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Der ganze Himmel

Als Buch hier erhältlich:

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Eine Geschichte über verborgene Geheimnisse und wahre Schätze

Darwin, Australien, 1942: Als ein japanischer Bombenangriff die Stadt Darwin trifft, macht sich die 12-jährige Waise Molly Hook auf den Weg in den australischen Outback, um »Longcoat Bob« zu finden. Er hat ihre Familie, so glaubt sie, mit einem Fluch belegt, und sie will ihn bitten, den Fluch aufzuheben. An ihrer Seite sind Greta, eine deutsche Schauspielerin, und Yukio, ein japanischer Kriegspilot, der das Kämpfen leid ist. Und über ihnen stets der Himmel, der Molly lenkt und leitet. Eine Reise, auf der die größten Gefahren warten und die unglaublichsten Wunder geschehen, beginnt.

»Ein Werk von glänzender Originalität und Energie mit unglaublichen Charakteren und einem cleveren, spannenden Plot. Man kann es nicht aus der Hand legen.« Sydney Morning Herald


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905119
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FÜR FIONA, BETH UND SYLVIE

MOLLY UND DIE GRABINSCHRIFT

Eine Bulldoggenameise krabbelt über einen Fluch. Der Kopf der Ameise ist blutrot, und sie hält an, läuft weiter, hält wieder an, läuft weiter und krabbelt durch das gemeißelte F einer Grabinschrift. Die siebenjährige Molly Hook fragt sich, ob die Bulldoggenameise wohl jemals den ganzen Himmel gesehen hat, bei all den verrückten Winkeln, in denen Bulldoggenameisen so laufen, und wenn die Ameise keinen Himmel sehen kann, dann wird Molly ihr eben einen machen. Die Bulldoggenameise folgt einem schnurgeraden L, dann dem runden Unterschwung des Us, kriecht hinüber zu einem gewundenen C und hinaus aus den langen Furchen eines Hs. Molly ist das Totengräbermädchen. Sie hat gehört, wie die Leute in der Stadt sie so nennen. Armes kleines Totengräbermädchen. Irres kleines Totengräbermädchen. Sie lehnt auf ihrer Schaufel. Die Schaufel hat einen Holzstiel, der so lang ist wie sie selbst, und ein breites dreckverkrustetes Stahlblechblatt mit gezahnten Kanten, um Wurzeln zu zerhacken. Molly hat der Schaufel einen Namen gegeben, weil sie ihre Schaufel gernhat. Sie nennt sie Bert, weil die Zacken an der Seite sie an die fauligen, eiszapfenförmigen Eckzähne von Bert Green erinnern, dem der Sugar-Lane-Süßigkeitenladen in der Shepherd Street gehört. Bert die Schaufel hat ihr dieses Jahr schon geholfen, sechsundzwanzig Gräber auszuheben, das erste Jahr, in dem sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Onkel Gräber schaufelt. Bert hat für sie eine Schwarzpeitschenschlange erschlagen. Mollys Mutter Violet sagt, Bert ist Mollys zweitbester Freund. Mollys Mutter sagt, ihr bester Freund ist der Himmel. Denn der Himmel ist der beste Freund eines Mädchens. Es gibt Dinge, die der Himmel einem Mädchen über sich selbst erzählt, die niemand anders ihm je erzählen könnte. Mollys Mutter sagt, dass der Himmel nicht ohne Grund auf Molly achtgibt. Alles, was sie je über sich selbst zu lernen hat, sagt ihre Mutter, steht da oben geschrieben. Sie muss einfach nur hochgucken.

Mollys nackte Füße sind so dreckverkrustet wie Berts Schaufelblatt, und über Knie und Ellbogen ziehen sich kupferbraune Streifen tönerner Friedhofserde. Molly, die den weitläufigen, runtergekommenen, halb toten Friedhof völlig zu Recht als ihr Königreich betrachtet, hüpft auf eine alte schwarze Steinplatte und kniet nieder, um ihren großen blauen Augapfel ganz dicht über die krabbelnde Bulldoggenameise zu halten. Sie fragt sich, ob die Ameise das tiefe Blau in ihren Augen sehen kann, und denkt, wenn die Ameise dieses Blau in ihren Augen sieht, dann wird sie vielleicht eine Ahnung davon bekommen, wie es sich anfühlt, den gewaltigen blauen Himmel über Darwin zu sehen.

»Runter von dem Grab, Molly.«

»Sorry, Mum.«

Der Himmel hat die Farbe von 1936, und der Himmel hat die Farbe von Oktober. Wenn man aus dem blauen Himmel auf sie herabblickt und immer näher hinschaut, sieht man eine Mutter und eine Tochter vor einem Goldschürfergrab stehen, an der abgelegensten Grabstelle im abgelegensten Winkel des Hollow Wood Cemetery, am weitesten von der Kieseinfahrt entfernt. Sie sind ältere und jüngere Versionen ihrer selbst. Molly Hook, braun gelocktes Haar, knochendürr und unbeschwert. Violet Hook, braun gelocktes Haar, knochendürr und bekümmert. Sie hält etwas hinter ihrem Rücken, doch ihre Tochter ist mal wieder zu beschäftigt, zu sehr Molly, um es zu bemerken. Violet Hook, die Totengräbermutter, die stets etwas verbirgt. Ihre zittrigen Finger. Ihre Gedanken. Die Totengräbermutter, die Menschen tot im Dreck vergräbt und ihre Geheimnisse lebendig in sich selbst. Die Totengräbermutter, die aufrecht geht, doch immer in Gedanken ist. Sie steht am Fuß eines alten Kalksteingrabs aus grauem Stein, schon so verwittert, dass er schwarz wirkt; zerfressen, marode und gebrochen wie die Leute, die für die billigen Gräber auf diesem billigen Friedhof gezahlt haben; gebrochen wie Aubrey Hook und sein jüngerer Bruder Horace Hook – Mollys Vater, Violets Ehemann –, die ständig abgebrannten Säufer, groß gewachsen, mit schwarzen Hüten und verschwitzten Gesichtern und selten mal zu Hause. Die dunkeläugigen Brüder, die diesen Friedhof geerbt haben, widerwillig dessen verzogene und verrostete Tore offen halten und ihre Friedhofsgeschäfte von den Pubs und Gin Bars in Darwin aus erledigen – und aus einem schummrigen und zerschlissenen, in rotem Samt möblierten Hinterzimmer im unterirdischen Opium-Bordell unter Eddie Loongs weitläufigem Schuppen in der Gardens Road, wo er seine nordaustralischen Meeräschen trocknet und einsalzt, um sie nach Hongkong zu verschiffen.

Molly stemmt die Rechte auf die Grabplatte, stößt sich, allein weil sie es kann und will, von der Platte ab und schnellt in einer raschen Folge wilder Drehungen vom Grab, so frei und ungestüm, dass ihr ganz schwindelig wird und sie hoch zum Himmel blicken muss, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Und dort entdeckt sie etwas.

»Schwimmender Delfin«, sagt Molly, so beiläufig, wie sie eine Stechmücke auf dem Ellbogen bemerken würde. Violet schaut hoch, um Mollys Delfin zu finden, der aus einer Wolke besteht, die gerade eine dickere Wolke anstupst, in der Violet erst ein Iglu erkennt, bevor sie ihre Meinung ändert. »Dicke fette Ratte, die sich den Hintern leckt«, sagt sie.

Molly nickt und kringelt sich vor Lachen.

Violet trägt ein altes weißes Leinenkleid, und ihre Haut ist gerötet von der Sonne Darwins, heiß von Darwins Hitze. Sie hält noch immer etwas hinter ihrem Rücken, verbirgt dieses Etwas vor ihrer Tochter.

»Stell dich neben mich, Molly«, sagt Violet.

Molly und Bert, die treue und robuste Schaufel, nehmen ihre Plätze neben Violet ein. Molly folgt dem Blick der Mutter, sieht, was ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein Name auf einem Grabstein.

»Wer war Tom Berry?«, fragt Molly.

»Tom Berry war ein Schatzsucher«, sagt Violet.

»Ein Schatzsucher?«, keucht Molly.

»Tom Berry hat in jedem Winkel dieses Landes Gold gesucht«, sagt Violet.

Molly findet Zahlen unter dem Namen auf dem Grabstein: 18681929.

»Tom Berry war dein Großvater, Molly.«

Unter den Zahlen stehen so viele Wörter: Gedrängt und überladen und zu klein füllen sie den ganzen Grabstein. Es ist weniger eine Inschrift als eine Warnung oder eine Art öffentliche Bekanntmachung für die Bewohner Darwins, und Molly müht sich, ihre Bedeutung zu verstehen.

HIERMIT SEI KUNDGETAN, DASS ICH VERFLUCHT VON EINEM HEXENMEISTER STARB. ICH NAHM ROHGOLD VOM LAND DES SCHWARZEN NAMENS LONGCOAT BOB, UND ICH SCHWÖRE BEI GOTT: ER HAT MICH UND MEINE ANVERWANDTEN FÜR DIE SÜNDE MEINER GIER MIT EINEM FLUCH BELEGT. LONGCOAT BOB HAT UNSERE GUTEN HERZEN ZU STEIN WERDEN LASSEN. ICH TRUG DAS GOLD ZURÜCK, DOCH LONGCOAT BOB NAHM DEN FLUCH NICHT VON MIR, UND SO RUHE ICH HIER UND BEREUE NUR EINES: DASS ICH LONGCOAT BOB NICHT UMGEBRACHT HABE, ALS ICH ES KONNTE. SEI’S DRUM, SO VERSUCHE ICH MEIN GLÜCK HALT IN DER HÖLLE.

»Wozu sind all die Wörter gut, Mum?«

»So etwas nennt man eine Grabinschrift, Molly.«

»Was ist eine Grabinschrift, Mum?«

»Es ist die Geschichte eines Lebens.«

Molly studiert die Wörter. Zeigt mit dem Finger auf ein Wort in der zweiten Zeile.

»Ein Mann, der zaubern kann«, sagt Violet.

Molly deutet auf ein anderes Wort.

»Ein böser Zauber für jemanden, der es vielleicht verdient hat«, sagt Violet.

Der Kinderfinger huscht zu einem anderen Wort.

»Anverwandte«, sagt Violet. »Das bedeutet Familie, Molly.«

»Väter?«

»Ja, Molly.«

»Mütter?«

»Ja, Molly.«

»Töchter?«

»Ja, Molly.«

Molly schabt mit dem Nagel ihres rechten Zeigefingers über Berts Griff.

»Hat Longcoat Bob dein Herz zu Stein werden lassen, Mum?«

Langes Schweigen. Violet Hook mit ihren Zitterhänden. Eine lange braun gelockte Strähne weht ihr über die Augen.

»Diese Inschrift ist scheußlich, Molly«, sagt Violet. »Dein Großvater hat die Geschichte seines Lebens mit Zorn und Rachsucht verschandelt. Eine Grabinschrift sollte anmutig und wahr sein. Diese Inschrift hier ist nur eines von beidem. Eine Inschrift sollte poetisch sein.«

Molly dreht sich zu ihrer Mutter. »So wie das Gedicht auf Mrs. Salmons Grab, Mum?«

HIER LIEGT PEGGY SALMON,

SIE LIEBTE FISCH UND WEIN

KANNT’ WEDER PRUNK NOCH HUNGER

GOSS GERN EIN GLÄSCHEN EIN

»Versprichst du mir etwas, Molly?«

»Ja.«

»Versprich mir, dass du alle Gedichtbände liest, die im Regal neben der Haustür stehen.«

»Das verspreche ich, Mum.«

»Versprichst du mir noch etwas, Molly?«

»Ja, Mum.«

»Versprich mir, dass du ein würdevolles Leben führen wirst, Molly. Versprich mir, dass du ein großartiges, wunderschönes und poetisches Leben haben wirst, und selbst wenn es nicht poetisch wird, sollst du darüber schreiben, als wär es so gewesen. Du schreibst darüber, Molly, verstehst du? Versprich mir, dass deine Grabinschrift nicht so hässlich wird wie diese hier. Und wenn jemand anders deinen Grabspruch schreibt, dann sorge dafür, dass er keine Mühe damit hat. Du musst ein so erfülltes Leben leben, dass sich deine Inschrift wie von selbst schreibt, verstehst du? Versprichst du mir das?«

»Das verspreche ich, Mum.«

Molly wackelt mit den Knien. Molly ist zappelig. Weil sie es will und kann, schmeißt sie Bert einfach in den Dreck und schlägt neben dem Grab des Großvaters ein Rad, und ihr Friedhofskleid fällt ihr über die Augen, sodass sie kurz erblindet, und sie schafft die Landung nicht, stolpert und stürzt in einem wirbelnden Wust aus Armen und Beinen zu Boden.

»Nicht sehr anmutig, Molly«, sagt Violet. »Die Gedichtbände werden dich lehren, anmutig zu sein.«

Molly streicht sich die schlaffen Locken aus den Augen und lächelt. Mit einem streng gereckten Zeigefinger zitiert Violet das Totengräbermädchen zurück an ihre Seite. Molly hebt Bert die Schaufel auf und nimmt wieder den Platz neben ihrer Mutter ein.

»Sei jetzt still«, sagt Violet.

Die Stille dieses Friedhofs. Diese sonnengedörrte Gemeinschaft der Toten. Trockenzeit in Darwin, und alle Bäume auf dem Friedhof wollen brennen. Stringybark-Eukalyptusbäume neigen sich über Gräber, die so alt sind, dass man ihre Besitzer nicht herausfinden kann. Wollybutt-Bäume mit ihren toten orangeroten Blüten, die jeden Stamm umsäumen wie ein Feuerkreis, wachsen hier seit fünfzig Jahren aus der kiesigen Erde in die Höhe, recken sich so hoch wie die Geschäfte an der Promenade in Darwin. Unkraut und Gras überwuchern die Gedenkstätten von Zimmermännern, Farmern, Soldaten, Müttern und Vätern, Brüdern und Schwestern. Anverwandten.

Das Land verschlingt den Friedhof von Hollow Wood. Das Erdreich hat die Toten längst gefressen, und jetzt nagt es an den Zeugnissen ihres Lebens.

Molly bricht das Schweigen. Molly bricht immer das Schweigen.

»Ist mein Großvater da unten?«, fragt sie.

Violet lässt sich mit der Antwort Zeit.

»Ein Teil von ihm ist da unten«, sagt sie.

»Und wo ist der Rest?«

Violet schaut auf zu jenem blauen Himmel, den die Bulldoggenameise noch nicht entdeckt hat. »Da oben.«

Molly wirft den Kopf in den Nacken und späht hoch in den Himmel, blinzelt in die hoch stehende Mittagssonne Darwins.

»Das Beste von ihm ist da oben«, sagt Violet.

Molly festigt ihren Stand, zieht den rechten Fuß zurück, ohne den Himmel aus den Augen zu lassen.

Links an Mollys Himmel, typisch für die Trockenzeit, treibt eine einsame Kumuluswolke, eine bauschig aufgetürmte Wolkenstadt aus aufsteigender Warmluft, die Molly an den Schaum erinnert, der sich bildet, wenn Bert Green eine Kugel Eis in ein hohes Glas Sarsaparilla löffelt. Alles rechts von dieser Wolke ist blau. Violet Hook folgt dem Blick der Tochter hoch zum Himmel, starrt fast eine halbe Minute in die Luft, dann wendet sie sich ab und starrt in etwas beinahe ebenso Beglückendes: das Gesicht ihrer Tochter. Dreckstreifen auf der linken Wange. Ein Klecks Eigelb, noch vom Frühstück, verkrustet im linken Mundwinkel. Mollys Augen, die immer Richtung Himmel blicken.

»Wie ist dieser Ort, Molly?«

Molly kennt die Frage, und sie kennt die Antwort. »Dieser Ort ist hart, Mum.«

»Wie ist Stein, Molly?«

Molly kennt die Frage, und sie kennt die Antwort. »Stein ist hart, Mum.«

»Wie ist dein Herz, Molly?«

»Mein Herz ist hart, Mum.«

»Wie hart ist es?«

»Hart wie Stein«, sagt Molly, die Augen immer noch gen Himmel gerichtet. »So hart, dass man es nicht brechen kann.«

Violet nickt, atmet tief durch. Langes Schweigen. Dann vier schlichte Wörter. »Ich geh fort, Molly.«

Molly scharrt mit ihrem blanken linken Fuß und dreht den Kopf zur Mutter. »Wo gehst du hin, Mum?«, fragt sie und sticht Berts Schaufelblatt mit der Rechten wahllos in die Erde. »Fährst du wieder nach Katherine, Mum?«

Violet schweigt.

»Fährst du wieder nach Timber Creek, Mum? Kann ich mitkommen?«

Violets Blick wandert zum Himmel. Wieder langes Schweigen.

Molly rammt die rechte Ferse in den Boden, wartet auf die Antwort ihrer Mum.

Violet wirkt versunken in diesem Himmel. Dann schließt sie die Augen, streckt den rechten Arm nach ihrer Tochter aus, und Molly sieht, wie sich die Hand der Mutter langsam auf ihre linke Schulter legt. Die Finger ihrer Mutter zittern. Und jetzt sieht Molly auch, dass ihre Arme dürrer sind als je zuvor. Die Haut noch blasser.

»Warum machen deine Finger das, Mum?«

Violet schlägt die Augen auf, mustert ihre bebende Hand, besieht sie sich von Nahem, verbirgt sie wieder hinter dem Rücken. Richtet den Blick erneut gen Himmel. »Ich geh da hoch, Molly«, sagt Violet. »Ich geh da hoch, um bei deinem Großvater zu sein.«

Molly lächelt. Schaut wieder empor, ein Funkeln in den Augen. »Kann ich mitkommen?«

»Nein, Molly, du kannst nicht mitkommen.«

Auf einmal ist Molly durstig, und es dreht ihr den Magen um. Die Zehen ihres rechten Fußes bohren sich in die rote Erde unter ihr, sie ballt nervös die Fäuste, und die längsten Nägel stechen so tief in die Handflächen, dass sie sich durch die Haut bohren. Schau wieder zum Himmel. Schau wieder zu Mum.

»Ich werde nicht wieder runterkommen, Molly.«

Molly schüttelt den Kopf. »Warum nicht?«

»Weil ich nicht mehr hier unten bleiben kann.«

Molly schaut wieder hoch zum Himmel. Sucht nach einer Stadt. Sucht nach einem Haus, in dem ihre Mum da oben wohnen kann. Sucht nach Straßen im Himmel, nach Süßigkeitengeschäften und Schnapsläden. In der Stadt hinter den Wolken. Der Stadt hinter dem Himmel.

»Dies ist das letzte Mal, dass du mich siehst, Molly.«

»Warum?«

»Weil ich weggehe.«

Molly senkt den Kopf. Gräbt die Zehen tief in die Erde. Sie will wissen, wie der Mutter dieser Zaubertrick gelingt, wie sie so rasch vom Licht ins Dunkel wechseln kann. Sie ist wie Tageslicht, das mit einem Schlag zu Nacht wird, sagt Molly sich. Taghimmel, der zu Nachthimmel wird, ohne dass dazwischen Leben war. Ohne Zeit dazwischen. Ohne Hausarbeit. Ohne Nachmittagstee. Blauer Taghimmel mit Delfinwolken, der sich in Nachthimmel verwandelt, rabenschwarz und nichts als schwarz.

»Was spürst du in dir drin, Molly?«, fragt Violet.

»Ich spüre, dass ich weinen will.«

Violet nickt. »Dann weine, Molly«, sagt sie. »Weine.«

Und das Totengräbermädchen kneift die Augen zusammen, ihr Körper bebt, als müsste sie sich gleich erbrechen, ihr Hals zuckt vor, und sie fängt an zu schluchzen. Nach zwei tiefen Schluchzern sperrt sie weit die Augen auf, öffnet sie für einen Strom aus Tränen, der sich in Nebenflüsse aufzweigt, die über die Dreck- und Staubschicht auf dem Gesicht des Mädchens rinnen, und diese neuen Flussarme erinnern Violet an die verzweigten Wasserläufe, die sie als Kind einst auf den Goldsucherkarten ihres Vaters gesehen hat.

»Wein weiter«, sagt Violet.

Und das Mädchen weint noch heftiger und schlägt die Hände vors Gesicht, Rotz läuft ihr aus der Nase, und Spucke rinnt ihr von den Lippen, und ihre Mutter fasst sie nicht mal an. Hält sie nicht. Streckt nicht die Hände nach ihr aus.

»Weine, Molly, weine«, sagt Violet leise.

Das Totengräbermädchen heult so laut, dass Violet den Kopf ganz instinktiv zum Friedhofsgebäude hinter einer kleinen Baumgruppe wendet, aus Angst, der Lärm könnte ihren Mann aus einem mittäglichen Suffschlaf wecken.

»Gut so«, sagt Violet. »Gut so, Molly.«

Und Molly weint noch eine ganze Minute, dann schluckt sie schwer und fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. Bauscht eine Handvoll ihres Kleiderstoffs zusammen und neigt den Kopf, um sich damit das Gesicht zu säubern.

Violet steht jetzt direkt vor ihrer Tochter, die Hände immer noch hinter dem Rücken.

»Bist du fertig?«

Molly nickt, zieht Rotz die Nase hoch.

»Ist alles draußen?«

Molly nickt.

»Jetzt sieh mich an, Molly«, sagt Violet.

Molly schaut zu ihrer Mutter auf.

»Du wirst nie wieder um mich weinen«, sagt sie. »Von nun an wirst du keine einzige Träne mehr für mich vergießen. Du wirst nie wieder um mich trauern. Du wirst nie Angst haben. Du wirst keinen Schmerz spüren. Denn du bist gesegnet, Molly Hook. Und lass dir von niemandem einreden, dass du es nicht bist.«

Molly nickt.

»Wie ist dieser Ort, Molly?«

»Er ist hart, Mum.«

»Wie ist Stein, Molly?«

»Stein ist hart, Mum.«

»Wie ist dein Herz, Molly?«

»Mein Herz ist hart, Mum.«

»Wie hart ist es?«

»Hart wie Stein. So hart, dass man es nicht brechen kann.«

Violet nickt. »Niemand wird es je brechen können, Molly«, sagt sie. »Dein Vater nicht. Dein Onkel nicht. Auch ich nicht.«

Molly nickt. Sie sieht, wie ihre Mutter zum Friedhofshaus hinüberschaut. Sieht die Furcht in ihren Zügen. Sieht die Sorge darin.

Violet wendet sich wieder an ihre Tochter. »Gibt es noch etwas, das du mich gern fragen würdest, bevor ich gehe?«

Molly hält den Kopf gesenkt, starrt zu Boden. Starrt auf eine Ameisenkolonne, die zum Grab ihres Großvaters marschiert.

»Werde ich immer noch mit dir reden können?«

»Du wirst immer mit mir reden können, wenn du reden willst«, sagt Violet. »Du musst nur hochschauen.«

»Aber wie werde ich dich hören können?«, fragt das Mädchen.

»Du musst nur zuhören.«

Molly hält den Kopf gesenkt.

»Nein, so wird das nichts«, sagt Violet. »Du darfst den Kopf nicht hängen lassen, Molly. Du musst hochschauen. Du musst immer hochschauen.«

Molly blickt auf. Violet nickt, deutet ein Lächeln an. »Gibt es noch etwas, das du mich fragen möchtest?«

Molly kratzt sich im Gesicht, verdreht den linken Fuß im Dreck, grübelt über etwas nach.

»Was denn, Molly?«

Molly verzieht das Gesicht. »Du wirst meinen Geburtstag verpassen«, sagt Molly.

»Ich werde all deine Geburtstage verpassen, Molly.«

Molly lässt den Kopf hängen. »Dann werde ich überhaupt keine Geschenke mehr bekommen«, sagt sie.

»Du wirst immer noch Geschenke von mir kriegen.«

»Echt?«

»Aber natürlich.«

Molly deutet zum Himmel. »Aber dann bist du doch da oben.«

Violet lächelt. »Da kommen doch die besten Geschenke her.«

Violet schaut wieder zum Himmel. »Der Regen, Molly«, sagt sie. »Die Regenbögen. Die Delfinwolken. Elefantenwolken. Einhornwolken. Die großen dicken Blitze. Die Himmelsgeschenke, Molly. Ich werde sie alle zu dir runterschicken.«

»Himmelsgeschenke«, sagt Molly. Das Wort gefällt ihr. »Nur für mich?«

»Nur für dich, Molly. Aber du musst die Augen auf den Himmel richten. Du musst immer hochschauen.« Violet zeigt nach oben. »Gerade fällt eins runter.«

»Wo?«, japst Molly und sucht den blauen Himmel ab.

Violet deutet wieder hoch. »Da«, sagt sie.

Molly blinzelt und beschirmt die Augen gegen das grelle Licht.

»Es ist ein Geschenk von deinem Großvater, Molly. Er will, dass du es kriegst.«

Molly hüpft jetzt auf der Stelle. »Was ist es? Was ist es?«

»Das, mit dem dein Großvater seinen Schatz gefunden hat«, sagt Violet, ohne herabzuschauen.

»Einen Schatz!«, sagt Molly.

»Jeder von uns hat seinen eigenen Schatz, den es zu finden gilt, Molly. Er will, dass du deinen findest.«

Molly späht wachsam in die Wolken, aber sie kann das fallende Himmelsgeschenk nirgends entdecken.

»Schau weiter hoch, Molly«, sagt Violet. »Behalte den Himmel immer im Auge, Molly. Schau nicht weg, sonst siehst du es nicht fallen.«

Molly späht noch wachsamer empor, kann das Geschenk aber immer noch nicht sehen.

»Schau weiter hoch, Molly«, sagt Violet. »Behalte den Himmel immer im Auge, Molly. Schau nicht weg, sonst siehst du es nicht fallen.«

Molly merkt, wie ihre Mutter näher kommt. Spürt, wie die Mutter ihr die Arme um die Schultern legt. Spürt die Lippen ihrer Mutter an der Schläfe.

»Ich gehe jetzt, Molly«, sagt Violet. »Aber du darfst mich nicht weggehen sehen. Du musst weiter hochschauen. Du musst weiter in den Himmel gucken.«

Und Molly schaut zum Himmel und schaut und schaut und will so gerne wegsehen, aber sie hört auf ihre Mum, sie glaubt an ihre Mum, glaubt ihr und wendet den Blick nicht von diesem hohen blauen Firmament und merkt, wie ihre Mum sich von ihr wegbewegt, hört, wie die Sandalen ihrer Mum Laub und Grashalme zertreten, und sie will vom Himmel weg- und zu diesem Geräusch hinsehen, doch sie hört auf ihre Mum, denn ihre Mum hat immer recht, ist immer ehrlich, immer anmutig.

»Du kannst jetzt anfangen, deine eigene Inschrift zu schreiben, Molly.« Immer weiter weg. »Niemand wird sie für dich schreiben. Du kannst sie selber schreiben. Schau nur immer hoch zum Himmel, Molly.«

»Schau zum Himmel, Molly.« Noch weiter weg.

»Schau zum Himmel, Molly.« Zu weit weg.

Molly guckt weiter hoch zum Himmel, sie starrt so lange hin, dass sie sich schwört, nur noch sechzig Sekunden länger hinzuschauen, und dann zählt sie stumm im Kopf von sechzig runter und immer, wenn nur noch fünf Sekunden übrig sind, beschließt sie, nun doch noch einmal sechzig Sekunden zu zählen, und genau das tut sie dann. Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.

Sie kann das Himmelsgeschenk immer noch nicht sehen, also wendet sie den Blick vom großen Blau, ihr Bauch noch immer aufgewühlt, und reißt den Kopf herum in jene Richtung, aus der die letzten Schritte kamen. Sucht ihre Mutter. Doch da sind nur Bäume und Gräber und Unkraut und Haufen kiesgespickter Lehmerde über den Toten und sonst nichts. Und sie blickt über dieses stille Friedhofsgelände und wartet, dass ihre Mutter irgendwo wieder hereinläuft. Aber das tut sie nicht.

Ein Bild kommt dem Totengräbermädchen in den Sinn. Eine Bulldoggenameise, die über einen Fluch krabbelt. Ein einziges Wort, in Stein gemeißelt. Ein böser Zauber für jemanden, der es vielleicht verdient hat. Sie dreht sich zum Grab, um die Inschrift ihres Großvaters zu lesen, und auf der Steinplatte neben ihren dürren Schienbeinen liegt eine flache quadratische Geschenkschachtel. Sie ist mit einem Band verschnürt und oben mit einer Schleife zugebunden. Das Band hat die gleiche Farbe wie der Himmel.

Molly stürzt sich auf das Himmelsgeschenk und schüttelt es. Sie zerrt das Band hinunter, und ihr Bauch hört gleich auf zu rumoren. Ihre schwitzigen und dreckverschmierten Finger betasten grapschend die Ränder des Kartons. Endlich erfühlt sie eine Öffnung, sie reißt die billige dünne Pappe grob an der Unterkante auf und etwas Metallenes – etwas Hartes – rutscht ihr aus der Schachtel in die Hände.

Sie hält es gegen den Himmel. Eine runde Metallschüssel. Massives Kupfer. Alt und dreckverkrustet. Erst hält Molly sie für einen Essteller. Vielleicht ein Servierteller für Sandwiches. Doch die Schüssel hat einen erhöhten schrägen Rand und eine flache Unterseite, und sie ist nur wenig kleiner als das Lenkrad eines Autos. Molly hat so etwas schon einmal gesehen. Auf der Ladefläche von Onkel Aubreys rotem Pritschenwagen, in der alten Metallkiste, wo er seine Goldschürfwerkzeuge verstaut. Es ist kein Teller, denkt sie. Es ist eine Pfanne. Eine Pfanne zum Goldsuchen. Eine Pfanne zum Schätzefinden. Und die siebenjährige Molly Hook weiß ganz genau, wie man sich beim Himmel für eine solche Großzügigkeit bedankt, also blickt sie zu ihm auf und sagt so anmutig wie möglich: »Danke schön.« Und in der Stille des Friedhofs wartet das Totengräbermädchen geduldig, dass der Himmel ihr irgendetwas antwortet.

SCHWARZER STEINFROSCHSTEIN

Das Totengräbermädchen am Wasser, vier Tage später. Molly Hook kniet am schlammigen Ufer des Blackbird Creek, der die Ostgrenze des Friedhofs bildet. In den Händen ihr Himmelsgeschenk. Erde, Schmutz und Schlick haben die Kupferpfanne schlammbraun verfärbt. Sie füllt die Pfanne mit trockenem Flusskies und watschelt hockend ins flache Bachwasser. Mit festem Griff taucht sie die Pfanne unter, in den weniger verdreckten Stellen ganz am Rand spiegelt die Sonne sich im Kupfer, und Molly hält die rätselhaften Lichtreflexe irrtümlich für rasche wundersame Goldfunde.

Gold, Mum, Gold. Und dann blickt sie zum Himmel. Bist du das, Mum? Hast du das gemacht? Kannst du mich hören, Mum?

Und in diesem Moment, so kurz vor ihrem achten Geburtstag, hält Molly es für völlig einleuchtend, dass der Gott des Gesteins, dieser launische und egoistische Geist des Goldes, dieser Sohn des Zeus, Chrysos – auf dessen Grab ihr Vater und ihr Onkel immer pissen, wenn sie besoffen sind –, ihr gerade heute einen Goldfund beschert. An diesem seltsamsten aller Tage, diesem Trübe-Laune-Tag, an dem ihr Vater Horace und ihr Onkel Aubrey da drüben beim schwarzen Steinfroschstein unter dem ausladenden Milchholzbaum ein tiefes Erdloch ausheben, um einen weiteren toten Menschen dort zur ewigen Ruhe zu betten.

Sie schaut ihnen beim Graben zu. Aubrey Hook ist zwei Jahre älter als Horace Hook und fünfzehn Zentimeter größer. Die Brüder sind beide Mitte dreißig, aber zu viel Plackerei und zu viel Darwinsonne haben sie vorzeitig in die Vierziger katapultiert. Beide Brüder tragen breitkrempige schwarze Hüte, die Schatten auf ihre Hände werfen, wenn sie eine Pause machen, um ihre rostigen rechteckigen Havelock-Tabakdosen aufzumachen und sich, stumm wie immer, ihre Kippen zu drehen. Die Männer tragen weiße Baumwollhemden, schwarze Hosen und schwarze erdverklumpte Arbeitsstiefel. Ihre Wirbelsäulen sind oben so gekrümmt, als würden die Schulterblätter ihren Kopf vorschieben, als wären sie bereits entstellt zur Welt gekommen, doch das liegt nur am vielen Schaufeln, am Ausheben von Gräbern für die Toten und an all den Jahren, in denen sie sich ihr eigenes Grab geschaufelt haben, als armselige Nachzügler des Goldrauschs hier im Northern Territory. Es dauert Jahrzehnte, bis eine Wirbelsäule diese Schaufelstellung annimmt, doch irgendwann fügt sie sich schließlich, krümmt sich in eine für sie bequeme Position, so wie auch Horace und Aubrey sich eines Tages dankbar in ein schokoladenkuchenbraunes Erdloch krümmen werden, gleich jenem, das sie gerade neben dem schwarzen Steinfroschstein ausschachten.

Aubrey trägt einen Schnurrbart, Horace nicht. Rote Halstücher gegen den Schweiß, weiße Taschentücher in den Hosentaschen, um sich den Dreck von der Stirn zu wischen. Männer aus Haut und Knochen, Schufterei und schlechtem Schlaf und Sorgen. Männer die, wie Molly glaubt, wahrscheinlich gar im Schlamm geboren wurden. Männer, die nicht demselben Ort entstammen wie sie. Männer, die der Erde entstiegen sind, die sie ständig ausgraben. Das Mädchen weiß, dass, würde sie dem Vater Bert tief in den Bauch rammen und mit dem rechten Fuß fest auf die Hinterkante stampfen, dieselben roten, gelben und braunen Erden zum Vorschein kommen würden, die sie stets unter den alten schwarzen Grabsteinen am Blackbird Creek findet. Sie würde die für Darwin typischen Kandosole, von denen ihr Dad ihr erzählt hat, diese harten nordaustralischen Böden, die wenig Wasser speichern, diese sandige und lehmige Bodenkrume im Innern ihres Vaters finden. Und wenn sie tiefer grübe, dann kämen keine Innereien zum Vorschein, keine Darmschlingen, keine Organe, kein Herz, nur Vertisole, dieselben rissigen Lehmböden und Schwarzerden, die sich unter den ausgedehnten Überschwemmungsebenen des Top End finden, dem nördlichen Teil des Northern Territory. Onkel Aubreys Innenleben kann sie sich nicht vorstellen, hält ihn für genauso hohl wie die toten termitenzerfressenen Bäume, die dem Friedhof seinen Namen gaben. In ihm ist nichts als Schatten.

»Schwarzer Steinfroschstein«, murmelt Molly vor sich hin, während sie die Pfanne schwenkt.

Der schwarze Steinfroschstein unter dem Milchholzbaum erinnert Molly an die schwarzen Steinfrösche, die sie immer durch Hollow Wood hüpfen sieht. Die Frösche sehen aus wie angebranntes Damper. Hüpfende Brocken angekohlten Buschbrots.

Sie mag das Wort. »Schwarzer Steinfroschstein.« Wenn sie es ganz schnell sagt, klingt sie selbst wie das säuselnde und zischende Wasser des Baches. »Schwarzer Steinfroschstein. Schwarzer Steinfroschstein.« Und sie muss lachen.

Molly schwenkt die Pfanne hin und her, fest genug, um die Steinchen zu bewegen, vorsichtig genug, dass der Kies in der Pfanne bleibt. Sie pflückt die größeren Steine aus der Pfanne, spült sie im Bach sauber, wirft sie weg. Jetzt lässt sie die Pfanne kreisen, Drehung um Drehung von Kies und Wasser, bei denen sich Erde und Lehm allmählich auflösen. Das Totengräbermädchen schwenkt Erd- und Lehmklumpen, spült so kleinere Kiesel an die Oberfläche, bis sich die schwereren Gesteine – das Gold, Mum, das Gold – am Boden der Pfanne ablagern. Die Pfanne hebt und senkt sich, das schlammige Gemisch dreht sich wie die Erde unter Molly Hooks schmutzbraunen Füßen. Und sie sucht und sucht eine Dreiviertelstunde nach dem Aufblitzen des Goldes, aber sie kann es nicht entdecken.

Nach all dem Suchen, all dem Sieben, merkt sie jedoch, dass die Pfanne, die ihr der Himmel geschenkt hat, auf beiden Seiten blank gespült ist. Das nasse Kupfer schimmert in der Sonne Darwins, und sie dreht die Pfanne in den Händen, lenkt einen reflektierten Sonnenstrahl auf ihre linke Handfläche und fragt sich, ob dieses Licht auf ihrer Haut nicht ohnehin viel hübscher ist als das größte Goldnugget, das sie je finden könnte. Vielleicht war es ja diese Art von Schatz, die ihr Großvater in jedem Winkel dieses Landes gesucht hat. Den Schatz des puren goldenen Lichts.

Jetzt ist sie müde und lässt sich nach hinten in das trockene Bachbett fallen, um sich auszuruhen, und sie blickt hoch in den blauen Himmel und spricht mit ihm. Sie stellt ihm eine Frage: »Warum hast du mir das geschenkt?« Die Sonne brennt ihr weißes Licht mitten in ihre Augen, und Molly schützt sie mit dem blanken Rund der Kupferpfanne und überlegt, ob das Geschenk ihr vielleicht eben dazu dienen sollte, dass sie hochschauen und nichts als blauen Himmel sehen kann. Doch als sie aufblickt, sieht sie Schnörkelschrift. Wörter. Eine Reihe von Sätzen, krude in die Unterseite der Goldschürfpfanne eingraviert. Sie liest die Wörter mit derselben Neugier, mit der sie die Inschriften auf den bröckelnden Grabsteinen des Friedhofs liest, all diese tieftraurigen Geschichten, die Hinweise auf das Leben der toten Seelen bergen, während der Dreck unter ihrem rechten Fingernagel jedes der seltsamen Wörter untermalt.

Ich werde kürzer, je länger ich steh

Und das Wasser fließt zum silbernen Weg

Sie spricht sich die Worte laut vor. Wiederholt sie, wieder und wieder. »Ich werde kürzer, je länger ich steh, und das Wasser fließt zum silbernen Weg … Ich werde kürzer, je länger ich steh, und das Wasser fließt zum silbernen Weg.«

Von den Wörtern zweigt eine Linie ab, die wohl so etwas wie eine Landkarte ergeben soll, aber es ist eine Karte, wie Molly sie noch nie gesehen hat. Sie hat schon Karten ihres Landes gesehen. Weiß, wo Darwin liegt, dieser fette Punkt, der in der linken oberen Ecke vom nördlichen Teil Australiens sitzt wie ein Juwel im Diadem einer Prinzessin. Kennt das Rechteck des Northern Territory, schnurgerade eingepasst zwischen dem fein umrissenen gewaltigen Western Australia und der ausgebeulten Wölbung Queenslands rechts im Osten. Hat staunend die wundersamen Ortsnamen in ihrem Northern Territory gelesen, Orte, die sie gern einmal besuchen möchte, wenn sie damit fertig ist, Löcher für die Toten zu graben, und für ihren Dad. Auld’s Ponds. Teatree Well. Eva Downs Station. Waterloo Wells. Jeder Ort beschwört ein Bild in ihrem Kopf herauf. Blaue Teiche, in denen langbeinige weiße Störche auf riesigen Seerosenblättern stehen, so groß wie Römerschilde, die über den Schnauzen schlafender Krokodile hinwegtreiben. Ein tiefer Brunnen voll englischem Tee, den sich schicke Männer und schicke Frauen mit schicken Hüten in feine Porzellantässchen einschenken, während sie zum Klang sonnengesprenkelter Violinisten Rasenspielen beiwohnen. Eine Frau namens Eva Downs, die aussieht wie Katharine Hepburn, und die mit einer Flinte in einer und einem Martini in der anderen Hand eine florierende Rinderfarm betreibt. Der Ort in der zentralaustralischen Wüste, wo Napoleon auf den Boden der Tatsachen aufschlug.

Ihr Vater besitzt eine Goldschürfkarte Australiens von 1914. Er bewahrt sie in seinem Arbeitszimmer direkt neben dem Elternschlafzimmer auf, das Molly nicht betreten darf. Auf der Goldschürfkarte ist Darwin nicht eingezeichnet. Sie zeigt nicht mal das gesamte Northern Territory. Die Karte ist rosa, und überall außerhalb der als Western Australia, South Australia, Queensland, New South Wales und Victoria markierten Staaten steht nur das Wort Aborigines. Abhängig von der schwindenden Zuversicht oder rasenden Verzweiflung des Goldsuchers betrachteten Horace, Aubrey und ihre alten Schürferkumpels diese mit Aborigines beschrifteten Gebiete entweder als gefährliches Niemandsland oder als jungfräuliche goldgespickte Geldäcker reif für die gewetzte Spitzhacke. Doch so etwas wie diese eingravierte Karte hier in ihren Händen hat Molly noch nie gesehen. Dies ist eine Karte wie aus einem Märchenbuch. Eine Karte ohne Städte und Dörfer, Flüsse und Straßen. Eine Karte der Wunder und Geheimnisse, des Reichtums und des Ruhms. Und der Schätze. Sie denkt an die Worte ihrer Mutter. »Jeder von uns hat seinen eigenen Schatz, den es zu finden gilt.«

Eine Schatzkarte, sagt Molly sich, während ihr Fingernagel dieser einsamen gravierten Linie weiter folgt, hinab zu einem zweiten Haufen Wörter.

Westwärts, wohin der gelbe Gabelmann dich führt

Gen Ost des Nachts, wo der Wald sein Blut verliert.

Sie wiederholt die Worte diesmal nicht, denn sie kann darunter noch mehr davon erkennen, und sie will unbedingt dem eingeritzten Strich weiter folgen, der sich in einer zittrigen Linie von Nordwesten nach Südosten quer über die Rückseite der Kupferpfanne zieht, hin zu einem nächsten Haufen Wörter, und Tausende blauer Schmetterlinge flattern nun in ihrem Bauch umher, als Molly mit ihrem kleinen Zeigefinger darunter entlangfährt.

Stadt aus Stein, im Himmel verloren

Der Ort hinter jenem, wo du geboren

Die Linie führt weiter, und es stehen noch mehr Wörter auf der Pfanne, aber die sind von Schlick bedeckt. Sie rennt noch einmal in den Bach, wischt die Rückseite der Pfanne mit ihrem Friedhofskleid ganz blank, und sie vergisst beinahe zu atmen, als sie die Schatzkarte des Großvaters, die der Himmel ihr geschenkt hat, hochhebt und das letzte Grüppchen eingravierter Wörter liest.

Dein sei, was du trägst, trage, was ist dein

Tritt ein in dein …

»Mollyyy!«

Onkel Aubrey brüllt ihr vom Milchholzbaum aus etwas zu.

»Komm aus dem gottverseuchten Bach raus, Kind!«

Spritzend und platschend prescht das Totengräbermädchen aus dem Wasser, erklimmt die Uferböschung, klammert sich an Büscheln hohen Grases fest, um sich hoch, zurück aufs Friedhofsgelände zu ziehen. Molly sieht ihren Onkel vor dem Grab stehen, das er eben ausgehoben hat, auf seine lange Schaufel gelehnt, mit der er es gegraben hat. Neben ihm ihr Vater, mit gesenktem Kopf, den schwarzen Hut fest in den Händen.

»Komm her, Kind«, befiehlt Aubrey. Mit seinen langen dünnen Armen und seinen langen dünnen Fingern winkt er sie zu sich herüber, aber sie will da nicht hingehen.

»Darf ich bitte hierbleiben, Onkel Aubrey?«, ruft Molly zurück.

»Nein«, sagt ihr Onkel. »Komm sofort her«, bellt Aubrey Hook. Er ist so groß und dürr, und sein breitkrempiger Arbeitshut ist schwarz wie seine Augen, seine Brauen und sein Blick. Am liebsten würde Molly weinen, um ihrem Onkel zu zeigen, dass sie Angst hat. Heul schon, sagt sie sich. Weine, Molly, weine. Wenn du weinst, wird er dich verstehen. Wenn du weinst, wird er dich gernhaben. Aber sie kann jetzt nicht weinen, sosehr sie es auch versucht.

»Dad«, brüllt Molly.

Doch ihr Vater schweigt. Sie weiß, dass ihr Vater schwächer ist als ihr Onkel.

»Dad!«, fleht Molly noch einmal.

Aber ihr Vater ist in seinem Kopf schon ganz woanders. Weggegangen, wie auch ihre Mutter weggegangen sein soll. Horace und Aubrey haben ihr erzählt, sie wäre einfach in den Busch marschiert. Haben ihr erzählt, sie hätte sich draußen in der Wildnis, tief im Buschland verirrt und den Weg zurück nicht mehr gefunden. Zurück zum Hollow Wood Cemetery. Zurück zu Molly.

Horace steht wie versteinert da, mit hängendem Kopf, Hut in den Händen.

»Du wirst sofort herkommen und dich von deiner Mutter verabschieden«, verlangt Aubrey vom Rand des Grabes her.

Molly nimmt ihr Himmelsgeschenk, die Kupferpfanne, und presst sie eng an ihre Brust. Ich werde nie Angst haben, sagt sie sich. Ich werde keinen Schmerz spüren. Stein ist hart. Unzerbrechlich. Sie schüttelt den Kopf. Nein. »Sie ist nicht da drin«, brüllt Molly.

»Wie bitte?«

»Sie ist nicht in diesem Loch«, sagt Molly und deutet hoch zum Himmel. »Sie ist da oben.«

Die Worte seiner Nichte verschlagen Aubrey einen Augenblick lang die Sprache. Er sieht sie prüfend an, um herauszufinden, wo sie entsprungen sind, in welcher Ecke ihres kranken Geistes. Irres kleines Totengräbermädchen, denkt er sich. Irre wie der Großvater. Irre wie die Mutter.

»Was hast du da?«, blafft Aubrey.

Molly schweigt. Er macht ein paar Schritte auf sie zu.

»Was hältst du da in den Händen, Kind?«

Nach drei weiteren Schritten bleibt er stehen.

»Das ist ein Himmelsgeschenk«, sagt Molly zaghaft. »Das ist die Goldpfanne meines Großvaters. Er wollte, dass ich sie bekomme, also hat er sie vom Himmel fallen lassen.«

Aubrey mustert seine Nichte noch einmal, dann nimmt er den Hut ab und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er schnauft und seufzt geräuschvoll, zieht einen Flachmann aus der Tasche, schraubt den Deckel ab und nimmt einen kräftigen Schluck. Er steckt die Flasche wieder weg, streicht sich mit der dreckverschmierten Rechten über die unrasierte Wange. Dann stiefelt er zügig auf seine Nichte zu, fletscht seine weißen Wolfsfänge, bohrt seine Wolfsklauen schmerzhaft in Mollys rechte Schulter und zieht sie Richtung Milchholzbaum. Während er sie über den Friedhof zerrt, greift er nach der Pfanne in ihren Händen und zieht fest daran.

»Gib mir die Scheißpfanne!«, faucht er.

»Nein«, kreischt Molly. »Nein, Onkel Aubrey! Sie gehört mir. Ich habe sie geschenkt bekommen.«

Der große schwarze Schattenonkel reißt die Pfanne mit seinem behaarten schwarzen Wolfsarm gewaltsam aus den Händen seiner Nichte und schleift Molly Hook zum Milchholzbaum und dem schwarzen Steinfroschstein, und sie rammt die Füße fest in die Erde, damit sie nicht so schnell vorankommen, doch der große schwarze Schattenonkel ist zu stark. Er packt ihren Körper so, wie er eine Schaufel packt. Zerrt sie näher und näher an den Milchholzbaum heran, bis sie das Loch im Boden sehen kann.

»Nein«, schreit Molly. »Bitte, Onkel Aubrey. Neiiin.«

Ein rechteckiges Grab ohne Grabstein. Ein rechteckiges, in die Erde versenktes Prisma aus Luft, ohne Namen, ohne Inschrift. Keine Lebensgeschichte. Kein Leben. Kein Lebewohl. Kein Glück.

Ihr Vater steht am Fuß des Grabes. Ihr Vater kann weinen, und er ist in Tränen aufgelöst.

Aubrey packt das Mädchen am Arm, zerrt es vor zum Rand des Grabes. »Sag deine Abschiedsworte«, dröhnt er, zornentbrannt und fahrig.

Das Mädchen rutscht beinahe ins Grab, doch kurz vor der Kante finden seine Füße wieder Halt, sodass es nicht vermeiden kann, hinab ins Loch zu schauen.

Molly hat fürchterliche Angst vor dem, was sie dort sehen wird, aber sie sieht überhaupt nichts. Was sie sieht, ist ein Schacht ohne Boden. Das Loch nimmt kein Ende. Sie könnte sich kopfüber ins Grab stürzen und würde bis in alle Ewigkeit mitten durch die Erde fallen, und jede Sehne ihres Körpers möchte genau das tun. Es ist ein Grab ohne Boden. Ein schwarzes Nichts, und dieses schwarze Nichts beweist, dass Molly recht hat, und sie brüllt ihren Vater übers Grab hinweg an. »Ich hab’s ihm gesagt, Dad. Sie ist nicht da unten.« Sie zeigt zum Himmel. »Sie ist da oben, Dad!«

Ihr Vater reagiert nicht im Geringsten auf seine Tochter. Horace weint und weint. Ihr Vater ist weggegangen. Weggegangen wie ihre Mum. Ich werde niemals Angst haben, sagt sie sich. Ich werde keinen Schmerz spüren. Nur Wut. Dann ballt Molly die Hände zu Fäusten, so fest, dass sich die Nägel blutig in die Handflächen bohren, und sie kreischt: »Sie. Ist. Nicht. Da. Unten!«

Aubrey tritt zur Längsseite des Grabes und spricht ruhig mit Horace. »Zügle dein Kind, Bruder.«

Doch Horace tut nichts. Horace schluchzt nur. Mollys schrille Schreie hallen über den Friedhof. So laut, dass sie seine schlummernden Bewohner aufzuwecken drohen. Ein Schrei vom Grunde des endlosen schwarzen Nichts in ihrem Inneren. Hoch und schrill und durchdringend. »Sie. Ist. Nicht. Da. Unteeen!«

Jetzt brüllt Aubrey seinen Bruder an. »Zügle dein Kind, Horace!«

Doch Horace ist weggetreten. Horace schluchzt nur. Und jede Träne, die ihr Vater weint, macht das Totengräbermädchen noch hysterischer.

»Warum heulst du?«, kreischt sie. »Sie ist nicht da unten. Sie ist nicht da unten. SIE IST NICHT DA UN…«

Und dann peitscht der knochige Handrücken des Onkels mitten ins Gesicht des Totengräbermädchens und bringt es jäh zum Schweigen. Molly Hook fliegt rückwärts auf den harten Friedhofsboden. Sie wischt sich über die Nase und betrachtet ihre Finger, an denen dasselbe Blut klebt, das ihr ganzes Gesicht bedeckt. Dieser Ort ist hart, sagt sie sich. Stein ist hart. Mein Herz ist hart wie Stein, sagt sie sich. Ich werde niemals Angst haben. Ich werde keinen Schmerz spüren.

Molly schaut auf zu ihrem Onkel, der immer noch die Goldwaschpfanne des Großvaters hält, als er sich von Molly abwendet und hinab ins Grab blickt. Molly steht da, wischt sich den Mund mit ihrem Friedhofskleid ab, spuckt einen Mundvoll Blut aus und rast dann auf ihren Onkel zu, rammt ihre Schultern fest in seinen Rücken und stößt ihn mit den Beinen vorwärts. Sie wird ihn zur Hölle schicken, wo er hingehört, und der schnellste Weg, der ihr gerade einfällt, führt durch dieses endlose schwarze Nichts.

Doch ihr Onkel rührt sich nicht. Seine Knochen sind zu hart vom ganzen Graben. Seine Knochen sind zu hart vom ganzen Leben. »Das ist dein Grab!«, schreit Molly und schiebt, so fest sie kann, während sich ihre nackten Zehen tief ins Erdreich bohren. »Das ist deiiin Grab!«

Dann gibt sie auf, gegen ihren Onkel anzurennen, und greift stattdessen nach der Pfanne in seiner rechten Hand. »Das ist meine«, kreischt sie. »Gib sie mir zurück.« Molly zerrt an der Pfanne, zieht mit aller Kraft und aller Willensstärke, die ihr noch geblieben sind. »Gib sie mir zurück.«

Aubrey Hook hält die Pfanne weiter fest gepackt, dreht sich um und grinst seine Nichte an, in unverhohlener Vorfreude auf das, was er gleich tun wird, und das Totengräbermädchen klammert sich immer noch verbissen wie eine Bulldogge ans Kupfer, als ihr Onkel den rechten Arm mit solcher Kraft und Wut emporreißt, dass Molly den Boden unter den Füßen verliert und durch die Luft geschleudert wird, und das Einzige, das ihren wilden Vorwärtsschwung noch bremst, ist der Aufschlag ihrer linken Schläfe auf den Rand des großen schwarzen Steinfroschsteins direkt neben dem Grab. Und dann hätte auch sie selbst es sein können, die durch das endlose Nichts gen Hölle stürzt, denn ihre ganze Welt, sogar der Taghimmel, wird auf einmal schwarz.

DER KEIM EINER GESCHICHTE

Ein schwarzer Flughund in der rosa Vordämmerung eines Regenzeithimmels. Die Schwerkraft formt den Kot des Flughundes zu einer Träne, die rasend schnell zur Erde fällt, und im Inneren dieser Träne ist ein einzelner Samen. Der Wind weht die Träne zu einem Eukalyptuswald mit ausgedehntem Unterholz aus dichtem grünem Bartgras. Die Träne fällt zu Boden, und der Keimling findet sein immerfeuchtes Fleckchen Erde. Die Sonne geht auf und wieder unter, auf und unter, immer wieder, und die schwarzen Flughunde des Northern Territory fliegen nach Ost und nach West, mit und zu ihresgleichen.

Regenzeit weicht Trockenzeit und die wieder der Regenzeit, und Sonnen weichen Monden, und bald wächst ein Baum aus dieser Furche feuchter Erde, in der sich einst der Samen eines Flughundes eingenistet hatte. Er ist knapp zehn Meter hoch, hat raue dunkelgraue Rinde und schimmernde runde Blätter, von denen Licht abprallt wie vom Innern einer Austernschale. Und dann, am Morgen des 7. Dezember 1941, inmitten dieser Blätter, zeigt sich eine kleine runde Frucht der Welt. Sie ist rot und ringsherum geriffelt. Es ist ein roter Buschapfel.

YUKIO MIKI UND DER SCHWARZE DRACHENHIMMEL

Im grauen Nebel einer Wolke streckt er seine Hand nach ihrem Foto aus. »Nara, gib mir Kraft«, flüstert er. Das verblasste Foto klebt mit Gummi gleich über der runden Treibstoffuhr von Yukio Mikis »Zero«, seinem Mitsubishi-A6M-Langstreckenjäger. Die ursprüngliche Fotografie war breiter: Nara Nui kniend neben dem rechten Bein ihres Vaters, Koga Nui, der auf einem Holzstuhl saß, die rechte Hand auf dem rechten Oberschenkel und die linke gut verborgen im langen Ärmel seines Kimonos aus Hanf und Seide – seinem Winterkimono –, den ein Pinienmuster schmückt, Bäume, die Yukio stets als eine angemessene bildliche Darstellung von Koga Nuis Persönlichkeit erachtete: alles überragend, widerborstig und, wenn überhaupt, nur mit einer Axt zu töten.

Schon vor Wochen hat Yukio die Fotografie mit seinem Taschenmesser in der Mitte durchgeschnitten, auf dem Kantinentisch eines Flugzeugträgers in der Bucht von Hitokappu auf den Kurilen, sodass nur Nara die heilige Gummifläche über der Tankanzeige schmückt. Nara blickt auf dem Bild nicht in die Kamera, und tatsächlich sah sie, wie sie Yukio mal erzählte, hinüber zu ihrer neunjährigen Nichte Soma, die hinter der Kamera gerade wacklig auf einem Paar leerer Suppendosen umhermarschierte, die sie sich mit Schnur an ihre Schuhe gebunden hatte. Soma sei es gewesen, die ihr dieses breite Lächeln aufs Gesicht gezaubert habe. Doch Yukio kannte die Wahrheit, wusste, dass das Leben selbst ihr dieses Lächeln geschenkt hatte; es waren Kinder und Schnee und im klaren Wasser eines Flüsschens entlangwippende Kragenenten, und es waren dicke Fische, die an ihrem Angelhaken hingen, und ein roter Papierdrachen, den der Wind davontrug und quer durch den Süden von Osaka wehte; es waren Luft und Meer und Himmel, die dieses Lächeln formten. Auf diesem Foto trägt Nara ihren Lieblingskimono, den mit den Pflaumenblüten, den winterlichen Vettern der sakura – den Kirschblüten. Die Pflaumenbäume blühten immer zu Beginn der kalten Tage, wenn Nara sich ins weiche Hautpolster zwischen Yukios Brust und rechter Schulter schmiegte. Dann spürte er, wie sich ihre Lippen an seiner Brust bewegten, während sie von ihrer Liebe und ihrer Zukunft sprach, und alles, was er sah, wenn er mit dem Rücken auf dem schneebeflockten Gras lag, waren die goldenen Herzen herabhängender weißer Pflaumenblüten vor einem Himmel so grau wie die Wolke, durch die er gerade fliegt. Es fühlte sich an, als würde Nara absichtlich mit seiner Brust sprechen, und wenn sie »zutto« flüsterte – ewig –, wollte sie es wirklich hautnah sagen, direkt zu seinem schnell pochenden Herzen.

Hinter seinem Sitz ist ein Fallschirm verstaut. Nur wenige Zero-Piloten haben Fallschirme an Bord. Er könnte ihn sich rasch hier in der Wolke anschnallen, denkt er. Das Cockpit einer Zero kann nicht abgesprengt werden, doch es lässt sich im Flug öffnen. Er könnte einfach aussteigen, sich unbemerkt von seinen Kameraden davonstehlen, ohne sich dafür zu schämen. Die stürmischen Winde des Pazifiks würden ihn zu einer tropischen Insel wehen, nach Ägypten, nach Paris oder nach London mit seiner großen runden gelben tickenden Uhr am Nachthimmel. Ein starker Aufwind könnte ihn mit seinem Fallschirm gar empor über die Wolken tragen, durch den Himmel und die Sterne bis nach Takamanohara, die Ebene des Hohen Himmels.

Nein, denkt er. Ein Zero-Samurai kämpft bis zum Tod. Tod, denkt er. Tod. Die einzige Antwort auf alle Fragen, die er sich über das Leben je gestellt hat. Der kürzeste Weg in den Himmel. Der schnellste Weg zu Nara.

*

Das Kurzschwert, das links neben ihm, im Spalt zwischen Pilotensitz und Cockpittür, gegen das Metall klappert, heißt wakizashi. Die Klinge dieses Schwerts ist nur dreißig Zentimeter lang. Wakizashi sind traditionell nur für den Nahkampf konzipiert, oder dazu, seppuku zu begehen, rituellen Selbstmord; doch Yukio trägt das Schwert heute nicht wegen der scharfen Schneide, sondern wegen der Macht seiner Geschichte. Ein Geschenk des Vaters an den Sohn. Ein über zweihundert Jahre altes Schwert, weitergegeben von einem Miki-Mann zum nächsten, alles Männer, die, mit Ausnahme des Kampfpiloten Yukio, in den berühmten Messerschmieden in der Altstadt von Sakai arbeiteten, am Rande der Bucht von Osaka, an der Mündung des Yamato.

Kurz über dem Griff ist ein Schmetterling in die Klinge eingraviert. Geschmiedet wurde sie in der Werkstatt der Familie im Herzen von Sakai, einem lebhaften Fischereihafen und einem von Japans geschäftigsten und ältesten Handelszentren, durchweht vom Geist des Seehandels wie vom Geruch von Thunfischblut und den Eingeweiden fetter Riesenkrabben. Und in ebendieser schlichten und gepflegten Messerschmiede in einer kleinen Gasse hatte Yukios Vater, Oshiro Miki, dieses wakizashi seinem Erstgeborenen, damals Mitte zwanzig, vermacht – an jenem Tag, als er Sakai verließ, um sich seinen Kampfgenossen an der elitären und strengen Pilotenschule der Kaiserlich Japanischen Marineluftstreitkräfte anzuschließen. Oshiro hatte seinem Sohn die Geschichte der Erschaffung dieses Schwertes schon unzählige Male erzählt, doch an diesem tristen Tag des Abschieds glaubte er, es noch einmal tun zu müssen.

»Keine Geschichten mehr, Vater«, flehte Yukio. Er war die Erzählungen seines Vaters leid. Als Kind hatte er sie geliebt. Geschichten, die besagten, dass die Familie Miki schon seit sechshundert Jahren Klingen schmiedete. Geschichten über Samuraischwerter, die man für große Krieger einst gefertigt hatte. Geschichten darüber, dass die Flamme der Feudalkriege schlussendlich erlosch und die Samurai so nutzlos wurden wie die Asche ihrer Toten, und die Familienältesten beschlossen, ihre Schmiedekünste anderweitig einzusetzen: zur Herstellung der schärfsten Fischmesser in ganz Sakai. Messer, dazu geschmiedet, Thunfischen die Köpfe abzuschneiden, und gleichwohl imstande, die Halswirbel eines jeden Fischers zu durchtrennen, der so töricht war, die Qualität des Klingenstahls der Miki anzuzweifeln.

Damals saß Yukio stundenlang auf einem umgedrehten Holzwaschzuber und beobachtete, während er Filetiermesser wetzte und polierte, wie sein Vater Fischer mit immer ausschweifenderen Geschichten über die mythische Herkunft des zum Verkauf stehenden Messers in den Bann schlug. Fischer vom Schwarzen und vom Mittelmeer, aus dem Pazifik und Atlantik und von Meeren, die so kalt und nördlich waren, wie die Welt nur reichte – und so weit und warm. Sie alle kamen eigens in den Hafen von Sakai, um Oshiro Miki und seinen Messerschmied-Geschichten zu lauschen. Und jede Woche fragte sich der junge Yukio, auf welch wundersame Weise es dem Vater wohl gelungen war, wieder eine heilige und alte Klinge zu erstehen, von der er sich niemals hatte trennen wollen, die er unter Umständen aber einem weit gereisten Fischer anvertrauen würde, so er diesen denn des Messers würdig erachtete.

»Sie gebärden sich ehrenhaft«, lobte Oshiro in solchen Fällen stets den glücklichen Kunden dieser Woche. »Sie haben mir und meiner Familie Respekt erwiesen, und für diese Güte werde ich mich erkenntlich zeigen, indem ich Ihnen eine überaus seltene Klinge zeige. Ich werde Ihnen nun die Geschichte dieser Klinge erzählen, aber Sie dürfen sie nicht weitererzählen und nie darüber sprechen, wo Sie sie erstanden haben.«

Was dann folgte, war für gewöhnlich eine Geschichte voller Abenteuer, Heldenmut, Opfermut und Tragik und immer wahrer Liebe. Die Klinge, die Yukios Vater in der Hand hielt, war ausnahmslos der geheiligte Gegenstand, mit dem es dem tragischen Helden dieser Erzählungen gelang, eine böse Macht zu überwinden – einen hinterlistigen Verwandten, einen alten Zauberer, eine verlockende Hexe, ein vielarmiges Meeresungeheuer –, die dem Triumph der wahren Liebe im Wege stand. Nachdem Oshiro diese lukrativen Geschäfte abgeschlossen hatte, wandte er sich meist im Flüsterton an seinen Sohn und sprach über die Macht und die Magie von Geschichten. »Die besten Klingen werden nicht aus Stahl geschmiedet, mein Sohn«, sagte er, »sondern aus Geschichten.« Oshiro Miki wusste sehr wohl, dass seine Kunden ganz offen darüber sprachen, wo sie ihre wertvollen Klingen erstanden hatten. Er wusste, dass seine dringende Bitte, die altehrwürdige Werkstatt und ihre kostbaren Geschichten streng geheim zu halten, sie erst dazu brachte, über Thunfischnetzen und Hackbrettern rund um den Globus von den Klingen der Familie Miki aus Osaka zu sprechen.

Während Yukio hinter dem Werkstatttresen zum jungen Mann heranreifte, brachte sein Vater ihm bei, fremden Reisenden diese Geschichten über Messer in gebrochenem Englisch, Französisch oder Spanisch auszubreiten. Die Geschichten, meinte er, klängen sogar noch geheimnisvoller und bedeutungsschwerer, wenn man ein paar sorgsam ausgewählte englische Wörter einstreute.

»Love!«, rief Oshiro mit perfekter Aussprache einem reichen amerikanischen Paar zu, das, die Taschen prall gefüllt mit Ölgeld, die sieben Weltmeere bereiste. Aufgeregt winkte er den lang verheirateten Eheleuten zu. »I see … love!«, stieß er hervor. Und dann erklärte er ihnen in bruchstückhaftem Englisch, dass love sein Lieblingswort in der gesamten englischen Sprache sei, denn es sei das erste in ihrer Sprache gewesen, das er je gelernt habe. Wie vollkommen es doch sei, bekundete Oshiro, und wie glücklich er sich doch schätzen könne, dass sein erstes englisches Wort auch das tiefsinnigste, heiligste und freudigste der Sprache überhaupt gewesen sei. »True … love«, sagte er lächelnd.

Und Yukio sah zu, wie die Amerikaner lächelten, im neu erlangten Wissen, dass ihre Liebe, ungeachtet aller gegenteiligen Gefühle, die sie manchmal hegten, so stark und augenscheinlich war, dass sie sogar die Grenzen von Sprachen und Meeren überwand. Und dann erzählte Yukios Vater ihnen, wie sehr ihre wahre Liebe ihn doch an eine Geschichte über wahre Liebe erinnerte, in der ein heiliges und kostbares wakizashi eine Rolle spiele, welches ein perfektes Souvenir abgeben würde, das sie ihren vielen Freunden daheim in Pennsylvania zeigen könnten.

»War love wirklich das erste englische Wort, das mein Vater je gelernt hat?«, fragte Yukio seinen Großvater Saburo Miki, einen alten, stillen und nachdenklichen Mann, als sie an jenem Abend das Geschirr abwuschen.

»Ha!«, lachte Saburo. »Das erste Wort auf Englisch, das dein Vater lernte, war dog. Und das zweite Wort war fish

»Dann ist mein Vater also ein Lügner«, sagte Yukio.

»Dein Vater ist ein Geschichtenerzähler«, sagte Saburo und schrubbte dicke braune Fischsoße von einem Teller. »Er erzählt diese Geschichten, um jeden Abend diesen Teller hier für dich zu füllen. Es gibt einen Unterschied zwischen Lügnern und Geschichtenerzählern, Yukio.« Der Großvater reichte seinem Enkel den sauberen Essteller. »Manche Geschichtenerzähler kommen trotzdem in den Himmel.«

*

»Nur noch eine Geschichte«, sagte Oshiro Miki und hielt dem Sohn das wakizashi in beiden Händen hin. Wie bei allen vorherigen Gelegenheiten führte er die Geschichte mit einem Hinweis auf deren eher fragwürdige Wendungen ein: »Damit diese Geschichte dein Herz berühren kann, mein Sohn, wirst du sie womöglich mit einer Prise Salz von den Ufern des Binnenmeeres schlucken müssen«, sagte Oshiro. »Die Fakten der Geschichte solltest du nur auf Seidenpapier schreiben. Ihre Bedeutung aber solltest du in Stein meißeln.«

Auch diesmal lauschte Yukio geduldig und respektvoll, als sein Vater davon berichtete, wie dieses Kurzschwert im 18. Jahrhundert von einem zurückhaltenden und gewissenhaften Messerschmied namens Asato Miki gefertigt wurde, der kurz zuvor erfahren hatte, dass die Liebe seines Lebens, Rina, Sakai in den Armen seines jüngeren Bruders Uno verlassen hatte. Gefangen in der Finsternis von Trauer und Verrat schwor Asato Miki sich, die perfekte wakizashi-Klinge zu schmieden, fest entschlossen, sich damit das eigene rasende Herz herauszuschneiden und es anschließend in jenen Glutofen zu werfen, der seine Mordwaffe geschmiedet hatte. Für solch eine menschenunmögliche Tat, schloss Asato, würde er eine ebenso unmögliche Klinge schaffen müssen, und so hämmerte Asato in einer einzigen schwindelerregenden Vierundzwanzigstundenschicht fieberhafter und hasserfüllter Arbeitswut zwei Arten von Metall zusammen – weiches, formbares jigane-Eisen und harten, tödlichen tamahagane-Stahl –, und zwar in einem Ofen, der so heiß war, dass Asato nur in halbstündigen Ausbrüchen wilden Furors daran schmieden konnte, während sein Lehrling ihm ständig frisches Wasser bringen musste, das er nicht nur gierig trank, sondern das ebenfalls dazu diente, die Klinge abzukühlen und zu härten. Asato fühlte sich so stark an jenem Tag, dass er bald glaubte, der wahrhaftige Atem des Futsunushi – Gott der Schwerter – habe seine Werkstatt erfüllt und das Feuer eines Drachens rinne durch sein Blut. Asato schmiedete die beiden Metalle zu einer einzigen Klinge, die so scharf war, dass sie mit vier raschen Hieben die Beine jenes Bettes abschnitt, das er drei Jahre lang mit Rina geteilt hatte.

Der gepeinigte Klingenmacher war verblüfft von seiner aus tiefem Schmerz geborenen Kunstfertigkeit. Und er war noch verblüffter, als er merkte, dass die Freude über seine neu entdeckte Gabe jenen Kummer zum Verschwinden brachte, der ihn das Schwert überhaupt erst hatte schaffen lassen. Asato begann, seine wundersamen Schmiedekünste in den Sake-Häusern von Sakai zu demonstrieren und zu bewerben, indem er freigiebige Gäste aufforderte, ihn mit Gegenständen zu bewerfen – Äpfeln, Orangen, Möhren, Kartoffeln, beklagenswerten Wirtshausratten –, die er daraufhin allesamt mit einem einzigen Hieb seines kurzen, aber flinken Schwertes in zwei exakte Hälften teilte, eines Schwertes, das so dünn war wie ein Flussgeist des Yamato.

Eines Tages ging im Hafen von Sakai ein legendärer reisender Meuchelmörder an Land, den man den Weißen Tiger nannte. Seine dichte Mähne schlohweißen Haares war zu einem Zopf geflochten, der ihm fast bis zu den Waden fiel. Er begann, sich zu erkundigen, fragte nach einer unmöglichen Klinge, die geschmiedet war aus Liebe und Verrat, Verlust und Hass.

»Dieses Schwert ist nicht verkäuflich«, erklärte Asato dem Fremden, als der in seine Werkstatt trat.

»Was, wenn ich dir sagte, dass der erste Mensch, den ich mit dieser Klinge töten werde, die Verräterin Rina sein wird?«, fragte der Weiße Tiger. »Und was, wenn ich dir verspräche, dass die zweite Person, die ich mit dieser Klinge töten werde, dein jüngerer Bruder Uno sein wird?«

Asato schwieg für einen Augenblick. »Dieses Schwert ist nicht verkäuflich«, sagte er.

Der Weiße Tiger griff in einen Lederbeutel, den er am Gürtel um die Hüfte trug. Dann hob er die geschlossene Faust, öffnete die Finger und brachte einen blütenweißen Schmetterling zum Vorschein, der von der glatten Handfläche des Mörders emporflatterte.

»Kennst du die Geschichte vom Totengräber und dem Schmetterling?«, wollte der Meuchelmörder wissen.

»Nein, die kenne ich nicht«, erwiderte Asato.

*

Und so erzählte Oshiro Miki nun die Geschichte, wie der Weiße Tiger die Geschichte von Takahama erzählte, der in eine wohlhabende Familie geboren wurde, hohe Bildung genoss und trotz all dieses Glücks beschloss, den Rest seines Lebens allein zu fristen, Gräber für die Toten auszuheben und ihre Grabsteine zu pflegen, als Wärter in einem von Geistern heimgesuchten Friedhof, dem unheimlichsten im ganzen alten Japan, wie es hieß. Die Hütte des Wärters, die an den Friedhof grenzte, war derart ärmlich, dass Takahamas reiche und einflussreiche Familie sich aus Angst um ihren Ruf weigerte, ihn dort zu besuchen. Jahre später, als zwei Dorfbewohner aus der Nachbarschaft zufällig entdeckten, dass der greise Takahama allein im Sterben lag, schickten sie sofort nach dessen verbliebenen Verwandten.

Takahamas Neffe Hansuke, den er seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte, schaffte es noch rechtzeitig ans Bett des Alten, um ihm in seinen letzten Stunden beizustehen. Als Takahama seine letzten Atemzüge tat, flatterte ein schneeweißer Schmetterling durchs Fenster herein und setzte sich seelenruhig auf seine Nasenspitze. Der Schmetterling schlug ein, zwei, drei Mal mit den Flügeln. Hansuke scheuchte das Tier fort, doch so oft er den Schmetterling auch vertrieb, er kehrte immer wieder auf des Alten Nasenspitze zurück. Dann schlossen sich Takahamas Augen für immer, und, als würde der weiße Schmetterling dies wissen, flog er wieder aus dem Fenster. Ohne groß darüber nachzudenken, folgte Hansuke dem Insekt ins Innere des schauderhaften Friedhofs. Er rannte zwischen grauen und schwarzen Grabsteinen hindurch, von Moos und Unkraut überwuchert, Reihen um Reihen nie besuchter Toter. Der weiße Schmetterling flog nach rechts und dann nach links und schließlich tief in einen Tunnel aus Ulmen, der an einem einsamen Grabmal endete, wo der Schmetterling sich auf dem einzigen Grab im ganzen Friedhof niederließ, auf dem keine Spur von Moos und Schmutz zu finden war. Ja, die Ruhestätte wirkte gar so makellos, als wären Grab und Grabstein erst heute dort errichtet worden. Auf dem Grabstein stand ein Name: Akiko.

Als er die Grabinschrift studierte, konnte er sich die Geschichte, die den Onkel zu seiner Entscheidung gebracht hatte, allmählich zusammenreimen. Akiko und Takahama waren verlobt gewesen, doch am Tage vor ihrer Hochzeit war Akiko gestorben. Da Takahama bereits geschworen hatte, stets für seine geliebte Akiko da zu sein, jeden Tag und jede Stunde, beschloss er, dies auch weiterhin zu sein, selbst wenn dies bedeutete, nur noch ihr Grab zu pflegen.

Als er am Grab stand und darüber nachsann, sah Hansuke einen weiteren kleinen Schmetterling aus dem dichten Wald rings um den Friedhof herbeiflattern und auf den anderen zufliegen, dem er hierher zum Grab gefolgt war und der noch immer über dem Grabstein schwebte. Die beiden weißen Schmetterlinge umkreisten einander einen Augenblick, und Hansuke trat heran, doch die Bewegung ließ die Schmetterlinge aufstieben, und sie flatterten empor und kamen nie wieder herab. Der Neffe starrte in den blauen Himmel über sich, nicht aber voll Trauer und Verstörung, sondern mit tiefem Staunen.

Asato Miki strich sich in seiner Messerschmiede übers Kinn und ließ die Geschichte des Auftragsmörders auf sich wirken.

»Und?«, fragte der Meuchelmörder.

»Und was?«, erwiderte Asato.

»Was hast du aus der Geschichte gelernt?«, fragte der Mörder.

Asato strich sich noch mal übers Kinn, dann antwortete er: »Es ist eine einfache Geschichte, die du da erzählt hast, und es lässt sich nur eines daraus lernen«, sagte er. »Es geht um Verwandlung. Manchmal bleiben sie bei uns. Und manchmal warten sie auf uns. Die Verlorenen sind nicht verloren. Wir können unsere Gestalt verändern. Wir können uns verwandeln. Manchmal zum Besseren …«

»Manchmal zum Schlechteren«, fiel der Meuchelmörder ihm ins Wort, und sein Blick schweifte zu dem blütenweißen Schmetterling, der nun über seiner rechten Schulter schwebte. Er wandte sich wieder an Asato. »Ich muss dir jetzt dein Leben nehmen«, sagte er.

»Warum?«, fragte Asato.

»Weil du deine Kunst nicht mit mir teilen willst.«

»Du hast mir gar keine Gelegenheit dazu gegeben«, entgegnete Asato.

Der Meuchelmörder hielt kurz inne. »Nun gut«, sagte er. »Dann zeige mir die ganze Fülle deiner Kunst.«

»Wie sollte ich das tun?«, erwiderte Asato.

Der Meuchelmörder sah hinüber zum Schmetterling. »Nimm dein Schwert und schlage diesem weißen Schmetterling im Flug einen Flügel ab.«

»Das ist unmöglich«, sagte Asato.

»Deine Klinge ebenso«, sagte der Meuchelmörder.

Asato schöpfte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Er holte das unmögliche Schwert aus einer kleinen verschlossenen Kammer, die von der heißen Schmiedeecke abging, kam wieder zurück und stellte sich vor dem Schmetterling und dem Meuchelmörder hin. Dann packte er den Schwertgriff, riss die makellose Klinge hoch, worauf der Schmetterling wie durch Willenskraft, wie auf Befehl, vor seinem Antlitz in der Luft schwebte. Der betrogene Schwertmacher holte kurz Luft, dann spannte er die Schultern an, stemmte die Füße fest zu Boden und schwang die Klinge – doch brach er den Hieb augenblicklich wieder ab und bot dem Mörder das Schwert dar, mit dem Griffende zuerst. »Ich kann es nicht«, sagte er kopfschüttelnd.

Der Mörder hob verdutzt die Brauen.

»Das Leben des Schmetterlings ist ohnehin zu kurz«, sagte Asato.

Der Meuchelmörder nahm das Schwert, beäugte es und legte den Zeigefinger behutsam auf die Schneide. Dann wandte er sich zu Asato um und schwang dreimal die Klinge. Der Klang durch die Luft zischenden Stahls war der einzige Beleg seiner Bewegungen, denn die Klinge war schneller als das Auge. Asato seufzte lange und erleichtert auf, als er begriff, dass er noch immer atmete.

Der Weiße Tiger legte sich das Schwert behutsam in die Handflächen und reichte es seinem Schöpfer zurück.

»Du hast recht, Messermacher«, sagte er, bevor er sich umdrehte und durch die rostquietschende Holztür der Werkstatt von dannen stiefelte.

Asato verharrte einen Moment in Schweigen und stürzte dann zur Tür, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Mörder in der geschäftigen Menge des Hafenstädtchens verlor. Der blütenweiße Schmetterling schwebte noch immer ruhig über seiner rechten Schulter.

*

»Und?«, fragte Yukio.

»Und was?«, entgegnete Oshiro.

»Was möchtest du mir damit sagen, Vater?«, wollte Yukio wissen.

»Die Verlorenen sind nicht verloren«, sagte Oshiro Miki in der Stille seiner Werkstatt.

Yukio nickte verständig. »Es gibt da etwas, das ich dir über traurige Liebesgeschichten sagen muss, Vater«, meinte er. »Sie sind weniger vergnüglich, wenn sie wahr sind.«

Oshiro schwieg. Dann nickte er ernst und sagte: »Die Verlorenen sind nicht verloren. Manchmal verwandeln sie sich. Manchmal bleiben sie bei uns.«

Und dann, sachte in die Handflächen gebettet, übergab Oshiro Miki das alte feuergeschmiedete Kurzschwert seinem erstgeborenen Sohn Yukio, bevor dieser in den Krieg aufbrach.

Schweigend nahm Yukio es entgegen. Er trat zur Werkstatttür und wandte sich zum geliebten Vater um.

»Und manchmal warten sie auf uns«, sagte er. Dann ließ Yukio seinen Vater zurück in seiner Werkstatt, ging aus der Tür und in den Krieg.

*

Nara lächelt ihn jetzt an, hier in dieser geflügelten Waffe. Hört jetzt ihr höllisches Maschinendonnern, das eigene und das von seinen Fliegerbrüdern, die den Tod fürchten oder auch nicht, verteilt über eine Angriffswelle von 183 Kampfflugzeugen in Pfeilformationen: 89 Nakajima-B5N-Bomber bestückt mit 800-kg-Torpedos und 250-kg-Bomben; 51 Aichi-D3A-Sturzbomber mit je einer unter den Rumpf geschnallten 250-kg-Bombe und zwei 30-kg-Bomben in Halterungen unter den Flügeln; dazu 43 wendige Zero-Jäger, die darüber fliegen, näher an der blauen Kuppel über ihnen, näher am Himmel. Das tollwütige Fauchen dieses Lärms, das Knurren darin. Die Wespe darin. Der Tiger darin. Eine brutale Sinfonie aus dreiflügeligen Propellern, die die Luft zerhacken, und überlasteten, Qualm speienden Motoren. Rote Flecken auf den Flügeln. All diese roten aufgehenden Sonnen in einer Morgenhimmelformation.

Yukios Cockpithaube gewährt ihm einen Rundumblick auf Himmel, Wasser und Land. Rechts von ihm ein hoher grüner Gebirgszug, links nur Wolken. Es ist 7.48 Uhr am Morgen, und Yukio fliegt schon seit einer Stunde und vierzig Minuten. Die Luftflotte schwenkt westwärts, folgt einer türkisen Küstenlinie, und Yukio greift rasch nach seinem Fernglas. Diese runden Gläser vergrößern nun die Schönheit und den Schrecken von acht majestätischen Schlachtschiffen im Hafen von Pearl Harbor auf Oahu, Hawaii. Um sie herum liegt eine Reihe kleinerer Kriegsschiffe vor Anker, angeschmiegt wie schlafende Mäuse neben Windhunden.

Yukio lässt das Fernglas sinken und sieht mit bloßem Auge schon den »schwarzen Drachen«, eine funkensprühende dunkelblaue Leuchtrakete, die in den hellblauen Himmel steigt. Sie wissen nicht, dass wir kommen, sagt sich Yukio. Der Geschwaderkommandeur, Kapitän Mitsuo Fuchida, spricht mit dieser Leuchtrakete laut und deutlich zu Yukio und seinen Waffenbrüdern. Spricht, ohne zu sprechen. Er sagt nur ein Wort. Schreit es heraus mit einem lodernd in die Höhe jagenden Drachenschweif. Befiehlt es. Nur ein Wort. Angriff.

Yukio greift mit seiner linken Hand nach der Zielvorrichtung zwischen seinen beiden 7,7-Millimeter-MGs. Mit der Rechten langt er nach dem Foto über der Tankanzeige. Er faltet das Bild zusammen, knickt die Ober- auf die Unterseite. Er will nicht, dass sie das sieht. »Ich komme, Nara«, flüstert er, als sein Jäger in die Tiefe stößt, hinab in einen Horizont in Flammen.

WEGE DURCH DAS LABYRINTH

Hier ruht Lisbeth Fleming. Verstorben mit dreiundsiebzig Jahren, Grippe. Beerdigt 1884. Hier steht Molly Hook, zwölf Jahre und neun Monate alt, vier Fuß tief in Lisbeths Grab, während sich Berts Schaufelblatt durch alte Erde beißt, die zum ersten Mal nach siebenundfünfzig Jahren wieder Sonne sieht.

»Wasser?«, fragt Molly.

»Pause bei fünf Fuß«, sagt ihr Vater Horace. »Diese alten Totengräber haben immer gepfuscht. Haben meistens nach fünfeinhalb Schluss gemacht.«

Ein Grabstein. Ein Loch im Boden. Das Mädchen tief im Loch und sein Vater und sein Onkel Aubrey, auf ihre Schippen gelehnt darüber, rechts und links am Rand des Grabes. Rings ums Grab türmt sich bergeweise Erde und ein einzelner Haufen mit Steinen, daneben eine rostige Breithacke, die dazu gedient hat, alle auszubuddeln.

Molly gräbt. Und gräbt. Und gräbt. Sie trägt alte braune Lederstiefel, ihre Buddelstiefel, und ein Paar braune Jungshosen, die Horace mal in einem Wohlfahrtsladen in Tennant Creek gefunden hat.

Molly gräbt, die dürren Arme nichts als Muskeln und Knochen, und füllt einen Holzeimer mit Graberde, den ihr Vater und ihr Onkel nach jeder achten Schaufelladung hoch an die Oberfläche ziehen.

»Dad.«

Horace zieht tief an seiner Kippe. Atmet aus.

»Mmmm«, raunt er Molly zu. Erteilt ihr damit die Erlaubnis, was zu sagen.

Molly schaufelt beim Reden eifrig weiter, ermutigt durch das Einverständnis ihres Vaters. »Ich hab mir gedacht, wo ich doch diese Woche schon sechs aufgebuddelt hab, und das hier ist mein siebtes, und auch echt viel mit den Kunden gearbeitet hab, da hab ich mich gefragt, ob du mich vielleicht am Samstagabend mit Sam ins Star geh’n lässt?«

»Ich kann’s mir nicht leisten, dich in irgend so’n Kino gehen zu lassen, Molly«, sagt Horace.

»Nein, nein, Sam hat gesagt, dass er mich einlädt«, sagt Molly.

»Wer ist Sam?«

»Sam Greenway.«

»Der Blackfeller?«

Nur Sam und sonst nichts, denkt Molly. Ihr bester Freund, der weder eine Schaufel noch ein Himmel ist.

»Sam kommt aus einer guten Familie, Dad. Er arbeitet wirklich hart, und er ist verdammt schlau, und er hat mir alles drüber erzählt, wie es ist, im Busch aufzuwachsen, im echten Buschland hinterm Clyde River.«

»Und was erzählt dir Sam so drüber, wie’s so ist, weit draußen da im Buschland?«

Molly hört auf zu buddeln. Sie blickt auf zu ihrem Vater, da oben an der Oberfläche, und die Sonne fällt über seine Schultern direkt in ihr Gesicht. Sie hält sich die Hand über die Augen.

»Er sagt, es wäre zauberhaft«, meint Molly. »Er sagt, in den Flüssen gibt es Krokodile, die sind so alt wie Dinosaurier und können mit ihm sprechen, und er sagt, es gibt da draußen Pflanzen, so groß, dass ihre Lianen dich im Schlaf erwürgen können. Und Bäume mit so weicher Rinde, dass man sie zusammenrollen und unter freiem Himmel darauf schlafen kann, und diese Bäume würden auch mit einem sprechen. Und dann gibt es noch Ol’ Man Rock, der nur ein großer Fels ist, aber die Antwort auf alle Fragen kennt, die man ihm nur stellen kann.«

Horace Hook nimmt einen Stock und schabt sich einen Erdklumpen von der linken Stiefelsohle. »Ich hoff mal, er hat dir auch von all den Verbrechern erzählt, die da draußen in Hütten und Höhlen hausen«, sagt er. »Hat er dir auch davon erzählt, Mol? Mörder auf der Flucht vor dem Gesetz, die sich so tief im Busch verstecken, dass es selbst den Bullen zu gefährlich ist, sie zu verfolgen. Diebe und Vergewaltiger, die sich von Wasserratten und Erdnussbüschen ernähren. Männer mit Pocken, Frauen, denen die Syphilis das Hirn zerfressen hat. Kidnapper, die die Jungfräulichkeit einer Zwölfjährigen für ’ne Dose Öl verhökern würden. Wahnsinnige Kindermörder, die einem Mädchen das Herz rausschneiden und es gegen ’ne frische Apfelsine tauschen.«

Molly bleibt stumm. Blinzelt mit den Augen.

»Nein«, sagt sie. »Davon hat Sam nichts erzählt.«

»Wenn du zu tief ins Buschland gehst, kann’s sein, dass du nie wieder zurückkommst«, sagt Horace. »Also keine gottverfluchten Buschwanderungen mehr, Molly, verstanden?«

»Verstanden.«

»Grab, Molly, grab.«

Und Molly gräbt. Horace raucht seinen starken Tabak und genießt für einen Augenblick die Stille. Dann bricht Molly das Schweigen. Molly bricht immer das Schweigen.

»Sam hat mir gesagt, wie man einen Ameisenigel isst, obwohl ich geglaubt hab, es wär unmöglich, einen Ameisenigel zu essen«, sagt sie und lässt eine weitere Ladung Erde in den Holzeimer fallen. »Willst du wissen, wie man einen Ameisenigel isst, Dad?«

Horace seufzt, zieht an seiner Kippe. »Und wie isst man einen Ameisenigel, Molly?«

»Das Schwierige an der Sache sind natürlich die ganzen Stacheln auf dem Rücken«, sagt sie. »Aber Sam meint, dass man die Stacheln einfach mit einer dicken Schicht aus Lehm bedecken muss – du weißt schon, dieses rote Ferrosolzeug, von dem du mir erzählt hast –, dann haut man den Ameisenigel aufs Feuer, und wenn er gar ist, schält man diese Lehmschicht obendrüber ab, und die ganzen Stacheln kommen mit, etwa so, wie wenn man den Deckel von einer Sardinenbüchse aufrollt, nur dass das, was unter diesen Stacheln liegt, fetter und leckerer ist als jede Ente, die man in Paris serviert bekommt.«

Molly gräbt weiter, schippt die Erde in den Eimer, zählt acht Schaufeln ab und lässt ihren Onkel den Eimer wieder hochziehen.

»Im Star läuft Mein Mann, der Cowboy mit Gary Cooper«, sagt Molly. »Du würdest Gary Cooper mögen, Dad. Er spricht nicht viel in seinen Filmen. Er ist immer still und ernst, genau wie du und Onkel Aubrey.«

Molly blickt ihren Vater an, und der schaut wie immer hinüber zu seinem älteren Bruder Aubrey. Und Onkel Aubrey schüttelt kurz den Kopf.

»Aber ich war schon …«

»Still jetzt, Molly«, sagt Aubrey, dessen Lippen man unter seinem schwarzen Schnauzbart nicht sieht.

»Aber …«

»Grab, Kind, grab«, knurrt Aubrey.

Molly gräbt. Eine, zwei, drei Schaufeln voll. Vier, fünf, sechs Schaufeln voll. Bert die Schaufel scheppert gegen einen großen Stein, der sich unter der Graberde verbirgt. Molly greift nach einer schmiedeeisernen Meißelstange, die rechts an der Grabwand lehnt. Dann rammt sie das keilförmige Ende der Stange mit beiden Händen dreimal in den Stein, bis er in drei Stücke zerschellt, die sie mit einer kleineren Spitzhacke freihackt.

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