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Der andere Mozart

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Eveline Hasler bringt uns in ihrer neuen Novelle Mozarts Künstlerleben und seinen Existenzkampf so nahe wie kaum jemand vor ihr. Zudem bringt sie Mozart und den Riesen Melchior Thut zusammen, denn diese beiden, die auf den ersten Blick nicht verschiedener sein könnten, hatten nicht nur im Leben ihre Berührungspunkte – sie spiegeln sich auch das eine oder andere Mal ineinander. Literarisch verknappt und reduziert wird zwischen Geldsorgen und der genauso verzweifelten Suche nach Anerkennung aus einem Leben eine Metapher für die künstlerische Existenz an sich.


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013661
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1.
Der grösste oder der längste Mensch?

Vor drei Tagen hatte ein Impresario aus dem Glarnerland den Riesen nach Wien in das von Johann Bernhard Fischer von Erlach vornehm umgebaute Hotel Zur Mehlgrube gebracht und in einem singenden Glarnerdeutsch den Wunsch geäussert, man möge dem riesigen Menschen ein respektables Logis geben. Es liege ihm daran, das menschliche Wunder in Wien in einem vornehmen Rahmen zur Schau zu stellen.

Der Saal auf der Südseite entsprach seinen Vorstellungen.

Bei einer Besichtigung begrüssten sie in der offen stehenden Tür des Nebenraums einen Musiker, der einem Jüngling eine Unterrichtsstunde am Kontrabass erteilte. »Verzeihen Sie die Störung«, sagte der Impresario, »Sie erhalten einen wunderbaren Nachbarn, darf ich vorstellen: Herr Melchior Thut aus dem Glarnerland, er ist konkurrenzlos der Grösste in dieser Welt!«

Der junge Musikschüler, über sein Instrument gebeugt, schaute kurz hoch, fuhr dann mit dem Bogen kratzend über die Saiten und sagte verschmitzt: »Erlaubt, fremder Herr, Euer Schützling ist nicht der Grösste, nur der Längste!

Neben mir – darf ich vorstellen – steht ein wirklich Grosser, der Musikus Wolfgang Amadé Mozart. Er gilt schon jetzt für viele als der grösste Komponist Österreichs!«

Der Impresario schüttelte über dieser Rede des Halbwüchsigen unwillig den Kopf: »Seid nicht vorlaut, junger Mann! Doch ich will Eurem Lehrer, diesem Herrn Mozart, gestatten, seinen Zimmernachbarn – und dies ohne Eintrittsgeld – als Erster zu betrachten: Thut ist ein Wunder, ein schön und ebenmässig gewachsener Riese! Nicht dumm und tollpatschig wie andere zu gross Gewachsene, die man in Uniform und Stiefeln mit gepolsterten Sohlen auf den Märkten für Geld zeigt! Das hat auch in Stuttgart der württembergische Herzog nach einer kurzen Vorstellung so empfunden: ›Dieser Riese steht meinem Schloss gut an!‹ Und damit wurde der Riese als Diener in Karl Eugens menschlichem Raritäten-Kabinett aufgenommen, mit Zwergen, dicken Frauen und …«

»Und jetzt steht er unter uns«, warf Mozart ein. »Hat man ihn wohl in Stuttgart entlassen?«

»Nein, er hat sich im Frieden vom Fürsten verabschiedet. Mit seinen 43 Jahren will er wieder öfter zu Hause im Kreis der Eltern und Geschwister im Glarnerland sein, in seinen geliebten Bergen …«

»Und doch habt Ihr ihn den weiten Weg bis nach Wien machen lassen. Er sieht erschöpft und krank aus. Schmerzt das riesige Rückengestell?«

»Ach ja, die langen Kutschenfahrten«, erwiderte der Riese seufzend.

»Setzt Euch, Thut. Dort drüben steht ein Kanapee.« Er zeigte in den kleinen Saal. »Schön eingerichtet ist alles. Möbel aus Kirschholz, Teppiche, seidene Kissen …«

»Ja, das Hotel Zur Mehlgrube hat sich gemacht«, sagte Mozart. »Aus der Mehlgrube ist durch den Umbau von Baumeister Fischer von Erlach ein Etablissement für den Adel von Wien geworden! Für die Redouten- und Ahnenbälle im grossen Saal muss man eine Liste mit Adelsnachweis erbringen.«

»Ein gutes, edles Publikum«, ergänzte der Impresario und winkte Thut zu. »Man wird Euch bewundern – und das wird Euch gesund machen!«

»Ich möchte lieber für meine Gesundheit ein bisschen Musik hören dürfen – von Herrn Mozart!«, warf Thut lachend ein.

»Sie lieben die Musik?«, fragte der Musikus erstaunt.

»O ja! Ihre Musik besonders!«

»Wie? Wo denn haben Sie meine Musik gehört? Wohl auf Ihrer Alp im Glarnerland, auf den Felsen bei den Steinböcken?«

Thut lachte. »Nein, im Schloss in Stuttgart hatte ich die Ehre, Sie zweimal spielen zu hören, das zweite Mal wurde unsere Hofsängerin mit prächtigen Koloraturen ihrer Sopranstimme von Ihnen begleitet …«

»Wohl die kleine Italienerin, die Bonafini?«

»Genau diese.«

»Also, Herr Riese, hier neben mir sitzt mein begabtester Schüler. Wir beide werden Sie gleich mit ein paar Takten willkommen heissen.«

Thut, nun auf dem Kanapee, den Oberkörper vorgeneigt, den Kopf in die Hände gestützt, gab sich mit geschlossenen Augen den Mozart’schen Klängen hin.

Durch den musikalischen Leckerbissen am Vorabend schien der Riese eine kurze Lebensfrist dazugewonnen zu haben.

Noch hatte der Impresario mit Plakaten an den Aussenwänden der Mehlgrube zugewartet – der Riese sei für eine Präsentation noch zu erschöpft, liess er im Hotel sagen. Besser also, den Wundermann noch etwas in Ruhe zu lassen, es gab ja in der Stadt genügend Besorgungen.

Als Mozart seinen Musikunterricht am Morgen durch eine Pause unterbrach und durch die offene Tür den Zimmernachbarn fragte: »Wie geht es dem Schweizer nach der langen Reise?«, gab Thut zurück: »Ja, Herr Mozart, Ihr habt mich wieder aufgestellt mit dem kleinen Konzert!«

»Tatsächlich, Ihr seid heute Morgen putzmunter!«, gab Mozart froh zurück.

Als der Riese darauf lachte und helle Töne sichtbar durch seine riesige Mundhöhle sprudelten, stellte sich Mozart unter die Tür. Es war ihm ein Vergnügen, dem Nachbarn Fragen zu stellen und zu beobachten, wie der Riese erst seine Wörter im Kiefer wie Körner mahlte und sie dann zwischen den Lippen herauspurzeln liess.

Und plötzlich war da eine junge Frau.

Sie wirbelte herein, liess sich in einem mohnroten Kleid auf das Kanapee fallen und schlang den rechten nackten Arm um den Musikus.

Der neigte den Kopf vor und küsste die Lippen der Frau, alles etwas ausführlicher, als es für eine solche Zeremonie vor Zuschauern üblich war. Der Gast aus dem Glarnerland war ein bisschen geniert und wartete ab, bis das weibliche Wesen ihm vorgestellt würde.

»Ach ja, entschuldigen Sie riesig, Herr Riese: Das ist Konstanze Weber. Wir wollen sofort heiraten, ja, ich kann kaum abwarten, bis Konstanze mein nimmersattes Eheweibchen ist.«

»Ach Wolferl, das tönt unanständig«, rügte sie ihn.

Darauf folgte ein lange andauerndes Kichern, es war, als singe eine Sopranstimme in der Operette eine dieser neuartigen Koloraturen. Nun glitt auch ihr linker Arm schlangenhaft nach oben, sie wollte über ihrem Lockenköpfchen den Riesen begrüssen.

»Also, wann ist die Heirat?«, fragte der Riese.

»Ach, wir sind in Wien«, sagte Mozart. »Da sitzt hinter jedem hübschen Mädchen eine Schwiegermutter. Die regiert, intrigiert. Forscht, wie es mit dem Zukünftigen steht: Vornehmheit der Familie, Gesundheit, Tüchtigkeit, wie viel Geld im Sack!

Hinter ihr der zugehörige Papa, mit dem vorletzten Wort.«

»Und hinter dem Papa? Das letzte Wort?«

»Der Papst, der Kaiser, der liebe Gott.«

»Du meine Güte«, sagte der Riese. »Im Glarnerland ist das weniger kompliziert.«

Der Riese konnte die junge Frau im roten Kleid nicht vergessen.

»Wann kommt die Frau Konstanze wieder?«, wagte er den Musikus zu fragen.

Der blickte zu dem Gesicht des Riesen empor, lächelte. »Habt Ihr denn nie eine Frau gehabt, Thut?«

»Doch, mit fünfzehn. Die Katarina und ich – wir haben uns nach dem Unterricht im leeren Schulzimmer von Linthal verlobt. Haben uns ewige Liebe geschworen, durch das offene Fenster hat die Linth unseren Schwur und unsere Küsse mit feierlichem Rauschen begleitet. ›Wann können wir heiraten, Melchior?‹, hat die Katarina darauf wissen wollen. ›Ah, pressiert es dir? Keine Ungeduld, vor achtzehn wird im Glarnerland nicht geheiratet!‹

Nein, nein, keine Jugendsünde, damals war die Liebe ernste Lebenssache. Auf dem Land wurde mit achtzehn geheiratet, weil die schwere Arbeit in Stall und Feld bewältigt werden musste, und das gelang besser zu zweit.

Doch wie Ihr ahnt, Herr Mozart, in der Zwischenzeit war ich plötzlich stark gewachsen, in eineinhalb Jahren gross aufgeschossen: über zwei Meter lang, knochig, staksig!

Der Pfarrer von Linthal hat versucht, mit einem Gebet das unnatürliche Wachstum zu bremsen, doch in seinem Gebetbuch hat er nur Gebete für stärkeres Wachstum gefunden, von Menschenkindern und Nutztieren, von Hafer und Dinkel. Ich war dann zwei Jahre fort, denn es gab Steinschläge und Überschwemmungen im unteren Glarnerland, und da ich stark geworden war, begehrte man überall meine Hilfe.

Ja, und dann mit achtzehn …

Die Katarina hat ungläubig auf mich, ihren Riesen, geschaut, diese Zangen von Beinen, von Armen!

Sie begann sich zu fürchten. Das Festessen war im Hause ihrer Eltern, doch in der Brautnacht weinte Katarina, sie liess sich nicht umarmen. Da weinte auch ich.«

»Das war alles, Thut?«

»Alles. Die Verwandten liessen meine Braut weiter im Elternhaus wohnen, und ich fuhr allein mit einem Holzhändler, der mich in Holland gegen Geld zeigen wollte, auf einem Floss nach Amsterdam.«

»Und später?«

»Ach ja. Aus. Mit der Katarina war nichts mehr zu machen. Liebend gerne hätte ich sie jeden Tag an meiner Seite gehabt, ich konnte sie nicht vergessen. Und später, immer allein, hätte ich mir im Leben oft ein Mädchen oder Weibchen gewünscht, ein flinkes Täubchen – ja, das wär’ Seligkeit gewesen!«

»Wie gut verstehe ich das«, sagte Mozart.

Doch er behielt für sich, wie das damals mit Aloisia und nachher mit Konstanze im Viermädelhaus gewesen war.

2.
Mozart im Viermädelhaus

Konstanze war die dritte von vier Töchtern von Franz Fridolin Weber, die Familie eng verwandt mit dem Komponisten Carl Maria von Weber. Franz Weber war Bassist und Kopist am Mannheimer Theater und die zweitälteste Tochter, Aloisia, Koloratur-Sopranistin.

Als Mozart 1777 zum ersten Mal das Viermädelhaus besuchte, verliebte er sich in Aloisia, und auch sie fand Gefallen an ihm, denn sie erkannte seine musikalische Begabung, er begleitete ihren Gesang, korrigierte.

»Dein Talent ist ausserordentlich, Aloisia, ich wünschte, wir würden ein Paar, dann könnten wir es zusammen weit bringen!«

Doch als der junge Mann nach dreimonatiger Abwesenheit wiederkam, erschien Aloisia ihm gleichgültig: Sie sei jetzt mit dem Schauspieler und Maler Joseph Lange verlobt. Als Aloisia trotz seines Heiratsantrags darauf bestand, diesen Lange zu nehmen, kaschierte Mozart seinen Schmerz mit Blödeleien am Klavier, seine Finger liefen wie kranke Tiere über die Tasten, zwei, drei Stunden lang machte er zu seinem Geklimper Verse über Mädchen, die nicht wollten, wie sie sollten, niemand hörte zu.

1781 reiste Mozart nach Wien, wo die Webers mittlerweile ein grosses Haus bewohnten und Zimmer vermieteten. Für ein kleines Entgelt gaben sie Mozart Unterkunft.

In der Zwischenzeit war Konstanze, Aloisias jüngere Schwester, zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen. Sie war ebenfalls zur Koloratursängerin ausgebildet worden, ihr Gesang und ihr fröhliches Gemüt gefielen Mozart.

Wenn die Eltern Weber, beide Liebhaber der Musik, zum Wiener Naschmarkt fuhren, um alte Hefte und Bücher mit Notenschriften zu suchen, sah sich Wolferl – so nannte man Mozart damals – allein mit der jungen Konstanze. Sie spielten liebend gern miteinander Fangen, er stellte ihr nach, doch sie, beweglicher und schneller, versteckte sich oft unter Möbeln.

Jetzt entdeckte er sie zwischen Stuhlbeinen, nahte sich auf allen vieren und küsste ihr lachendes Gesicht. Sie befreite sich, rannte schreiend davon, da er schon wieder hinter ihr her war.

Im Nachbarhaus wurde wütend ein Fenster zugeschlagen.

Nach diesem Zwischenfall musste Mozart sie wieder suchen. Er hörte sie von irgendwoher Koloratur singen. Er stand still, hörte entzückt auf die perlenden Töne, dachte an das Adagio seiner neuen c-Moll-Messe, die in Arbeit war.

Als er das Mädchen im Nebenzimmer in einem Kastenfuss kauernd fand, schwang er es auf seinen Rücken und trug es, obwohl es strampelte und mit den Füssen seinen Rücken traktierte, aufs Kanapee.

»Du sollst bei der Uraufführung meiner Messe in der Salzburger Peterkirche singen«, versprach er, und seine Hand suchte durch den Ausschnitt der Bluse nach einer ihrer kugeligen Brüste.

»Nein, Wolferl.« Sie wand sich. Er hielt sie eisern fest.

Im Gefängnis seiner Hände sang sie überlaut ihre Koloration.

Drüben hörte man den Nachbarn jetzt noch heftiger schimpfen, nochmals wurde ein Fenster zugeschlagen.

»Sei schön still, mein Schatz«, flüsterte er in ihr Ohr, »ich lass dich ja nimmer! Im Januar wirst du zwanzig, dann endlich lässt dein Vater zu, dass wir heiraten! Dann haben wir ein breites Bett, und du weckst mich morgens mit deinem Gezwitscher und Tirilieren …«

Nun hielt sie sich still, dachte an die c-Moll-Messe und auch ein bisschen an das breite Bett, seufzte.

Anderntags lag im Briefkasten der Webers ein amtliches Schreiben: »Wegen des Geredes der Nachbarn müssen wir veranlassen, dass der junge Musikus Mozart die Wohnung und den Wiener Bezirk wechselt!«

Aus der Heirat im Januar wurde nichts.

Nicht nur Konstanzes Eltern waren dagegen: Der Musikus habe kein festes Engagement, keinen Titel, keinen festen Lohn!

Auch Mozarts Vater verweigerte die Erlaubnis zu dieser Ehe: »Die Konstanze lässt den Wolferl gewähren mit seinem kindisch verliebten Tun, sie spielt mit! Er muss eine vernünftigere Frau bekommen!«

Mozart musste aus dem Weberhaus ausziehen.

Da er nicht mehr zurückwollte nach Salzburg, bezog er in Wien eine einfache Wohnung am Graben. Konstanze, der die Eltern den Kontakt mit Mozart verboten hatten, fand jedoch immer wieder den Weg zu seiner einfachen Unterkunft.

Sie liebten sich, sie wollten heiraten, dafür benötigte Mozart Geld.

Er nahm sich vor, mehr mit seiner Kunst zu verdienen, doch er fand bis anhin keine sichere Stelle an einem Fürstenhof. Nur dort fand man in der Musikwelt Beachtung und ein regelmässiges Einkommen. Am lukrativsten war noch der Musikunterricht im Hotel Zur Mehlgrube mit zahlreichen gut situierten, Musik liebenden Frauen. Da sein Ruhm zu wachsen begann, fing er an, für Adelige und Musik liebende Noble Konzerte im grossen Redoutensaal der Mehlgrube zu geben.

3.
Mozart und der Glarner Riese im Hotel Zur Mehlgrube

Mozart hatte in der Mehlgrube den riesigen Naturburschen ins Herz geschlossen.

Es war ihm nicht gleichgültig, was in Wien mit ihm geschah. Zum Glück war sein Impresario Rhyner kein Unmensch, er liess den von der Reise Ermüdeten vorerst in Frieden.

Doch in der zweiten Woche nach seiner Ankunft in Wien wollte er den Riesen endlich zeigen, Plakate und ein paar Zeilen in der Zeitung hatten an einem Samstagabend eine beträchtliche Anzahl von Leuten angelockt.

Der Impresario empfing die Neugierigen am Empfang des Hotels an der Kasse.

»Der Eintritt ist hoch«, murrte ein älterer Mann.

»Sie werden aber ein menschliches Wunder sehen, den grössten Menschen der Welt«, sagte der Impresario.

»Grösser als der Konkurrenzriese Byrne in London?«

»Ja, Sir. Ich werde unseren Thut bald nach England führen, nach Bristol, an die Saint James Fair. Er wird sich dort mit Byrne, dem sogenannten ›Irish Giant‹, messen können. Und da neulich unser weltberühmter Pfarrer Lavater in Zürich Thut ausmessen und seine stolze Grösse von 2 Meter 34 amtlich attestieren liess, wird der Konkurrenzriese klein beigeben müssen! Wir werden natürlich die Tricks mit den doppelten Schuhböden und Ähnlichem beachten, doch die Jury in Bristol gilt als fair …«

»Jetzt lasst aber das viele Erklären«, rief eine Frau an der Kasse, »wir sind hier schliesslich in Wien und wollen Thut Melchior sehen.«

Der Impresario nickte. »Ich möchte, dass die Wartenden in zwei Gruppen eintreten«, rief er, »der Riese lässt sich in seinem Privatkabinett dann intimer bestaunen.«

Er wählte rasch die erste Gruppe – sie bestand fast nur aus Frauen, die sich sofort dicht um Thut stellten.

»Es ist ein gut gewachsener Riese«, bestätigte eine junge Frau nach kurzer Visitation.

Eine ältere rief lachend: »Ja, alles ist gross an ihm.« Und sie stiess ihre Freundin mit dem Ellbogen an. »Hast du auch seine gewaltige Ausbuchtung in der Hose gesehen? Seine Frau wird Spass haben …«

Thut streifte sie mit einem verächtlichen Blick und drehte ihr den Rücken zu.

»Genug«, flüsterte er in Richtung Impresario.

»Es kommt noch eine Gruppe«, sagte der.

Nach den Strapazen, sich zeigen zu müssen, bekam der Riese Fieber und Kopfschmerzen.

Der Impresario nahm es besorgt zur Kenntnis.

Er wollte den langen Menschen in Wien noch einige Male öffentlich zeigen, da zwei Zeitungsartikel in der lokalen Presse das Ereignis in der Mehlgrube lobend erwähnt hatten. Zudem würde die Reise nach England beschwerlich werden und die Zurschaustellung in Bristol neben dem jungen »Irish Giant« Byrne anstrengend.

»Heute Abend wird man in der Mehlgrube ein Konzert von Amadé Mozart für den Adel hören. Lassen wir die Türen in den unteren Räumen offen, dem Musik liebenden Riesen werden Mozarts Klänge guttun.«

Thut lag abends auf seinem Bett, er fühlte sich elend.

Da drangen Klänge zu ihm, er schloss die Augen, liess seinen langen, kränklichen Leib umfliessen von den Wellen des Wohlklangs. Sie trugen ihn an diesem Abend fort ins Tal seiner Kindheit, zu den alt gewordenen Eltern, zu den Bergwiesen mit den Kräutern, zu den Steinböcken, dem Wasserfall.

Er fiel in tiefen Schlaf.

Am Morgen erwachte er mit weniger Rückenschmerzen und ohne Kopfweh.

4.
Mozart, abhängig vom Erzbischof Colloredo, wird mit einem Tritt in den Hintern frei

Die Familie Mozart war, seit Wolfgang denken konnte, in Salzburg mit dem Erzbischof verbandelt. Der Vater funktionierte als sein Kapellmeister, das Haus für die ganze Familie stand auf dem bischöflichen Areal, und der erwachsen gewordene Musikus Wolfgang Amadé Mozart musste für den neuen Erzbischof Colloredo die Einweihungsmesse komponieren. Der Erzbischof griff allerdings nur selten in seine Tasche, um solche Dienste zu bezahlen.

Er betrachtet uns wohl als seine Leibeigenen, dachte Wolfgang und hoffte, eines Tages werde er sich aus dieser Abhängigkeit befreien können.

Da kam anfangs der Achtzigerjahre des 18. Jahrhunderts für den jungen Mozart ein Auftrag, den Salzburger Erzbischof nach Wien zu begleiten. Wolfgang folgte seinem ungeliebten Fürsten, denn Wien gefiel ihm.

Noch wusste er nicht, was ihn hier erwartete, doch nirgends war er lieber als in Wien, einer grossen Stadt voll Musik.

Hier wohnte ja auch eine Frau, die ihm sehr gefiel.

Doch von ihr, der kecken jungen Konstanze Weber, durfte der liebeshungrige Fünfundzwanzigjährige in den regelmässigen Briefen an seinen Vater nichts schreiben. Der Vater sah es als seine Aufgabe, dem begabten Sohn, der schon mit sieben Jahren in Frankreich und Italien als Wunderkind gefeiert worden war, endlich zum Durchbruch zu verhelfen.

Für diesen erhabenen Zweck, so fand er, war eine junge Frau nur hinderlich.

Der Sohn hatte kürzlich in München den Erfolg seiner Oper Ideomeno gefeiert, der Vater war für die Premiere angereist, um etwas von dem überwältigenden Münchener Applaus einzuheimsen. Einen Teil dieses Erfolges rechnete er sich selbst an, schliesslich hatte er den begabten Sohn von seinem dritten Lebensjahr an in das Pianoforte und das Geigenspiel eingeführt, ihn dann mit sieben Jahren in andere Länder zu den noblen Musikkennern und Gelehrten geführt, dem Sohn Sprachen, gepflegte Schönschrift, erste Regeln des Komponierens und gutes Benehmen im Kreis der Noblesse beigebracht.

Sein begabter Sohn hatte sein ganzes Leben lang nie eine öffentliche Schule auch nur betreten!

Jetzt war der junge Mozart von München nach Wien gereist, dem Vater hatte er wie üblich versprochen, an den Posttagen, an denen in Salzburg die Briefe ausgetragen wurden, von den Ereignissen in Wien zu berichten:

»Habe hier ein charmantes Zimmer im gleichen Haus, wo der Erzbischof wohnt.«

Sein momentanes Lieblingswort »charmant« benutzte er meist ironisch, denn der Vater wusste aus eigener Erfahrung, wie beklemmend die Nähe zum Brotgeber aus Salzburg sein konnte.

»Das Mittagessen? Ich speise am selben Tisch wie die Kammerdiener, der Zuckerbäcker, zwei Köche. Da ja der Bischof an einem vornehmeren Tisch isst, muss ich an meinem die plumpen Spässe hören. Ich gehe nicht darauf ein, ich rede selten, und wenn schon, mit grösster Seriosität. Der Erzbischof zahlt mir nichts, ich muss ihn ja zum Zahlen bringen, denn Geld ist offensichtlich lebenswichtig für die ›Distinction‹.«

»Distinction«! Auch das war in Wolfgangs Mund plötzlich ein viel gebrauchtes Wort. Bedeutete es Würde, Ansehen – oder vor allem Geld?

Warum sonst, wenn es nach der Mutter seiner hübschen und lebhaften Konstanze ging, durfte er sie nicht heiraten?

Schon für die ältere Tochter, die Aloisia, die ihm zuerst lieb gewesen ist, hat die Weberin gesagt: »Zu leichtsinnig, dieser Mozart, er verdient nichts mit seiner Musik, kein Titel, keine Anstellung! Aloisia, da hat dein anderer Bewerber, der Schauspieler und Maler Joseph Lange, viel mehr Distinction!«

Was Mütter und Väter sagten, war in Wien immer noch Evangelium.

»Unsere vier Töchter sind unser Kapital«, sagten die Webers, »wir verheiraten sie klug.«

Mozart, wohl oder übel noch ohne Frau, widmet sich in Wien ganz seiner Musik. Verliebt in seine Klänge, wird sie immer verspielter, neuartiger.

Wie kann er mit seiner Kunst mehr Geld verdienen?

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