich auch nicht mehr, wenn es bereits kalt wurde.

Damit argumentierte er auch immer, wenn Eilidh ihm wieder einmal durch die Haare fuhr und dabei ihren tadelnden Blick aufsetzte, als wäre er ein unerzogener Lausbub. Sie hatte nie akzeptiert, dass er kein kleiner Junge mehr war, und Joshua mochte sie viel zu gern, als dass er ihr deshalb böse sein könnte.

Eilidh gehörte quasi zur Familie. Sie war schon vor seiner Geburt Haushälterin auf Callwell Castle gewesen und würde wohl auch immer hierbleiben. Er konnte sich das Haus ohne sie nicht vorstellen. Sie war die gute Seele, die aufpasste, dass ihre beiden Männer nicht verhungerten und »immer frische Unterwäsche in der Schublade hatten«. Letzteres betonte Eilidh bei jeder Gelegenheit mit einem Augenzwinkern. Sie liebte es, Joshua zu necken. Die Schmutzwäsche war zu einem Running Gag zwischen ihnen geworden.

Nach seinem Wiedereinzug hatte Joshua versucht, das Waschen selbst zu übernehmen, wie es sich seiner Meinung nach für einen modernen, unabhängigen Mann gehörte. Aber diese Rechnung hatte er ohne Eilidh gemacht, denn damit hatte er ihr fest verankertes Weltbild ins Wanken gebracht. Das konnte sie nicht dulden. Also hatte sie zum Gegenangriff angesetzt. Gegen ihren schottischen Dickschädel kam selbst der stärkste Highlander nicht an – das hätte Joshua gleich klar sein müssen, er hatte es schließlich als Kind oft genug versucht und war immer mit Bravour gescheitert. So auch dieses Mal.

Nachdem Joshua das erste Mal selbst eine Fuhre Wäsche in die Maschine getan hatte, hatte Eilidh kein Wort mehr mit ihm geredet und ihn bei jeder Gelegenheit mit abfälligem Schnauben gestraft. Es hatte nicht lange gedauert und Joshua hatte seinen Widerstand aufgegeben, sich gefügt und fortan Eilidh seine Wäsche überlassen.

Seither war die Welt in Callwell Castle wieder in Ordnung.

Beim Gedanken daran lachte Joshua in sich hinein.

In der Spiegelung des Fensters fiel ihm auf, wie seine Bauchmuskeln auf jede seiner Bewegungen reagierten. Auch das Muskelspiel von Brust und Oberarmen konnte sich sehen lassen, wie Joshua zufrieden feststellte. Das Leben am Loch Lomond tat ihm ganz offensichtlich gut.

Andere stemmten Gewichte oder rannten mithilfe eines Laufbands stumpfsinnig auf der Stelle – selbst im sonnigen Kalifornien. Einige seiner Kommilitonen hatten sich sogar regelmäßig auf die Sonnenbank gelegt, statt am Strand echte Sonne zu tanken.

Für ihn war das nichts. Je weniger Wände er um sich hatte, desto besser. Bewegung draußen im Wald und auf dem See war seiner Erfahrung nach der beste Trainer. Die Arbeit mit den Schafen tat ihr Übriges. Und alles zusammen kam nicht nur dem Körper zugute, sondern auch der Seele.

Joshua lebte von Herzen gern in Schottland. Während seines Studiums hatte er ein Jahr in Kalifornien verbracht und sich bereits nach kurzer Zeit nach dem schottischen Klima gesehnt. Die ewig gleich laue Luft war ihm auf die Nerven gegangen, die Wärme hatte ihn eingelullt und seinen Verstand träge werden lassen. Da half es nur wenig, dass er das Surfen für sich entdeckt hatte. Selbst die Küste und das kalifornische Wasser konnten nicht mit Schottlands Schönheit und Naturgewalt mithalten. Und so war es keine Frage für ihn gewesen, nach dem Abschluss wieder in seine Heimat zurückzukehren.

Er hatte Glück gehabt. Seine jetzige Arbeit war wie auf ihn zugeschnitten. Die staatliche Forschungsstation war neu gegründet worden, gerade als Joshua nach dem Studium auf Arbeitssuche gewesen war. Als er gehört hatte, worum es bei den Untersuchungen gehen sollte, war er sofort begeistert gewesen. Die Einheit widmete sich der Erforschung der Klimaerwärmung und den Folgen für die Natur in England.

Joshua hatte die Highlands als Bereichsleiter unter sich und betreute selbst die Gegend um den Loch Lomond. Regelmäßige Wasserproben, Temperaturmessungen und organisierte Zählungen von Fisch-, Wildtier- und Pflanzenbeständen gehörten dazu. Genauso wie Naturbeobachtung.

Umweltschutz und die schottischen Seen lagen Joshua von jeher am Herzen, besonders natürlich der Loch Lomond. Er mochte die Forschungsarbeit und konnte sogar den dazu hin und wieder notwendigen Schreibtischzeiten etwas abgewinnen. Aber niemals könnte er sich einen Vollzeitbürojob vorstellen. Er brauchte die Freiheit der Natur. Das alles konnte er nun miteinander verbinden, und er genoss sein Leben genau so, wie es war. Die Entscheidung, nach Schottland zurückzukehren, hatte er noch nicht eine Sekunde bereut.

Außerdem hatte er seine geliebten Schafe, die ihn für vieles entschädigten. Diese Tiere hatte er schon als Junge gemocht. Sein Großvater hatte eine große Herde Scottish Blackface gehalten, und Joshua hatte ihm so oft wie möglich bei der Arbeit geholfen. Heute war er stolz und glücklich, diese Tradition fortführen zu können, auch wenn die Leidenschaft für die Schafzucht eine Generation übersprungen hatte.

John McLoughlin, Joshuas Vater, mochte Lamm allenfalls im Stew oder als Braten mit Kartoffelbrei. Auch zu gegrillten Lammkoteletts sagte er nicht Nein. Nur mit den lebenden Schafen wollte er nichts zu tun haben, und so hatte er nach dem Tod von Joshuas Großvater die Herde kurzerhand an einen Nachbarn verkauft.

Joshua hatte damals nicht zu Hause gelebt und es deshalb nicht verhindern können. Doch nach seiner Rückkehr nach Callwell Castle hatte er ziemlich schnell neue Tiere angeschafft und den Bestand wieder aufgebaut. Dabei hatte er sich nach ausgiebigen Erwägungen für die Rassen Bluefaced Leicester und Wensleydale entschieden und damit den Schwerpunkt auf die Wolle gelegt.

Der Erfolg der letzten Jahre gab ihm recht. Inzwischen waren beide Herden zusammen auf etwa einhundertfünfzig Tiere angewachsen, wobei die Wensleydales sich etwas stärker vermehrten. Es gab häufig Zwillingsgeburten, und die Mütter nahmen ihre Lämmer meist problemlos an; es gab nur wenige Ausfälle.

In diesem Frühjahr hatte es sogar zweimal Drillinge gegeben, was natürlich mehr Aufwand für Joshua bedeutete, da er zufüttern musste, aber selbst das war reibungslos verlaufen. Joshua war sehr zufrieden mit der Entwicklung und hoffte, dass es genauso weiterging.

Er mochte nicht nur die Schafe, sondern alles, was mit ihrer Haltung zusammenhing. Die Gänge über die Weiden, das Treiben der Herde, das Schnauben, Blöken und neugierige Schnuppern.

Schafe waren sehr speziell und eigen. Jedes hatte einen eigenen Charakter, und einige seiner Tiere hatten Komikertalent. Sie brachten Joshua mit ihren Sprüngen und Kapriolen immer zum Lachen. Die Tiere kannten ihn gut, denn er hielt sich so oft wie möglich bei ihnen auf. Sie mochten ihn und vertrauten ihm – darauf war Joshua stolz.

Selbst die schweißtreibende Zeit der Schur, die so mancher Schafzüchter verfluchte, genoss er. Er mochte es, den Tieren so nahe zu sein, fühlte sich mit ihnen verbunden und war dankbar für die Wolle – den Lohn seiner Arbeit.

Die Vliese im Herbst an die British Wool Association zu liefern war für Joshua immer der Höhepunkt des Jahres. Von dort bezogen auch die West Yorkshire Spinners, die er als eine der letzten Kammgarnspinnereien des Landes sehr schätzte, den Großteil ihrer Wolle. Wenn er schließlich die von Eilidh gestrickten Socken über seine Füße streifte, schloss sich der Kreis für Joshua.

Es war ihm wichtig, wertvolle Traditionen zu pflegen – dazu gehörten in England nicht nur Kilt und Dudelsack, sondern eben auch ganz selbstverständlich die Schafzucht und die Wollverarbeitung – und außerdem die Highland Games.

In zwei Wochen würde der alljährliche, typisch schottische Wettstreit stattfinden. Das mentale Kräftemessen mit Eilidh hatte Joshua zwar haushoch verloren, bei den Spielen hatte er seinen Titel aber bereits vor drei Jahren gewonnen und seither verteidigt. Er hatte nicht vor, ihn in diesem Jahr abzugeben. Der Rekord für den Gesamtsieg lag bei fünf Jahren in Folge – den wollte Joshua brechen. Wie gut, dass ihn seine Arbeit, egal ob mit den Tieren, im Wald oder auch auf dem Wasser, fit hielt, ohne dass er sich groß zusätzlich anstrengen musste.

Er schob die Gedanken an das bevorstehende Event beiseite und blickte wieder hinaus in den Regen und Nebel.

Ob sein Vater schon losgefahren war? John McLoughlin hatte am nächsten Tag eine Gastlesung an der Universität in Leeds und war vermutlich schon früh aufgebrochen. Er genoss es, hin und wieder Großstadtluft zu schnuppern und solche Arbeitsreisen mit einem Theaterbesuch oder einem Konzert zu verbinden. Dieses Mal wollte er direkt im Anschluss auch noch mit einem Freund auf Angeltour gehen.

Joshua warf einen sehnsüchtigen Blick zu seinem Buch über die Seen Schottlands und seufzte. Die weich gepolsterte Sitzbank mit offenem Blick auf die Heidelandschaft und mit dem Bücherschrank direkt in Griffweite war schon seit Jahren Joshuas Lieblingsplatz, obwohl Callwell Castle einige schöne Nischen und Ecken zu bieten hatte.

Seine Mutter hatte alles darangesetzt, das Haus zu einem Heim zu machen. Überall sah man ihre Handschrift.

Unwillkürlich musste Joshua lächeln, als er an sie dachte, und hörte das Echo ihres hellen Lachens, das durch das Haus wehte.

Schluss jetzt mit der Tagträumerei, befahl er sich selbst und widerstand schweren Herzens der Versuchung, sich in die Polster fallen zu lassen und noch eine halbe Stunde zu schmökern. Er würde seine Pläne für heute wohl ändern und sich diesen verflixten Anträgen für die neuen Forschungsgelder widmen müssen, die er ohnehin schon etwas zu lange von einer Schreibtischecke zur anderen schob. Wie sehr er doch diesen ganzen bürokratischen Aufwand hasste! Doch er hatte einen Job zu erledigen. Einen wichtigen Job, wie er fand. Also musste er sich auch der unangenehmen Seite stellen und diese verflixten Formulare ausfüllen. Die Natur würde es ihm eines Tages danken.

Die Klimaerwärmung ging auch an Schottland nicht unbemerkt vorüber, und Gewässer hatten schon immer sensibel auf Veränderungen reagiert. Es war wichtig, der Wahrheit ins Auge zu sehen und sich nicht vor den unbequemen Fakten zu verschließen, davon war Joshua überzeugt. Leugnen brachte niemanden weiter.

Seine Border-Collie-Hündin Bonny erhob sich. Nachdem sie gegähnt und sich ausgiebig gestreckt hatte, kam sie zu ihm ans Fenster und rieb ihren Kopf an seinem Bein.

Joshua sah zu ihr hinunter. »Na, ist dir langweilig? Aber draußen ist es ziemlich ungemütlich.« Er tätschelte seiner Hündin den Kopf und gab ihr einen Schubs Richtung Kamin, vor dem Lennox, der Rüde und ältere der beiden Hunde, leise schnarchend immer noch schlief. »Leg dich wieder zu deinem Bruder, ich werde noch ein bisschen Büroarbeit erledigen. Vielleicht hört es ja irgendwann auf zu regnen.«

Seinen Plan, heute mit dem Boot rauszufahren und Proben zu nehmen, hatte er endgültig aufgegeben. Ein paar Tage früher oder später waren für den Zeitplan unerheblich, er hatte in weiser Voraussicht für jede Probenentnahme ein Zeitfenster von zwei Wochen vorgesehen.

Der Loch Lomond konnte bei kräftigem Wind ziemlich unberechenbar werden, und Joshua wollte nicht aus Leichtsinn als Fischfutter enden.

Kapitel 3

Maighread

Der Wind pfiff über die Hügel und trieb dicke Regentropfen gegen die Windschutzscheibe ihres Mini. Gegen die Wucht dieser Wassermassen bestritten die Scheibenwischer einen ebenso eifrigen wie aussichtslosen Kampf.

Als eine Böe den Wagen erfasste und ihn beinahe von der Straße schubste, schrie Maighread erschrocken auf.

Mit aller Kraft stieg sie in die Bremsen, denn ein Eichhörnchen, das ebenfalls versuchte, dem Unwetter zu trotzen, purzelte ein paar Meter vor ihr hilflos über die Straße. Maighread stemmte sich auf das Pedal und gegen das Lenkrad und schickte ein Stoßgebet zum Himmel: Kein Tier totfahren! Bitte, bitte, lass es gut gehen!

Als das Auto endlich stand, riss sie ihre Augen auf und stieß erleichtert den Atem aus.

So schnell sie konnte öffnete sie die Fahrertür, hechtete um ihren Mini herum und kniete im nächsten Moment vor dem Eichhörnchen, das vollkommen durchnässt inmitten eines Haufens aus Blättern, Zweigen und Ästen lag und benommen blinzelte. Der Schock saß ihm vermutlich noch in den zarten Knochen.

»Hey, du Süßer«, flüsterte Maighread und streckte die Hand aus.

Das rote Eichhörnchen zitterte so sehr, dass seine Barthaare vibrierten. Panisch rappelte es sich auf und versuchte wegzulaufen, doch sein Schwanz war unter einem größeren Ast eingeklemmt. Es war gefangen.

»Ruhig, ganz ruhig. Hab keine Angst. Ich will nur wissen, ob du dich auch nicht verletzt hast. Ruhig. Es ist alles gut, ich tu dir nichts. Versprochen.«

Während sie immer weiter auf das verängstigte Tier einredete, tastete Maighread es vorsichtig ab. Zum Glück schien nichts gebrochen zu sein.

Behutsam hielt sie das zitternde Eichhörnchen mit einer Hand fest und hob mit der anderen den Ast an. Jetzt war der Puschelschwanz frei. Sanft drückte Maighread das zarte Wesen an ihre Brust und lief zum nächsten Baum.

Dort öffnete sie die Hand, und schon raste der kleine Racker behände den Stamm empor. In sicherer Entfernung drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf seine Retterin.

»Pass auf dich auf!«, rief sie ihm hinterher und wankte, als die nächste Böe sie packte.

Jetzt erst merkte Maighread, dass sie während ihrer Rettungsaktion klatschnass geworden war. Alles an ihr tropfte und triefte, und ihre Haare klebten ihr am Kopf, aber das war es ihr wert.

Gerade die roten Eichhörnchen brauchten dringend Schutz und Fürsorge, damit sie sich gegen ihre eingewanderten grauen Widersacher behaupten konnten. Soweit Maighread wusste, war die Population bereits gefährdet.

Sie ging zurück zum Auto, zerrte sich mühsam den durchnässten Anorak vom Körper und schnappte sich stattdessen ihre Wolljacke vom Beifahrersitz. Kurz streifte ihr Blick das wunderschöne Fair-Isle-Muster, und sofort breitete sich die Freude in ihr aus.

An dieser Jacke hatte sie viele Monate gearbeitet. Es war Maighreads eigener Entwurf. Lange hatte sie an den Mustern, der Farbkombination und der Wollauswahl getüftelt. Nach einigen Teststricks war ihre Wahl auf ein dunkles Grün als Grundfarbe gefallen. Trüffel und Cremeweiß bildeten die Muster. Farblich passte die Jacke perfekt zu ihren meergrünen Augen und ihrem blassen Teint.

Als Material hatte Maighread eine kuschelweiche und leicht schimmernde Mischung aus Schurwolle und Maulbeerseide gewählt. Teuflisch teuer und himmlisch schön, die Wolle hieß nicht ohne Grund »Exquisite«.

Beim Stricken hatte sie es kaum abwarten können, das erste Mal in das fertige Stück hineinzuschlüpfen. Genau wie jetzt gerade.

Doch gegen die Kälte, die Maighread zittern ließ, kam auch ihre Lieblingsjacke nicht an. Deshalb zog sie zusätzlich noch ihr Tuch aus der Handtasche. Bevor sie es sich um den Hals wickelte, beugte sie sich nach vorne und drückte das Wasser aus ihren schulterlangen Locken. Wenn sie nass waren, schimmerte das Dunkelbraun ihrer Haare fast schwarz.

Auf der Fußmatte hatte sich ein regelrechter See gebildet. Maighread öffnete die Autotür und kippte das Wasser auf die Straße.

Sofort nutzte der eisige Wind die Gelegenheit und blies frech ins Wageninnere. Maighreads Zähne klapperten. Schnell zog sie die Tür wieder zu und kroch tief in ihre Wolljacke hinein.

»Das ging gerade noch mal gut, was, Molly? Dann wollen wir mal wieder. Mir ist nach einer Tasse Tee, einem Kaminfeuer und etwas Zeit für mich. Eine heiße Dusche wäre auch nicht schlecht. Sehr weit kann es eigentlich nicht mehr sein.«

Sie hoffte, auf Anhieb eine Pension zu finden, die auch noch ein freies Zimmer hatte.

In ihrer Fantasie sah Maighread sich schon in einem gemütlichen Sessel vor einem prasselnden und knisternden Feuer sitzen – eine warme Decke über den angezogenen Beinen und das Strickzeug in der Hand, ihre Ruhe genießend. Das wäre eine Wohltat nach dem Stress der letzten Tage.

Ihre Hündin Molly, die Frauchens Einsatz aufmerksam verfolgt hatte, legte sich auf ihre Decke zurück und war im nächsten Moment erneut eingeschlafen. Woher diese ausgeprägte Gelassenheit in schwierigen Situationen kam, wusste Maighread nicht. Mollys Vater war ein Border Collie und die Mutter ein Australien Shepherd. Vielleicht hatte sich dieser Charakterzug von beiden Rassen in Molly potenziert? Die Hündin war entspannt bis in die braun-weißen Fellspitzen und ließ sich nicht stören.

Also konzentrierte Maighread sich wieder auf die Straße, startete den Motor und steuerte ihrem Ziel entgegen. Der Sturm tobte noch immer ungebremst und schüttelte den Wagen, als wolle er mit ihm spielen. Nach der heftigen Böe gerade hielt Maighread das Lenkrad so fest umklammert, dass sich ihre Haut porzellanweiß über den Fingerknöcheln spannte. Während die rauer werdende Landschaft an ihr vorüberzog, konzentrierte sie sich darauf, nicht im Graben zu landen. Langsam, aber sicher nahm das Unwetter beängstigende Züge an. Manchmal konnte sie nur in Schrittgeschwindigkeit schleichen, weil sie vor lauter Wassermassen die Strecke kaum noch sah. Immer wieder liefen Sturzbäche quer über die Straße und ließen den Mini schwimmen.

Gegen das ohrenbetäubende Heulen, Pfeifen und Prasseln kam auch die tiefe Stimme Toni Braxtons, die aus dem Radio tönte, kaum noch an. Maighread ahnte das Lied mehr, als es zu hören, trotzdem sang sie mit. Es war ein hilfloser Versuch, sich ein bisschen Mut zu machen. Im Gegensatz zu Molly war sie nämlich leider alles andere als entspannt.

Als der Sturm kurz Atem holte, bemerkte Maighread, dass Rea Garvey mit Beautiful Life Toni Braxton längst abgelöst hatte. Sie schnaubte unwillig. Sosehr sie das Lied liebte, in ihrer jetzigen Stimmung hätte sie Rea für seine Fröhlichkeit und Zuversicht am liebsten gegen das Schienbein getreten.

Er hatte ja auch leicht singen. Von wegen »schönes Leben«. Von schön war ihr Leben Lichtjahre entfernt. Sie wäre schon dankbar, wenn keine weitere Katastrophe über sie hereinbräche. Schließlich wusste sie noch nicht einmal, wo sie die nächste Nacht schlafen oder wie die kommenden Tage ablaufen würden.

Wenn sie jetzt, in diesem Augenblick, einen Wunsch frei hätte – Maighread wäre überfordert.

Wie sollte man wissen, was man wollte, wenn man nicht mal mehr sagen konnte, wo oben und unten war?

Je tiefer sie in die Highlands vordrang, desto beklommener fühlte sich Maighread. Mit jeder zurückgelegten Meile wurden ihre Zweifel drückender.

War es richtig, was sie tat? Für sich selbst, aber auch für ihre Großeltern oder ihre Mum?

Von dem Moment an, als sie das Foto gefunden und den verschlossenen Gesichtsausdruck ihrer Mutter gesehen hatte, war Maighreads Neugier geweckt gewesen. Es konnte kein Zufall sein, dass sie dieses Bild von dem Garten ausgerechnet jetzt gefunden hatte. Ihre Mutter hütete ein Geheimnis, und Maighread war überzeugt gewesen, dass es nur diesen Weg geben konnte: Sie musste die Wahrheit ans Licht bringen.

Beim Essen und während des folgenden Abends hatte Lindsay sich weiter gegen das Gespräch gesträubt und versucht, ihr Geheimnis zu bewahren. Doch Maighread hatte nicht lockergelassen, und so hatte ihre Mutter irgendwann aufgegeben und einen Teil der Geschichte erzählt.

Maighread hatte erfahren, dass ihre Großeltern nicht – wie es ihr seit ihrer Kindheit erzählt worden war – bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, sondern noch immer am Loch Lomond lebten. Lindsay hatte sich noch vor Maighreads Geburt mit ihnen überworfen und den Kontakt komplett abgebrochen. Die Geschichte des Flugzeugabsturzes war eine Lüge. Mehr hatte Maighread allerdings nicht aus ihrer Mutter herausbekommen.

Sofort nach ihrer Beichte hatte Lindsay Maighread angefleht, ihr nicht böse zu sein, sie zu verstehen, weil sie in jener Situation einfach keine andere Wahl gehabt habe. Es sei ihr nicht leichtgefallen, sich so komplett von ihrer Familie abzuwenden, aber der einzige Weg gewesen, hatte sie beteuert. Sie hatte so verzweifelt ausgesehen, so traurig und verletzt.

Doch die Fassungslosigkeit über das, was ihre Mutter ihr offenbart hatte, hatte Maighread völlig aus der Bahn geworfen und sie nur ihren eigenen Standpunkt sehen lassen.

Vor zwei Tagen war ihr Leben noch wie ein blühender Garten gewesen, sie hatte ihren festen Platz gehabt, und alles war prächtig gediehen. Und jetzt? Maighread fühlte sich entwurzelt. Wie viel konnte ein Mensch ertragen? Innerhalb weniger Stunden war sie gleich zweimal aus der ihr vertrauten Erde gerissen worden. Erst von Dylan und dann von ihrer Mutter. Was blieb ihr jetzt noch? Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde.

Wieder nach Edinburgh zu ziehen kam nicht infrage. Was sollte sie dort? Es gab nichts, was auf sie wartete, und zu viele Dinge, die sie an Dylan erinnerten.

Aber auch zurück nach Kilmarnock konnte sie auf keinen Fall. Ihre Mutter wollte Maighread in nächster Zeit erst einmal nicht sehen. Nicht, solange diese nicht bereit war, offen mit ihr zu sprechen. Schließlich wusste Maighread noch immer nicht, was Lindsay derart erschüttert hatte, dass sie bis heute nicht darüber sprechen wollte. Wie hatte ihre Mum ihr einen derart wichtigen Bereich ihres Lebens vorenthalten können?

Maighread konnte diese durch das Schweigen verursachte Schwärze zwischen ihnen nicht ertragen. Sie hatte doch ein Recht auf die Wahrheit! Auf alles – nicht nur auf einen Teil der Geschichte.

Sie fühlte sich plötzlich wie eine Heimatlose, körperlich und emotional. Die Fahrt an den Loch Lomond war eine Flucht ins Ungewisse, doch die Highlands erschienen ihr im Moment als das Einzige, was ihr geblieben war. Dabei wusste sie noch nicht einmal, ob sie dort willkommen war.

Natürlich keimten inzwischen einige Zweifel in ihr auf. Hatte sie wirklich das Recht, das Leben anderer Menschen mit ihrem Auftauchen auf den Kopf zu stellen? Oder war der immer stärker werdende Sturm ein Zeichen? Eine Warnung?

Vielleicht hatte ihre Mutter recht und es gab Dinge, die man lieber unberührt ließ.

Maighread versuchte wirklich, ihre Mum zu verstehen, aber sie schaffte es nicht. Wie sollte man etwas verzeihen, das man noch gar nicht wirklich begreifen konnte? Ganz sicher hatte ihre Mum das alles nicht ohne triftigen Grund getan. Aber sie konnte von Maighread keine Absolution verlangen, wenn sie ihr weiterhin etwas so Wichtiges verschwieg.

Trotz allem kam zu Maighreads Wut und Enttäuschung auch die Angst vor der Wahrheit. Aber Angst hatte sie noch nie abgehalten, wenn sie der festen Überzeugung war, dass etwas getan werden musste.

Genau deshalb hatte sie auch ihre Habseligkeiten in den Mini gepackt. Ihre Mutter hatte alles versucht, um Maighread von der Fahrt abzuhalten.

»Wenn du mir die Adresse nicht gibst, fahre ich auf gut Glück los«, hatte Maighread gesagt und keinen Zweifel daran gelassen, dass sie genau das wirklich tun würde. »Ich werde sie schon finden.«

Sie wusste nicht, wie, aber sie hatte es geschafft, die Worte so auszusprechen, dass eine Überzeugung mitschwang, die sie nicht einmal annähernd gefühlt hatte.

Irgendwann hatte Lindsay Robertson kapituliert und ihrer Tochter die Adresse genannt.

»Melde dich, wenn du da bist. Bitte!«

»Lass mir etwas Zeit.« Dann hatte sie sich von Lindsay verabschiedet und war aufgebrochen. Nur mit Mühe hatte sie es geschafft, nicht im Zorn wegzufahren.

Auf alle Fälle brauchte sie Abstand.

Als der Wind wieder einmal kurz innehielt, als würde er Kraft für die nächsten Böen sammeln, klang Mollys leises Schnarchen von der Rückbank zu Maighread nach vorne. Ein warmes Gefühl vertrieb für einen kurzen Moment die Kälte, die Maighread in ihrer eisigen Umklammerung hatte.

Wenn sie nicht höllisch aufpasste und sich auf die Straße konzentrierte, dann war sie bald eine Verlorene – verschollen zwischen den Hügeln und Tälern der Highlands.

Vermutlich würde sie, wenn sie hier mitten im Nirgendwo einen Unfall baute, lange Zeit niemand finden. Wenigstens hatte sie ihren Ausweis bei sich, man würde den Leichnam identifizieren können, ging es ihr in einem hilflosen Versuch, die Lage mit schwarzem Humor zu nehmen, durch den Kopf. Doch auch dadurch wurde sie die Beklommenheit nicht los.

Fast sehnte sie sich nach dem Verkehrschaos in Glasgow, dabei war sie erleichtert gewesen, als sie das Stadtgebiet hinter sich gelassen hatte und es endlich etwas ruhiger auf der Straße geworden war. Dass es hier so verlassen sein würde – damit hatte sie nicht gerechnet.

Kaum zu glauben, dass zwischen dieser Einsamkeit hier und der Lebendigkeit der Stadt nur ein paar Meilen lagen. Bei gutem Wetter konnte man die Strecke von Kilmarnock an den Loch Lomond vermutlich in einer Stunde schaffen. Heute hatte sie schon bis hierher fast die doppelte Zeit gebraucht.

»Tapferer Bob, weiter so, du schaffst das!« Maighread wollte aufmunternd das Armaturenbrett tätscheln, doch sie traute sich nicht, ihren Griff zu lockern. Weit vorgebeugt saß sie mit der Nase fast an der Windschutzscheibe und bemühte sich, an dem über die Scheibe rinnenden Wasser vorbei den Weg zu erkennen. Vor lauter Anspannung brannte bereits ihre Nackenmuskulatur, und ihre Finger waren eiskalt.

Maighread hoffte von Herzen, dass ihr himmelblauer Mini, den sie liebevoll Bob getauft hatte, sie heil durch dieses Abenteuer bringen würde. Bob – wie ihr vermeintlich toter Großvater, von dem sie nicht viel mehr wusste als seinen Namen und den sie nie hatte kennenlernen dürfen. Ihn nicht und auch nicht ihre Großmutter.

Als sie den Namen für ihren Mini ausgewählt hatte, war ihr diese Verbindung zuerst gar nicht klar gewesen. Es musste ihr Unterbewusstsein gewesen sein, das sie dahin gelenkt hatte. Später, als es ihr aufgefallen war, war sie glücklich gewesen über diese Fügung. Es fühlte sich an, als wäre ihr Grandpa bei ihr, um sie zu beschützen.

Als Kind hatte sie sich immer vorgestellt, wie ihre Großeltern auf einer Schäfchenwolke saßen und von dort aus vom blauen Himmel auf sie hinuntersahen.

Und nun war sie auf dem Weg zu ihnen.

Dieser kurze Gedanke raubte ihr mit seiner Macht schier den Atem.

Alles, was in den letzten Stunden über sie hereingebrochen war, wirbelte wild in ihr herum. Es musste sich setzen, sie musste sich und die Überreste ihres Lebens neu sortieren, um wieder klar denken zu können.

Eine Überschwemmung riss Maighread aus ihren Gedanken. Bob schlingerte, sie versuchte gegenzulenken, doch der Mini reagierte nicht.

»Stopp!«, schrie Maighread und trat auf die Bremse. Ihr Herz wummerte schmerzhaft, sie sah das Grün und Violett des mit Heide überzogenen Hügels auf sich zukommen. Es holperte. Ein Baum schob sich in ihr Blickfeld. Es rumpelte und schüttelte heftig.

Kapitel 4

Joshua

Erschöpft legte Joshua den Kugelschreiber aus der Hand, gähnte und streckte sich. Ein paar Mal ließ er langsam den Kopf kreisen, um die angespannte Nackenmuskulatur zu lockern.

Er hatte es tatsächlich geschafft, obwohl er zwischendrin gedacht hatte, es nähme nie ein Ende.

Jetzt lagen fünf Formulare samt Briefumschlag fein säuberlich ausgefüllt vor ihm, er betrachtete sie und war überaus zufrieden mit sich selbst. Das war wahrlich genug Schriftkram für einen Tag, der Rest der Schreibarbeit musste warten.

Nachdem der Regen endlich nachgelassen hatte, die Wolkendecke zwischendurch sogar aufriss und ein Sonnenstrahl über Joshua hinweghuschte, als wolle er ihn locken, beschloss er, es zu wagen und zu den Schafen zu gehen. Er brauchte jetzt dringend Bewegung, genau wie Bonny und Lennox.

Bonny hatte ihm bereits einen Ball und ihren Plüschtiger vor die Füße gelegt, in der Hoffnung, dass er endlich von seiner Arbeit ablassen und sich ihr widmen würde. Nachdem er nicht reagiert hatte, war sie auf ihren Platz neben Lennox zurückgeschlichen und hatte von dort aus Joshua so lange beobachtet, bis ihr irgendwann vor Langeweile die Augen zugefallen waren.

Erleichtert ließ er den Computer herunterfahren, schob den Ordner mit den Zahlenreihen der letzten Wasseruntersuchungsergebnisse ins Regal zurück und stand auf. Er ging in sein Schlafzimmer hinüber und tauschte die Jogginghose gegen seine Arbeitsjeans und einen warmen Pullover. Mit dicken Socken an den Füßen ging er zurück ins Arbeitszimmer, um die Hunde zu wecken.

»Hopp, ihr zwei. Genug gefaulenzt. Wir werden uns jetzt mal ordentlich die Füße vertreten.«

Sofort sprangen die beiden auf und umrundeten ihn voller Vorfreude.

»Was ist? Lust auf ein bisschen Spaß? Gehen wir zu den Schafen?«

Wie erwartet kam ein zweifaches begeistertes Aufheulen als Antwort. Bonny und Lennox liefen erwartungsvoll zur Tür, wo sie schwanzwedelnd auf ihn warteten. Joshua freute sich über den Eifer seiner beiden Fellnasen. Auf die Hunde war Verlass, mit ihnen zusammen war die Arbeit mit den Schafen immer ein Vergnügen.

Heute stand ein Weidewechsel an, denn die beiden Herden sollten auf die Wiese unterhalb von Callwell Castle umsiedeln. Zuerst waren die Wensleydales dran.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang Joshua fast so übermütig die breite Treppe hinunter wie die Hunde. In der Eingangshalle rannte er kurz los und schlitterte dann auf dem blanken Boden bis zur Haustür, die genau in dem Moment aufging, als er sie erreichte.

»Hallo Eilidh«, grüßte er die Haushälterin, die sich die Mütze vom Kopf zog und ihre weißen Locken schüttelte. Ihr Einkaufskorb war prall gefüllt mit allerlei frischen Dingen vom Markt.

»Joshua, hallo. Zieh dir unbedingt einen Schal an, wenn du rausgehst. Der Wind ist bissig, als wäre es Januar.«

»Wenigstens gönnt sich der Regen eine Pause«, erwiderte Joshua und zupfte sich brav seinen Schal und die dicke Jacke von der Garderobe. Dann schlüpfte er in die gefütterten Gummistiefel und winkte Eilidh zum Abschied über die Schulter zu. »Bis später!«

Ihre Antwort riss eine Böe mit sich, bevor sie Joshuas Ohr erreichte. Vermutlich wollte Eilidh, dass er seine Jacke zuknöpfte, was er im nächsten Moment freiwillig tat, denn es war tatsächlich kälter, als er erwartet hatte. Seine beiden Border Collies rannten gut gelaunt und vom eisigen Wind vollkommen unbeeindruckt voraus. Joshua ging um das Gebäude herum ein Stück Richtung See.

Demnächst musste er sich links halten. Die Tiere standen auf der äußersten Weide, ein gutes Stück entfernt südlich von Callwell Castle.

Jeder andere hätte vermutlich das Quad genommen, doch Joshua hatte keine Lust auf Motorenlärm, und gesessen hatte er die letzten Stunden wahrlich mehr als genug. Er genoss es, ordentlich marschieren zu können. Beim Gehen konnten die Gedanken fliegen, und der Kopf wurde frei. Also stapfte er gut gelaunt über die nassen Wiesen und durch die Rinnsale.

Lennox tat es ihm mit großem Eifer nach. Der Rüde ließ keine noch so kleine Pfütze aus. Er sauste mit fliegenden Ohren durch das Wasser, dass es nur so nach allen Seiten wegspritzte.

Ganz im Gegensatz zu Bonny. Die Hündin mied nach Möglichkeit jeden Kontakt mit Wasser und Matsch. Es hatte sich etwas gebessert, seit sie erwachsen war. Als Welpe hatte Joshua sie bei Regenwetter mehr oder weniger vor die Tür tragen müssen. Sobald sie gemerkt hatte, dass es nass war, hatte sie alle vier Pfoten in den Boden gestemmt, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt und sich geweigert, auch nur einen Schritt zu tun. Heute weigerte sie sich zumindest nicht mehr, aber Spaß sah eindeutig anders aus.

Um nur ja nicht durch einen Wasserlauf waten zu müssen, machte die Hündin immer wieder große Sätze. Bei der Regenmenge, die in den letzten Stunden vom Himmel gefallen war, nutzte all die hündische Vorsicht allerdings überhaupt nichts. Es dauerte nicht lange, und auch die wasserscheue Bonny war bis zum Bauchfell pitschnass. Sie nahm es mit damenhafter Gelassenheit und ließ sich die gute Hundelaune dadurch nicht verderben.

Während der halben Stunde Fußmarsch lösten sich die Büronebel in Joshuas Kopf langsam auf, genau wie er es gehofft hatte. Er schritt weit aus, beobachtete seine zwei so unterschiedlichen Hunde und amüsierte sich über ihr Verhalten.

Lachen löst Stress in Wohlgefallen auf – das war eine der Weisheiten, die sein Großvater ihm ans Herz gelegt hatte, und Joshua nutzte jede Gelegenheit, diesem Rat zu folgen.

Erleichtert atmete er die kalte, feuchte Luft ein und spürte seine Lebensgeister neu erwachen. Es dauerte nicht lange, und er begann zu singen.

Bonny liebte es, wenn Joshua sang, und unterstützte ihn mit Vorliebe, indem sie hin und wieder sehr gekonnt und tonsicher die zweite Stimme dazu jaulte. Sie hätten in Britain’s Got Talent auftreten können – zumindest behauptete Chloe das immer. Doch Joshua winkte jedes Mal ab und wollte von so einem Quatsch nichts wissen. Er sang, weil es ihm Spaß machte. Ebenso wie Bonny.

Beim letzten Refrain von Flower of Scotland kam er an der hinteren Weide an und blieb stehen. Die Herde hatte sich ziemlich weit hinten versammelt, er konnte erkennen, dass die Tiere ganz entspannt weideten.

»Hey, heeeeyyyyy, kooooommt, kommt, kommt!«

Als Joshuas Stimme über das Feld schallte, ließ die Mehrzahl der Tiere trotz der Entfernung sofort vom Gras ab und hob die Köpfe. Nur wenige Augenblicke später strebten sie auf ihn zu.

Genau das war es, was er an seinen Wensleydales so schätzte – die Tiere waren extrem zutraulich, ja sogar beinahe anhänglich und verschmust. Außerdem waren sie ausgesprochen hübsch mit ihrer langen Wolle. Die kleinen Löckchen sahen aus wie eine frisch gelegte Dauerwelle.

Die Bluefaced Leicesters waren zwar auch freundlich, aber doch deutlich weniger an ihrem Menschen interessiert. Um deren Aufmerksamkeit musste er viel mehr kämpfen.

In den nächsten Tagen sollten die Tiere ihren Herbsttrank verabreicht bekommen, das war der Grund für den Weidenwechsel. Die Koppel direkt bei Callwell Castle hatte alle notwendigen Vorrichtungen, um die Tiere einzeln durch ein Gatter zu schleusen. So konnte Joshua sicherstellen, dass wirklich alle Schafe ihren Anteil des Stärkungstranks bekamen, und er hatte zusätzlich die Gelegenheit, jedes einzelne Tier kurz zu untersuchen, um sicherzugehen, dass alle gesund waren. Joshua wusste, dass er wegen seiner ausgeprägten Fürsorge von anderen Schafzüchtern der Gegend belächelt wurde, aber das war ihm egal. Für ihn waren die Schafe Teil seines Clans und verdienten nur das Beste.

Schon sein Großvater hatte seinen Tieren zweimal jährlich einen stärkenden Kräutersud verabreicht. Er hatte auf die Kraft der Natur geschworen. Nicht warten, bis das Schaf im Brunnen liegt, Junge. Tu lieber vorher was. Joshua hatte die Worte seines Großvaters noch im Ohr, und er beherzigte die Ratschläge aus Überzeugung. Alistair McLoughlin war ein kluger Mann gewesen, Joshua war dankbar, so viel von ihm gelernt zu haben.

Auch das Wissen um die Zusammensetzung des Kräutertranks hatte er selbstverständlich von ihm übernommen, genau wie sein Großvater zuvor von dessen Vater.

Die Pflanzen dafür zu sammeln war für Joshua kein Problem, auf den Wiesen und in den Wäldern der Highlands wuchs alles, was nötig war. Nur das Trocknen und Ansetzen des Suds mochte er nicht sonderlich. Dabei plagte ihn von jeher eine nervende Ungeduld.

Allein bis die Kräuter in kleinen Bündeln gebunden waren und an einem luftigen, dunklen Ort trocknen konnten, war für ihn eine Tortur. Später ging es dann mit dem Trank selbst weiter. Aufkochen, rühren, abkühlen und ziehen lassen, erneut aufkochen … Über Wochen hinweg täglich schütteln und tütteln – nein, das war nichts für Joshua. Da hackte und stapelte er lieber Holz.

Deshalb hatte er sich auch sehr gefreut, als Chloe Baxter nach Callwell zurückkehrte und sich innerhalb kürzester Zeit als Kräuterexpertin entpuppte.

Chloe und er waren zusammen zur Schule gegangen und hatten sich immer gemocht – es hatte sogar eine Zeit gegeben, da hatte ein leises Prickeln in der Luft gelegen, wenn sie zusammen gewesen waren. Doch außer ein paar pubertären Neckereien und ungeschickten Flirtansätzen hatte sich nichts entwickelt. Nach der Schule hatten sich ihre Wege getrennt, und Joshua hatte Chloe aus den Augen verloren.

Nun lebte sie wieder in ihrem Elternhaus, das inzwischen ihr gehörte. Die alte Vertrautheit zwischen ihnen war neu aufgeblüht, von dem Prickeln von damals war jedoch nichts mehr zu spüren. Das kam Joshua sehr entgegen. Er hatte absolut kein Interesse an romantischen Verwicklungen.

Manchmal tranken sie eine Tasse Tee zusammen und unterhielten sich über damals und heute, über Weißt du noch? und Wie siehst du das?, und freuten sich, wenn sie sich bei Themen einig waren, die ihnen beiden wichtig waren.

In Chloe hatte Joshua eine Verbündete, wenn es um den Schutz der Natur und den Kampf gegen die Klimaerwärmung ging.

Hin und wieder hatten sie auch gemütliche Abende zu dritt, denn ein paar Häuser neben Chloe lebte und arbeitete ihr Cousin Peter, mit dem Joshua auch schon seit er denken konnte befreundet war.

Peter war nicht nur ein guter Freund, sondern auch Joshuas härtester Gegner bei den Highland Games und Inhaber einer kleinen Whisky-Destillerie – McDurmanns Whisky.

Wenn Peter dazukam, wurden aus den ruhigen Gesprächsabenden oft sehr feucht-fröhliche Zusammenkünfte, bei denen nicht nur die Lachmuskeln, sondern auch die Geschmacksknospen gekitzelt wurden. Ganz besonders wurde es immer, wenn weitere Nachbarn dazustießen und Gitarren und Dudelsäcke ausgepackt wurden.

Wie aus dem Nichts entstand bei solchen Gelegenheiten manchmal ein Ceilidh, wie man hier in Schottland ein geselliges Beisammensein mit Musik und Tanz nannte. Sie spielten gemeinsam schottische Lieder, sangen, tanzten, tranken, aßen und lachten. An solchen Abenden wurden das Leben und die Freundschaft gefeiert.

Für Joshua waren diese traditionellen Zusammenkünfte ein wichtiges Stück Heimat und gelebte Geborgenheit. Er genoss es, Teil dieser verschworenen Gemeinschaft zu sein.

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