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Das zweite Kind

hier erhältlich:

Wenn deine Wurzeln dich fesseln…
Ein tragisches Familiendrama über eine unstillbare Sehnsucht und eine Freundschaft, die keine Grenzen kennt.

Eine weiße Villa mit Rosengarten im noblen Berliner Westend. Georg hätte es mit seiner Stelle als Dienstbote der Sommers wohl schlechter treffen können. Selbst seine dreijährige Nichte Conny findet in der wohlhabenden Familie ein neues Zuhause - und wird sogar adoptiert. Doch das Familienglück trügt. Obwohl sich zwischen Georg und dem Hausherrn eine tiefe Freundschaft entwickelt, zeigt dessen Frau Ursula Sommer ein völlig anderes Gesicht. Mit perfiden Forderungen zieht die herrschsüchtige Frau ihr heranwachsendes Adoptivkind unaufhaltsam in den Abgrund. Zum ersten Mal in seinem Leben muss Georg handeln - gegen jede Vernunft … und für die Menschen, die er liebt.


  • Erscheinungstag: 15.09.2015
  • Seitenanzahl: 175
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733785437
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Geschwister

PROLOG

Die breite, nach beiden Seiten geschwungene Treppe führt geradewegs auf einen von zwei Säulen umrahmten Torbogen zu. Noch bevor die Besucher ihn passieren können, teilt sich die Treppe. Nach links und nach rechts führen die Stufen in das nächste Geschoss, von dort zurück und weiter hinauf, um sich auf dem Dach des Torbogens wieder zu vereinen. Doch damit hat man noch längst nicht die gesamte Höhe dieses imposanten Treppenhauses erreicht. Säulen, Figuren und Wandverzierungen, wohin man sieht.

Weil er den Anblick dieser wilhelminischen Baukunst so schön findet, betritt Georg Lehmann das Kriminalgericht Moabit immer von der Turmstraße her, dem Haupteingang des Gebäudes, und bleibt einen Moment stehen, nachdem die schwere Holztür hinter ihm ins Schloss gefallen ist. Wie oft ist er die Stufen schon heraufgestiegen, um eine Verhandlung des Professors zu besuchen oder ihn, die kleine Conny an der Hand, zu einem gemeinsamen Mittagessen in der Gerichtskantine abzuholen? Er kommt nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Blitzlichter, unzählige und so nah, dass er unwillkürlich die Augen schließt. Als er sie wieder öffnet, tanzen schwarze Punkte in der Luft und machen es ihm schwer, zu erfassen, was gerade um ihn herum passiert.

„Wollten Sie Ihre ehemalige Arbeitgeberin rächen?“

„Hatten Sie und Professor Sommer ein homosexuelles Verhältnis?“

„Haben Sie von Professor Sommer geerbt?“

„Wie fühlen Sie sich, jetzt von der Gerechtigkeit eingeholt zu werden und selbst auf der Anklagebank zu sitzen?“

„Was war … ein kleines Kind allein mit Ihnen im Keller … wussten Sie, was der Professor Schreckliches getan hat?“

Es ist zu viel. Er würde so gerne den Reportern die Wahrheit erzählen. Aber er schweigt und fühlt sich völlig überfordert, ist schutzlos diesem Wort- und Blitzlichtgewitter ausgesetzt. Der Gerichtsmitarbeiter aus der Information kommt ihm zu Hilfe und drängt die Menschenmenge etwas zurück.

Georg nutzt die Chance und bahnt sich einen Weg durch die mit Umhängetaschen, Mikrophonen und Kameras bewaffneten Journalisten, hastet die Treppe hinauf und biegt in einen der vielen Gänge ein, die kreisförmig von dem Treppenhaus zu den unzähligen Verhandlungssälen und Büros führen. Zimmer 262 steht auf seiner Vorladung.

Hier in den Gängen sieht es nicht mehr ganz so monumental aus. Es riecht nach Bohnerwachs und staubigen Akten. Alle paar Meter steht eine einfache Holzbank. Die Reporter sind zurück geblieben, die Leere der scheinbar endlos langen Flure beruhigt seinen Herzschlag. Doch nachher würden sie sicherlich wieder vor dem Verhandlungssaal lauern, um eine Schlagzeile für die Berliner Abendschau und die Zeitungen des nächsten Tages einzufangen.

Ab und zu klappt eine Tür, Schritte hallen auf dem Fußboden und eine Tür schließt sich wieder. Dann erneut Stille bis auf die eigenen Schritte. Die dicken Mauern des Gebäudes schlucken alle Geräusche, die möglicherweise hinter den verschlossenen Türen von strengen Richtern, verzweifelten Angeklagten, gestikulierenden Anwälten oder schüchternen Zeugen produziert werden.

Es ist schon das zweite Mal, dass Georg nicht freiwillig hier ist. Dieses Mal haben sie ihn nicht als Zeugen geladen, sondern ihn hierher zitiert. Zum Glück ist er nicht in einem Polizeiwagen von der nahen Untersuchungshaftanstalt hergebracht worden. Wie damals der Professor. Mein Gott, wie unwürdig ist das gewesen, denkt Georg und schlurft in den nächsten Gang. Der lange Weg bereitet ihm Mühe. Und das liegt nicht am Alter. Wenn er daran denkt, was er noch vor kurzer Zeit mit seinen 64 Jahren körperlich geschafft hat, dann scheint es ihm, als sei er in der letzten Nacht zu einem Greis geworden. Dabei ist seine Entdeckung nun schon fast ein Jahr her. Und er war froh gewesen, dass das Versteckspiel endlich ein Ende gefunden hatte. Doch das hier, das macht ihm zu schaffen. Immer hat er sich bemüht, ehrlich und aufrichtig durch das Leben zu gehen. Die Tatsache, heute auf der Anklagebank Platz nehmen zu müssen, kommt ihm wie ein Siegel vor; eine Bestätigung über Fehler und Unvermögen, die sich durch sein ganzes Leben ziehen.

Georg folgt weiter dem Gang, der jetzt um die Ecke biegt, und sieht, dass alle bereits vor der Tür stehen: die Mieter der Weidenallee 12 und auch sein treuer Freund Peter. Die kleine Judith sitzt mit ihrer Mutter auf der Bank und sein Anwalt kommt ihm entgegen.

„Erzählen Sie einfach nur Ihre ganze Geschichte. Und die des Professors. Das wird den Richter am besten überzeugen. Ich halte mich dabei zurück. Seien Sie ganz authentisch“, rät er ihm zum wiederholten Male.

„Authentisch? Wen interessiert schon, was ich zu sagen habe?“, zweifelt Georg, ebenfalls zum wiederholten Male.

„Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Ich stelle schon die richtigen Beweisanträge“, versichert ihm der Anwalt lachend. Er wird von der Mietergemeinschaft bezahlt. Sie hat extra einen Fonds für Georg eingerichtet.

Der Richter ist viel jünger, als Georg gedacht hat. Er zweifelt, ob der ihn verstehen wird.

„Bitte nennen Sie Ihren vollständigen Namen, Datum und Ort Ihrer Geburt, den aktuellen Wohnsitz und Ihren Beruf“, bittet er.

„Georg Lehmann, geboren 16.05.1944 in Wilhelmshaven, wohnhaft Weidenallee 12, 14050 Berlin, Hausmeister.“

Als der Staatsanwalt, ein ebenso junger Mann, die Anklageschrift verliest, hört Georg nicht mehr zu. Er dreht sich um und sucht die Zuschauerbank ab, die sich an der gesamten hinteren Wand entlang zieht. Der Professor hatte seine Sitzungen in weit größeren Sälen, solchen, wie man sie aus alten Gerichtsfilmen kennt. Mit Holzverzierungen an der Richterbank, Stuck an den Decken und für die Zuschauer mehrere Bankreihen hintereinander, die nicht selten gefüllt waren. Georg fällt ein, dass alle Zeugen draußen warten müssen. Ein Zeuge darf der Verhandlung nicht beiwohnen, bis er entlassen wird, hatte ihm der Professor beigebracht. Georg hat es nur vergessen, weil er dieses Mal hier vorne direkt vor der Richterbank sitzen muss, anstatt im Zuschauerraum, und weil er aufgeregt ist. Beinahe so aufgeregt wie damals bei seiner Aussage im Prozess gegen den Professor. Georg zwingt sich, wieder zuzuhören, was um ihn herum gesprochen wird.

„Ja, mein Mandant wird selbst antworten“, hört er seinen Anwalt sagen. Jetzt wendet sich der Richter ihm direkt zu.

„Herr Lehmann. Es ist eine lange Liste von Vorwürfen, die der Staatswalt eben in seiner Anklageschrift verlesen hat. War und ist Ihnen die Strafbarkeit Ihrer Handlungen bewusst?“

Georgs Herz schlägt bis zum Hals. Sein Anwalt nickt ihm freundlich und aufmunternd zu. Trotzdem klingt Georgs Stimme ungewohnt rau, als er antwortet.

„Ja, Herr Richter. Aber manchmal richtet sich das Leben nicht nach Paragrafen, und außerdem war ich es dem Professor schuldig.“

„Weshalb fühlten Sie diese Verpflichtung?“

Was sollte er auf eine Frage antworten, die er sich selbst wohl an die hundert Mal gestellt hat, ohne eine Antwort zu finden.

„Herr Lehmann? Wollen Sie nicht antworten?“

„Doch, Herr Richter. Der Professor war nicht nur mein Arbeitgeber. Er hat mir auch einen Teil seines eigenen Lebens geborgt.“

„Erzählen Sie. Helfen Sie mir und meinen Kollegen, zu verstehen, was passiert ist.“

1. KAPITEL

Mein Großvater war Werftarbeiter gewesen, genau wie mein Vater. Beide haben ihre Familien gut davon ernährt. Trotzdem wollte ich keiner werden. Ebenso wenig hatte ich Lust, zur Bundeswehr zu gehen. Wann auch immer ich an Soldaten dachte, kam mir mein Freund Klaus in den Sinn. Nach unserer Einschulung hatten ihm unsere Klassenkameraden ihre ungeteilte Bewunderung entgegengebracht, weil sein Vater Berufssoldat war. Auch ich hatte es merkwürdig gefunden, dass Klaus nicht stolz darauf gewesen war. Ich wäre es jedenfalls gewesen. Bis ich ihn eines Tages zum Spielen abgeholt hatte.

Ich klingelte an seiner Tür. Klaus öffnete, und in seinem Gesicht sah ich eine große Schürfwunde. Dünne rote Striche zeigten, dass die Wunde noch ziemlich frisch war und weh getan haben musste.

„Bist du hingefallen?“

Er senkte nur den Kopf und trottete vor mir her in die gute Stube. Auch seine Mutter schien traurig zu sein. Sie bot uns heiße Schokolade an, und als sie eingoss, sah ich, dass auch sie eine Schramme trug, exakt an der gleichen Stelle auf der linken Wange.

Klaus wollte mir nicht die Wahrheit erzählen. Aber nach ein paar Monaten begriff ich den Zusammenhang zwischen den Schürfwunden und den Besuchen seines Vaters, die diesen vorausgingen. Seither war die Bundeswehr für mich gestorben.

Vom Schicksal meines Freundes Klaus einmal abgesehen, war die Grundausbildung bei der Bundeswehr er Arbeit auf der Werft nicht unähnlich. Ständig musste man sich den Dreck mit dem Bimsstein von den Händen waschen, sonntags für die Kirche sogar so sauber, bis sie bluteten. Ein Jahr lang bearbeitete ich deshalb meine Eltern, selbst entscheiden zu dürfen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente. Ich bettelte sogar.

Meine Mutter frustrierte es sehr, dass ich so weit weg wollte.

Wilhelmshaven – Berlin. 520 km.

Der Widerstand meines Vaters dagegen war nichts Anderes als verletzter Stolz. Doch zu meinem Glück war ich der Nachzügler in der Familie, und da mein älterer Bruder Hans schon einen ordentlichen Beruf auf der Werft gelernt hatte, wofür ich ihm von Herzen dankte, konnte ich schließlich doch gehen.

Den letzten Ausschlag gab die Tatsache, dass mein Vater einen Kumpel in Berlin hatte, der mir dort eine Ausbildungsstelle zum Tischler besorgte – ein Handwerk, das auch mein Vater als annehmbare Alternative akzeptierte. Was mein Vater nicht wusste: Auch mein Bruder wollte beruflich umsatteln und Tischler werden. Trotzdem bat ich ihn inständig, mit der Neuigkeit zu warten, bis ich weg war.

Anfang des folgenden Jahres war es soweit. Mit dem Zug ging es nach Hannover und dann mit dem Bus die Transitautobahn durch die Zone nach Berlin. In meiner Tasche hatte ich den Ausbildungsvertrag und die notwendigen Vollmachten meiner Eltern, die ich mit siebzehn Jahren dringend brauchen würde. Als ich endlich am Kontrollpunkt Dreilinden den ersten Hauch Westberliner Luft atmen durfte, schien sie auf meiner Haut zu prickeln, so aufgeregt war ich.

Der Kumpel meines Vaters holte mich vom Busbahnhof am Funkturm ab.

„Na, Georg, hast es geschafft, ja?“

Seine Hand donnerte auf meine rechte Schulter. Er nahm es sehr wörtlich mit dem Auftrag meiner Eltern, mich in den ersten Tagen in der Großstadt unter seine Fittiche zu nehmen. Diese Fittiche rochen nach ranzigem Öl und bewegten sich zielgerichtet per Bus und Bahn zur Monumentenstraße in Kreuzberg. Mein Aufpasser verteilte in einer kleinen Imbiss-Stehtisch-Bude einige lautstarke Kommandos, bevor er mich in den ersten Stock des Hauses zu seiner Frau brachte. Sie stank zwar nicht nach altem Öl, dafür aber nach Rauch; wie alles in dieser Wohnung, selbst mein Bettzeug, in dem ich meine erste Nacht in einer Stadt verbrachte, die ziemlich von meinen Vorstellungen abwich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich hier allein zurechtfinden sollte.

Immerhin fand ich den Weg zu meinem zukünftigen Ausbildungsplatz. Der lag in der Müllerstraße im Wedding, wo ich am nächsten Morgen dank eines Fahrspickzettels meiner Gastgeber pünktlich in der Tischlereiwerkstatt stand.

„Tut mir wirklich leid, aber ich kann dich nicht beschäftigen“, sagte der Meister. „Kann doch keiner wissen in den heutigen Zeiten, und mein Neffe kommt aus der Zone. Denen geht’s da nicht so gut wie uns. Du findest schon was anderes. Kannst ja auch zurück, bist ja noch jung.“

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Langsam strich ich mit der Hand über das glatte Holz eines Stuhlbeines, das in einem Schraubstock eingespannt seiner Ausbesserung entgegensah. Da sich der Meister weigerte, den Lehrvertrag einzuhalten, würde meine gerade erst gewonnene Freiheit ein jähes Ende finden. Zurück nach Wilhelmshaven, in die Wohnung der Eltern und zur Bundeswehr. Der Meister murmelte, dass die eigene Familie einem schließlich näher stünde, dass Blut dicker als Wasser sei. Seine Scham besänftigte mich nicht. Ein Wort war schließlich ein Wort.

Wütend verließ ich die Werkstatt und fragte einen Passanten nach der Schulzendorfer Straße. Mein Vater wollte seine Bekannten nicht länger als nötig bemühen und hatte auf dem Postweg ein Zimmer im Haus Nummer 42 gemietet und für einen Monat auch bereits bezahlt.

„Komm rein, Junge. Hier ist dein Zimmer.“ Der dicke Mann öffnete mit der einen Hand weit die Tür und streckte mir die andere entgegen. Er erwartete sicher ein Lob. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich das Berliner Domizil nun gar nicht mehr brauchte. Denn er war nett und schien so gemütlich wie das Zimmer. Und er sah nicht aus, als hätte er kein Verständnis für junge Leute. Ginge ich wieder zurück, müsste ich den Musterungstermin nach meinem achtzehnten Geburtstag in drei Wochen wahrnehmen. Dann hätte mich der Arm des Gesetzes eingeholt. Volljährig durften wir erst mit einundzwanzig sein, aber zur Waffe greifen schon früher. Und nicht etwa ein Jahr wie bisher. Nein, ganze achtzehn Monate hatten die Herren da oben in der Politik gerade beschlossen. Mein sehniger Körper und mein Gesundheitszustand ließen keinen Zweifel, dass ich tauglich sein würde.

Kurzerhand schlug gab ich meinem Zimmerwirt die Hand und er drückte sie so heftig, dass ich kurz das Bild eines Gorillas vor mir sah. Ich verzog schmerzlich das Gesicht.

Ich verschwieg den Bekannten meines Vaters den Vorfall, auch meinen Eltern, und machte mich auf die Suche nach einer neuen Lehrstelle. Mit Stadtplan und einem Reiseführer für Berlin zog ich los. Am sinnvollsten erschien mir, mit meiner neuen Heimat zu beginnen, dem Wedding. Dreh- und Angelpunkt bildete die schnurgerade Müllerstraße. Von den Mühlen und ihren Müllern, die dieser Straße ihren Namen gegeben haben sollen, sah man nichts mehr, dafür die Folgen der Kriegszerstörungen umso mehr. Aber es gab auch schöne Wohnhäuser, im nordwestlichen Bereich des Stadtteils, den meine neuen Kumpels das „vornehme“ Wedding nannten. Doch eine Miete dort konnte ich mir nicht leisten.

Schnell lernte ich während meiner Streifzüge andere junge Leute kennen. Sie waren entweder Lehrlinge, wie ich es hätte sein sollen, oder schon fertig und arbeiteten in einem der vielen kleinen Handwerksbetriebe auf den Hinterhöfen der Müllerstraße. Es wäre doch gelacht, dort nicht ebenfalls eine poplige Lehrstelle finden zu können. Wir hatten auch zwei Kluge in der Klicke: Eberhard und Kurt. Sie studierten Maschinenbau. Doch dafür brauchte man zum einen Abitur und zum anderen Geld. Beides hatte ich nicht. Dafür war ich aber der Einzige unter ihnen, der minderjährig ohne familiäre Kontakte in der Stadt unterwegs war. Ich war sozusagen mein eigener Herr, was mir bei ihnen eine gewisse Achtung einbrachte. Sie nahmen mich abends mit, entweder nördlich in den Bereich zwischen Leopoldplatz und Seestraße, meist aber in den Ostsektor in die Chausseestraße und zum Oranienburger Tor.

Russen. Allein das Wort führte dazu, dass sich die Pupillen meiner Mutter angstvoll weiteten und die Finger meines Vaters sich zu Fäusten ballten. Dabei war der Krieg nun schon sechzehn Jahre vorbei. Westberlin zu verlassen, fühlte sich selbst bei mir jedes Mal aufs Neue wie ein großes Abenteuer an. Aber für meine Kumpel war die Teilung der Stadt nichts Besonderes mehr. Alle wohnten wie ich in unmittelbarer Nähe zur Sektorengrenze im französischen Teil Westberlins.

Auf dem Nachhauseweg mussten wir immer häufiger unsere Ausweise zeigen, obwohl ein freier Zugang zwischen den Sektoren möglich war. Eberhard, der in der sowjetischen Zone wohnte, verließ uns schon immer vor dem Übergang. Ich hielt meinen bundesdeutschen Pass hin, die Grenzer ignorierten mein Alter, und meine Freunde beneideten mich darum.

Einige Tage später weckte das heftige Klopfen meines Zimmerwirtes mich und Eberhard, der über Nacht geblieben war. „Steht auf. Sie sperren den Osten mit Stacheldraht ab.“

Ich verstand nicht gleich. Vielleicht lag es an der Anzahl der Biere am gestrigen Abend, aber dass die Kontrollen an der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland immer stärker wurden, war doch nichts Neues.

Verschlafen starrte Eberhard mich an. „Aber doch nicht in Berlin“, murmelte er.

Wir zogen uns schnell an, verzichteten auf ein Frühstück und liefen zum Übergang Chausseestraße. Dass alle Freunde bereits dort waren, wunderte mich nicht. Als sie uns sahen, stürmten sie auf Eberhard zu.

„Du bist hier? Wir dachten … Mann, hast du ein Glück.“

Sie klopften ihm lachend auf die Schulter. Einige umarmten ihn. Eberhard lachte nicht. Erst in diesem Moment wurde mir seine Situation bewusst. Und die Bedeutung dieser entscheidenden 800 Meter, die zwischen unseren Wohnhäusern lagen.

Trotzdem hielt ich mich zurück bei den aufgeregten Diskussionen, ob Eberhard besser nach Hause gehen oder lieber im Westen bleiben sollte. Denn in unserer Familie gab es keine Verwandten „drüben“, und ich war erst ein einziges Mal in der Ostzone gewesen, als sich meine Eltern einen kleinen Urlaub an der Ostsee geleistet hatten – und bald feststellten, dass dieses Meer in keiner Hinsicht an unsere ehrfürchtige Nordsee heranreichte. Die Ostsee hatte ausgeschaut wie das Badewasser, das meine Mutter jeden Samstag für meinen Vater einfüllte, nachdem der Kohleofen geheizt war. Aber bei Eberhard war das anders. Seine Großeltern, Eltern und seine kleine Schwester lebten hinter diesem Stacheldraht.

Die Meinungen spalteten die Freunde in zwei Gruppen und machten es Eberhard nicht leichter, eine Entscheidung zu treffen. Kurts Eltern nahmen ihn in dieser Nacht zu sich. Sie bestanden darauf, dass diese Entscheidung wohlüberlegt sein musste.

Am nächsten Tag standen wir alle – neun an der Zahl – mit Eberhard vor dem Übergang Chausseestraße. Eine Mauer aus weißen Hohlblocksteinen wuchs schnell und ersetzte den provisorischen Stacheldrahtzaun. Wir scharten uns um Eberhard und verabschiedeten ihn. Auch die, die wollten, dass er blieb, wagten keine Widerrede. Schweigsam gingen wir mit ihm über die Kreuzung Liesenstraße so weit an den schmalen Durchlass in der Absperrung, bis drei bewaffnete Grenzsoldaten uns „Halt“ entgegen brüllten. Eberhard griff in seine Hosentasche, zog seinen Ausweis heraus und entfernte sich langsam von uns. Er schritt auf den Grenzsoldaten zu, der ihm am nächsten stand, hielt ihm den Ausweis hin und drehte sich kein einziges Mal mehr um.

2. KAPITEL

Ich hatte kein Geld mehr und noch immer keine Lehrstelle gefunden. Neben den Werkstätten durchforstete ich auch die Arbeitsinserate der Zeitungen. Eine interessierte mich besonders, weil die Stelle einfach klang und die Bezahlung nicht schlecht war.

Gärtner und Haushandwerker für Villa in Berlin-Westend gesucht.

Der Arbeitgeber stellte sich am Telefon als Professor Gernold Sommer vor. Er sei Richter, sagte er und schlug vor, ich solle noch am Nachmittag vorbeikommen. Es war wohl eilig mit der Stellenbesetzung.

Also fuhr ich mit der Straßenbahn in den Stadtteil Westend, den ich bisher nicht kannte. Woher auch? Hier standen Villen und kleine Mehrfamilienhäuser wie Puppenhäuser in winzigen Straßen, die sich merkwürdigerweise allesamt Alleen nannten. Die ersten Bewohner schienen eine starke Liebe zum Wald gehabt zu haben. Birkenallee, Eichenallee, Platanenallee, Nussbaumallee … Es nahm kein Ende, bis ich schließlich doch noch die Weidenallee entdeckte.

Hier wohnten keine Arbeiter und weit und breit gab es keine Handwerksbetriebe und erst recht keine Hinterhöfe. Hier würde ich mich sicherlich fremder fühlen, als in meinen ersten Tagen im Wedding. Ein wenig ehrfürchtig betätigte ich den Klingelknopf am Holzgartenzaun des Grundstücks Weidenallee 12. Die zweistöckige weiße Villa hatte einen Rosenvorgarten, der in voller Blüte stand. Ich wäre am liebsten wieder umgedreht. Wie sollte ich, unerfahren wie ich war, ihn so pflegen können?

Eine Frau im eleganten Kleid öffnete die schwere Eingangstür. Der Kleiderstoff schimmerte seidig, und die großen Blumen darauf schienen gerade erst aufgeblüht zu sein. Jedenfalls lenkten sie von der eher üppigen Figur der Besitzerin des Kleides ab. Ihr Haar war zu einer blonden Dauerwelle frisiert, den Mund hatte sie sich hellrot geschminkt, doch er zeigte kein Lächeln.

„Gernold, kommst du bitte“, hörte ich sie in den Raum hinter sich rufen. Mit der Hand winkte sie mir, ich solle die Gartentür öffnen. Automatisch gehorchte ich der Frau, obwohl sie mit Sicherheit jünger als meine Mutter war. Die aber trug niemals ein so schmuckes Kleid, schon gar nicht am frühen Nachmittag. Ein Mann tauchte im Türrahmen auf. Auch er schien jünger als mein Vater. Aber trotz einer bequemen Strickjacke wirkte er wie die wenigen Männer, vor denen mein Vater beim Sonntagsspaziergang den Hut lüftete. Und es gab nicht viele Männer, bei denen mein Vater das tat.

„Herr Lehmann?“

Er bat mich in die Küche und die Frau, die er als seine Ehefrau vorstellte, musterte mich von oben bis unten.

„Georg Lehmann“, stellte ich mich brav mit einem angedeuteten Diener vor.

„Sie sind nicht sehr groß und wirken nicht übermäßig kräftig. Können Sie richtig zupacken?“, fragte Frau Sommer. Ich war mit meinen eins fünfundsiebzig nur wenig kleiner als ihr Mann. Und das Kräftige an ihm waren sicherlich keine Muskeln.

„Ich bin sehr gesund und körperliche Arbeit gewohnt“, beteuerte ich. Die erste Aussage war nicht einmal gelogen. Ich lächelte sie an.

„Wie alt sind Sie, Herr Lehmann?“, fragte jetzt der Professor. Ich hatte mir einen Richter weniger freundlich vorgestellt. Für Verbrechen war er bestimmt nicht zuständig.

„Ich werde im nächsten Monat achtzehn. Ich habe alle Vollmachten meiner Eltern dabei. Und meine Zeugnisse. Ich habe die Realschule absolviert.“

Er schmunzelte.

„Erfolgreich“, schob ich noch schnell hinterher.

„Na dann lassen Sie mal sehen.“

Die Hausherrin schien noch immer skeptisch. „Sie müssen die Kohlen in den Keller bringen, die liefern sie nur bis zur Treppe, den großen Garten tipptopp pflegen, und wie steht es mit Ihrem handwerklichen Geschick? Was haben Sie überhaupt gelernt?“

Da war sie, die Frage, die ich am meisten befürchtet hatte. Meine Hände schwitzten und ich versteckte sie hinter meinem Rücken.

„Ursula. Er ist erst siebzehn Jahre alt. Da kann er doch noch keine Lehre abgeschlossen haben.“

Ein Menschenfreund. Mit einem Mal hoffte ich nur noch, ich würde die Stelle bekommen.

„Erzählen Sie mal. Warum hat es sie in so jungen Jahren von Wilhelmhaven nach Berlin verschlagen?“ Wieder zeigte er dieses warmherzige Lächeln, das mich automatisch zu einer ehrlichen Antwort zwang.

„Ich wollte eine Ausbildung zum Tischler beginnen, aber …“

„Fragt sich nur, warum das nicht geklappt hat“, wandte die Hausherrin mürrisch ein, bevor ich meine kurze Geschichte erzählen konnte.

„Und nun brauchen Sie Geld zum Leben“, fragte anschließend der Richter. „Ich lobe mir jemanden, der handelt und sich nicht zu schade ist für eine einfache Arbeit, statt zurück zu den Eltern zu gehen, nicht wahr, Ursula? Wir sollten es mit dem jungen Mann versuchen.“

Sie nickte und deutete das erste Lächeln an, das ihr Gesicht um ein Vielfaches jünger aussehen ließ.

„Aber keine Damenbesuche. Dazu ist es hier viel zu familiär.“

Ich verstand nicht. Bei allem Respekt. Aber was ging Frau Sommer meine Damenbesuche an, die ich zwar noch nie gehabt hatte, die aber hoffentlich nicht mehr allzu lang auf sich warten lassen würden?

Der Professor klärte mich auf. „In der Anzeige hatte ich bereits geschrieben: Kost und Logis frei. Sie wohnen hier bei uns im Dienstbotenzimmer. Es sei denn, Sie hätten ein Zimmer oder eine Wohnung hier in der Nähe und wären schnell erreichbar?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte die Formulierung zwar gelesen, aber sofort wieder vergessen, das Wort „Logis“ nachzuschlagen und jetzt kam ich mir vor wie der Depp vom Land.

„Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen das Zimmer. Ihr Zimmer, wenn Sie möchten und wir uns über die Finanzen einig werden.“

Ich folgte ihm zurück in den großzügigen Eingangsbereich der Villa. Eine breite Treppe führte nach oben. Darunter befand sich eine Tür, kaum sichtbar in der aus dem gleichen dunklen Holz getäfelten Wand. Der Professor schloss sie auf und ließ mich eintreten. Der Raum hatte eine ungewöhnliche Form. Links bildete die darüber führende Treppe eine entsprechende Schräge. Dort stand ein einfaches Bett, daneben ein ebenso schlichter Nachttisch. Es erinnerte entfernt an die Alkoven im Haus meiner Großeltern. Die Stehlampe mit einem großen vergilbten Lampenschirm stand wegen der Dachschräge wie verloren im Raum. Abends las ich gerne im Bett, aber dafür konnte sie unmöglich genug Licht geben. Das rote Sofa und der gleichfarbige Sessel mit einem kleinen runden Tisch in der Mitte des Zimmers wirkten dagegen neu und sahen ganz einladend aus. Die rechte Wand war in voller Breite mit einem Bücherregal verstellt, in dem allerdings nur wenige Bände standen. Das große Fenster an der letzten Wand wirkte ähnlich kahl.

„Es werden selbstverständlich wieder Gardinen aufgehängt. Sie dürfen sich den Stoff gerne aussuchen. Allerdings wartet hier zuvor gleich die erste Arbeit auf Sie. Hier …“ Der Professor trat an die Wand neben dem großen Fenster und zeichnete mit den Armen eine mannshohe Öffnung an die Tapete mit braun-beigem Wellenmuster.

„Hier soll eine Tür eingebaut werden. Meine Frau meint, man würde vom Garten mit den Schuhen immer so viel Schmutz in die Diele tragen.“ Er lächelte mich an. „Und so hätten Sie Ihren eigenen Eingang. Dort im Schrank können Sie Ihre Kleidung unterbringen.“ Er wies auf einen Eicheschrank an der Wand neben der Tür, und damit war die Besichtigung meines künftigen Zimmers abgeschlossen.

Zurück in der Diele sprang mir ein goldfarbener Labrador-Retriever entgegen und bellte mich an, wedelte aber gleichzeitig mit dem Schwanz. Ich erschrak und wich ängstlich zurück. Dieses Exemplar war kein Schoßhund. Außerdem war ich fremd und hatte sein Revier betreten.

Lachend beruhigte mich mein neuer Arbeitgeber. „Darf ich vorstellen? Bruno. Bruno, das ist der Georg. Der gehört jetzt hierher.“

Ich hatte Zweifel, ob ich wirklich hierhergehörte. Andererseits hätte ich es mit meiner ersten Arbeitsstelle schlechter treffen können. Es würde ja auch nicht für lange Zeit sein. Nur bis ich eine neue Ausbildungsstelle gefunden hatte, was ich im weiteren Verlauf dieses Einstellungsgespräches für mich behielt. Man wusste ja nie, und ich nahm mir vor, mit Bruno vorsorglich Freundschaft zu schließen.

Mit einem Richter am Landgericht Berlin als Arbeitgeber, einem Professor dazu, konnte ich den Eltern die Pleite meiner Ankunft beichten. Ich versprach, neben der Arbeit keinesfalls die Suche nach einer anständigen Ausbildung zu vernachlässigen. Bei den sonntäglichen Telefongesprächen musste ich sie beruhigen. Sowohl hinsichtlich meines Lebenswandels als auch meiner Sicherheit. Am liebsten hätten sie mich zurückzitiert, als mich in dieser Stadt zu lassen, in der gerade die Teilung des Landes mit Steinen und Stacheldraht mitten durch die Häuser vollzogen wurde. Aber ich konnte sie schließlich überzeugen.

Quasi über Nacht waren tausende Arbeitskräfte aus Ostberlin abgeschnitten worden, und diese Situation hatte den Arbeitsmarkt in Westberlin gehörig durcheinander gemischt. Mir standen praktisch alle Berufe offen. Ich war jung, und vor mir lag eine vielversprechende Zukunft. Erst einmal hatte ich ein Auskommen und ein neues Zuhause – und ich war mir nicht sicher, ob ein Tischler es jemals zu einer Villa in einem solchen Stadtteil schaffen könnte.

Vielleicht wussten sie es zu diesem Zeitpunkt ja selbst noch nicht, aber bei meiner Einstellung hatten die Sommers nichts davon verlauten lassen, dass ich bald in einem Haushalt mit Baby arbeiten sollte. Ursula Sommer erwartete mit zweiunddreißig Jahren ihr erstes Kind, und es ging ihr nicht sonderlich gut mit der Schwangerschaft.

Da ich mich geschickt anstellte, übernahm ich mehr und mehr neben dem Garten und den technischen Dingen im Haus auch das Einkaufen und den Haushalt. Schließlich sogar das Kochen. Meine Mutter musste sich bei den Mahlzeiten nach ihrem monatlichen Budget richten. Je weiter es auf Ultimo zuging, desto öfter gab es fleischlosen Eintopf und Kartoffeln mit Quark und Leinöl.

Ich dagegen konnte nun aus dem Vollen schöpfen.

Zunächst ließ mich Frau Sommer nach jedem Einkauf Pfennig für Pfennig abrechnen. Aber dann wurde ihr dieses Prozedere zu umständlich. Jede Woche legte sie mir einen Umschlag mit meinem Haushaltsgeld auf den großen Küchentisch, und ich entdeckte das erste Mal in meinem Leben, dass ich auch eine schöpferische Seite in mir trug. Auf dem Wochenmarkt einkaufen zu gehen und in dem kleinen Feinkostladen am Ende unserer Straße zu stöbern, machten mir Spaß, genau wie die Planungen, was ich auf den Tisch bringen könnte. Ich war unendlich stolz, wenn es den Sommers schmeckte.

Was allerdings anfangs eher selten der Fall war. Deshalb half mir Frau Sommer. Sie zeigte mir, wie man eine Sauce andickte, ohne dass sie klumpte. Meine Sonntagsbraten wurden unter ihrer Anleitung immer besser, und meine Bratkartoffeln waren mit einem Mal nicht mehr angebrannt, sondern goldbraun und knusprig. Es gefiel ihr offenbar, dass sie mir etwas beibringen konnte und sie tat es gründlich. Kurz darauf suchte ich keinen Ausbildungsplatz in einer Werkstatt, sondern kreuzte die Inserate der großen Hotels an, die einen jungen Menschen wie mich womöglich zu einem berühmten Sternekoch ausbilden könnten. Doch bevor ich endlich mein erstes Vorstellungsgespräch führen und eine Zukunft als Koch beginnen sollte, geschah etwas, das mich zwang, in der Villa zu bleiben. Ich konnte schließlich die Familie in der schwersten Stunde nicht einfach verlassen.

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