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Das Zeitalter des magischen Zerdenkens. Notizen zur modernen Irrationalität

Als Buch hier erhältlich:

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Sinn, wo steckst du? – Warum wir über die falschen Dinge zu viel nachdenken

Jede Generation hat ihre eigene Krise. Um die Last des Informationszeitalters zu bewältigen, riskiert unser Verstand so manches Ausweichmanöver: Wir lassen uns von Online-Astrologen in Jobfragen beraten, vergöttern (oder verdammen) Taylor Swift, als sei sie unsere eigene Mutter, klicken uns paranoid durch Insta-Profile und bringen unser Weltbild durch Algorithmen ins Wanken.

Voller Klugheit und Komik schreibt Amanda Montell von den tief verwurzelten Verzerrungen,
die in unseren Köpfen grassieren, und verwebt dabei ihre eigenen Erfahrungen mit akuter Kulturkritik: Wir katastrophieren, dramatisieren, verschwören, beschönigen und unken und verwechseln dabei gerne Ursache und Wirkung. Selten hat man sich in seinen verzerrten Wahrnehmungen so ertappt gefühlt.

Ihr Buch ist Augenöffner und Beruhigungsmittel zugleich, denn je besser wir unsere Irrationalitäten verstehen, umso vernünftiger (und versöhnlicher) uns selbst gegenüber können wir damit umgehen.


»Montell geht der Frage nach, wie das Internet und das ständige Online-Sein uns in ängstliche, irrationale Wesen verwandelt haben, die alles chronisch überdenken müssen. Und natürlich schenkt sie uns auch eine Pause vom Chaos unseres modernen Zeitalters.«
Men’s Health

»Wer schon einmal in seinem eigenen Kopf gefangen war, kann in Amanda Montells neuestem Werk Trost finden. Es ist eine reizvolle Mischung aus Kulturkritik und persönlicher Erzählung, die dem modernen Informationszeitalter, den überlasteten Bewältigungsmechanismen unseres Gehirns und der Irrationalität der Gesellschaft auf den Grund geht.«
NYLON

»Montell führt ihre Fans auf die vielen Straßen, auf denen sich das Wettrennen zwischen Sprache, Psychologie und ihren eigenen bizarren Verhaltensweisen verfolgen lässt.«
Elle


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009581

Leseprobe

Amanda Montell

Das Zeitalter des magischen Zerdenkens

Notizen zur modernen Irrationalität

Aus dem amerikanischen Englisch von
Florian Kranz und Andrea Schmittmann

HarperCollins

Für Casey

Anmerkung der Autorin

Wahre Begebenheiten und Menschen aus meinem Leben beschreibe ich nach bestem Wissen und Gewissen. Manche Namen und Wiedererkennungsmerkmale habe ich geändert.

Sinn, wo steckst du?

Eine Einführung ins magische Zerdenken

»Wofür ist die Welt denn da, wenn du sie dir nicht so machen kannst, wie du sie willst?«

– Toni Morrison, Jazz 1

Ich habe ziemlich viel Quatsch ausprobiert, um dem Gedankenkarussell zu entkommen.

Ich habe einen Streichelzoo für Erwachsene besucht. Versucht, mir von einer britischen Computerstimme das Meditieren beibringen zu lassen. Mich mit einem Vorrat des Nahrungsergänzungspulvers »Brain Dust« eingedeckt, das nicht der Lebensmittelkontrolle unterliegt. Mein Gehirn war wie zu Staub zerfallen. In den letzten Jahren avancierte »grundlose Angst« zu einer meiner häufigsten Google-Suchen, als würden meine Gefühle verschwinden, wenn ich sie in eine Suchmaske tippte. Ich hörte mir lauter Podcasts über Frauen an, die »durchgedreht« waren, und diese Frauen, die ihre Verrücktheit so offen zur Schau stellten, wirkten auf mich abstoßend und faszinierend zugleich. Wie gut es sich doch anfühlen muss, wenn man »durchdreht«, dachte ich. Bei meinem filmreifsten Versuch, mich psychisch zu rehabilitieren, habe ich auf einem sizilianischen Bauernhof unter einem klaren Nachthimmel Kräuter geerntet. (»Nachts sind die Sterne hier so nah, dass sie dir in den Mund fallen könnten«, sagte mir der Kräuterbauer, woraufhin mir das Herz bis in die Kehle schlug.) Mal mehr, mal weniger »erfolgreich« unternahm ich alles Erdenkliche, um diesem Zustand von Überwältigung und Konsum zu entkommen, der mein Leben in den wilden 2020er-Jahren beherrschte. Alles, um die Notlage meiner psychischen Gesundheit besser zu durchschauen, die ich seit gut zehn Jahren durchlebte und einzuordnen versuchte.

Jede Generation hat ihre eigene Krise. In den Sechzigern und Siebzigern ging es darum, sich Freiheit von physischen Tyranneien zu erkämpfen – gleiche Rechte und Wahlchancen, Bildung, Arbeit, Bewegungsfreiheit. Das waren körperliche Krisen. Doch als sich das Jahrhundert seinem Ende zuneigte, verlagerten sich unsere Kämpfe nach innen. Je größer unsere Fortschritte auf kollektiver Ebene waren, desto mehr Unbehagen empfanden wir paradoxerweise auf individueller Ebene. Der Diskurs über unser psychisches Unwohlsein schoss durch die Decke. Im Jahr 2017 hieß es in der Zeitschrift Scientific American, dass sich die psychische Gesundheit im ganzen Land seit den 1990er-Jahren verschlechtert habe und die Suizidrate auf dem höchsten Stand seit 30 Jahren sei. 2 Vier Jahre später ging aus einer Umfrage der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) hervor, dass 42 Prozent der jungen Menschen im Verlauf der vorangegangenen zwei Wochen so traurig oder hoffnungslos gewesen seien, dass sie Probleme bei der Alltagsbewältigung hatten. 3 Die National Alliance on Mental Illness (NAMI) berichtete, dass die Zahl der Anrufe bei ihrem Krisentelefondienst zwischen 2020 und 2021 um 251 Prozent gestiegen sei. 4 Wir leben im sogenannten Informationszeitalter, dabei scheint das Leben immer weniger Sinn zu ergeben. Wir sind isoliert, teilnahmslos und starren ausgebrannt auf unsere Bildschirme, schneiden unter dem Deckmantel »gesunder Grenzen« geliebte Menschen wie Krebsgeschwüre aus unserem Leben und sind nicht dazu in der Lage, die Entscheidungen anderer zu verstehen – geschweige denn unsere eigenen. Die Maschine ist defekt, und wir versuchen ihr kraft unserer Gedanken zu entkommen. Im Jahr 1961 schrieb der marxistische Philosoph Frantz Fanon: »Jede Generation muß in einer relativen Finsternis ihre Mission entdecken und sie entweder erfüllen oder verraten.« 5 Unsere Mission hat anscheinend mit dem Verstand zu tun.

Meine Faszination für unsere moderne Irrationalität entdeckte ich, als ich gerade ein Buch über Kulte schrieb. Das war im Jahr 2020, und die Auseinandersetzung mit den Mechanismen kultähnlicher Beeinflussung im existenziellen Chaos dieses Jahres hat viele Auswüchse der Umnachtung im 21. Jahrhundert in ein neues Licht gerückt. Seit der Jahrtausendwende hatte sich die Menschheit ein riesiges Kaufhaus voller brandneuer spaßiger Dissoziationsmöglichkeiten aufgebaut: Abseitige Verschwörungstheorien waren im Mainstream angekommen. Die Verehrung von Prominenten erreichte ihren halluzinatorischen Höhepunkt. »Disney Adults« und »Make America Great Again«-Fanatiker waren sternhagelvoll von Nostalgie, ertränkt von den Schimären der Vergangenheit. Diese irrigen Denkweisen nahmen alle möglichen Formen von skurril bis kriegerisch an, doch eines stand fest: Unser allgemeines Verständnis der Realität war uns entglitten.

Die einzige in meinen Augen einigermaßen sinnvolle Erklärung für diesen Massenrausch waren kognitive Verzerrungen 6 7 : selbsttäuschende Gedankenmuster, die sich aufgrund der mangelhaften Fähigkeit unseres Gehirns entwickelt haben, Informationen aus unserer Umgebung zu verarbeiten. Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben Sozialwissenschaftler Hunderte kognitive Verzerrungen beobachtet, doch die beiden, die bei meiner Recherche am häufigsten aufkamen, waren die »Bestätigungsverzerrung« und die »Versunkene-Kosten-Falle«. Ich musste mir nur eine Handvoll dieser Studien durchlesen, und schon kristallisierten sich so viele Erklärungen für den allgemeinen Logikmangel unseres Zeitgeists heraus, zum Beispiel, wieso Menschen mit Hochschulabschlüssen ihr gesellschaftliches Leben nach dem Stand des Merkurs richten oder sich unsere Nachbarn gegen eine Impfung entscheiden, weil irgendein YouTuber in Palazzohose meinte, das würde ihre »DNA verschlechtern«. Kognitive Verzerrungen erklärten mir auch so einiges über meine eigenen Irrationalitäten, persönliche Entscheidungen, die ich mir selbst gegenüber nie rechtfertigen konnte, etwa meine Aufopferung für eine romantische Beziehung in meinen frühen Zwanzigern, unter der ich, wie mir bewusst war, sehr litt, oder meine Neigung, mir online aufgrund von ausgedachten Konflikten Feinde zu machen. Dieser Fährte musste ich folgen. Ich musste verstehen, welche Verbindung zwischen diesen psychischen Zaubertricks, die wir uns selbst vorführen, und dem Informationsüberfluss besteht, der sich wie ein außer Kontrolle geratenes Chemieexperiment über uns ergießt – eine Mischung aus Mentos und Cola light.

Seit Anbeginn der menschlichen Entscheidungsfindung liegt unsere Wahrnehmung einer Anzahl von Täuschungen zugrunde. Allein die Menge an Input aus der Natur war uns schon immer zu viel; wenn wir die Farbe und die Form jedes einzelnen Astes genau erfassen müssten, um einen Baum als Ganzes zu erkennen, wären wir damit am Ende unseres Lebens noch nicht fertig. So hat das Gehirn schon sehr früh Abkürzungen gewählt und Verknüpfungen entwickelt, dank derer wir unsere Umwelt gut genug verstehen können, um darin zu überleben. Der Verstand war noch nie voll und ganz rational, sondern eher ressourcenrational – darauf ausgelegt, unsere begrenzte Lebenszeit, unsere eingeschränkte Gedächtniskapazität und das distinktive Bedürfnis nach bedeutungsvollen Erlebnissen miteinander in Einklang zu bringen. Einige Epochen später flog uns die Menge der zu verarbeitenden Details und zu treffenden Entscheidungen um die Ohren wie Konfetti – oder eher Granatsplitter. Wir können gar nicht jeden einzelnen Datenpunkt so genau durchdenken, wie es uns lieb wäre. Also neigen wir dazu, uns auf die cleveren Tricks unserer Vorfahren zu verlassen, die für uns so natürlich sind, dass wir uns ihrer fast nie bewusst sind.

Angesichts einer plötzlichen Flut an Informationen führen kognitive Verzerrungen dazu, dass sich unser modernes Denken zu viel oder zu wenig mit (den falschen) Dingen befasst. Während wir uns ziellos in die ewig gleichen Wahnvorstellungen hineinsteigern (Warum schlägt mir Instagram vor, meinem toxischen Ex-Chef zu folgen? Hasst mich das Universum etwa?), hetzen wir an komplexeren Überlegungen vorbei, die eigentlich einen sorgsameren Umgang verdienten. Schon oft habe ich erlebt, wie verwirrend es sein kann, wenn man nach einem intellektuellem Schlagabtausch im Internet völlig atemlos wieder auftaucht und sich am ganzen Körper so fühlt, als hätte man gegen ein neolithisches Raubtier gekämpft und nicht an einer theoretischen Debatte teilgenommen. »Ich glaube, wir haben in den letzten hundert Jahren so viele technologische Fortschritte gemacht, dass wir denken, alles wissen zu können. Aber das ist sowohl arrogant als auch verflucht langweilig«, meinte im Jahr 2023 Jessica Grose, Kolumnistin bei der New York Times und Autorin von Screaming on the Inside: The Unsustainability of American Motherhood (etwa: »Innerlich schreien: Wie wenig nachhaltig Mutterschaft in Amerika ist«). 8 Diese Ära, in der wir uns so schnell entwickeln, dass wir unsere einst so nützlichen psychologischen Illusionen überflügeln, bezeichne ich als »Zeitalter des magischen Zerdenkens«.

Grob gesagt beschreibt der Begriff »magisches Denken« die Annahme, dass die eigenen inneren Gedankengänge äußere Ereignisse beeinflussen können. Einer meiner ersten Berührungspunkte mit diesem Konzept war Joan Didions autobiografisches Buch Das Jahr magischen Denkens, in dem sie der Macht der Trauer auf den Grund geht, noch die aufmerksamsten Denker in die Selbsttäuschung zu treiben. Die Welt zu mythologisieren, während man versucht, ihr einen Sinn zu verleihen, ist eine einzigartige und sonderbare menschliche Gewohnheit. In Zeiten starker Verunsicherung, etwa nach dem plötzlichen Tod des Ehepartners oder während einer Wahlkampfperiode, bei der viel auf dem Spiel steht, stürzen selbst die vernünftigsten Gehirne irgendwann ab. Ob es nun die Überzeugung ist, finanzielle Probleme »wegmanifestieren« zu können, die Apokalypse abzuwenden, indem man lernt, Pfirsiche einzukochen, Krebs durch positive Vibes zu besiegen oder einer Missbrauchsbeziehung allein durch Hoffnung zu neuem Glanz zu verhelfen – magisches Denken dient dazu, die eigene Handlungsmacht wiederherzustellen. Während magisches Denken jedoch eine uralte Eigenart ist, scheint das Zerdenken ein ganz und gar modernes Phänomen zu sein – die Folge davon, dass unser uns innewohnender Aberglaube mit Informationsüberfluss, Masseneinsamkeit und dem kapitalistischen Druck zusammenprallt, über alles zwischen Himmel und Erde Bescheid wissen zu müssen.

Im Jahr 2014 sagte die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Autorin bell hooks: »In einer Nation, die Fantasiewelten bewohnt, ist der grundlegendste Aktivismus, der uns zur Verfügung steht, bewusst zu leben. […] Ihr werdet der Realität ins Auge blicken, ihr werdet euch nicht selbst täuschen.« 9 Ich glaube, Teil unserer gemeinsamen Mission in diesem Zeitalter sollte sein, dass wir uns der natürlichen Verzerrungen des Verstands bewusst werden und sowohl ihre Schönheit als auch ihre vollkommene Verrücktheit anerkennen. Entweder lassen wir uns von der kognitiven Dissonanz in die Knie zwingen, oder wir setzen uns in die schwindelerregende Achterbahn, schnallen uns an und machen uns auf ein lebenslanges Hin und Her zwischen Logos und Pathos gefasst. Widersprüche ertragen zu lernen, ist vielleicht der einzige Weg, diese Krise zu überleben. Genau dabei hat mir die folgende Erkundung kognitiver Verzerrungen geholfen. Mehr noch als die Sterne in Sizilien zu beobachten, war es das Schreiben dieses Buches, was den Lärm in meinem Kopf auf ein erträgliches Maß gedämpft hat. Im Zen-Buddhismus gibt es das Wort »Kōan«, was »unlösbares Rätsel« bedeutet: Man zerschlägt alles das, was der Verstand gelernt hat, um die tiefer liegende Wahrheit zu enthüllen, und setzt die Teile dann wieder zusammen, um etwas Neues zu erschaffen. Dieses Buch habe ich als Ausdruck meiner Sehnsucht geschrieben, als Rorschachtest, als Sicherheitsmaßnahme und als Liebesbrief an den Verstand. Dieses Buch ist kein in sich geschlossenes Denksystem, sondern eher so etwas wie ein Kōan. Wenn Sie das Vertrauen in die Vernunft anderer Menschen beinahe verloren oder eine Unmenge fragwürdiger Entscheidungen getroffen haben, die Sie sich nicht einmal selbst erklären können, so hoffe ich, dass die folgenden Kapitel der Sinnlosigkeit etwas entgegensetzen, ein Fenster in Ihrem Verstand öffnen und eine warme Brise hereinlassen. Ihnen helfen, die Missklänge eine Zeit lang leiser zu stellen oder sogar eine Melodie darin zu hören.

1

Taylor Swift, bist du meine Mutter?

Notizen zum Haloeffekt

»Wenn wir über [Prominente] sprechen, dann sprechen wir über etwas Wichtiges, ohne dabei wirklich über uns selbst zu sprechen.«

– Anne Helen Petersen

Die Verehrung hat den Grad der Gier erreicht. Einer geistigen Gier. Selbstverständlich sind Menschen immer schon übermäßig in ihrer Verehrung aufgegangen. In ihren Religionen neigten die Menschen seit jeher zur Übertreibung, denken wir an Ehrenmorde und all das, doch nun waren unsere Götter keine Fantasiefiguren mehr, die in unserer Vorstellung allwissend und fehlerfrei waren, sondern sterbliche menschliche Prominente, von denen wir genau wussten, dass das auf sie nicht zutraf. Die neuen Extremisten bezeichnete man als »Stans«, ein Begriff, den der Rapper Eminem geprägt hat: In seinem 2000 erschienen Song »Stan« entwirft er ein wahnsinniges Gleichnis über einen Mann, der völlig die Beherrschung verliert, weil sein Idol einfach nicht auf seine Fanpost antwortet. Auffälligerweise ist dieser Begriff auch eine genaue Zusammensetzung aus den Worten »Stalker« und »Fan«. Die Stans hatten allesamt religiöse Namen, etwa Barbz oder Little Monsters oder Beliebers oder Swifties. Es hieß, sie seien der Untergang des Dialogs. Kritiker sahen fortan davon ab, schlechte Rezensionen über die Alben von Popstars zu schreiben, weil sie Angst vor dem Mob hatten – Angst davor, »gecancelt« und »gedoxxt« zu werden, davor, dass jemand ihre Privatadressen herausfinden, veröffentlichen und ihnen Morddrohungen schicken könnte. Niemand stand vom Sofa auf, aber alle hatten Angst. Niemand erhob die Stimme, aber in der Welt schien ein einziges lautes Kreischen zu erklingen, ein mit acht Milliarden Menschen besetztes Orchester, das unaufhörlich seine Instrumente stimmte. Einzeln waren die Stans machtlos. Aber in der Gruppe fielen sie über einen her wie die Jungs aus Herr der Fliegen. Journalistinnen – die wohlgemerkt nicht über den Krieg berichteten, sondern über Musik – lebten in Angst vor deren Zorn. Die Stans cancelten einfach jeden, zerfleischten einander sogar gegenseitig, auch und vor allem ihren eigenen Gott. So unersättlich waren sie geworden.

Im Jahr 2023 schickte mir die Taylor-Swift-Anhängerin Amy Long per Mail ein Dokument, in dem sie mir in 3000 Worten alle größeren Stan-Skandale des Popstars der letzten fünf Jahre beschrieb – emotionale Debakel, bei denen sich Swifties gegen ihre erhabene Königin gekehrt hatten, weil sie sich nicht gemäß der ihr unterstellten Eigenschaften verhielt und Verpflichtungen nicht nachkam, die sie nie hatte. Diese Skandale, die alle möglichen Formen annehmen konnten – von Fiaskos beim Ticketverkauf bis hin zu Gerüchten über ihre sexuelle Orientierung –, trugen dramatische Namen im Stil von Watergate: Ticketgate, Lavendergate, Jetgate, Moviegate, Tumblrgate. »Dieser hier ist vielleicht der interessanteste«, schrieb Long, die Schöpferin des Instagram-Accounts @taylorswift_as_books, und meinte damit jene letzte Schmach in der Aufzählung: Nachdem Swift über Jahre hinweg gelegentlich bei Tumblr mit Fans kommuniziert hatte, verließ sie die Plattform im Jahr 2020 endgültig, weil sie sich von einem Pulk politisch wutentbrannter Besessener überrollt fühlte. Long zufolge habe es manche Stans genervt, dass Swift zwar in einigen Tweets Donald Trump und Polizeigewalt verurteilt hatte, mit ihren politischen Verlautbarungen jedoch nie tiefer ging. Aus Sicht der Stans hatte ihr Idol ihren Fans eine neue Ära des progressiven Aktivismus präsentiert, nur um sie ihnen gleich wieder zu entreißen, wie eine Mutter, die gegenüber ihren Töchtern ein Versprechen nicht hält. (Ähnliche Klagen über Hochverrat wurden einige Jahre später laut, als Swift eine Beziehung mit dem schmierigen, provokanten Frontmann einer Poprockband einging. Stans verfassten einen »offenen Brief«, bettelten den Star an, ihren problematischen neuen Stiefdaddy in den Wind zu schießen, und schworen, ihm bis dahin »keine Ruhe zu lassen«.)

Long fuhr fort: »Viele Fans haben Taylor vorgeworfen, das Konzept von Allyship als ästhetisches Mittel zu benutzen […], und werden sauer, wenn sie nicht tut, was sie verlangen […], dabei ist sie im Kern eine Kapitalistin. Die meisten Mitglieder ihres Securityteams waren vorher bei den Special Forces, beim FBI oder einer anderen Sicherheitsbehörde tätig. Ich weiß auch nicht, warum einige Fans dann erwarten, dass sie solche Sätze von sich gibt wie: ›Stürzt die Polizei! Stürzt das System, das mir meinen Traum erfüllt hat!‹ […] Es ist schon seltsam.«

Dass Tausende von Fremden eine berühmte Sängerin aufgrund von Annahmen über ihren Charakter vergöttern, für die es kaum Anhaltspunkte gibt, und dann mit ebenso großem Eifer versuchen, sie vom Thron zu stoßen, sobald sich diese Annahmen als falsch herausstellen, wirkte tatsächlich immer schon seltsam. Doch dieses Verhalten lässt sich auch erklären. Inzwischen verbinde ich diese immer häufiger auftretenden Zyklen der Prominentenverehrung und -entthronung – und auch die weniger parasozialen Hass-Liebe-Dynamiken gegenüber Menschen, die wir wirklich kennen – mit einer kognitiven Verzerrung, die man als Haloeffekt bezeichnet.

Der Haloeffekt (etwa: Heiligenscheineffekt) wurde erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtet und bezeichnet die unbewusste Neigung, auf Grundlage einer einzigen bekannten Eigenschaft positive Rückschlüsse auf den gesamten Charakter eines Menschen zu ziehen. Wir begegnen jemandem mit einem Sinn für geistreichen Humor und gehen davon aus, dass er auch belesen und ein aufmerksamer Beobachter sein muss. Ein attraktiver Mensch, so vermuten wir, ist extrovertiert und selbstbewusst. Wir gehen davon aus, dass eine künstlerisch begabte Person doch sicher auch einfühlsam und tolerant ist. Der Begriff selbst ruft das Bild eines Heiligenscheins hervor und damit die Tatsache, dass unsere Wahrnehmung von dem Licht abhängt, das wir einer Person verleihen. Stellen Sie sich ein religiöses Gemälde aus dem 12. Jahrhundert vor: Engel und Heilige werden mit einer Lichtkrone dargestellt und baden in einem himmlischen Glanz, der ihre allumfassende Güte symbolisiert. Wenn wir jemanden durch den Filter des Haloeffekts betrachten, nehmen wir genau dieses eindimensional warme Leuchten wahr und reden uns ein, dass wir der Person voll und ganz vertrauen können, auch wenn sie uns dazu objektiv kaum Gründe gegeben hat.

Der Haloeffekt beruht auf dem menschlichen Drang, das eigene Überleben zu sichern. Historisch betrachtet war es immer schon eine kluge Anpassungsstrategie, sich mit einer körperlich starken oder attraktiven Person zu verbünden, und grundsätzlich konnte man guten Gewissens von einer positiven Eigenschaft auf weitere schließen. Wenn man vor 20 000 Jahren jemandem begegnete, der groß und muskulös war, leuchtete die Vermutung ein, dass er überdurchschnittlich viel Fleisch gegessen hatte und deshalb wahrscheinlich ein guter Jäger war – so jemanden wollte man auf seiner Seite haben. Genauso einleuchtend war die Annahme, dass ein Mensch mit symmetrischen Gesichtszügen und intakten Zähnen nicht durch verlorene Kämpfe oder Tierangriffe entstellt worden war, also ebenfalls ein gutes Vorbild abgab. Heutzutage hilft es bei der Identitätsbildung, wenn man sich eine Person heraussucht, zu der man aufsehen kann, und wenn wir die richtige finden wollen, so haben wir gelernt, sollten wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen. Wie ineffizient wäre es schließlich, wenn man eine ganze Woche bräuchte, um einen potenziellen Mentor einzuschätzen, oder erst ein ganzes Gremium hervorragend qualifizierter Expertinnen zusammenstellen müsste – mit einer für berufliche Fragen, einer für kreative Inspiration und noch einer für Modetipps? Sich auf Grundlage von voreiligen, aber insgesamt soliden Schlüssen ein einziges Vorbild für alle Belange auszusuchen, ist schlicht und ergreifend Ausdruck eines überlegenen Umgangs mit unserem begrenzten psychologischen Budget. Das ist also, kurz und knapp, der Haloeffekt.

Ursprünglich richtete sich der Haloeffekt auf Elternfiguren. Da sich Menschen, die älter sind als wir, um uns kümmern und mehr wissen als wir, gehen wir davon aus, dass sie bestimmt alles wissen. Bei meiner eigenen Mutter war ich davon bis ins Letzte überzeugt. Wenn es um Dr. Denise Montell ging, gab es vor dem Haloeffekt kein Entkommen. Sie war wirklich ein unfassbares Vorbild. Meine Mutter, so eine Art Nischenberühmtheit, ist Krebszellbiologin, hat an der Stanford University promoviert und einen ganzen Kaminsims voller Preise für ihre Forschung in der Molekulargenetik bekommen. Im Jahr 2021 wurde sie wegen ihrer Entdeckung eines Zellbewegungsmechanismus, der eines Tages bei der Heilung von Krebs helfen könnte, in die National Academy of Sciences berufen. Meine Mutter hat sogar ihren eigenen Krebs geheilt. In der Woche, bevor ich in die sechste Klasse kam, wurde bei Denise ein tödliches Lymphom festgestellt, da war sie 40. Erst als sie schon fünf Jahre lang in Remission war, fand ich heraus, dass die Ärzte ihr damals gesagt hatten, sie werde wahrscheinlich sterben. Doch sie überlebte, und das lag teilweise daran, dass sie gemeinsam mit ihren Onkologen einen eigenen experimentellen Behandlungsplan erstellt hatte. Ihr Forschungslabor an der Johns Hopkins University befand sich gleich gegenüber dem Krankenhaus, wo sie ihre Chemotherapiesitzungen mal eben in der Mittagspause absolvierte. Inzwischen ist dieses Heilverfahren der weltweite Standard für Lymphompatienten.

Die meisten meiner Kindheitsfreundinnen waren Töchter von alleinerziehenden Müttern und abwesenden Vätern. Wenn ich so zurückblicke, kommt mir das vor wie ein eigenartiger Zufall. Die Gilmore Girls-mäßigen Beziehungen zwischen meinen Freundinnen und ihren Müttern – intimere Freundschaften als beim formellen Eltern-Kind-Verhältnis, wie ich es kannte – waren sicher ein Grund dafür, dass ich mich überhaupt zu ihnen hingezogen fühlte. Die Mütter meiner Freundinnen waren so unglaublich menschlich. Sie stellten ihre Schwächen offen zur Schau. Sie fluchten wie Seemänner, sangen schief in der Küche und straften ihre Mitmenschen mit Schweigen, wenn sie wütend waren. Sie sprachen offen über Menstruationsblutflecken und ihren Stuhlgang, über ihre Körperwahrnehmung und ihren Herzschmerz. Als Teenagerin fand ich ihre Verletzlichkeit bezaubernd. Schwächen zu zeigen, zählte nicht unbedingt zum Stil meiner Mutter. Nein, Denise ließ sich von niemandem in die emotionalen Karten gucken, beging, soweit ich es mitbekam, nie auch nur einen einzigen Fehler, machte jeden Morgen eine Dreiviertelstunde lang Sport, verließ das Haus nie, ehe ihre kastanienbraunen Haare perfekt geföhnt waren, und schien über das gesamte Wissen des Universums zu verfügen, angefangen beim Vorgang, in dem eine einzelne Zelle zu einem Fötus heranwächst, bis hin zur Antwort auf die Frage, in welcher Bäckerei der Stadt es die leckersten Baguettes gab. Meine Mutter verbrachte fast ihre gesamte Zeit im Labor und brütete über ihrer Forschung – auch spätabends und jedes Wochenende –, und ihr kühler Kopf sowie ihre ständige Abwesenheit ließen sie in meinen Augen fast mythisch wirken. Ich wüsste keinen Moment, an dem mir ihre Reputation nicht bewusst gewesen wäre, denn sie glänzte an ihr wie ein Ehering aus Platin im Sonnenlicht.

In der Theorie wünschte ich mir eine Denise mit ein paar mehr Ecken und Kanten. Jedes Mal, wenn ich einen Blick darauf erhaschte, war ich ganz begeistert – als sie zum Beispiel im Familienurlaub während meines dritten Highschooljahrs eine halbe Margarita über den Durst trank und auf dem Rückweg zum Hotel immer wieder in Kicheranfälle ausbrach. Oder wenn sie mir abgefahrene Anekdoten aus ihrem frühen Erwachsenenalter erzählte, zum Beispiel, dass sie mit 18 für einen Sommer in Paris gelebt hatte, wo sie beinahe entführt worden wäre, oder dass ihr Surferfreund sie in den Collegeferien dazu überredete, bei einem Grateful-Dead-Konzert LSD zu nehmen. Ich stellte mir so gern die Person vor, die Denise jenseits ihres Mutterdaseins war. In der Praxis wiederum, wenn sie mal ein Gefühl zeigte, das ihr in meinen Augen nicht ähnlich sah – und sei es nur, dass sie wegen des Verkehrs zu spät zur Arbeit kam und die Fassung verlor –, fand ich das schrecklich. Ihre Fehlertoleranz war so niedrig. Dann war sie Taylor und ich der verstörte Swiftie. Hätte Denise ein Tumblr-Profil gehabt, hätte ich mich auf jeden Fall danach gesehnt, dass sie meine Beiträge likt, und sie später von der Plattform gemobbt, sobald mir bewusst geworden wäre, dass sie nicht dem Bild der Göttin entsprach, das ich mir ausgemalt hatte.

Aber heutzutage sehen junge Leute nicht mehr nur zu ihrer Mutter auf. Im Jahr 2019 zeigte eine Studie aus Japan, dass etwa 30 Prozent der Jugendlichen einer Medienpersönlichkeit nacheifern, zum Beispiel ihrem Lieblingssänger oder ihrer Lieblingssportlerin. 1 Laut einer 2021 im North American Journal of Psychology veröffentlichten Studie ist die Prominentenverehrung innerhalb von 20 Jahren drastisch angestiegen. 2 Schon im wahren Leben fällt es uns durch den Haloeffekt leicht, Menschen zu vergöttern (in meiner Jugend zählte es zu meinen ungesündesten sozialen Gewohnheiten, einseitige Freundschaften einzugehen, in denen ich mir eher wie ein Fan vorkam denn als gleichwertige Person, und den falschen Schluss zu ziehen, das beliebte Mädchen aus der Schule müsse wegen seines breiten Lächelns und mühelosen Charismas eine loyale Vertraute darstellen). Doch noch leichter fällt es, sich aus der Ferne auf solche Schwärmereien einzulassen. Da wir dazu neigen, Prominente als attraktiv, wohlhabend und erfolgreich wahrzunehmen, schließen wir daraus spontan, dass sie auch umgänglich, selbstkritisch und weltgewandt sein müssen. Viele Verehrer empfinden eine tiefe Nähe zu ihren Idolen und gehen davon aus, dass diese sie ebenfalls wertschätzen, und das sogar auf mütterliche Weise. Nicht jeder Fan ist ein Stan, aber Prominentenverehrung nimmt immer extremere Züge an – mit nachweisbar schädlichen Konsequenzen.

Das Wort Fan leitet sich vom Lateinischen fanaticus ab, was »rasend, aber göttlich inspiriert« bedeutet. Bis in die 1960er- und 70er-Jahre hinein galten Prominente in der Öffentlichkeit als Entertainer, nicht als Vorbilder oder Götter. Die veränderte Wahrnehmung entstand dann aus dem zunehmenden Aktivismus einiger Prominenter, der mit dem Vertrauensverlust der Amerikaner gegenüber Politikern, traditionellen religiösen Führern und Autoritäten im Gesundheitswesen einherging. In einer Kolumne der New York Times mit dem Titel »When Did We Start Taking Famous People Seriously?« 3 (etwa: »Seit wann nehmen wir Prominente ernst?«) berichtete Jessica Grose, dass laut einer Erhebung des Pew Research Center im Jahr 1958 drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung »darauf vertrauten, dass die Regierung fast immer oder meistens das Richtige tut«. 4 Doch dann kam es zum Vietnamkrieg, der wirtschaftlichen Rezession von 1960 und Watergate (einem wirklichen Gate), und dieses tragische Dreiergespann suggerierte den Amerikanern, dass sie sich neue Vorbilder suchen mussten. In den 1960er-Jahren erreichten die Babyboomer das Teenageralter, in den USA lebten mithin mehr Teenager als je zuvor, und da die Isolation und die Unsicherheit, die in der Jugend auftreten, mit dem Nachkriegswohlstand und dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Veränderung verschmolzen, wandte sich die Jugend einer neuen Religion zu: den Beatles, deren Mitglieder den Fans nicht nur als künstlerische Ikonen dienten, sondern auch als ferne Liebhaber und geistige Anführer.

Im Jahr 1980 vertrauten nur noch etwa 25 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung darauf, dass die Regierung das Richtige tat. Zu diesem Zeitpunkt, so Grose, wurden die Grenzen zwischen Medienpersönlichkeiten, Politikern und spirituellen Autoritäten endgültig verwischt. Im Jahr 1981 wurde Ronald Reagan, der sich selbst als »rebellischen Außenseiter« angepriesen hatte, als erster Medienstar zum Präsidenten der USA gewählt. Hollywoods kollektiver Heiligenschein leuchtete wie der brennende Dornbusch, während die neue Botschaft des Zeitgeists nahelegte, dass Bühnen- und Filmikonen nicht nur dazu da waren, uns zu unterhalten, sondern auch, uns zu retten. Popstars wurden unsere neuen Priester. Später dann wirkten die sozialen Medien auf diese Religiosität wie ein starker Dünger. In L. A. kann man in einem Kristallgeschäft bei mir in der Nähe Gebetskerzen kaufen, die mit Bildern vergötterter Musiker bedruckt sind: »Saint Dolly«, »Saint Stevie«, Harry Styles’ Gesicht auf dem Körper von Jesus Christus. Grose zitierte Dr. Paul Offit, Kinder- und Jugendmediziner am Children’s Hospital of Philadelphia und Autor des Buches Bad Advice: Or Why Celebrities, Politicians, and Activists Aren’t Your Best Source of Health Information (etwa: »Schlechter Rat oder Warum Prominente, Politiker und Aktivisten nicht die beste Quelle für Gesundheitsberatung sind«), dessen Analyse zufolge Amerikaner berühmten Menschen vertrauen, weil »wir meinen, sie zu kennen, wir sie in Filmen und Serien sehen und davon ausgehen, dass sie die Rollen, die sie spielen, auch wirklich sind«.

Doch Prominente »spielen« auch sich selbst, in einer Sendung, die online rund um die Uhr läuft. Es ist noch verwirrender als während der Hollywoodvergötterung der Reagan-Ära: Wir sehen, wie berühmte Menschen digitale Ausschnitte ihrer »realen« Personae zur Schau stellen, und haben das Gefühl, sie in jeder Hinsicht zu kennen. Instagram-Captions wirken wie Briefe eines geliebten Menschen, Liveposts wie FaceTime-Anrufe einer Freundin. Im Zeitalter des magischen Oversharing bieten Plattformen wie Tumblr, TikTok, Instagram und Patreon den Fans exponentiell mehr Zugriff auf persönliche Informationen ihrer Helden, überbrücken den parasozialen Abgrund und sorgen dafür, dass sie sich immer vernetzter fühlen. Schließlich besteht hier, anders als beim Fernsehen, tatsächlich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Taylor Swift höchstpersönlich auf einen Instagram-Kommentar antwortet – die allmächtige Heilige reagiert auf die Gebete ihrer Anhänger … oder auf deren Forderungen.

»Wenn sich motivierte Stans in den sozialen Medien zusammentun, können sie den Karriereweg ihres Idols und das Leben eines jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, tatsächlich verändern«, analysierte Sidney Madden, Musikreporterin bei NPR. 5 »Diese Verlagerung in der Machtdynamik […] [sorgt für eine] Endlosschleife, die performative Online-Personae stärker belohnt als echte künstlerische Schöpfungskraft.«

Moderne Fangemeinden befinden sich auf einer Skala, die von gesunder Bewunderung bis hin zu pathologischem Wahn reicht. Das konstruktive Ende der Skala bietet etwas Transzendentes. »Tumblr hat mir die Augen dafür geöffnet, dass lauter verschiedene Leute viele unterschiedliche, differenzierte Meinungen haben können, und das in einem Raum, der mich nicht einschüchterte«, schrieb die Bustle-Redakteurin Danielle Colin-Thome in einem Essay über die »empowernde – aber manchmal auch unfassbar problematische« Rolle der Stan-Kultur im Leben marginalisierter Jugendlicher. 6 »Unsere Fangemeinden […] waren ein Mittel, um über größere Themen zu sprechen – zum Beispiel Feminismus, Race und LGBTQ-Repräsentation.« Doch mit dem dogmatischen Ende der Skala ist nicht zu spaßen. Im Jahr 2014 kam eine klinische Untersuchung der Prominentenverehrung zu dem Schluss, dass ein hohes Maß an »Stantum« mit psychischen Problemen einhergeht, darunter »Sorgen über die eigene Körperwahrnehmung […], eine stärkere Neigung zu Schönheitsoperationen, Sensationslust, kognitiver Starrheit, Identitätsdiffusion und schlechter zwischenmenschlicher Grenzziehung«. 7 Zu den weiteren beobachteten Problemen gehörten Depression, Angst, Dissoziation, narzisstische Tendenzen, Geltungsdrang, zwanghaftes Shopping und Glücksspiel, Stalking, übermäßiges Fantasieren, das bis zur sozialen Dysfunktion führen kann (auch als »maladaptives Tagträumen« bezeichnet), Sucht und Kriminalität. Eine Studie aus dem Jahr 2005 ergab, dass Sucht und Kriminalität stärker mit Prominentenverehrung zusammenhängen als die Kalziumzufuhr mit der Knochenmasse oder Bleiexposition mit dem IQ von Kindern.

In dieser Studie, die 2005 in der Zeitschrift Psychology, Crime & Law erschien, wurden vier Kategorien entlang des Kontinuums der Prominentenverehrung ermittelt 8 : erstens die Kategorie »Gesellschaftliche Unterhaltung«, zu der Einstellungen wie »Meine Freunde und ich reden gern darüber, was mein Lieblingsstar tut« zählen. Zweitens die Kategorie für Gefühle im Bereich »Persönlich intensiv«, in dem Aussagen vorkommen wie »Ich denke häufig über meinen Lieblingsstar nach, sogar dann, wenn ich es nicht möchte«. Drittens die Kategorie »Pathologisches Borderline«, in der Wahngedanken (»Mein Lieblingsstar und ich haben unseren eigenen Code, mit dem wir insgeheim kommunizieren können«), unrealistische Erwartungen (»Wenn ich meinen Lieblingsstar ungebeten besuchen würde, würde er/sie sich freuen, mich zu sehen«) und Selbstaufopferung vorkommen (»Ich wäre bereit, mein Leben zu opfern, um das meines Lieblingsstars zu retten«). Die vierte Kategorie, »Schädliche Nachahmung«, beschrieb die Bereitschaft der Stans, für ihr Idol grenzüberschreitendes Verhalten an den Tag zu legen (»Wenn ich das Glück hätte, meinen Lieblingsstar zu treffen und er/sie mich bitten würde, ihm/ihr zuliebe etwas Verbotenes zu tun, würde ich das wahrscheinlich tun«).

»In moralischer Hinsicht könnte sie mich ganz schön weit treiben«, sagte Jill Gutowitz, Popkulturreporterin, Autorin der Essaysammlung Girls Can Kiss Now und seit zehn Jahren unerschütterlicher Stan von Taylor Swift. 9 Gutowitz hat selbst unter ihren Mit-Swifties gelitten. Einmal wurde sie bei Twitter unter einem Berg hasserfüllter Kommentare begraben, nachdem sie für Vulture eine humorvolle Rezension über Swifts Album Lover verfasst hatte. Darin hatte sie ohne böse Absicht Scherze über Swifts damaligen Partner, den Schauspieler Joe Alwyn, gemacht, weil er zu langweilig sei, um für sie als Muse herzuhalten. 10 (»Alwyn ist so fade wie ein einfaches Glas Hafermilch«, waren Gutowitz’ Worte.) »Viele Leute haben mir das ziemlich übel genommen«, erinnert sie sich. »Das war einfach einer dieser Momente, in denen Stans einen im Pulk überrollen. Einmal hatte ich wegen eines Tweets das FBI vor der Tür stehen, und trotzdem […] hatte ich mehr Angst, als die Swifties auf mich losgegangen sind.« Doch der Mob hat an Gutowitz’ Loyalität gegenüber der Sängerin nichts geändert, nicht einmal ansatzweise. Ein paar Wochen der Gehässigkeit bei Twitter standen zu erwarten, das ist eben der symbolische Preis für das Privileg, Lobgesänge über Taylor Swift schreiben zu dürfen. 

Sowohl für den Star als auch für die Stans kann der Haloeffekt von Prominenten heikel sein, denn er besitzt die Macht, sterbliche Menschen so hoch in den Himmel zu loben, dass die allermeisten ihre Menschlichkeit nicht mehr sehen können. Dann wird der Prominente zu einer Art Maskottchen; es geht nicht mehr so sehr um ihn, sondern eher um die Verehrung selbst. In schwerwiegenden Fällen wird die Besessenheit so intensiv, ein Rattenkönig der Katharsis, dass die Verbindungen zwischen Liebe und Hass durcheinandergeraten. Wie beim Phänomen der »Cute Aggression«: Man drückt eine Plüschkatze so stark, dass ihr der Kopf abfällt. Im Jahr 2023, nach dem chaotischen Ticketverkauf bei Ticketmaster für Taylor Swifts Tour, erhoben Stans lautstark den Vorwurf des Betrugs, der weit über den Konzertbesuch hinausging. »Die Leute haben sich aufgeführt, als wären Tickets ein Menschenrecht, das Taylor ihnen verwehrte«, schrieb Amy Long in ihrer E-Mail. »Sie änderten die Spielregeln so weit, dass Taylor es irgendwann nur noch dadurch hätte ›wiedergutmachen‹ können […], dass sie ihnen Tickets schenkte oder akustische Privatkonzerte bei ihnen zu Hause spielte […]. [Taylor] ist niemand, dem seine Fans egal sind, und das zu denken, ist genauso wahnhaft wie die Annahme, dass sie tatsächlich deine beste Freundin ist.«

Nahezu jeder A-Promi, der von Stans vergöttert wird, musste schon einmal dabei zusehen, wie der Wahnsinn seiner Fangemeinde über Nacht von Verehrung in Verachtung umschlug. Selbst die Jünger von Beyoncé, die mehr als andere Künstlerinnen die Öffentlichkeit meidet, ihren Bewunderern am liebsten mit einer Bühnenlänge Abstand begegnet und den Kontroversen der Klatschpresse größtenteils aus dem Weg geht, haben sich schon einmal gegen sie gekehrt. Der eifrige »BeyHive« der Performerin schien sich nach jedem noch so kleinen Einblick in das Leben seiner »makellosen Königin« zu verzehren – jedenfalls bis diese im Jahr 2015 bei Good Morning America auftrat und verkündete, dass sie sich seit einiger Zeit vegan ernähre. Ihre Stans hatten gehofft, sie würde sie mit Neuigkeiten über eine Schwangerschaft (ein neues Geschwisterkind?) oder einer Tour »segnen«. Als diese Erwartungen enttäuscht wurden, übergossen die Stans sie mit einer Flut erbarmungsloser Verhöhnung und spammten die Kommentarspalten ihrer Social-Media-Kanäle mit Emojis von Hamburgern und Chicken Wings voll.

Eine der toxischsten Stan-Dynamiken dieses Jahrzehnts kann wohl die englische Elektropopkünstlerin Charli xcx verzeichnen. Ein besonders inbrünstiger Teil von Charlis Fansekte besteht aus weißen Schwulen, deren Leidenschaft, wie sich gezeigt hat, bis hin zu Mobbing und Objektifizierung reichen kann. »Charli’s Angels«, die ihre Diva eher als Requisite denn als Menschen ansehen, haben die Sängerin bereits dazu gedrängt, auf anstößigen Gegenständen wie einem Fläschchen Poppers, einer Analdusche oder einem Flakon mit der Asche der verstorbenen Mutter eines Stans zu unterschreiben und damit zu posieren. Auf die gehässigste Weise verrissen sie manche von Charlis Top-40-Hits, die ihnen nicht gefielen, und nötigten die Sängerin dazu, bei Konzerten die Setlist anzupassen und ihren Forderungen entgegenzukommen. In manchen Tweets kritisierten ihre Stans Charlis neue Veröffentlichungen harsch als »tragische Flops«, bezeichneten sie dann aber im selben Satz als ihre »Queen«, als »Legende« oder »Mother«: »Diese Charli-Singles lösen in mir bisher absolut nichts aus, aber sie steht immer noch auf meiner Mother-Liste.«

»Die Mother-Liste.« Die Asche einer toten Mutter. Dass Stans so stürmisch zwischen Verehrung und Vergeltung hin- und herschwanken, hat tatsächlich etwas mit Bemutterung zu tun. Mitte der 2000er-Jahre ergab eine Studie, dass es eine Korrelation zwischen dem Stalking von Prominenten und unsicherer Eltern-Kind-Bindung gebe. 11 In einer ähnlichen Studie wurden in Hongkong 401 chinesische Mittelschüler und -schülerinnen analysiert. Das Ergebnis: Die Abwesenheit der Eltern verschärfte die Neigung zur Prominentenverehrung bei den Teilnehmenden. Zwei Studien von 2020 und 2022 12 bestätigten, dass sich Jugendliche, denen es im echten Leben an »positiven Stressoren« 13 durch Aktivitäten oder Familienmitglieder mangelte, häufig auf Ersatz in den Medien fixierten. Letzterer Studie zufolge könne Isolation in Kindheit und Jugend emotionale Defizite zur Folge haben, die es wahrscheinlicher machen, dass man sich auf »Traumata in der virtuellen Welt« fokussiert und Prominente entweder als makellose Heilige oder als in Ungnade gefallene Teufel einteilt (in der Psychologie bezeichnet man das als »Spaltung«). 14 »Die Traumata des Alltags können schnell dazu führen, dass wir uns fühlen wie ein Kind ohne Mutter«, so der Psychotherapeut Mark Epstein. 15

So ist es auch wirklich kein Wunder, dass so viele Jünger von Taylor Swift in die Kategorie »Pathologisches Borderline« des Stantums fallen. Swift erschuf mit jedem ihrer diversen Alben, die allesamt nicht nur neue Musik umfassen, sondern auch eine neue »Ära« einläuten – eine reichhaltige Quelle von Ästhetiken und Ritualen, in die man eintauchen kann (die Kleinstadtunschuld ihres nach sich selbst benannten Debüts, die vampirhafte Rachsucht von Reputation, die nostalgische Fantasie von Folklore) –, ein umfassendes filmisches Universum von Müttern. Entsprechend nachvollziehbar ist es, dass die queeren Stans von Popidolen manchmal auch die inbrünstigsten sind, denn so oft hat man ihnen die nötige elterliche Unterstützung und Akzeptanz vorenthalten.

Im Jahr 2023 rezensierte Amanda Petrusich, Musikjournalistin beim New Yorker, Taylor Swifts milliardenschwere »Eras«-Tour. In ihrer Analyse der ausgelassenen Veranstaltung stellte sie fest, dass das besitzergreifende Onlineverhalten der Swifties zwar »sowohl mächtig als auch furchterregend« sei, im echten Leben jedoch völlig anders aussehe. 16 In dem Durcheinander von Regenbogenpailletten und Ekstase konnte Petrusich beobachten, wie das Gefühl der Sicherheit, das die Solidarität unter Swifties auslöste, jemanden ins Delirium treiben kann. »Gemeinschaft«, so Petrusich, »eine der grundlegendsten menschlichen Freuden, wurde durch Covid, die Politik, die Technologie und den Kapitalismus stark eingeschränkt. […] Swifts Performance mag genau durchgeplant und perfekt sein, aber was in der Menge passiert, ist chaotisch, wild, wohltuend und wunderschön.« So unterhaltsam Onlinetreffpunkte auch sein können, sie sind kein Ersatz für echte Erlebnisse, und das ist auch der Grund, wieso virtuelle Faninteraktionen so brutal und halluzinatorisch werden können. In der Instagram-Caption einer während der Tour verfassten Slideshow schrieb Swift: »Diese Tour ist zu meiner gesamten Persönlichkeit geworden.« Wie sollte ein Fan Swift jemals voll und ganz kennen und sie entsprechend verteidigen oder angreifen können, wenn sie sich nach so vielen Jahren, in denen sie ihre Personae auf und abseits der Bühne so sehr miteinander hat verschmelzen lassen, vielleicht nicht einmal selbst voll und ganz kennt?

Eine 2003 durchgeführte Befragung von 833 chinesischen Teenagern ergab, dass diejenigen, die Menschen »verehrten«, die sie tatsächlich kannten und die konkret etwas zu ihrem Leben beitragen konnten, etwa Eltern und Lehrende, insgesamt über einen höheren Selbstwert verfügten und in der Schule besser abschnitten. 17 Die Verehrung von Popstars und Sportlern ergab das Gegenteil: weniger Selbstvertrauen, schwächeres Ichgefühl. Dieses Ergebnis untermauert das »Absorption Addiction Model« der Prominentenverehrung, welches nahelegt, dass Stans parasoziale Beziehungen anstreben, um Mängel im echten Leben auszugleichen, jedoch bei dem Versuch, durch ihr Stantum Ich-Identitäten aufzubauen, ihre eigene Persönlichkeit verlieren. Wenn der moderne Verstand keine Nahrung mehr erhält, sucht er manchmal an erstaunlichen Orten, wo es keine gibt.

Sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Sphäre wirkt Verehrung entmenschlichend. Vergöttert zu werden, ist nicht gerade schmeichelhaft, denn diese Dynamik kann den Spielraum eines Menschen zerstören, in dem er komplex sein und Fehler begehen kann, und das sorgt letztlich auf allen Seiten für Leid. Wenn man die Worte eines Sterblichen überanalysiert wie eine biblische Schrift, nur um später herauszufinden, dass die Interpretation falsch war, dann kann es zu einem Kreuzzug kommen. Wenn sich Stans von ihren Helden hintergangen fühlen, begehren sie häufig auf. Und nicht jeder erhält die gleiche Strafe. Mit wenigen Ausnahmen erleiden weibliche Idole – die »Mütter« – die brutalsten Strafen für die harmlosesten Vergehen. Und je marginalisierter eine weibliche Berühmtheit ist, desto weniger Menschlichkeit gestehen wir ihr zu. Ob die Stans wohl genauso bissig reagiert hätten, wenn nicht Beyoncé, sondern Taylor Swift bei Good Morning America eine neue »vegane Ära« verkündet hätte? 2016 schrieb Sabrina Maddeaux, politische Kolumnistin aus Kanada: »Frauen, die im Licht der Öffentlichkeit gleichzeitig als Objekte der Verehrung und der Abscheu gelten, werden sowohl zum Opfer als auch zur Schurkin hochstilisiert.« 18

Queere Musikjournalistinnen und -journalisten haben im Austausch mancher schwuler Konsumenten mit weiblichen Popikonen einen unheimlichen Frauenhass beobachtet. Lange haben sich Künstlerinnen ihren Fans als eine Art Sprachrohr für eine Weiblichkeit angeboten, die diese Fans selbst nicht ausdrücken konnten. Durch Meme-Kultur und die allgemeine Streitlust der sozialen Medien ist diese Behandlung nur noch abwertender geworden. »Früher mag es so gewesen sein, dass wir die Stimmen von Frauen lediglich für uns beanspruchten. Inzwischen übertönen wir sie«, so der queere Entertainmentkritiker Jared Richards. 19

Ich werfe noch einen Blick auf meine eigene Familie: Früher ähnelte meine Haltung gegenüber meiner Mutter der einer fanatischen Prominentenverehrerin. Wenn meine Eltern in meiner Kindheit und Jugend auch nur den geringsten Anflug menschlicher Fehlbarkeit zeigten, nahm ich es Denise immer doppelt so übel. In meinen Augen stand sie auf einem höheren, schmaleren Podest und hatte schlicht und ergreifend eine tiefere Fallhöhe. Ein paar Jahre vor meinem Highschoolabschluss, nach einem scheußlichen Streit, in dem ich meiner Mutter vorgeworfen hatte, dass sie (Gott bewahre) »ständig so unnahbar tut«, begann sie mir lange E-Mails zu schreiben. Über Monate hinweg teilte Denise wie eine Brieffreundin Bekenntnisse und Erinnerungen aus ihrem Leben vor meiner Geburt mit mir, Geschichten, über die sie nie zuvor so wirklich hatte sprechen wollen. Ich habe kein Recht, hier von diesen Geschichten zu erzählen, in denen es hauptsächlich um ihr turbulentes Liebesleben ging, aber sie haben meine Mutter in meinen Augen nachdrücklich menschlich gemacht. Sie haben den Heiligenschein meiner Mutter nicht ausgelöscht, sondern ihre Umgebung aufleuchten lassen, sodass ich den Kontext begreifen konnte. Dass ich sie so von mehreren Blickwinkeln aus betrachten konnte, nahm mir ein wenig Druck. Mit etwas Zeit, Kommunikation und Empathie waren Denise und ich schließlich dazu in der Lage, einander umfassender wahrzunehmen.

Stans behandeln berühmte Frauen mit derselben Bewunderung und Gehässigkeit wie eine Mutter, doch da diese Beziehung parasozial ist, kann sie die Stans niemals wirklich sättigen. Die Leute im Mob können eingängigere Songs, progressivere Haltungen und Entschädigung für nicht erhaltene Konzerttickets verlangen, die sie sich durch ihre jahrelange Loyalität angeblich verdient haben; allerdings bezweifle ich, dass irgendeine Art von öffentlicher Stellungnahme, so grundlegend illusorisch sie sicher wäre, den Kreislauf von Verehrung und Entthronung durchbrechen könnte.

Natürlich gefällt es uns, wenn unsere Helden ein kleines bisschen nahbar sind. So schön menschlich. Wenn ein Popstar die erste Zeile des eigenen Songs vergisst und noch mal von vorne anfangen muss. Wenn der Präsident heimlich raucht. Wenn die eigene Mutter im Urlaub ein bisschen beschwipst ist. Wie Meersalz auf einem Schokoladenkeks bringt eine Prise des Unperfekten ihre Heiligkeit erst richtig zur Geltung. Doch bei Menschen, die auf einem hohen Podest stehen, fühlt es sich manchmal so an, als könnte die volle Ladung ihrer Menschlichkeit uns umbringen.

Letzten Frühling unterhielt ich mich beim Lunch mit einer britischen Autorin über unsere Kindheit, und sie erwähnte das Konzept der »ausreichend guten Mutter«. Diesen Begriff prägte im Jahr 1953 der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott, nachdem er beobachtet hatte, dass es Kindern eigentlich guttut, wenn ihre Mutter ihnen in verkraftbarem Maße nicht gerecht wird. 20 »Selbst wenn es irgendwie möglich wäre, eine perfekte Mutter zu sein, würde am Ende ein empfindliches, fragiles Kind dabei herauskommen, das nicht einmal die kleinste Enttäuschung verkraften kann«, resümierte Dr. Carla Naumburg, klinische Sozialarbeiterin und Autorin des Buches You Are Not a Sh*tty Parent (etwa: »Du bist kein beschissener Elternteil«). 21 »Wenn wir gut genug sind – und ich glaube, dass die meisten Menschen das sind –, dann machen wir das meiste richtig und ein paar Dinge falsch.« Für einen Stan, der sein Idol zur makellosen Mutterfigur hochstilisiert, scheint Fragilität vorprogrammiert. Ich frage mich, ob es nicht genug ist, wenn unsere künstlerischen Ikonen einfach ausreichend gut sind.

Im Tierreich betreiben einige Arten den sogenannten Kronismus, das heißt, die Mutter frisst ihre eigenen Nachkommen. Als Matriphagie hingegen bezeichnet man es, wenn Tiere ihre Mutter fressen, was sich bei manchen Insekten, Spinnen, Skorpionen und Fadenwürmern beobachten lässt. Krabbenspinnenmütter füttern ihre Jungen mit unbefruchteten Eiern, aber das reicht nicht. Über mehrere Wochen hinweg fressen die Spinnenbabys auch ihre Mutter. Dieses Opfer hilft der nächsten Generation: Junge Spinnen, die ihre Mutter fressen, weisen ein höheres Körpergewicht und eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit auf. Der Rolling Stone bezeichnete das Jahr 2022 als das »Jahr des Kannibalen«. 22 Hollywood produzierte ein umwerfendes mediales Überangebot zum Thema Kannibalismus: Fresh bei Hulu, Yellowjackets bei Showtime, Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer bei Netflix, Bones and All von Luca Guadagnino. Wir waren eindeutig so ausgehungert wie die Spinnen. Bindung und Schutz, Selbstsein und Fürsorge – das ist die Nahrung der Menschen. Wir waren unersättlich nach ihr. Manche von uns bekamen den Hals nicht voll. Doch die Matriphagie von Prominenten reichte nicht aus. Sie hat niemanden stärker gemacht, weil Stars nicht unsere Mütter sind, sondern aus Pixeln und maladaptiven Tagträumen bestehen. Die frisch geschlüpften Jungen mochten ihrer Mutterspinne ein Bein nach dem anderen wegfressen, doch sie wurden niemals satt.

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Ich schwöre, das habe ich manifestiert.

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