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Dein ist das Leid

hier erhältlich:

Die Suche nach einem Vermissten führt in einen Sumpf aus Intrigen und Geheimnissen - und höchste politische Kreise!

Ein brisanter Fall für Casey Woods: Amanda Gleasons Freund Paul starb bei einem Überfall. Und mit ihm die Hoffnung auf Heilung für ihr todkrankes Baby Justin. Da erhält sie eine E-Mail mit einem aktuellen Foto von Paul. Ein makabrer Scherz - oder lebt er noch? Fieberhaft beginnen Casey und ihr Team von Forensic Instincts zu ermitteln. Eine erste Spur führt direkt nach Washington, DC. Aber dann stoßen sie plötzlich auf eine Mauer des Schweigens. Wieso hatte Paul Kontakte zu höchsten politischen Kreisen? Weiß Amanda Gleason mehr, als sie zugibt? Die schockierende Wahrheit stellt alle Vermutungen in den Schatten …


  • Erscheinungstag: 10.03.2013
  • Aus der Serie: Casey Woods
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862787586
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Andrea Kane

Dein ist das Leid

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Volker Schnell

MIRA® TASCHENBUCH




MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Line Between Here and Gone

Copyright © 2012 by Rainbow Connection Enterprises, Inc.

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck


ISBN (ePub) 978-3-86278-758-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Dezember

Manhattan

Amanda Gleason wiegte sanft ihren vor Kurzem geborenen Sohn in den Armen.

Ein neugeborenes Baby war wahrhaftig wie die Bestätigung des Lebens. Falls sie das nicht längst gewusst haben sollte, dann wusste sie es jetzt, in diesem Moment. Er war das Wunder, das sie selbst geschaffen hatte.

Und er war nun allein ihre Verantwortung.

Sie hatte nicht vorgehabt, eine alleinerziehende Mutter zu werden. Tatsächlich hatte sie überhaupt nicht gewusst, dass sie schwanger war, als Paul von der Bildfläche verschwand. Wenn sie das gewusst hätte, wenn sie es ihm hätte sagen können, vielleicht wäre dann alles anders gekommen.

Aber so war es nun mal nicht.

Und nun schien sie die gesamte Last der Welt auf ihren Schultern zu tragen. Ständig mussten Entscheidungen getroffen werden. Sie fühlte sich einem Druck ausgesetzt, den sie sich nie hätte vorstellen können. Jedes Mal, wenn sie Justin in ihren Armen hielt, überkam sie ein bittersüßer Schmerz.

Sie strich über sein flaumiges pfirsichfarbenes Haar. Während sie leise zu ihm sprach, riss er die Augen auf und schaute Amanda aufmerksam an, sichtbar gefesselt vom Klang ihrer Stimme. Sie blickte in diese Augen – er hatte die Augen von Paul –, und in ihrem Brustkorb zog sich etwas zusammen. Sie waren von etwas hellerem Braun als Pauls Augen, wahrscheinlich weil sie ihre wahre Farbe erst noch im Laufe der Zeit erhielten. Aber die Form, die Lider, selbst die dichten Wimpern – alles war genau wie bei Paul. Ebenso seine Nase, eine winzige Ausgabe von Pauls kühner, gerader Nase mit den schmalen Nasenlöchern. Er hatte sogar Pauls Grübchen in den Wangen. Außer dem goldbraunen Haar und dem kleinen Mund mit den geschürzten Lippen – beides hatte er von ihr geerbt – war er ganz der Vater. Obwohl gerade erst drei Wochen alt, entwickelte er schon seine eigene Persönlichkeit – unbekümmert wie Paul, wissbegierig wie seine Mutter. Er verbrachte Stunden damit, seine Finger anzustarren, ganz gebannt davon, wie sie sich öffneten und schlossen. Und er schaute sich ständig um, offenkundig fasziniert von der Welt.

Gott sei Dank hatte er noch keine Ahnung, was für ein unwirtlicher Ort diese Welt in Wirklichkeit war.

„Ms Gleason?“ Eine junge Krankenschwester berührte sanft ihre Schulter. „Wieso holen Sie sich nicht mal was zu essen? Oder gehen spazieren? Das haben Sie den ganzen Tag noch nicht gemacht.“ Sie streckte die Hände nach dem Baby aus. „Justin ist hier in guten Händen. Sie müssen sich auch mal um sich selbst kümmern, sonst werden Sie nicht für ihn sorgen können.“

Amanda nickte benommen. Für einen kurzen Moment umklammerte sie Justin fast verzweifelt, dann küsste sie seine weiche Wange und übergab ihn der Schwester.

Wie oft hatte sie das in den letzten Tagen getan? Wie oft würde sie es noch tun müssen?

Mit Tränen in den Augen erhob sie sich und verließ den Isolationsbereich der Abteilung für Knochenmarktransplantation der Pädiatrie des Sloane-Kettering-Krankenhauses. Draußen legte sie den Mundschutz, die Latexhandschuhe und den Überzug ab und schmiss alles in den Mülleimer. Wenn sie zurückkehrte, würde sie den ganzen Sterilisationsprozess erneut durchmachen müssen. Einen Augenblick stand sie mit gesenktem Kopf da, holte langsam und tief Luft, um sich selbst wieder in die Gewalt zu bekommen. Die Schwester hatte natürlich recht. Wenn sie zusammenbrechen sollte, könnte sie Justin erst recht nicht mehr helfen. Und sie war nicht mehr weit davon entfernt.

Sie ging den Flur entlang, trat in den Lift, fuhr hinunter ins Erdgeschoss. Die ganze Zeit fühlte sie einen körperlichen Schmerz, der auftauchte, wenn sie auch nur eine Sekunde von Justin getrennt war. Sie hasste es, ihn allein lassen zu müssen. Und jedes Mal fürchtete sie sich davor, zurückzukommen.

Die Welt außerhalb des Krankenhauses wirkte auf unwirkliche Art normal. Es war dunkel. Sie hatte seit Stunden nicht mehr auf ihre Uhr geguckt, aber es musste schon nach acht Uhr abends sein. Der Verkehr war immer noch dicht in New Yorks Straßen. Fußgänger schlenderten auf den Bürgersteigen. Autos hupten, Polizeisirenen in der Ferne. Die Weihnachtsbeleuchtung blinkte grün und rot und in allen Farben des Regenbogens.

Wie konnte alles so normal sein, wo doch ihre ganze Welt auseinanderfiel? Wo alles, was ihr wichtig war, da oben um das nackte Überleben kämpfte?

Ohne irgendetwas wahrzunehmen, holte Amanda ihr BlackBerry hervor und schaltete es an. Eigentlich war es ihr egal, ob sie irgendwelche Nachrichten hatte. Aber sie musste nachschauen – und sei es nur in der Hoffnung auf ein Wunder aus heiterem Himmel, mit dem alle ihre Gebete erhört worden wären.

Kein Wunder. Nur der übliche Mist, lauter Reklame, Sonderangebote, Verkaufsaktionen, einiges von Fotomagazinen. Nichts Persönliches. Alle, die sie kannten, wussten, dass sie sie jetzt nicht mit irgendetwas Geringerem als einem schweren Notfall behelligen durften.

Augenblick. Eine persönliche Nachricht gab es doch. Eine E-Mail von einer Freundin, ebenfalls Fotografin, die seit Monaten um die Welt reiste und keine Ahnung davon haben konnte, dass Justin gerade zur Welt gekommen war. Und dass seine Krankheit Amandas ganze Welt auf den Kopf stellte.

Sie klickte auf die Mail.

Bin in Washington, D. C. Musste Dir das sofort schicken. Hab’s gestern mit dem Handy aufgenommen. An der Ecke 2nd Street und C Street NE. Ging leider nicht besser. Es ist Paul, da bin ich mir sicher. Schau es dir an. Ich weiß, das Baby kommt diesen Monat, aber ich dachte, Du würdest das sehen wollen.

Amanda las die Nachricht und erstarrte. Dann klickte sie auf den Anhang, starrte auf das Display und wartete, bis das Bild runtergeladen wurde.

Als sie es endlich sehen konnte, blieb ihr der Atem weg. Das Bild war ziemlich grob aufgelöst, wahrscheinlich aus etwa zwanzig Metern Entfernung aufgenommen. Aber scharf genug, wenn man die fotografierte Person ganz genau kannte. Und das tat sie.

Die Person sah aus wie Paul.

Sie zoomte so nah heran, wie es ging, musterte den Mann, der jetzt den ganzen Bildschirm einnahm, bis in die kleinste Einzelheit. Oh Gott, es war tatsächlich Paul.

Ein Tsunami widerstreitender Gefühle brach über sie herein. Aber sie kämpfte sich durch die Sturzflut. Denn ein Gedanke drängte alle anderen in den Hintergrund.

Was könnte das für Justin bedeuten? Es war nicht mehr als ein Strohhalm, nach dem sie verzweifelt griff. Aber für Amanda war es ein Rettungsseil.

Sie suchte in ihrer Tragetasche nach dem Zettel, den sie seit letztem April mit sich herumschleppte. Es war längst außerhalb der Geschäftszeiten, aber das war ihr egal. Sie wusste, wenn es nicht anders ging, würden die rund um die Uhr arbeiten. Aber sie wollte nicht anrufen; sie wollte ihnen gar nicht erst die Chance geben, sie abzuweisen.

Sie faltete den Zettel auseinander und riss gleichzeitig die Aktenmappe aus der Tasche, die sie immer bei sich hatte – nur für den Fall, dass sie ihre Idee jemals verwirklichen wollte. Da war alles drin. Und jetzt war es nicht mehr bloß eine Idee.

Auf dem Handy drückte sie die Schnellwahltaste und rief Melissa an, ihre älteste und beste Freundin, die hier in Manhattan lebte und die sie nie im Stich lassen würde.

„Lyssa“, sagte sie, als sie die Stimme ihrer Freundin vernahm. „Du musst rüberkommen und mich ablösen. Es geht nicht um Justin. Ihm geht’s gut. Könntest du sofort kommen?“ Bei der Antwort wurden ihr vor Erleichterung die Knie weich. „Danke. Es ist ein Notfall.“

2. KAPITEL

Eiskalte Luft. Kahle Bäume. Die Straße in Tribeca glitzerte vor Weihnachtsbeleuchtung.

Das Triangle Below Canal Street in Downtown Manhattan, ursprünglich ein Industriebezirk, war zu einem Künstlerviertel mit vielen Ateliers in den Lofts, Galerien und Restaurants geworden, in dem Prominente wie Robert De Niro, Mariah Carey oder Beyoncé lebten. Doch abends um Viertel nach neun war das vierstöckige Sandsteingebäude, in dem sich die Büros von Forensic Instincts befanden, ein abgeschiedener Zufluchtsort, isoliert vom lärmenden Dschungel der Großstadt. Zu beiden Seiten des Hauses standen zwei ausgreifende Weidenbäume, die ihm einen so friedvollen Anschein verliehen, dass es eher wie ein gemütliches Heim wirkte und nicht wie die Zentrale von Forensic Instincts.

Heute Nacht war es sogar noch ruhiger als sonst. Casey Woods, die Chefin der Agentur, erledigte mit einigen Freunden Weihnachtseinkäufe. Der größte Teil des hoch spezialisierten Teams hatte längst Feierabend gemacht. Alle waren noch dabei, sich von den aufregenden Fällen zu erholen, die ihnen in den letzten anderthalb Monaten zugesetzt hatten – allen voran die Ermittlung in einem nervenaufreibenden Entführungsfall.

Marc Devereaux war im Augenblick als einziges Mitglied des Teams von Forensic Instincts vor Ort. Und er war überhaupt nicht bei der Arbeit. Stattdessen machte er in einem der leeren Konferenzräume hundert Liegestütze, fühlte, wie der Schweiß seine Sachen durchtränkte, und hoffte, die immense Kraftanstrengung könnte die Geister der Vergangenheit verscheuchen, die in den letzten Monaten mit aller Macht zurückgekommen waren und ihn verfolgten.

Sie hatten ihn eine Weile in Ruhe gelassen. Aber seit der Entführung von diesem kleinen Mädchen …

Er ließ sich auf den Boden sinken, die Stirn auf den Teppich gedrückt, und atmete schwer. Erinnerungen hinterließen tiefe Narben. Selbst bei einem früheren Mitglied der Navy SEALs. Besonders bei einem ehemaligen Navy SEAL. Jeder glaubte, diese Männer würden Emotionen gar nicht an sich heranlassen. Das stimmte aber nicht. Was er während jener Jahre mit ansehen musste, hatte ihn möglicherweise zu einem besseren FBI-Agenten und nun zu einem wertvollen Mitarbeiter von Forensic Instincts gemacht, aber es hatte ihm auch etwas genommen, das er niemals zurückbekommen würde.

An dessen Stelle war etwas Düsteres und Zerstörerisches getreten.

Marc riss abrupt den Kopf hoch, als er die Türklingel hörte. Es war niemand aus dem Team, alle hatten Schlüssel und kannten den Sicherheitscode. Instinktiv griff Marc nach seiner Pistole, die auf dem Tisch lag. Er erhob sich und warf einen Blick auf das kleine Fenster auf dem Computerbildschirm, das ein Bild der Überwachungskamera über der Haustür zeigte.

Eine Frau stand davor.

Marc drückte auf den Knopf der Sprechanlage. „Ja?“

Stille.

„Ist dies das Büro von Forensic Instincts?“, hörte er die Stimme der Frau.

„Ja.“ Marc hätte sie auf die absurde Uhrzeit hinweisen können. Aber er war fünf Jahre lang in der Abteilung für Verhaltensanalyse beim FBI gewesen. Durch die Zeit bei der Behavioral Analysis Unit konnte er Menschen und ihre Stimmlagen lesen. Und diese Stimme klang matt und mitgenommen. Panisch. Das würde er nicht ignorieren.

„Ich … ich habe gar nicht geglaubt, dass noch jemand da sein würde. Ich habe gebetet, dass es so wäre.“ Ihre Worte bestätigten seine Einschätzung. „Ich hatte Angst, dass Sie nicht rangehen würden, wenn ich anrufe. Bitte … darf ich hereinkommen? Es ist wichtig. Mehr als das. Es geht um Leben und Tod.“

Noch bevor sie mit ihrer verzweifelten Bitte fertig war, hatte sich Marc schon entschieden. Er steckte seine Pistole weg. „Ich komme runter.“

Er legte sich ein Handtuch um den Hals und lief zur Treppe. Ein professionelles Erscheinungsbild war ihm im Augenblick ziemlich unwichtig.

Im Foyer gab er den Code ein und öffnete die Tür.

Die Frau, die dort mit einer Aktenmappe unter dem Arm stand, war brünett und etwa Mitte dreißig, obwohl die Anspannung, die sich in ihrem Gesicht abzeichnete, und die dunklen Ringe unter ihren Augen sie älter wirken ließen. Sie steckte in einem dicken Wintermantel, sodass ihre Figur schwer abzuschätzen war. Außerdem klammerte sie sich an den Mantel, als wäre er ein Schutzschild.

Sie starrte Marc aus großen Augen an, seine imposante Statur, die hohen Wangenknochen, den dunklen Teint und die aristokratische Nase, die er von seinen französischen Vorfahren geerbt hatte, und die nachdenklichen, leicht asiatischen Augen, Zeichen der Herkunft seiner Großeltern mütterlicherseits.

Seine eindrucksvolle Erscheinung machte die Frau nervös, sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Sie sind nicht Casey Woods“, stellte sie das Offensichtliche fest. Sie war nicht nur unsicher, sondern stand erkennbar unter Schock.

„Ich bin Marc Devereaux, ein Partner von Casey“, erwiderte Marc mit einer Stimme, die absichtlich beruhigend klang. „Und Sie sind …?“

„Amanda Gleason.“ Sie riss sich zusammen. „Tut mir leid, dass ich so spät hier auftauche. Aber ich konnte das Krankenhaus nicht früher verlassen. Ich habe nicht viel Zeit. Bitte, kann ich mit Ihnen reden? Ich möchte Sie gern engagieren.“

„Krankenhaus? Sind Sie denn krank?“

„Nein. Ja. Bitte … ich muss Ihnen das erklären.“

Marc zog die Tür ganz auf und bedeutete ihr hereinzukommen. „Entschuldigen Sie mein legeres Erscheinungsbild. Ich hatte keine Klienten mehr erwartet.“ Von oben ertönte ein tiefes, warnendes Bellen, gefolgt vom schnellen Tapsen von Pfoten. Ein geschmeidiger roter Bluthund rannte die Treppe runter, blieb neben Marc stehen und bellte die Fremde an.

„Alles okay, Hero“, sagte Marc. „Ganz ruhig.“

Der Hund gehorchte sofort.

„Hero ist ein Spürhund und gehört zu unserem Team“, erklärte Marc. „Aber wenn Sie Angst vor Hunden haben, kann ich ihn nach oben verfrachten.“

Amanda schüttelte den Kopf. „Das brauchen Sie nicht. Ich mag Hunde.“

„Dann folgen Sie mir bitte in den Konferenzraum.“ Er zeigte auf die zweite Tür links und geleitete sie hinein.

„Hallo, Marc“, begrüßte ihn eine Stimme, gleichzeitig blinkten Lichter an einer Wand in Übereinstimmung mit dem Ton. „Du hast einen Besucher. Die Raumtemperatur beträgt achtzehn Grad. Soll ich sie erhöhen?“

„Ja, Yoda“, erwiderte Marc. „Auf einundzwanzig Grad bitte.“

„Die Temperatur wird in ungefähr sieben Minuten einundzwanzig Grad erreichen.“

„Prima. Danke.“ Marc bemerkte Amandas erstauntes Gesicht und lächelte. Sie wollte feststellen, wo die Stimme herkam.

„Das war Yoda“, teilte er ihr mit. „Eine der unerklärlichen Erfindungen von Ryan McKay, unserem Technikgenie. Er ist allwissend … und ganz harmlos.“ Marc zog einen Stuhl zurück. „Nehmen Sie Platz. Vielleicht wollen Sie den Mantel lieber anbehalten, bis es hier drin ein bisschen wärmer wird.“

„Vielen Dank. Sie sind sehr freundlich.“ Amanda ließ sich auf den Stuhl sinken, immer noch den Mantel und die Aktenmappe umklammernd. Sie wirkte wie ein verschreckter kleiner Vogel, hinter dem ein Raubtier her ist.

„Nun, dann verraten Sie mir mal, wie wir von Forensic Instincts Ihnen helfen können.“

Amanda holte unsicher Luft. „Indem Sie jemanden für mich finden. Wenn er noch am Leben ist.“

Marc ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken, um nicht bedrängend zu wirken, obwohl seine Gedanken rasten. „Um wen handelt es sich dabei, und warum wissen Sie nicht genau, ob er noch lebt?“

„Es geht um meinen Freund. Sein Verschwinden wurde zu einem Mord ohne Leiche erklärt. Die Polizei hat seinen Wagen gefunden, draußen beim Lake Montauk, der Fahrersitz und die Windschutzscheibe waren voller Blut. Es gab Spuren, dass man ihn zu einem anderen Auto geschleift hat. Die Polizei glaubt, dass er ermordet und im Ozean versenkt wurde. Die Küstenwache hat tagelang nach ihm gesucht, mit sämtlichen komplizierten Geräten, die sie haben. Aber sie haben nichts gefunden. Der Fall wurde zu den Akten gelegt.“

„Wann ist das passiert?“

„Im April.“

„Und nun kommen Sie acht Monate später zu uns. Wieso jetzt? Haben Sie irgendwelche neuen Hinweise, dass er vielleicht doch noch am Leben sein könnte?“

„Ich habe sowohl neue Hinweise als auch einen dringenden Grund, ihn sofort zu finden.“ Amanda beeilte sich, den auf der Hand liegenden Verdacht aus der Welt zu schaffen. „Ich weiß, Sie denken, wenn er noch lebt, will er vielleicht nicht gefunden werden. Selbst wenn das stimmen sollte, was ich nicht glaube, hat er keine Wahl. Jetzt nicht mehr.“

Marc beugte sich über den Tisch und zog einen Notizblock heran. Er machte sich Notizen lieber zunächst mit der Hand und gab sie später in den Computer ein. Auf einen Laptop einzuhämmern verschreckte manche Klienten, die eine persönliche Beziehung brauchten.

„Wie heißt dieser Mann?“

„Paul Everett.“

„Und warum müssen Sie ihn so dringend finden?“

Amanda schluckte und rang die Hände im Schoß. „Wir haben einen Sohn. Er ist jetzt drei Wochen alt. Kurz nach seiner Geburt habe ich die Diagnose bekommen, dass er etwas hat, das sich SCID nennt – Severe Combined Immunodeficiency, schwerer kombinierter Immundefekt. Er besitzt keine körpereigenen Abwehrkräfte, die kleinste Infektion kann ihn umbringen. Er braucht eine Stammzellentransplantation von einem passenden Spender, oder er muss sterben.“

Marc legte den Stift hin. „Ich nehme an, Sie sind keine geeignete Kandidatin?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Tests haben ergeben, dass ich nicht infrage komme. Als Kind hatte ich einen schweren Autounfall. Durch eine der Bluttransfusionen damals habe ich Hepatitis C. Also scheide ich aus. Bis jetzt hat auch das Nationale Knochenmarkspender-Programm keinen geeigneten Kandidaten für uns gefunden. Die beste und wahrscheinlich einzige Hoffnung ist Justins Vater.“ Tränen liefen ihr über die Wangen. Mit einer zornigen Bewegung wischte sie sie weg. „Ich könnte Ihnen die genaue wissenschaftliche Erklärung geben, Mr Devereaux. In den letzten Wochen hat mich nichts anderes beschäftigt. Ich weiß jetzt viel mehr über alle möglichen Arten, wie der menschliche Körper versagen kann, als ich je für möglich hielt. Aber wir haben keine Zeit mehr. Durch mich hat Justin schon eine Infektion und zeigt Symptome einer Lungenentzündung.“

„Durch Sie?“

„Ich habe ihn gestillt. Offensichtlich trage ich einen ruhenden Virus namens CMV in mir, den Cytomegalie-Virus, der mir nichts antut. Mit der Muttermilch habe ich diesen Virus an Justin weitergegeben. Er hat angefangen zu husten, und er hat Fieber – beides Anzeichen dafür, dass er eine CMV-Lungenentzündung entwickelt. In den zwei Wochen, die ich mit ihm zu Hause war, hat er sich außerdem mit Parainfluenza angesteckt, das ist keine richtige Grippe, führt aber zu grippeähnlichen Symptomen. Diese Viren sind so weit verbreitet, dass sich praktisch jedes Kind unter zehn Jahren damit ansteckt, was bei den meisten nicht besonders schlimm ist. Er atmet unregelmäßig, seine Nase läuft … Ich hatte keine Ahnung, dass er kein funktionierendes Immunsystem hat, sonst hätte ich niemals Besucher ins Haus gelassen. Das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Er bekommt Antibiotika und Gammaglobulin. Aber die unterdrücken den CMV-Virus bloß, heilen können sie ihn nicht. Außerdem können sie für ein Kind giftig sein. Gegen die Parainfluenza können sie ihm überhaupt nichts geben. Justin ist noch keinen Monat alt. Sein winziger Körper kann sich nicht lange selbst erhalten. Es geht wirklich um Leben oder Tod.“

„Das tut mir außerordentlich leid.“

„Dann helfen Sie mir.“

Amanda zog das Gummi von der Aktenmappe, schlug sie auf und holte einen USB-Stick, eine DVD und zwei Zeitungsausschnitte heraus. „Das sind die Todesanzeige und ein Artikel aus der Southampton Press, der Lokalzeitung da draußen. Ziemlich kurz. Paul war in der Immobilienbranche und hatte keine Familie. Aufregend zu berichten war nur, dass er wahrscheinlich ermordet wurde.“ Sie zeigte auf die DVD. „Ein örtlicher Kabelsender hat auch einen kurzen Bericht darüber gebracht. Mehr gab es nicht in den Medien.“

Marc überflog die Anzeige und den Artikel und nahm sich vor, sowohl mit der Zeitung wie dem Sender in Verbindung zu treten. Er zog seinen Laptop heran und steckte den USB-Stick ein. Auf dem Monitor erschienen nebeneinander zwei Fotos. Das erste zeigte Amanda und einen Mann – vermutlich Paul Everett –, die Arm in Arm in Skijacken an einem windumtosten Strand standen. Ihre Gesichter und ihre vertraute Haltung ließen keinen Zweifel daran, dass sie sehr verliebt ineinander waren. Auf dem zweiten Bild waren die beiden bei irgendeinem formellen Anlass zu sehen. Sie lächelten und blickten direkt in die Kamera.

„Und jetzt sehen Sie sich das hier an.“ Amanda zog ihr Handy hervor und legte es vor Marc auf den Tisch.

Auch auf dem Display war ein Foto, das Marc genau studierte. Es schien mit dem Handy aufgenommen und war wesentlich körniger als die beiden anderen. Aber es war eindeutig das Bild eines Mannes, der an einer belebten Straßenecke stand und ungeduldig darauf wartete, dass eine Ampel grün wurde. Er starrte auf das rote Licht, was dem Fotografen die Gelegenheit gab, ihn von vorn zu erwischen.

An den Gesichtszügen, dem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung konnte Marc erkennen, dass es sich um denselben Mann handelte wie auf den beiden anderen Schnappschüssen.

„Wann ist dieses Foto gemacht worden?“, fragte er. „Und wo?“

„Gestern. In Washington, D. C.“

„Von wem?“

„Einer Freundin von mir, die auch Fotografin ist. Sie hat sofort die Ähnlichkeit dieses Mannes mit Paul erkannt, aber sie hatte nicht die Zeit, ihre Kamera auszupacken und bereit zu machen, also hat sie benutzt, was sie gerade zur Hand hatte – ihr Handy. Vor ein paar Stunden hat sie mir das Bild gemailt. Ich habe es erst gesehen, als ich vorhin aus dem Krankenhaus kam, um mal kurz Luft zu schnappen.“

„Also hat sie Paul und Sie als Paar gekannt.“

„Ja. Und sie wusste auch, dass ich Paul gar nicht mehr sagen konnte, dass ich schwanger war. Sie wollte mir sofort die unfassbare Nachricht schicken, dass Paul noch lebt.“

Paul Everett hat gar nichts von der Schwangerschaft gewusst, dachte Marc. Damit fiel ein möglicher Grund für sein Verschwinden weg. Trotzdem wollte Marc auch mit Amandas Freundin reden.

Amanda hielt sein nachdenkliches Schweigen für Skepsis. „Ich habe keine Ahnung, wieso Paul ohne ein Wort verschwunden sein könnte oder warum er anderswo ein neues Leben anfangen wollte. Nachdem ich dieses Bild bekommen hatte und wusste, dass er noch am Leben sein könnte, war ich erleichtert, aber gleichzeitig auch wütend. Ich fühlte mich – ich fühle mich immer noch – betrogen. Als man mir sagte, dass Paul tot war, war ich bereit, mein Kind allein großzuziehen. Aber jetzt, wo es eine Chance gibt, dass er noch lebt und dass er Justins Leben retten kann … mein Stolz spielt da keine Rolle. Ich muss einfach versuchen, Paul zu finden.“

Marc blickte immer noch konzentriert vom Monitor zum Handy, suchte nach weiteren Einzelheiten, die bestätigen konnten, dass es sich auf den Fotos um denselben Mann handelte. „Haben Sie wegen dieses neuen Bildes die Polizei angerufen?“

„Ja, im Taxi auf dem Weg zu Ihnen. Zweimal dürfen Sie raten, ob man mich da für glaubwürdig hält.“ Amandas Lippen zitterten, und Tränen liefen ihr über die Wangen. „Deshalb bin ich hier. Seit Paul im April verschwand, habe ich schon mit der Idee gespielt, zu Ihnen zu kommen, in der Hoffnung, Sie könnten vielleicht ein Wunder vollbringen. Nach diesem Foto habe ich den Entschluss gefasst. Sie haben den Ruf, Fälle zu lösen, die niemand sonst lösen kann. Bitte. Es geht um das Leben meines Babys … Werden Sie mir helfen? Ich kratze jeden Penny zusammen, um Ihnen Ihr Honorar zu bezahlen. Ich verkaufe mein Apartment, wenn es sein muss. Das macht mir nichts aus. Ich will nur, dass Justin wieder gesund wird.“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos.

„Um Geld geht es nicht“, versicherte Marc ihr. Er hatte bereits seinen Entschluss gefasst, als sie ihm ihre Lage mit dem Kind schilderte. „Wir berechnen unser Honorar immer nach den finanziellen Möglichkeiten unserer Klienten.“ Zum Glück waren sie dazu in der Lage. Mit den astronomischen Zahlungen, die sie von ihren wohlhabenderen Klienten erhielten, und dem Treuhandfonds, den Caseys Großvater ihr hinterlassen hatte, war Forensic Instincts finanziell solide aufgestellt.

„Worum geht es dann?“, fragte Amanda, als Marc nichts mehr sagte.

Marc antwortete nicht gleich. Das Problem war, dass er hier auf einem heißen Stuhl saß. Forensic Instincts hatte eine Regel, die noch nie gebrochen worden war: Sie nahmen nie einen Fall an, bevor das ganze Team darüber diskutiert hatte und zu einer einstimmigen Entscheidung gekommen war.

Aber hier waren die Umstände wirklich grauenvoll. Und weil sonst keiner aus dem Team da war und es seine Zeit brauchen würde, sie alle zu erreichen und hierherzubringen – zum Teufel, es gab für alles ein erstes Mal.

„Es ist nichts, womit ich nicht fertigwerde“, teilte er ihr nüchtern mit. „Wir werden Paul Everett finden, Ms Gleason. Wenn er noch lebt, finden wir ihn. Und wir tun, was immer notwendig ist, damit er kooperiert.“

Amanda hob den Kopf, er sah einen Funken Hoffnung in ihrem tränenüberströmten Gesicht. „Oh, danke. Vielen Dank. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.“

„Danken Sie uns, wenn wir die Sache erledigt haben.“ Marcs Gedanken rasten mit Vollgas. „In welchem Krankenhaus liegt Ihr Sohn?“

„Im Sloane Kettering. Er wurde aus dem Mount Sinai dorthin überwiesen, nachdem sie da die Diagnose gestellt hatten.“

„Sie sind also immer dort zu erreichen?“

„Bis vorhin habe ich sein Zimmer nie verlassen.“

„Gut.“ Marc nickte. „Ich möchte, dass Sie mir dieses Handyfoto zumailen. Außerdem brauche ich einige Informationen von Ihnen – zum Beispiel Name und Kontaktadresse Ihrer Freundin, der Fotografin. Dann kümmern Sie sich wieder um Ihr Baby. Lassen Sie mir etwas Zeit, das Team hier zu versammeln und alles mit den anderen durchzusprechen. Morgen früh werden wir einen Plan haben.“

Zu dem Plan gehörte allerdings auch, dass man ihm gehörig in den Hintern trat.

3. KAPITEL

„Marc, du bist der einzige Mensch, bei dem ich mich darauf verlasse, dass er immer einen kühlen Kopf bewahrt. Ausgerechnet du solltest doch wissen, was es heißt, Mitglied eines Teams zu sein. Was hat dich bloß dazu gebracht, eigenmächtig so eine Entscheidung zu treffen?“

Casey Woods, Gründerin und Chefin von Forensic Instincts, stand am Kopf des großen ovalen Tisches im größten Konferenzraum, die Handflächen flach auf der Tischplatte, den Oberkörper gerade. Für eine zarte, außergewöhnlich attraktive Rothaarige Anfang dreißig hatte sie eine verblüffende Autorität an sich und besaß die passenden Führungsfähigkeiten. Außerdem war sie eine ausgebildete Profilerin und eine ausgezeichnete Ermittlerin mit einem unfehlbaren Instinkt.

Im Augenblick musste man allerdings kein Profiler sein, um zu erkennen, dass sie sauer war.

Und das nicht, weil es fast Mitternacht war und das ganze um den Tisch versammelte, ziemlich verschlafene Forensic Instincts-Team zu einem Notfall-Meeting einbestellt worden war. Das war nicht der Grund.

Marc lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hielt Caseys Blick stand. „Amanda Gleason musste sofort zurück ins Krankenhaus, zu ihrem todkranken Kind. Die Entscheidung musste auf der Stelle getroffen werden. Ich kenne dich doch, Casey. Ich kenne das ganze Team. Wir alle hätten diesen Fall angenommen. Also habe ich die Regeln ein bisschen erweitert. Ich bin sicher, unter diesen Umständen kannst du das nachvollziehen.“

Casey warf einen Blick auf Marcs Notizen und ließ geräuschvoll Luft ab. Natürlich erkannte sie, dass Marc recht hatte. Trotzdem war das eine ernsthafte Verletzung der Vereinbarung des Teams.

„Ich will dieser armen Frau genauso helfen wie du“, sagte sie, beruhigte sich genug, um in einen Stuhl zu sinken und Heros glänzendes Fell zu streicheln. Der Hund saß aufgerichtet da und sah sich um, er spürte die Anspannung, die im Raum lag. „Aber du weißt doch, dass du das ganze Team in wenigen Minuten hättest zusammentrommeln können, entweder hier oder per Konferenzschaltung. Das hättest du Ms Gleason nur zu erklären brauchen.“

„Das stimmt“, gab Marc zu. „Vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber nach dieser Kindsentführung, die wir gerade gelöst haben …“ Er machte eine kurze Pause. „Hör zu. Fälle wie dieser sind mein Schwachpunkt. Das ist doch für euch alle nichts Neues. Die speziellen Umstände ließen mich einfach noch schneller handeln wollen.“

„Ich kann Marc verstehen.“ Claire Hedgleigh ergriff das Wort. Sie war noch neu im Team und am wenigsten hartgesotten. Ihre Fähigkeiten könnte man als hellseherisch beschreiben; sie selbst zog allerdings den Begriff intuitiv vor. Wie auch immer, ihre nicht greifbaren Verbindungen zu Menschen und Gegenständen waren verblüffend. Das machte sie auch empfänglich für Marcs Notlage.

„Wir reden hier über ein neugeborenes Baby“, fuhr sie fort. „Jede Sekunde zählt.“

„Das tun auch vereinbarte Regeln.“ Der pensionierte FBI Special Agent Patrick Lynch – ebenfalls neu im Team – ergriff das Wort. „Wenn wir uns hier nicht an Vorschriften halten, werden wir uns dauernd in die Quere kommen, jeder nimmt andere Fälle an, die möglicherweise miteinander in Konflikt stehen können.“ Er hob eine Braue und sah Casey an. „Ich glaube, das ist tatsächlich das erste Mal, dass wir uns dafür entscheiden, eine Regel zu brechen.“

„Wir haben eben nicht alle denselben Hintergrund, Patrick“, erwiderte Casey. „Du brauchst dich nicht so aufzuregen.“

„Komm schon, Casey, so schlimm ist es auch wieder nicht. Sei nicht so hart zu Marc.“ Ryan McKay, strategisches Ass und Technikgenie von Forensic Instincts, gab ein angewidertes Geräusch von sich. „Er hat uns sofort alle angerufen, sobald Amanda Gleason aus der Tür raus war. Ich sollte auf ihn sauer sein. Ich befand mich gerade in der Tiefschlafphase, als das Telefon klingelte. Und ihr wisst, wie wichtig mir mein Schlaf ist.“

Das wusste jeder. Und keiner wollte in seiner Nähe sein, wenn er seinen Schlaf nicht bekam.

Andererseits, bei seinem umwerfenden Aussehen machte Ryan selbst mit roten Augen und zerzausten Haaren mehr her als die meisten Männer bei einem Empfang im Smoking.

„Da haben wir wohl Glück gehabt, dass du allein warst“, kommentierte Claire trocken. „Sonst hättest du uns wohl versetzt.“

Ryan warf ihr einen bösen Blick zu. „Das wird nicht passieren.“ Er drehte den Kopf zu Casey. „Also? Wie lautet das Urteil?“

Casey musterte sekundenlang Marcs Notizen, bevor sie den Kopf hob und die Mitglieder ihres Teams nacheinander ansah. „Ich sage, wir übernehmen den Fall“, stellte sie fest.

„Übernehmen“, sagte Ryan.

„Unbedingt“, stimmte Claire zu.

Auch Patrick nickte entschlossen. „Wir könnten einem Baby das Leben retten. Übernehmen.“

„Ich bin immer noch sauer auf dich“, teilte Casey Marc mit. „Aber wir sollten mit diesem Fall sofort anfangen. Dann erzähl uns mal, was du weißt.“

Das Büro von John Morano war ein Loch, eine marode Holzhütte, in der es nach nassem Holz, Fisch und Salzwasser roch.

Die Lage allerdings war herausragend. Sein maritimes Servicezentrum für die örtlichen Fischer lag genau an der Shinnecock Bay in dem Reiche-Leute-Ort Southampton auf Long Island vor New York City. Er machte eine Menge Geld, weil er schlau war. Außerdem verkaufte er Immobilien. Er hatte nicht nur einen großartigen Ruf, sondern auch große Pläne für die Zukunft. Er wusste genau, dass er auf einer Goldmine saß. Er war rechtzeitig eingestiegen. Und jetzt gingen die Immobilienpreise durch die Decke, genau wie er es erwartet hatte, weil in der Nähe das Shinnecock Indian Casino errichtet wurde. Er hatte exakt zur richtigen Zeit gehandelt.

Morano konnte sich die zukünftigen Veränderungen genau vorstellen: Sein zerfallendes Büro würde es bald nicht mehr geben; an dessen Stelle würde für Millionen Dollar ein Luxushotel treten, das Besucher aus aller Welt anziehen würde. Sein Bootsservice würde auch weiter Geld in seine Kasse bringen. Aber bald würden nicht nur Fischerboote an seinem Pier anlegen. Gecharterte Jachten würden zwischen Manhattan und hier draußen hin- und herfahren und Touristen mit Taschen voller Geld zum Casino bringen, die sich anschließend in dem Fünfsternehotel verwöhnen lassen konnten.

Alles entwickelte sich zu seinen Gunsten. Er musste nur seine Karten richtig ausspielen.

Die klapprige Tür schwang auf, und ein grobschlächtiger Handwerker kam hereinmarschiert, einen leeren Werkzeugkasten mit sich schleppend.

Für einen Beobachter sah es aus, als ob er hier irgendwelche Reparaturen durchführen wollte – die der Schuppen sicher auch nötig hatte.

Aber nach kurzer Zeit ging der Mann wieder, der ehemals leere Werkzeugkasten war jetzt mit zwanzigtausend Dollar in bar gefüllt.

Vor dem Büro holte er ein gestohlenes Handy hervor und gab eine Nummer ein. „Für heute sind die Reparaturen erledigt“, berichtete er.

„Gut“, lautete die Antwort.

Der Handwerker ging zu dem Kiesplatz, wo er geparkt hatte. Er lief an seinem Laster vorbei, hinaus aufs Dock, und schmiss das Handy ins Meer. Dann stieg er in den Wagen und fuhr davon.

Amanda eilte zurück zur Pädiatrie des Sloane Kettering in die Abteilung für Knochenmarktransplantation. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Melissa während ihrer Abwesenheit nicht von Justins Seite weichen würde. Außerdem hatte sie in der letzten Stunde zwölf Mal nachgesehen, ob es Nachrichten auf ihrem Handy gab. Doch trotz Melissas Versicherung, dass alles in Ordnung sei, raste ihr Herz, als sie durch die Flure eilte, um sich zu überzeugen, dass Justin noch am Leben war.

Verblüfft bemerkte sie einen untersetzten Mann mit rötlicher Hautfarbe und grau meliertem Haar, der vor dem Eingang der Abteilung für Knochenmarktransplantation stand und, die Hände auf dem Rücken verschränkt, hineinlinste.

„Onkel Lyle?“ Amanda rannte auf ihn zu. „Was machst du denn hier um diese Zeit? Ist etwas passiert?“

„Nein, nichts dergleichen.“ Lyle Fenton klopfte seiner Nichte auf die Schulter. Er war kein besonders herzlicher Mensch. Nie gewesen. Er war in Armut aufgewachsen, dann zu Geld gekommen, aber er hatte sich nie eine Familie zugelegt. Doch als seine Schwester und ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben kamen, hatte er sich für ihr einziges Kind verantwortlich gefühlt. Amanda studierte zu der Zeit noch Fotografie, und Lyle hatte bereits ein ansehnliches Vermögen aufgehäuft. Ihre Ausbildung zu bezahlen und ihre Karriere anzuschieben, war seine Art, Kontakt zu halten. Was so schon leicht genug für ihn war, da sie die Hamptons liebte und mittlerweile nur zehn Meilen von seinem Anwesen entfernt wohnte.

Trotzdem hatten sie sich nur selten gesehen. Bis jetzt.

„Ich war geschäftlich in Manhattan“, teilte er seiner Nichte mit. „Die Besprechung schloss ein Abendessen ein und zog sich bis nach zehn Uhr hin. Also bin ich mal vorbeigekommen, um zu sehen, wie es dem Baby geht. Justin. Ich war überrascht, dass du nicht da bist.“

Amanda atmete erleichtert auf. Gott sei Dank! Ihr Onkel wollte auf dem Weg zurück in die Hamptons nur mal vorbeischauen. Ihrem geliebten Baby war nichts passiert.

„Ich war nur mal für ein paar Stunden weg“, erwiderte sie. „Ein wichtiger Termin. Wie du siehst, hat meine Freundin Melissa mich bei Justin abgelöst. Sie kümmert sich um ihn, als wäre er ihr eigenes Kind.“ Amanda warf einen Blick in die Abteilung. Melissa saß an Justins Krippe und redete leise auf ihn ein.

„Was war denn so wichtig?“, fragte Lyle neugierig.

„Ich habe eine Ermittlungsagentur engagiert, um Paul zu finden.“

Das verblüffte ihren Onkel. „Paul? Aber er ist doch tot.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen. „Ich hatte keine Ahnung, dass du so etwas annimmst. Hast du denn irgendwelche Hinweise dafür?“

„Keine heiße Spur. Was sollte ich denn sonst annehmen, Onkel Lyle?“ Amanda streckte hilflos die Arme aus. „Ich bin verzweifelt. Ich komme nicht als Spender infrage. Du auch nicht. Sonst habe ich keine Familie mehr. Und bis jetzt hat das Nationale Knochenmarkspender-Programm keinen Spender gefunden. Ich weiß nicht, ob Paul noch am Leben ist. Ich weiß auch nicht, ob er ein möglicher Spender wäre. Aber ich muss es versuchen.“

Lyle nickte, aber der Zweifel stand ihm im Gesicht geschrieben. „Das verstehe ich. Wen hast du denn engagiert? Ich hätte dir doch ein paar Empfehlungen geben können.“

„Die brauchte ich nicht. Ich habe Forensic Instincts genommen. Nachdem sie die Entführung dieses kleinen Mädchens aufgeklärt haben, gab es für mich keinen Zweifel mehr, dass das die richtige Agentur ist, um Paul aufzuspüren – falls er noch lebt.“

„Und sie haben den Fall übernommen?“

Amanda nickte. „Während wir uns hier unterhalten, sind sie gerade dabei, einen Plan zu machen.“

„Brauchst du Geld? Private Ermittler wie Forensic Instincts sind nicht gerade billig.“

„Im Augenblick nicht. Außerdem bezahlst du ja schon für Justins Behandlung. Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Mehr kann ich nicht annehmen.“

„Das ist doch absurd, Amanda. Ich habe schließlich die Mittel. Ich setze eine große Belohnung für den passenden Stammzellenspender aus, wenn das nötig sein sollte. Zögere nicht, mich um Hilfe zu bitten.“

„Vielen Dank, Onkel Lyle. Das werde ich tun. Aber ich glaube, momentan ist Forensic Instincts die vielversprechendste Möglichkeit.“ Sie warf einen Blick in die Station. „Ich muss wieder rein, damit Melissa nach Hause kann.“

„Die Schwestern haben gesagt, es gäbe keine Veränderung. Das ist gut, oder?“

„Ich weiß nicht mehr, was gut ist und was nicht.“ Amanda rollte die Ärmel hoch, um sich Hände und Unterarme abzuseifen. „Gott sei Dank geht es ihm nicht schlechter. Aber ich bete stetig, dass es ihm wieder besser geht, dass sich durch irgendein Wunder sein Zustand verbessert.“ Sie schloss für eine Sekunde die Augen. „Ein hoffnungsloser Traum, ich weiß. Aber das ist das Einzige, woran ich mich festhalten kann. Ich werde meinen Sohn niemals aufgeben.“

„Nein, natürlich nicht.“ Lyle bedeutete ihr hineinzugehen. „Bleib bei deinem Kind. Ich melde mich.“ Er wandte sich um.

„Onkel Lyle?“ Amanda hielt ihn kurz fest. „Noch einmal vielen Dank. Nicht nur, weil du vorbeigekommen bist oder mir mit Geld helfen willst, sondern vor allem, weil du dich als Spender hast testen lassen. Ich weiß, dass so etwas nicht deine Sache ist. Aber mir bedeutet es viel, dass du es trotzdem versucht hast.“

Er lächelte. „Das war doch kein Opfer. Ich habe mehr als genug Blut – und Geld –, um etwas davon abzugeben.“ Er klopfte verlegen auf ihre Hand. „Ich melde mich.“

Nachdem ihr Onkel weg war, brachte Amanda das Ritual hinter sich, ihre Hände zu sterilisieren und die Handschuhe, den Überzug und die Maske anzulegen. Dann betrat sie die Isolierstation, wo ihr Kind um sein Leben kämpfte.

„Geh wieder zu deiner Familie“, sagte sie leise zu Melissa. „Und ein ganz dickes Dankeschön.“

Melissa stand auf und drückte ihr die Hand. „Du kannst jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst.“

„Das werde ich.“

Amanda ging zu der Krippe, erleichtert, wieder hier zu sein, und glücklich, dass sie mit ihrem Sohn allein war.

Sie konnte nicht fassen, wie klein er war. Oder vielleicht wirkte er nur so klein in seiner Krippe, mit der Infusionsnadel in seiner drei Wochen alten Brust und dem Sauerstoffgerät. Er war nach den vollen neun Monaten zur Welt gekommen und hatte beachtliche dreieinhalb Kilo gewogen. Irgendwie machte das alles noch schwerer. Die Frühchen auf der Säuglingsstation sahen alle viel schwächlicher und zerbrechlicher aus. Aber keins von ihnen war so krank wie Justin, dessen Prognose düster war.

Eine Krankenschwester mittleren Alters betrat hinter Amanda die Station.

„Ms Gleason“, begrüßte sie sie. „Ich bin wirklich froh, dass sie mal für eine Weile hier rausgekommen sind.“

„Danke schön.“ Amanda deutete auf die medizinischen Geräte, dann auf ihren Sohn, der seine winzige Faust schüttelte und quengelte. „Wie geht es ihm denn? Gibt es irgendeine Veränderung?“

„Nein. Aber der kleine Kerl ist ein echter Kämpfer. Offenbar erkennt er schon die Stimme seiner Mama. Bis Sie gekommen sind, war er ganz ruhig. Möchten Sie ihn eine Weile halten?“

Die Frage war reine Routine, denn die Antwort kannte die Schwester längst. Amanda nahm ihr Baby so oft in den Arm, wie sie konnte. Das war eins der wenigen Dinge, die sie ihm im Augenblick zu bieten hatte – die Wärme ihres Körpers, die leisen Wiegenlieder, die ihn immer beruhigten, und ihre ständigen Gebete und ihre Liebe. Doch ihn im Arm zu halten war eine bittersüße Erfahrung. Das Entzücken, das sie empfand, wenn er mit seinen winzigen Fingern ihre umfasste, war ganz unglaublich. Gleichzeitig fühlte sie sich schuldig, weil sie ihn nicht stillen, nicht einmal mit der Flasche füttern konnte, er stattdessen mit Infusionen ernährt werden musste, weil er so keuchend atmete und weil er eine Infektion hatte – und die hatte er von ihr. Dieses Schuldgefühl breitete sich in ihr aus wie ein schleichendes Gift.

Nun schmiegte sie ihn an sich, ganz vorsichtig, um den Infusionsschlauch nicht zu berühren, wiegte ihn und sang ihm leise die Schlaflieder vor, die er so zu lieben schien. Er hörte auf zu strampeln, sein kleiner Körper entspannte sich, während er die Sicherheit in der Umarmung seiner Mutter und den melodischen Klang ihrer Stimme genoss. Für diesen Moment war seine Welt völlig in Ordnung – und Amandas Welt auch.

Falls Paul tatsächlich noch am Leben war, musste er sich doch auch auf der Stelle in dieses kleine Wunder verlieben.

Tränen stiegen wieder in Amandas Augen auf und liefen unter dem Mundschutz ihre Wangen hinab. Wegen der Qual, der Sorgen und der Hormone fing sie bei der kleinsten Gelegenheit zu heulen an. Sogar in Gegenwart von Marc Devereaux hatte sie weinen müssen, aber der war sehr verständnisvoll gewesen. Er hatte ihren Fall übernommen. Er war zuversichtlich. Er hatte ihr Mut gemacht. Sie glaubte an seine Fähigkeiten.

Aber würden sie Paul finden? Konnte Paul überhaupt noch lebend gefunden werden? Oder machte sie sich da nur etwas vor?

Sie hatte so lange um ihn getrauert. Sogar noch stärker, als sie herausfand, dass sie sein Kind in sich trug. Sie hatten nie darüber geredet, ob sie einmal Kinder haben wollten, nicht einmal darüber, zusammenzuziehen. Das wäre auch noch ein bisschen früh gewesen. Sie waren ja erst seit fünf Monaten zusammen gewesen. Aber das waren fünf sehr intensive Monate gewesen, voller Liebe, erfüllt von einer Leidenschaft, die Amanda zuvor nie erlebt hatte. In Justin floss das alles zusammen. Aber Paul würde nie die Gelegenheit haben, dieses Wunder, das sein eigener Sohn war, mit ihr zu teilen.

Als sie herausgefunden hatte, dass Paul vielleicht doch noch lebte, war das für sie ein schrecklicher Hieb in die Magengrube gewesen. Fassungslosigkeit, Hoffnung, Verwirrung, Verrat und vor allen Dingen Zorn, all diese Gefühle packten sie nacheinander. Aber wegen Justins furchtbarer Diagnose wurden sämtliche Emotionen in dem verzweifelten Willen vereint, Paul zu finden. Die Tatsache, dass er ihr möglicherweise vom ersten Tag an etwas vorgemacht haben könnte, dass er sie einfach abserviert und sich verzogen hatte, das hatte nicht die geringste Bedeutung. Nur Justin war wichtig. Sie musste ihrem Baby das Leben retten. Und wenn es dazu notwendig werden sollte, auf den Knien einen Mann anzuflehen, der sie zum Narren gehalten hatte.

Justin hustete leise, verzog das Gesicht und strampelte mit den Beinen. Der Klang dieses Hustens gefiel Amanda gar nicht. Ebenso wenig, dass seine Nase ständig lief. Er sah auf einmal blasser aus. Er schien auch plötzlich aufgeregt zu sein. War das ein normales Verhalten für ein Baby, oder wurde die Lungenentzündung schlimmer? Sie musste Dr. Braeburn finden und ihn danach fragen.

Sie hörte auf zu singen und drückte einen Kuss auf Justins seidiges Haar. Bitte, lieber Gott, betete sie. Bitte mach, dass Forensic Instincts Paul findet. Bitte mach, dass er ein gesunder Spender für Justin ist. Bitte.

Aber Amanda war Realistin. Sie wusste, dass Gebete allein nicht ausreichen würden.

Ryan McKays Höhle, wie das Team sie nannte, nahm den gesamten Keller von Forensic Instincts ein. Normalerweise hielt er sich ganz allein da unten auf, umgeben von seinen summenden Servern, seinen technischen Spielereien und seinen Fitnessgeräten. Aber im Augenblick war alles anders. Obwohl es schon nach zwei Uhr morgens war, ging Marc in Ryans Reich auf und ab wie ein hungriger Löwe.

Endlich schwang sich Ryan in seinem Drehstuhl herum und betrachtete Marc, die Hände hinterm Kopf gefaltet.

„Mir ist nichts Besonderes ins Auge gesprungen“, verkündete er. „Unsere Klientin ist genau das, was sie zu sein behauptet. Eine Fotografin, vierunddreißig Jahre alt, die in einem Apartment über einem Café draußen in Westhampton Beach lebt. Ihr einziger Verwandter ist ein Onkel, Lyle Fenton, ein reicher Geschäftsmann, der in Southampton in einem Gremium sitzt, das den Stadtrat in geschäftlichen Dingen berät, dem Southampton Board of Trustees. Nachdem ihre Eltern gestorben sind, hat er ihre Ausbildung bezahlt und ihr mit seinem Einfluss ein paar hochkarätige erste Jobs verschafft. Allerdings sieht es nicht so aus, als ob er sie immer noch bezuschusst. Finanziell kann sie für sich selbst sorgen.“

Marc nickte. Das war keine Überraschung. Er fragte gar nicht erst, wie Ryan sich Zugang zu Amandas Finanzen verschafft hatte. Ryan konnte sich überall Zugang verschaffen.

„Amandas Freundin, diese andere Fotografin, habe ich auch schon überprüft“, fuhr Ryan fort. „Sie ist genauso echt wie Amanda selbst.“

„Ja, und kooperativ ist sie auch“, fügte Marc hinzu. „Sie hat mir nicht den Hörer ins Gesicht geknallt, als ich sie mitten in der Nacht weckte. Sie hat bestätigt, dass sie dieses Foto gemacht hat, und mir erzählt, wann und wo genau das gewesen ist.“

„Okay, damit haben wir die notwendigen Vorprüfungen abgeschlossen. Amanda ist echt, und ihre Geschichte stimmt.“

„Wie sieht’s mit Paul Everett aus?“, wollte Marc wissen.

„Auch der scheint an der Oberfläche vollkommen sauber zu sein. Entwickelte Immobilienprojekte, wie Amanda sagte. Hatte zum Zeitpunkt seines Verschwindens einige ziemlich vielversprechende Geschäfte in Aussicht, von denen die meisten allerdings jetzt baden gegangen sind, wegen der Wirtschaftskrise. Morgen früh kann ich mich mal bei den Leuten umhören, mit denen er zusammengearbeitet hat – wenn ich welche auftreiben kann. Anscheinend besaß er eine Anlegestelle draußen in den Hamptons, wo die Boote der örtlichen Fischer liegen. Wie es aussieht, hatte er Pläne, daraus etwas viel Größeres zu machen. Er war gerade dabei, sich alle möglichen Baugenehmigungen zu besorgen. Auch da komme ich nicht weiter, bis die Büros wieder besetzt sind. Um zwei Uhr morgens ist da keiner im Rathaus. Wir müssen also sieben Stunden warten. Bis dahin kann ich mit einem Gesichtserkennungsprogramm die älteren Fotos von Paul Everett mit diesem neuen vergleichen. Das Handyfoto zu vergrößern dauert seine Zeit. Aber ich mache das auf jeden Fall. Dann haben wir eine eindeutigere Bestätigung, dass die beiden Typen auf den Bildern tatsächlich ein und derselbe sind.“

„So nutzen wir wenigstens die Zeit, anstatt sie zu verschwenden“, sagte Marc. „Was ist mit D. C.? Hatte Everett irgendwelche Verbindungen dorthin? Oder irgendeinen Grund, sich in Washington aufzuhalten?“

„Keine offensichtlichen. Aber das heißt ja nicht, dass er nicht dort ein neues Leben angefangen haben kann, nachdem er untertauchte – falls er untergetaucht ist. Vergiss nicht, wir müssen immer noch die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass Paul Everett tot ist und auf dem Grund des Ozeans verwest oder dass ihn die Haie gefressen haben.“

„Ein motivierender Gedanke.“ Marc atmete hörbar aus. „Also keine Anzeichen von krummen Geschäften? Keine Kontakte mit Leuten, die ihn aus dem Weg haben wollten oder vor denen er abgehauen sein könnte?“

„Bis jetzt nicht. Aber das war ja nur eine erste, schnelle Recherche, Marc. Damit wir schon mal einen Anfang haben, mit dem wir arbeiten können. Ich habe nur an der Oberfläche gekratzt, aber morgen früh werde ich viel tiefer gehen. Ich grabe Everetts Freunde und Geschäftspartner aus, frühere Freundinnen – alles aus seiner Vergangenheit, das irgendwie komisch sein könnte. Ob er nun umgebracht wurde oder untertauchte, er muss in irgendwas verwickelt gewesen sein, das ihm über den Kopf gewachsen ist. Ich sorge dafür, dass das Team was in die Finger kriegt, womit es arbeiten kann. Ich finde heraus, ob Everett ein Opfer war oder ein Betrüger oder beides. Vor mir kann er sich nicht verstecken.“ Ryan grinste zufrieden. „Das kann keiner.“

4. KAPITEL

Casey saß an einem Tisch in der Cafeteria des Sloane-Kettering-Krankenhauses Amanda gegenüber.

Diese rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, starrte in ihre Kaffeetasse und rührte manisch darin herum. Sie wusste noch nicht, was die Chefin von Forensic Instincts von ihrem Fall hielt. Nur weil Marc sich auf den Fall stürzen wollte, hieß es noch lange nicht, dass das übrige Team sich ähnlich engagiert zeigen würde. Und nur wenn Casey Woods mit Überzeugung an Bord war, würde Forensic Instincts den Fall mit der notwendigen Dringlichkeit behandeln.

Casey brauchte nur wenige Worte, um ihre Besorgnis zu zerstreuen.

„Marc hat wirklich überzeugend argumentiert“, stellte sie sachlich fest. „Wir alle fühlen genauso mit Ihnen wie er. Wir haben unsere Ermittlungen kurz nach Mitternacht aufgenommen.“

Amanda riss den Kopf hoch. „Dann werden Sie Paul auch finden.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, erfüllt von Vertrauen in die Fähigkeiten von Forensic Instincts.

„Zunächst mal müssen wir herausfinden, ob er tatsächlich noch lebt“, mahnte Casey. „Aber wenn das der Fall ist, wird mein Team ihn auch finden.“

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen“, sagte Amanda.

Sie war eine attraktive Frau, bemerkte Casey. Aber sie wirkte deutlich älter als Mitte dreißig. Außerdem wirkte sie verstört und sehr mitgenommen. Was sie durchmachen musste, konnte Casey sich gar nicht vorstellen. Sie hatte selbst keine Kinder, doch das hieß nicht, dass ihr Amandas Leid gleichgültig wäre. Der eigene, gerade erst geborene Sohn in akuter Lebensgefahr, und man war zu völliger Hilflosigkeit verdammt – Casey fiel nichts ein, was für eine frischgebackene Mutter entsetzlicher sein könnte.

„Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen“, sagte sie leise. „Ich weiß, dass für Sie sich gerade alles um Ihren Sohn dreht. Aber je mehr Sie uns helfen können, desto schneller und effektiver können wir unseren Job machen.“

Amanda nickte. „Sie können mich alles fragen, was Sie wollen.“

„Erzählen Sie mir etwas über sich und Paul. Wann und wo Sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Wie Ihre Beziehung sich entwickelte. Wie es zwischen Ihnen stand, als er plötzlich verschwand. Alles, was die Polizei Ihnen mitteilte, als sie zu dem Schluss kam, er sei ermordet worden. Was Sie von seiner Arbeit, seinen Geschäftspartnern und seinen Freunden wussten. Ob er irgendwelche Feinde hatte. Alle Einzelheiten über seine Persönlichkeit, die vielleicht erklären könnten, wieso er von der Bildfläche verschwand. Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum er ausgerechnet in Washington sein könnte? Wo in den Hamptons hat er gelebt, an was dort können Sie sich alles erinnern? Andenken, Fotos, einfach alles, das uns mehr über ihn verraten kann.“

„Wow.“ Amanda atmete aus und schüttelte den Kopf über die Sintflut an Fragen, mit der Casey sie überschüttet hatte. „Ich nehme an, Sie wissen bereits von Marc, was ich ihm erzählt habe? Die Fotos, die ich ihm gezeigt habe?“

„Ja, das weiß ich alles. Einiges von dem, was Sie mir erzählen, werde ich schon kennen. Das ist mir klar. Aber ich will es von Ihnen hören.“

„Okay. Paul und ich sind uns bei einer Spendengala über den Weg gelaufen. Die Chemie zwischen uns stimmte sofort. Wir haben uns Hals über Kopf verliebt, und dann waren wir fünf Monate lang zusammen. Er entwickelte Immobilienprojekte. Kollegen von ihm habe ich nie getroffen. Ein paar von seinen Freunden habe ich kennengelernt, hauptsächlich Nachbarn und ein paar Kumpels, mit denen er Poker spielte. Paul und ich genügten einander, sodass wir die Außenwelt ziemlich ausgeschlossen hatten. Wenn wir Zeit miteinander verbrachten, dann meist nur zu zweit.“

„Also war zwischen Ihnen alles in Ordnung bis zu dem Zeitpunkt, an dem er verschwand?“

Sie nickte. „Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt“, fuhr Casey fort. „Hatten sie wenigstens irgendwelche Spuren, bei denen sie nicht weiterkamen?“

„Sie sagten, sie hätten überhaupt keine Ansatzpunkte. Keine Verdächtigen, kein Motiv und keine Leiche.“ Amanda nahm schnell einen Schluck Kaffee. „Was Pauls Beziehung zu Washington angeht, kann ich da auch nur raten. Er hat nie irgendwelche Freunde oder Verwandten dort erwähnt. Wäre es möglich, dass er dort ein Projekt betreut? Sicher, aber ich weiß von nichts.“

„Okay, was ist mit seinem Cottage? Wissen Sie, ob es inzwischen wieder vermietet ist?“

„Keine Ahnung.“ Amanda wirkte verwirrt. „Wieso ist das wichtig? Alle seine Sachen sind weg. Außer ein paar Dingen, die einen sentimentalen Wert für mich haben, habe ich alles der Wohlfahrt gespendet.“

„Diese Gegenstände muss ich mir unbedingt ansehen. Außerdem brauche ich den Namen seines Vermieters.“ Casey versuchte es zunächst mit der einfachsten Erklärung. „Ich würde mir gern die Genehmigung holen, das Haus betreten zu dürfen. Ich weiß nicht, was Sie von solchen Dingen halten, aber Claire Hedgleigh aus unserem Team ist auf wirklich brillante Weise intuitiv. Wenn sie sich dort umschaut, wo Paul gelebt hat, könnte sie vielleicht etwas finden – vor allem wenn in den letzten acht Monaten niemand sonst dort gewohnt hat. Und die persönlichen Gegenstände, von denen Sie geredet haben, werden ihr ganz sicher etwas sagen.“

„Sie reden von einer Hellseherin.“

Casey verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Claire selbst hasst diesen Ausdruck, aber es stimmt. Eine Hellseherin. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir unseren letzten großen Fall lösen konnten, und bevor sie zu uns stieß, hat sie ungeheuer erfolgreich verschiedene Ermittlungsbehörden im ganzen Land unterstützt.“

„Wenn sie uns sagen kann, ob Paul noch lebt und wo er steckt, habe ich dagegen überhaupt nichts einzuwenden.“

„Gut. Dann wird Sie meine nächste Bitte sicher auch nicht verwundern. Gestern Abend im Büro haben Sie neben Marc wahrscheinlich auch Hero getroffen. Er ist ein weiteres ungewöhnliches Mitglied unseres Teams – ein Personenspürhund, trainiert darauf, einen Menschen anhand seines Geruchs, auch auf große Entfernung und noch nach langer Zeit, zu verfolgen. Wir lassen ihn in Pauls Cottage und an ein paar von seinen persönlichen Sachen schnüffeln, dann wird er im Umkreis einiger Meilen feststellen können, wo Paul sich aufhält – falls er in der Region ist und wenn wir so weit kommen. Also, können Sie mir sagen, wer Pauls Vermieter war? Ich mache ein paar Anrufe und stelle fest, was jetzt mit dem Cottage ist. Denken Sie auch darüber nach, was für Erinnerungsstücke sie von Paul haben. Dann fahren wir zusammen raus in die Hamptons, entweder irgendwann heute oder morgen, je nachdem, wie Sie es einrichten können, Ihren Sohn für einige Zeit allein zu lassen.“

Amanda schloss für einen Moment die Augen. „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis“, sagte sie schlicht. „Meine Freundin Melissa kann bei ihm bleiben, wenn ich wegmuss. Und die Leute hier im Krankenhaus können mich auch jederzeit erreichen. Es ist bloß so, dass ich mich besser fühle, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich weiß, das ist unlogisch. Aber ich bin halt seine Mutter.“

„Ich werfe Ihnen überhaupt nichts vor.“ Casey schob den Stuhl zurück und erhob sich. „Gehen Sie jetzt wieder zu Ihrem Sohn. Ich rufe Sie an, sobald wir aufbrechen können.“

Ryan beugte sich gerade in tiefer Konzentration über seinen Computer, als Claire seine Höhle betrat.

„Wo sind denn alle?“, fragte sie.

„Schon mal was von Anklopfen gehört?“ Ryan wandte den Blick nicht vom Bildschirm ab.

„Wieso? Ist das hier dein Privatbereich?“

„Wenn du so fragst: ja, genau.“

Claire verdrehte die Augen. „Dann mach doch ein Schloss an die Tür. Oder sorg wenigstens dafür, dass sie zu ist.“ Sie ging zu Hero, der sofort aufgesprungen war, als sie hereinkam. Er sah sie voller Hoffnung an, und dazu hatte er auch allen Grund. Claire war ganz eindeutig die Sensibelste im Team, nicht nur wenn es um Fälle ging, sondern auch im Umgang mit Hero. Ihr Einfühlungsvermögen passte zu ihrem hellblonden Haar, ihren hellgrauen Augen und ihrer gertenschlanken Gestalt – ganz zu schweigen von ihrer ätherischen Ausstrahlung.

Es gab nicht viel, das sie aus der Ruhe bringen konnte. Aber Ryan McKay gehörte dazu.

Claire kraulte Heros Ohren und lächelte. Der Bluthund ließ sie nicht aus den Augen.

„In meiner Tasche“, teilte sie ihm mit und zog ein Stück Käse heraus, das sie ihm hinhielt. Ein Biss, und es war verschwunden.

„Er hat dich aber gut abgerichtet“, kommentierte Ryan. „Wenn du so weitermachst, hat er in einem Jahr drei Kilo zugenommen.“

„Das ist Light-Käse. Das wird ihm schon nicht schaden.“ Claire ließ den Raum auf sich wirken, die vielen Computer, Server und Kabel und schließlich das Kernstück in der Mitte: eine lange Reihe halb fertiger Roboter – alle umgeben von einem Haufen diverser Teile aus Metall und Kunststoff, die darauf warteten, Verwendung zu finden.

„An deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen, dass ich irgendwas in deinem tollen Keller anfassen könnte“, bemerkte sie spitz. „Ich würde bloß darüber stolpern und mich noch selbst umbringen. Außerdem habe ich keine Ahnung, was dieses ganze Zeug überhaupt ist. Besonders deine Spielsachen da. Roboter waren noch nie mein Ding.“

„Nein, du bist wohl eher für Tarotkarten zu haben.“

Claire schnitt eine Grimasse, obwohl sie sich geschworen hatte, sich nichts aus Ryans Sticheleien zu machen. „Du bist so kleingeistig, es ist zum Verrücktwerden. Zu deiner Information: Ich benutze keine Tarotkarten. Oder Ouijabretter.“

„Séancen?“

„Auch nicht.“

„Du bist mal eine langweilige Hellseherin.“

„Und du die reinste Nervensäge.“

Ryan wirbelte in seinem Stuhl herum, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. Er wirkte abscheulich gut gelaunt. „Danke für das Kompliment. Offensichtlich treffe ich da einen Punkt bei dir.“

Claire blickte ihn verärgert an. „Keine Chance.“

„Was willst du dann hier? Außer mir kommt keiner in den Keller. Der Konferenzraum ist zwei Stockwerke weiter oben.“ Er zeigte auf die Decke.

„Ich weiß, wo er ist.“ Claire verschränkte die Arme vor der Brust. „Bilde dir bloß nichts ein. Ich habe gerade einen Anruf von Casey bekommen. Sie sagte, wir hätten gleich eine Besprechung mit dem ganzen Team. Also ging ich hoch in den Konferenzraum. Da war aber keiner. Ich habe einfach das Naheliegende getan. Du lebst ja in dieser Höhle. Ich kam runter, um zu hören, ob du irgendwas weißt.“

„Yeap. Eine Besprechung mit dem ganzen Team. Mich hat Casey auch angerufen.“ Ryan sah auf seine Uhr. „Sie ist auf dem Weg. Patrick auch. Und Marc kocht Kaffee in der Küche und futtert wahrscheinlich meine Vorräte.“

„Na gut. Dann gehe ich eben wieder hoch und warte.“ Claire zögerte. „Hast du schon irgendwas rausgefunden?“

Ryan ignorierte die Frage, beugte sich vor und drückte die Print-Taste auf dem Keyboard. Mehrere Seiten kamen aus dem Drucker. Er ging hinüber, nahm sie heraus und überflog sie. „Das erfährst du, wenn’s alle anderen tun“, sagte er schließlich.

Claire antwortete nicht. Es hatte keinen Sinn, sich mit so einem Erstklässler zu zanken. Sie verließ den Raum und zog die Tür fest hinter sich zu.

Ryan hob den Blick zu der verschlossenen Tür und lächelte versonnen.

Alle Späße zwischen den Mitgliedern des Teams waren verflogen, als sie sich zehn Minuten später um den großen Tisch im Konferenzraum versammelten.

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