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Das Weingut im Tal der Loreley

Als Buch hier erhältlich:

Ein Roman so samtig und leicht, wie die Weine aus dem Rheintal

Nach einer unschönen Trennung flieht die Köchin Mia Hals über Kopf zu ihrer Freundin Franzi in ihren Heimatort Spay. Doch schon nach einer Nacht merkt Mia, dass Franzis Sofa nur eine Notlösung ist. Auf Dauer muss sie sich etwas Eigenes suchen. Doch dafür muss Mia erst einmal herausfinden, was sie mit ihrer Zukunft anfangen will. Da kommt ihr der Nebenjob auf einem Weingut gerade recht. Dass es ausgerechnet das Weingut ist, das ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters vor 14 Jahren verkaufen musste, scheint nebensächlich. Je mehr Zeit Mia auf dem Weingut und mit dem neuen Besitzer Hannes verbringt, desto stärker holen sie die Erinnerungen ein. Und ihre Liebe zur Region und zu Hannes beginnt langsam zu wachsen.


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006276

Leseprobe

Widmung

Für Willem

Kapitel 1

Sie war wieder da.

Mia trat hinaus auf den Bahnsteig und sah sich um. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und alles lag in einem diffusen Dämmerlicht. Nur hinter einzelnen Fenstern war es bereits hell, aber sie spürte direkt ein heimeliges Kribbeln in ihrem Bauch: Sie war zu Hause. Sie hatte schon die halbe Welt bereist und viele traumhaft schöne Orte kennengelernt, und doch war dieserart Glückgefühl für sie nur mit ihrem Heimatdorf Spay verbunden.

Während sich hinter ihr die Türen der Mittelrheinbahn mit einem vernehmlichen Zischen schlossen und der Zug seine Fahrt fortsetzte, atmete sie tief durch. Im Gegensatz zu diesem heimeligen Wohlfühlmoment hatte sie die Zugfahrt von Straßburg hierher dieses Mal überhaupt nicht genießen können. Anstatt zu schlafen, hatte sie sich unruhig auf ihrem schmalen Sitz hin und her bewegt und nachgedacht. Nicht nur über den letzten Abend, sondern über die gesamte Zeit ihrer Beziehung zu Florent. Und besonders darüber, wie das Ganze so hatte eskalieren können.

Mia schulterte ihren Wanderrucksack und machte sich langsam auf den Weg zu Franzi. Gestern am späten Abend, nach einem letzten lautstarken Krach mit Florent, hatte sie ihrer besten Freundin eine Textnachricht geschickt, dass sie für die nächsten Tage dringend eine Bleibe suche. Keine zehn Minuten später, ohne wissen zu wollen, warum, hatte diese bereits geantwortet und Mia wie selbstverständlich ihre Couch angeboten.

Inzwischen war es fast fünf Uhr am Morgen, und Mia fühlte sich nach der langen Nacht wie gerädert. Der Streit mit ihrem Freund hatte sich während der Abendschicht in Florents Restaurant an einem Salatteller entzündet. An einem Salatteller!

Sie schüttelte noch einmal fassungslos den Kopf und kickte einen Kiesel zur Seite. Einem Salatteller, der Florents Meinung nach falsch dekoriert worden war. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, brannte die Wut von Neuem in ihr hoch. Gestern hatte sie nur noch ihre Messer genommen, war aus der Restaurantküche gestürmt und hatte in ihrer gemeinsamen Wohnung die wichtigsten Sachen in ihren Rucksack gestopft.

Dass sich ihre Hoffnung erfüllte, noch den letzten Zug in Richtung Koblenz zu erwischen, war das einzig Gute an diesem verpfuschten Tag gewesen.

Sich über Kleinigkeiten freuen zu können, war eigentlich einer ihrer wesentlichen Charakterzüge, der ihr schon mehr als einmal über die eine oder andere Klippe in ihrem Leben hinweggeholfen hatte. Genau deshalb hatte sie versucht, sich an ihrem Platz im Großraumwagen gemütlich einzurichten. Doch trotz aller Bemühungen war es ihr dieses Mal nicht gelungen, optimistisch und zuversichtlich in ihr neues Leben zu fahren, denn während der Zug durch die Nacht rollte, hatte zunehmend der Ärger Oberhand genommen. Wie konnte es sein, dass sie bisher nur verkorkste Beziehungen aufweisen konnte? Alles Training?

Warum konnte sie keine Beziehung führen wie ihre Freundin Franziska und deren Mann Jonas? Eine Beziehung, die schon seit Jahren auf Augenhöhe funktionierte.

Mia seufzte. Zumindest hatte sie durch ihren Ärger mit Florent gelernt, dass man ein romantisches Verhältnis zum eigenen Chef tunlichst vermeiden sollte, denn sonst war am Ende der Beziehung gleichzeitig auch noch der Job futsch. In ihrem Fall auch noch die Wohnung.

Ein Hattrick, welch ein Glück, dachte sie sarkastisch.

Sie ruckelte ihren Wanderrucksack zurecht und ging die Koblenzer Straße entlang in Richtung St. Lambertus Kirche. Bis auf das Zwitschern der Vögel herrschte noch absolute Stille im Dorf. Keine Menschenseele war unterwegs. Sie betrachtete die Häuser rechts und links der Straße, dachte an die Menschen, die sie bewohnten und die sie von Kindheit an kannte. Zunehmend merkte sie, wie der Ärger von ihr abfiel: Endlich wieder zu Hause!

Franzi bewohnte die obere Etage ihres Elternhauses, einem der prächtigen Fachwerkhäuser im Kieselsteinweg, und winkte Mia bereits vom Küchenfenster aus zu, als diese, wie verabredet, zu ihr hinaufschaute, um nicht klingeln zu müssen. Sie spürte, wie sich ein breites Grinsen über ihr Gesicht zog, als sie das Haus schließlich betrat und ihr der wohlvertraute Geruch nach Kindheit in die Nase strömte. Wie oft war sie wohl schon durch diese Tür gegangen? Wie viele Nächte hatte sie gemeinsam mit ihrer Freundin in deren Kinderzimmer verbracht, Pläne für Streiche geschmiedet und Geheimnisse ausgetauscht?

»Pippilotta!«, begrüßte Franziska sie mit überschwänglichem Flüstern und nahm sie herzlich in den Arm.

Mia erwiderte die feste Umarmung und drückte die einzige Person, die sie Pippilotta nennen durfte, eng an sich. Diesen Namen hatte Franziska ihr schon im Kindergarten verpasst, weil Mia sie mit ihren zu Zöpfen geflochtenen krausen roten Haaren und den vielen Sommersprossen an ihre gemeinsame Heldin Pippi Langstrumpf erinnerte. Bis heute hatte sich der Spitzname gehalten, und Mia wusste immer, dass sie willkommen war, wenn sie ihn hörte.

»Geh gleich durch ins Wohnzimmer«, sagte Franziska leise, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.

Dann schloss sie erst die Haustür und anschließend auch die Wohnzimmertür hinter ihnen.

»Ich bin so froh, dass er schläft«, sagte sie in normaler Lautstärke, während sie den Raum hinüber zur Couch durchquerte.

Mia wusste sofort, welchen ihrer beiden Männer sie meinte. Nico war nämlich erst vier Monate alt und schlief bisher nie mehr als drei Stunden am Stück. Was sie ihrer Freundin auch deutlich ansah. Dicke schwarze Halbmonde lagen unter ihren Augen.

»Und jetzt komme ich auch noch in aller Herrgottsfrühe hier an und halte dich von deinem gemütlichen Bett fern«, erwiderte sie deshalb mit schlechtem Gewissen.

»Ach Quatsch.« Franzi machte eine wegwischende Handbewegung. »Ich bin so froh, dass du wieder mal hier bist.«

»So lange ist das noch gar nicht her«, wehrte Mia ab, schließlich hatte sie Franziska und Jonas erst zu Nicos Geburt besucht. Nichtsdestotrotz freute sie sich auch, ihre Freundin wiederzusehen, und nahm sie erneut herzlich in den Arm.

»Möchtest du einen Kaffee?« Franzi zeigte auf den eingedeckten Wohnzimmertisch.

»Du bist ein wahrer Engel. Mensch, du sollst doch schlafen, wenn dein Kind dich lässt, und nicht für lästigen Besuch Frühstück machen.« Mia stellte ihren Rucksack in die Ecke hinter der Tür und setzte sich voller Wohlbehagen in einen Sessel.

»Erstens bist du kein lästiger Besuch«, erklärte Franzi, als sie sich übereck auf die Couch setzte, »und zum anderen freue ich mich wie Bolle, dass meine Männer schlafen und ich dich für mich ganz allein habe.«

Da Franziska tatsächlich übers ganze Gesicht strahlte, schob Mia ihr schlechtes Gewisse beiseite und griff herzhaft zu.

»Jetzt erzähl«, sagte ihre Freundin, nachdem sie sie beide mit Kaffee versorgt hatte. »Was war los?«

»Das Übliche«, nuschelte Mia mit vollem Mund. »Eine von Beginn an verkorkste Beziehung ist eskaliert. Ich hatte es endgültig satt. Ich habe Schluss gemacht. Für ernsthafte Beziehungen bin ich offensichtlich nicht geeignet.«

»So ein Unsinn«, erklärte Franzi im Brustton der Überzeugung. »Du hast bisher einfach noch nicht den Richtigen gefunden.«

»Ich habe nicht nur den Richtigen noch nicht gefunden, ich habe bisher noch überhaupt nichts auf die Reihe gekriegt. Glaub mir, ich hatte heute Nacht genug Zeit zum Nachdenken.«

»Nun mach mal halblang. Bloß, weil du dich von deinem Freund getrennt hast, ist das doch kein Grund, dich derart runterzumachen.«

»Es ist nicht nur, dass ich mich von Florent getrennt habe«, widersprach Mia und strich Honig auf eine Brötchenhälfte. »Auf der Fahrt hierher ist mir bewusst geworden, dass ich tatsächlich kaum mehr besitze als das, was in meinen Rucksack passt. Und? Was sagt das über mich aus? Ich bin fast dreißig und hab weder Mann noch Kind noch Maus. Ich habe noch überhaupt nichts erreicht.«

Franziska machte große Augen. »Was ist denn bloß mit dir los? So kenne ich dich ja gar nicht.«

Mia nippte an ihrem Kaffee und schloss verzückt die Augen. Ihre Freundin schaffte es kaum, ein Spiegelei nicht anbrennen zu lassen, aber Kaffee kochen konnte sie vom Feinsten.

Dann konzentrierte sie sich wieder auf das, was Franzi gerade gesagt hatte. »Mit mir ist überhaupt nichts los. Ich bin weder niedergeschlagen noch verzweifelt. Ich habe das ganz nüchtern festgestellt. Schau doch nur an, was du dagegen schon alles erreicht hast.«

»Ich bin ein ganz anderer Mensch als du«, wandte Franziska ein. »Wir gehen ganz anders an unser Leben heran.«

Mia lachte. »Ich weiß, du bist strukturiert und ich bin die Chaotin.«

»Du bist keine Chaotin, du bist kreativ. Ich bewundere dich.«

Jetzt fiel Mia die Kinnlade hinunter.

»Schau mich nicht so fassungslos an«, sagte Franziska. »Ich bewundere dich schon mein ganzes Leben. Während ich über alles mindestens dreimal nachdenke, jeden Satz in seine Einzelteile zerlege und mir den Kopf darüber zerbreche, was derjenige, der ihn ausgesprochen hat, wohl tatsächlich damit sagen will, handelst du einfach.«

Mia stellte ihre Kaffeetasse ab. »Und schau, wohin mich das gebracht hat. Ich bin immer noch eine einfache Köchin, wie schon vor zehn Jahren, während du nicht nur studiert, sondern auch deinen Doktor gemacht hast. Himmel, du entwickelst hybrid-elektrische Antriebssysteme für Boote und leistest damit einen wichtigen Beitrag für unsere ökologische Zukunft.«

»Na und? Du sorgst dich auf andere Art und Weise um das leibliche Wohl der Menschen, das haben wir beide gemeinsam. Und außerdem, jetzt stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel. Du hast quasi schon auf der ganzen Welt gekocht, unendlich viele Menschen kennengelernt und dich weiterentwickelt.«

Franziska hob die Hand, als Mia widersprechen wollte. »Worum geht es denn im Leben? Mein Haus, mein Auto, mein Boot? Wohl kaum. Carl Hilty hat einmal gesagt: Achte auf das Kleine in der Welt, das macht das Leben reicher und zufriedener.«

»Was sind wir am frühen Morgen schon philosophisch«, spöttelte Mia.

»Aber ich habe doch recht!«, ereiferte sich Franziska. »Ich möchte Nico mehr mitgeben als materielle Dinge. Er soll wissen, dass das Leben eine lange Reise ist. Eine Reise mit Höhen und Tiefen, aber vor allem eine Reise mit immer neuen Erlebnissen. Erfahrungen. Entdeckungen.«

»Ja«, bestätigte Mia nachdenklich. »Das wünsche ich ihm auch.«

Als hätte er gehört, dass gerade über ihn gesprochen wurde, erhob besagter Nico die Stimme. Noch ehe Mia darauf reagieren konnte, hatte Franzi schon den Raum verlassen. Durch das Babyphone hörte Mia beruhigende Laute ihrer Freundin, ehe sie kurz darauf mit dem kleinen Mann wieder im Wohnzimmer auftauchte.

»Jonas hat die erste Nachthälfte übernommen, weil ich doch sowieso früh aufstehen musste, deshalb hat er sich einfach noch mal umgedreht. Willst du Nico mal halten? Dann mache ich schnell die Flasche fertig.«

Bevor Mia antworten konnte, hatte Franziska ihr bereits das Baby in den Arm gedrückt und war wieder verschwunden.

Mia betrachtete dieses Wunderwerk der Natur, während sie der kleine Bursche mit großen Augen ansah. Plötzlich verzog sich das zarte Mündchen zu einem Lächeln, und ihr wurde ganz warm ums Herz.

Gott, ist der süß, dachte sie und strich ihm vorsichtig über die Wange. Und schon so groß. Natürlich hatte sie Franziska immer mit Fotos von diesem Wonneproppen versorgt, aber die wurden der großen Veränderung zwischen der Geburt und jetzt nicht annähernd gerecht.

Dann kam Franzi mit der Flasche in der Hand ins Wohnzimmer. »Möchtest du ihm seine Milch geben?«

»Meinst du, ich kann das?«, fragte Mia verunsichert.

Franziska grinste. »Sicher kannst du das. Einfach an die Lippen halten, dann trinkt er gleich los.«

Mia befolgte die Anweisung und lachte auf, als Nico begann, in großen Zügen die Milch aus der Flasche zu saugen. »Das kann er ja schon richtig gut!«

»Ja, damit hatten wir von Anfang an keine Probleme«, bestätigte Franziska.

Mia amüsierte sich über den Stolz in der Stimme ihrer Freundin. Eine in Fachkreisen anerkannte Ingenieurin, deren Ehrgeiz sie jahrelang in internationale Forschungslabore getrieben und verschiedenste hochdotierte Preise hatte einheimsen lassen, war nun erfüllt davon, wie ihr kleiner Sohn sein Fläschchen trank. Die Natur war doch ein wundersames Ding.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen war ihr klar, dass sie sich so schnell wie möglich nach einer neuen Unterkunft umschauen musste. Jonas und Franziska bewohnten eine zwar gemütliche, allerdings recht kleine Drei-Zimmer-Wohnung, die mit ihr als Übernachtungsgast aus allen Nähten platzte. Franzi und ihr Mann waren ein eingespieltes Team, das sich die Umsorgung des Babys teilte, sodass beide ihre Jobs zwar hinuntergefahren hatten, aber dennoch mehr als ausgelastet waren. Nun kam Mia trotz aller Freundschaft als weitere Belastung hinzu, was sie den beiden nicht zumuten wollte.

Franziska hatte heute das Haus bereits um kurz vor acht verlassen, während sie selbst noch gemütlich mit Jonas am Frühstückstisch sitzen und sich ihren Kaffee schmecken lassen konnte. Da Jonas noch ein Paper durcharbeiten wollte, hatte Mia ihm angeboten, mit Nico einen ausgiebigen Spaziergang zu machen und gleichzeitig fürs Abendessen einzukaufen.

Nun schob sie den Hightechkinderwagen mit dem schlafenden Baby vor sich her und hoffte, noch irgendwo ein freies Zimmer oder Apartment angezeigt zu bekommen. Doch wie zu erwarten, war Spay komplett ausgebucht. Jetzt, Ende August, war Hochsaison, die bis weit in den Oktober reichte. Zur Weinernte waren Spay und Umgebung fest in der Hand fröhlicher Touristen. Was sie prinzipiell begrüßte, schließlich verdienten viele Einwohner damit ihr Geld. Aber gerade jetzt hätte sie sich gewünscht, in einem Ort im Nirgendwo zu sein. Wobei, dachte sie, während sie von der Koblenzer Straße in die Kirchgasse fuhr, im Nirgendwo gäbe es sicher überhaupt keine Pension, die Zimmer anbot.

Nach einem prüfenden Blick in den Kinderwagen hob sie den Blick und betrachtete die Häuser rechts und links der Straße. Hier war sie aufgewachsen. Auch wenn ein paar der Häuser ihre Besitzer gewechselt hatten, kannte sie doch den Großteil der Bewohner immer noch. Das elterliche Weingut, das ihre Mutter vor knapp vierzehn Jahren, nach dem Tod ihres Vaters, verkauft hatte, lag am anderen Ende der Straße. Im Osten begrenzt vom Rhein, im Süden durch die kompakte Mauer des großen Grundstücks des Barons, war es ein wenig abgeschirmt vom Rest des Ortes, obwohl es sich, vom Haupteingang her, mittendrin befand. Doch schon als Kind hatte sie immer den Nebeneingang zur Kirchgasse benutzt, um heimlich in Richtung Rheinuferstraße zu verschwinden, wenn sie unerlaubter Weise zu Franzi wollte.

Je näher sie herankam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Von außen hatte sich nichts verändert. Die weiß gekalkten Gefache des zweistöckigen Fachwerkhauses und die ebenso weiße Mauer, die das Gut umgab, strahlten in der Morgensonne. Das große Doppelflügeltor, das an der Ecke zur Zehnthofstraße lag, war weit geöffnet für kauffreudige Touristen, und eine schwarze Tafel pries die Weine des Gutes an.

Nein, korrigierte sie sich und ging zögerlich weiter. Auf der Tafel standen nicht die Namen der Weine des Guts. Vielmehr hatte jemand mit einer energischen Handschrift draufgeschrieben, dass eine Saisonkraft für den Haushalt gesucht wurde, die auch Verkostung und Verkauf übernehmen konnte. Dafür bot man zum Gehalt noch freie Kost und Logis.

Sofort begann es in Mias Kopf zu arbeiten. Freie Unterkunft, das war doch genau das, was sie brauchte. Zudem ein Job, den sie mit links erledigen und von dem aus sie sich in aller Ruhe nach etwas anderem umschauen konnte.

Aber auf dem elterlichen Gut arbeiten? Sie hatte jetzt schon einen Kloß im Hals und stand noch auf dem Bürgersteig. Ihr Herz klopfte kräftig, als sie einen weiteren Schritt in Richtung Einfahrt machte. Sie lugte um die Ecke und sah zwei Frauen, die über den Hof schlenderten und sich umzuschauen schienen. Mia hätte ihnen mit geschlossenen Augen sagen können, wo sich was befand, allerdings vor vierzehn Jahren, denn seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr war sie nicht mehr hier gewesen. Zumindest nicht auf dem Hof. Von außen hatte sie sich das Gut regelmäßig angeschaut. Eigentlich immer, wenn sie in Spay gewesen war.

Sie hatte gehört, dass der nachfolgende Besitzer den Hof vor zwei Jahren aufgeben musste, da er schlecht gewirtschaftet hatte. Leider fehlte ihr nicht nur das Geld, sondern auch die entsprechende Ausbildung, um das Gut selbst zu kaufen. Von dem neuen Käufer hatte Franzi ihr nur erzählt, dass er Lehmacher hieß, nicht von hier war und bisher auch noch nicht viel Anschluss im Dorf gesucht habe.

Am liebsten hätte Mia ihre Freundin angerufen, um die Situation mit ihr zu besprechen. Aber die hatte ihr schon gestern erzählt, dass sie heute Morgen eine neue Versuchsreihe startete, dabei wollte Mia sie nicht stören.

Also straffte sie die Schultern und schob den Kinderwagen kurz entschlossen durch das geöffnete Tor. Angespannt sah sie sich um. Hier hatte sich tatsächlich nicht viel verändert. Sie ging langsam am ehemaligen Kuhstall vorbei, der bereits seit Jahrzehnten für vier Monate im Jahr die Straußwirtschaft beherbergte und auf der rechten Hofseite lag. Davor standen noch immer drei stabile Eichentische mit jeweils zwei grob getischlerten Bänken, die ihre Eltern bereits vor dreißig Jahren dort aufgestellt hatten. Sie hätten in ihren Augen dringend abgeschliffen und neu lackiert werden müssen, aber die Geschmäcker waren eben verschieden. Vielleicht fehlte dem neuen Besitzer aber auch schlicht die Zeit, sich um solche Dinge zu kümmern. Ob er wohl einen Partner oder eine Partnerin an seiner Seite hatte?

Mia zuckte mit den Schultern und ging gespannt weiter. Direkt im Anschluss an die Straußwirtschaft lag der alte Pferdestall, der ebenfalls mit weißem Rauputz versehen war. Ihre Mutter hatte damals drei Esel besessen, die sie liebevoll umsorgte. Doch nach dem Tod des Vaters waren sie ebenfalls verkauft worden. Wo hätten sie auch bleiben sollen? Der neue Besitzer wollte sie nicht, und in das Schreibwarengeschäft mitten in der Koblenzer Altstadt, das ihre Mutter vor gut zehn Jahren von den Großeltern übernommen hatte und inzwischen gemeinsam mit ihrer ältesten Schwester Lena führte, konnten sie schon gar nicht mit.

Mia seufzte, als sie an die liebenswerten grauen Gesellen zurückdachte, mit denen sie immer ausgiebig gekuschelt hatte. Sie linste durch eines der vier breiten, leider stark verschmutzten Rundbogenfenster und sah, dass der ehemalige Stall nun offensichtlich als Rumpelkammer diente.

Schade drum, dachte sie, als ihr Blick zur mit Balken durchzogenen Decke ging. Zusammen mit dem alten Kuhstall wäre auch dieses Gebäude prädestiniert für ein romantisches Restaurant.

Mia wandte sich ab und schüttelte den Kopf. Was sie nur wieder für Ideen hatte. Dies hier war ein Winzerhof, und zudem kam die Kleinigkeit, dass er nicht ihr gehörte. Sie schob den Kinderwagen weiter den Hof hinunter und stellte fest, dass es das ehemalige Hühnergehege gar nicht mehr gab. Offenbar legten die neuen Besitzer keinen Wert auf frische Eier. Dabei gab es doch kaum eine bessere Alternative, wenn man den Platz für eigene Hühner hatte.

Mit leichtem Bedauern überquerte sie den Hof und trat in Höhe des neuen Kelterhauses den Rückweg an. Ihr Vater war so stolz auf das neue Kelterhaus gewesen, hatte jedoch nur noch eine Ernte darin verarbeiten können. Das Schiebetor war geöffnet, und Mia erhaschte einen Blick auf die chromblitzenden Edelstahlweintanks, in die später der junge Most zum Gären kommen würde.

Dem neuen Kelterhaus schloss sich die Kelterhalle an, in der die Weine im alten Gewölbekeller bei gleichmäßigen Temperaturen in großen Fuderfässern reifen konnten. Auch hier gab eine hölzerne Doppelflügeltür den Blick auf die breite Steintreppe frei, die ins Untergeschoss führte. Doch Mia traute sich nicht, neugierig hineinzulugen. Sie ging zügig daran vorbei und sah weiter vorn die beiden Frauen aus dem Verkaufsraum kommen, der sich zwischen Wohnhaus und Kelterhalle befand. Da die Frauen je zwei Flaschen Wein in den Händen hielten, konnte sie davon ausgehen, dass sie jemanden im Laden antreffen würde, weshalb sie den Kinderwagen durch die geöffnete Türe schob.

Und richtig. An einem der vielen Weinregale sah sie einen Mann stehen. Ein kräftiger Mann, dachte sie, als sie sah, wie er scheinbar mühelos eine Holzkiste mit Weinflaschen in eins der oberen Regale hievte.

Er schien sie gehört zu haben, denn er drehte sich zu ihr um und schaute sie fragend an. »Guten Tag. Kann ich etwas für Sie tun?«

»Hallo. Mein Name ist Mia Schumann«, stellte sie sich nach kurzem Zögern vor. Der Mann reagierte nicht weiter auf ihren Namen, brachte sie demnach nicht mit einem Vorbesitzer des Weinguts in Verbindung.

»Ich habe auf der Tafel vor dem Haus gelesen, dass Sie eine Haushaltshilfe suchen?«, fuhr sie fort, unsicher, ob sie schon davon erzählen sollte, dass sie hier aufgewachsen war.

Er kam ein paar Schritte näher, und Mia musste zugeben, dass er ein sehr gelungenes Exemplar seiner Gattung war. Recht groß, auf jeden Fall ein gutes Stück größer als sie selbst, wobei sie mit ihren 1,78 m auch nicht gerade klein zu nennen war. Zudem hatte er ausgeprägt breite Schultern, als wäre er in seinem früheren Leben einmal Leistungsschwimmer gewesen. Mit seinen nahezu schwarzen Haaren und den braunen Augen war er eigentlich überhaupt nicht ihr Typ.

Was im Moment allerdings auch völlig irrelevant ist, mahnte sie sich selbst.

»Hannes Lehmacher.«

Verlegen fuhr er sich durchs Haar, bevor er erklärte: »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich fürchte, die Stelle ist für eine junge Mutter nicht geeignet. Wir nähern uns der Weinlese, da würde viel Arbeit auf Sie zukommen. Oder haben Sie jemanden, der sich um das Baby kümmert?«

Mia sah kurz hinunter zu Nico, ehe sie den Blick des Gutsbesitzers erwiderte. »Das Baby gehört nicht zu mir.«

»Also, ich meine, es gehört schon zu mir«, verbesserte sie sich, als sie den verwunderten Ausdruck in seinen Augen bemerkte. »Es ist der Sohn meiner Freundin, und ich passe nur heute Morgen auf ihn auf.«

»Ah, okay. Und Sie könnten sich eine Arbeit hier bei uns vorstellen? Wie gesagt, es wird einiges zu tun geben. Sie wären vor allem für die Küche zuständig, aber auch für einfache Arbeiten im Haushalt. Einmal die Woche kommt eine Reinigungskraft, die die Böden und die Badezimmer macht, alles Weitere würde in Ihren Bereich fallen. Zum Beispiel auch das Besorgen der Einkäufe oder die Vorbereitung der Straußwirtschaft Ende des Monats. Zur Not müssten sie dort eventuell auch das eine oder andere Mal aushelfen. Kommen Sie von hier? Kennen Sie sich ein wenig mit dem Riesling aus? Die Gäste haben oft Fragen oder wünschen Empfehlungen. Unsere Weine würden sie natürlich vorher kennenlernen.«

Mia holte tief Luft, ehe sie antwortete: »Mit all den Dingen rund ums Weingut kenne ich mich sehr gut aus, ich bin nämlich hier aufgewachsen. Das heißt, die viele Arbeit rund um die Lese ist mir geläufig. Ihre Weine jedoch müsste ich noch kennenlernen.«

Es entstand eine kurze Pause, in der Herr Lehmacher sie genau musterte.

»Sie kommen von diesem Gut?«, fragte er schließlich.

»Jep. Ich bin hier aufgewachsen, habe hier gewohnt, bis das Gut vor vierzehn Jahren verkauft wurde.«

»Und Sie könnten sich trotzdem vorstellen, für mich zu arbeiten?«

Sein skeptischer Blick sagte Mia alles darüber, was er von dieser Idee hielt.

»Ich kann mir ausgesprochen gut vorstellen, für Sie zu arbeiten. Ich bin eigentlich ein totaler Glücksfall für Sie«, versuchte sie ihn von sich zu überzeugen. »Ich bin Köchin und von daher eigentlich total überqualifiziert für diesen Job. Zudem kenne ich die Gepflogenheiten auf dem Gut und bin versiert im Umgang mit Gästen.«

»Sie wissen schon, dass in Straußwirtschaften gesetzlich vorgegeben nur einfache Tellergerichte gestattet sind? Dafür brauchen wir Sie nicht, die werden unsere anderen Mitarbeiter zubereiten«, sagte er, ohne auf ihre vorherige Erklärung einzugehen.

»Es wird also nur um das Bekochen der Mannschaft gehen, für Sie sicher keine anspruchsvolle Tätigkeit. Warum arbeiten Sie also nicht lieber in einem der Restaurants in der Umgebung?« Er wirkte ernst und nüchtern. Mia konnte sich nicht vorstellen, dass da irgendwo Leidenschaft zu finden war.

»Ehrlich gesagt suche ich nur etwas für den Übergang«, antwortete sie geradeheraus. »Ich bin dabei, mich neu zu orientieren, weshalb eine Saisonstelle hier auf dem Gut genau passen würde.« Das Argument mit der kostenfreien Unterkunft behielt sie lieber für sich.

»Wenn Sie meinen«, gab er schließlich nach. »Haben Sie denn irgendwelche Referenzen?«

»Die könnte ich Ihnen gern später vorbeibringen.« Auch wenn sie von Florent kein gutes Zeugnis erwartete, hatte sie doch genügend vorzuweisen, das sie für diese Stelle empfehlen würde.

»Falls ich mich für Sie entscheide: Wann könnten Sie denn anfangen?«

»Wäre morgen früh genug?«

»Wie wäre es mit heute Nachmittag?«

Überrascht stellte Mia fest, dass er wohl doch nicht gänzlich gefühllos war, denn das schiefe Grinsen, das er nun aufsetzte, löste in ihrem Bauch eine kribbelnde Welle aus.

Zudem hob er in einer resignierenden Geste die Schultern, was ihn ihr noch sympathischer machte. »Wir brauchen wirklich dringend Unterstützung. Mein Vater ist eigentlich für all diese Arbeiten verantwortlich. Aber er hat sich den Knöchel gebrochen und fällt noch für mindestens zwei Monate aus. Katta, die eigentlich für den Laden und die Buchhaltung zuständig ist, brauchte einen Tag Urlaub, weil sie umgezogen ist. Sie ist morgen wieder da, und es wäre gut, wenn ich dann auch wieder mit meiner eigentlichen Arbeit weitermachen könnte.«

Mia hätte ihm am liebsten tröstend über den Arm gestrichen, aber nicht nur, dass sie sich dafür wahrlich nicht genug kannten. Er war auch wieder in seinen nüchternen Tonfall zurückgefallen, ein gutes Zeichen dafür, dass Mia nicht in Gefahr lief, irgendetwas mit ihm anfangen zu wollen.

Am liebsten hätte sie sich dafür in den Hintern getreten, dass sie überhaupt solche Gedanken hatte. Dies war schließlich ein Bewerbungsgespräch, und sie hatte es nicht so nötig, dass sie sich beim erstbesten Mann, der ihr seit der Trennung von Florent wieder über den Weg lief, schon wieder überlegte, ob er als zukünftiger Liebhaber infrage kam.

»Heute Nachmittag wäre wirklich ein wenig überstürzt«, antwortete sie mit einem freundlichen Lächeln. »Aber morgen könnte ich schon ganz früh hier sein.«

»Das klingt nach einem fairen Angebot, vielen Dank. Soll ich Ihnen schon mal die Küche und Ihr Zimmer zeigen? Auch wenn Sie das Haus natürlich kennen, hat sich im Laufe der Jahre sicher einiges verändert, und ich sitze im Moment sowieso hier fest.«

Besonders begeistert klang das nicht, aber Mia konnte nachvollziehen, dass es den Mann mit jeder Faser seines Körpers in die Weinberge zog, ihr Vater war damals genauso gewesen.

Und sie auch.

Energisch unterdrückte sie jedweden Gedanken an die Vergangenheit und stimmte Herrn Lehmacher zu. Wie würde sie sich wohl fühlen, wenn sie nach so langer Zeit wieder ihr Elternhaus betrat?

Mit Hilfe des neuen Gutsbesitzers hievte sie den Kinderwagen die paar Stufen zum Haupthaus hinauf und zog ihn in den Flur. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Nico tief und fest weiterschlief, hob sie den Kopf und schaute sich ein wenig beklommen um. Doch die Beklommenheit wich rasch Neugierde, denn bereits im Flur hatte sich einiges getan. Die dunkle Holzvertäfelung, die bis auf halbe Höhe angebracht gewesen war, hatte jemand entfernt, wodurch der Flur deutlich heller und breiter wirkte, als er sowieso schon war. Zudem zog sich ein wunderschönes Wandgemälde von der Küchentür, die sich direkt rechts von der Eingangstür befand, bis zu einer Tür, die es vor vierzehn Jahren noch nicht gegeben hatte. Demnach hatte sich hier tatsächlich auch einiges verändert.

Jetzt aber galt ihre Aufmerksamkeit erst einmal dem Kunstwerk direkt vor ihren Augen. Weinberge in vollem Grün bildeten den Hintergrund, und davor stand ein rustikaler Tisch unter einer Pergola, die mit Weinranken und weißen Lampions geschmückt war. Um den Tisch herum saßen sechs Leute, die sich ihren Weißwein schmecken ließen und dabei offenkundig amüsante Gespräche führten. Auf dem Tisch fanden sich Käse, Brot und dicke gelb-grüne Trauben; auch kleine Schälchen mit geschälten Walnüssen und Mandeln, getrockneten Aprikosen und grüne Oliven waren zu erkennen. Ein idyllischer Sommerabend am Weinberg, perfekt in Szene gesetzt.

»Das ist wunderschön«, sagte Mia und schaute zu Herrn Lehmacher hinüber.

»Meine Eltern haben es gemalt«, antwortete er knapp.

»Ihre Eltern sind Künstler?«, fragte Mia nach.

»Meine Mutter ist tot«, war alles, was er dazu sagte.

Sie erschrak. »Das tut mir leid.«

»Konnten Sie ja nicht wissen. Sollen wir dann mal?« Er wandte sich ab und ging voraus in die Küche.

Mia folgte ihm mit einem mulmigen Gefühl. Der Umgangston, der hier zu herrschen schien, war so gar nicht das, was sie sich von freundlichen Hausgenossen vorstellte. Aus der Küche war sie zwar einen rauen Ton gewöhnt, allerdings brauchte sie das nicht auch noch in ihrer Freizeit. Sie hoffte, dass zumindest der Vater von Herrn Lehmacher ein freundlicherer Mensch war, sonst würden harte Zeiten auf sie zukommen.

Auch in der Küche hatten die Eltern des Gutsbesitzers ihre Spuren hinterlassen. Die Einbauschränke schienen zwar noch dieselben von früher zu sein, allerdings waren die Fronten jetzt weiß lackiert, und über die Türen der Oberschränke zogen sich ebenfalls grüne Weinranken durchsetzt mit gold-gelben Trauben. Auch die große, in den stattlichen Erke hineingebaute, Rundsitzgruppe war restauriert worden. Die Polster waren nun von einem satten Grün und mit etlichen ebenso grünen und cremefarbenen Kissen bestückt. Sie freute sich schon darauf, wieder hier beim Frühstück zu sitzen und die Morgensonne zu genießen.

Ansonsten hatte sich nicht viel verändert. Bis auf die Giebelseite, an der noch der Weichholzschrank ihrer Großmutter stand, bedeckten die Einbauschränke die restlichen Wände. Es gab viel Arbeitsfläche, auf der chromblitzende Gerätschaften standen und deutlich machten, dass hier die neuste Technik Einzug gehalten hatte. Es gab sogar einen hochmodernen Kaffeevollautomaten. Am liebsten hätte sie sich einen Cappuccino gemacht, sich in die Rundsitzgruppe gesetzt und mit Herrn Lehmacher über seine Weine gefachsimpelt. Schade, dass es nicht so aussah, als wäre das eines Tages von ihm zu erwarten. Doch offensichtlich gab es weitere Bewohner beziehungsweise Mitarbeiter des Guts, sodass sie die Hoffnung nicht aufgab, sich hier demnächst pudelwohl zu fühlen.

»Haben Sie noch Fragen zur Küche?«

Die kühle Stimme riss sie wieder aus ihren angenehmen Gedanken.

»Nein, alles gut. Es ist sehr schön geworden.«

»Dann zeige ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer.«

Er wandte sich ab und verließ den Raum in der Annahme, dass sie ihm schon folgen würde.

Bedauernd seufzend verließ sie die Küche, schaute noch einmal kurz nach Nico und freute sich, als sie sah, dass auch der Treppenaufgang renoviert worden war. Das honigfarbene Holz war sorgfältig geschliffen und neu lackiert worden. Ein langer grüner Teppich schützte mittig die Stufen und dämpfte ihre Schritte, als sie hinaufgingen.

Direkt linker Hand im oberen Flur war ehemals das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen. Geradeaus das Zimmer ihrer ältesten Schwester Lena, daneben der Raum von Nora, der mittleren der drei Schwestern. An der Giebelseite befand sich das Badezimmer, woran sich damals Mias Zimmer angeschlossen hatte, das direkt über dem Büro lag und von daher etwas kleiner als die übrigen Räume war.

Hierher wandte sich nun auch Herr Lehmacher und öffnete die Tür. »Hier sind wir mit der Einrichtung leider noch nicht fertig geworden.«

Mia schien, als höre sie tatsächlich ein leises Bedauern in seiner Stimme.

»Kein Problem«, beschwichtigte sie entsprechend. »Ich werde schon zurechtkommen.«

Als sie ihr altes Zimmer betrat, überfiel sie eine Gänsehaut. Unwillkürlich schlang sie die Arme um ihren Oberkörper, als sie sich umschaute. Ein breites Bett aus Eichenholz mit verschnörkeltem Kopfteil stand in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers. Ebenso wie der Schrank, der direkt neben der Tür stand, war es restauriert und schimmerte in einem warmen Braun. Die Matratze war mit einer fliederfarbenen Tagesdecke belegt, die wunderbar zu der Tapete passte, die auf die Wand hinter dem Bett geklebt worden und mit unzähligen Veilchen bedruckt war. Sicher wäre solch eine Tapete nicht ihre erste Wahl gewesen, aber sie gab dem ansonsten leeren Raum einen gemütlichen Touch.

»Auf dem Speicher stehen noch einige Möbelstücke und andere ausgemusterte Dinge von den Vorbesitzern. Falls Sie einziehen, könnten Sie sich davon aussuchen, was Sie für die Einrichtung noch haben möchten.«

»Das klingt prima. Sicher kann ich mich …«

… hier gut einrichten, hatte sie sagen wollen, allerdings fing Nico in diesem Moment an zu schreien, und sie stürzte aus dem Zimmer, um nach ihm zu schauen.

Die Verantwortung für solch ein winziges Wesen zu übernehmen, drückte sie viel mehr, als sie vermutet hatte. Sie nahm den kleinen Kerl aus dem Kinderwagen, legte ihn an ihre Schulter und sprach beruhigend auf ihn ein. Schon nach ein paar Schritten, die sie im Flur auf und ab gegangen war, ebbte das Schreien ab und wich einem zufriedenen Gurgeln.

»Alles wieder gut?«, fragte Mia das Baby und drehte es auf ihrem Arm, sodass es ihr ins Gesicht schauen konnte.

Ein zahnloses Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und wärmte ihr Herz. Intuitiv drückte sie ihn ein wenig fester an sich.

Dann tauchte der Gutsbesitzer wieder in ihrem Blickfeld auf. »Meinen Sie, Sie könnten morgen früh schon gegen halb acht hier sein? Dann stelle ich Ihnen meinen Vater und unseren Azubi vor, der ebenfalls bei uns wohnt. Außerdem könnten wir die Sache mit den Referenzen klären, bevor wir an die Arbeit gehen.«

»Halb acht? Das dürfte kein Problem sein«, stimmte Mia zu.

Nico begann sich zu winden und streckte die Ärmchen in Herrn Lehmachers Richtung aus. Noch bevor sie damit beginnen konnte, den Kleinen abzulenken, erwiderte der Winzer die Bewegung des Kindes und nahm ihn ihr aus den Armen.

Völlig perplex beobachtete sie, wie sich ein schmales Lächeln auf das Gesicht dieses distanzierten Mannes stahl.

»Na, kleiner Mann?«, murmelte er. »Du bist ja schon ein ganz schön kräftiges Kerlchen.«

Er hob ihn hoch über seinen Kopf, und Nico krähte laut auf vor Freude.

Dann drückte er ihn Mia zurück in den Arm, und das Lächeln verschwand. »Wir sehen und dann morgen früh und besprechen den Rest, wenn wir uns einig sind.«

So rasch, wie Herr Lehmacher den Kinderwagen aus dem Haus und die kurze Treppe hinunterschob, konnte Mia kaum gucken. Und so sah sie ihn schon keine Minute später nur noch von hinten, als er zurück in den Laden ging.

»Männer!«, stieß sie schnaubend aus und ging mit Nico ebenfalls die Stufen hinunter.

»Wehe dir, du wirst einmal genauso«, raunte sie dem Baby zu, als sie es zurück in den Wagen legte. Sie würde ein gutes Auge auf seine Erziehung haben müssen.

Kapitel 3

Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht. Franziskas mahnende Worte, sie solle doch nicht vorschnell so eine wichtige Entscheidung treffen, waberten stundenlang durch ihren Kopf. Kaum war sie eingeschlafen, schreckte sie wieder hoch, und der Gedankenkreisel begann von vorn. Dabei hatte sie sich versucht gut zuzureden, dass es doch überhaupt keine wichtige Entscheidung wäre. Wenn es gar nicht funktionieren sollte, kündigte sie wieder und suchte sich etwas Neues. Okay, sie würde auf der Suche nach einer Unterkunft ihren Radius vergrößern müssen, aber irgendwie würde es weitergehen. Bisher war es noch immer weitergegangen.

Der letzte Streit mit Florent kam ihr in den Sinn, während sie den kurzen Weg zum Gut hinüberging. Sie musste schlucken und verdrängte den Gedanken sofort wieder. Jetzt ging es nicht um die Vergangenheit. Heute begann ihre Zukunft, wie immer sie auch aussehen sollte.

Laut pfiff sie den Refrain von »Guten Tag, liebes Glück« vor sich her. Ja, heute ist wirklich ein guter Tag, um das Glück reinzulassen, dachte sie. Der Hit von Max Raabe erfüllte sie immer wieder mit guter Laune, und die konnte sie im Moment besonders gut gebrauchen. Auf der einen Seite war ihr mulmig bei dem Gedanken, so eng mit Herrn Lehmacher zusammenzuwohnen, da er wahrlich keinen geselligen Eindruck machte. Andererseits empfand sie die Aussicht darauf, wieder auf dem elterlichen Gut zu leben, auch als großes Abenteuer. Und Abenteuern gegenüber war sie noch nie abgeneigt gewesen.

Vor dem noch geschlossenen Holztor des Winzerhofs blieb sie schließlich stehen, atmete noch einmal kurz durch und drückte dann auf die Klingel. Kurz darauf hörte sie, wie die Haustür geöffnet wurde, anschließend Schritte, die sich näherten. Dann öffnete sich der eine Flügel, und Herr Lehmacher stand vor ihr.

»Morgen«, brummte er ihr entgegen.

»Guten Morgen«, erwiderte sie betont fröhlich.

Sie trat durch das Tor, das er hinter ihr verschloss, und ging forschen Schrittes hinüber zum Haus. Dann wandte sie sich zu ihm um.

»Ich habe die Unterlagen dabei. Wollen wir hineingehen oder möchten Sie das Formelle lieber hier draußen erledigen?« Diese kleine Spitze konnte sie sich einfach nicht verkneifen.

»Nein, nein«, antwortete er, ohne im mindesten peinlich berührt zu sein. »Wir gehen in die Küche.«

Mia stieg die Stufen hinauf, betrat die Küche und sah sich drei weiteren Männern gegenüber. Zwei von ihnen trugen die gleiche Arbeitskluft wie Herr Lehmacher: Grün-braune Arbeitshosen und ein frühlingsgrünes Poloshirt mit dem aufgestickten Logo des Guts, das schlicht den Namen Lehmacher in hochgezogenen, eng beieinanderstehenden lilafarbenen Buchstaben darstellte. Klassisch und modern zugleich. Understatement vom Feinsten.

Dann konzentrierte sie sich wieder auf die inzwischen vier Männer, die um sie herum standen. Drei standen, korrigierte sie sich selbst. Der vierte saß mit einem eingegipsten Fuß in der Rundsitzgruppe.

»Ich möchte euch Mia Schumann vorstellen«, erklärte Herr Lehmacher den anderen. »Sie hat sich um die Stelle der Haushaltshilfe beworben.«

Ohne Aufforderung nahm Mia den Stapel Zeugnisse aus ihrem Rucksack, die sie gestern noch ausgedruckt hatte, und reichte sie dem Gutsbesitzer.

Der blätterte sie durch, las das eine oder andere konzentriert und legte sie dann beiseite.

»Ich fürchte, Sie sind absolut überqualifiziert«, meinte er.

»Das macht nichts. Ich freue mich auf die Arbeit hier«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Es ist genau das, was ich im Moment brauche.«

»Ich weiß, Sie hatten gestern davon gesprochen, dass Sie nur etwas für den Übergang suchen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns bis nach der Lese nicht hängen lassen.«

Bevor sie darauf antworten konnte, sprach er weiter: »Und ich denke, es wäre ganz gut, wenn wir uns duzen. Was meinen Sie?«

Mia nickte.

»Okay, mein Name ist Hannes, und dies hier ist Vincent«, erklärte er und deutete auf einen Mann etwa in ihrem Alter, der lässig am Kühlschrank lehnte und ihr ein freundliches Lächeln schenkte. Er war in etwa so groß wie sie selbst, von untersetzter Statur und hatte dunkelblondes, lockiges Haar und warme braune Augen. Er wirkte entspannt und offen. Vielleicht wäre ja er ein netter Gesprächspartner bei zukünftigen gemeinsamen Mahlzeiten.

»Auf der Bank sitzt mein Vater Peter. Er wird dir hier Gesellschaft leisten und kann dir weiterhelfen, wenn du etwas klären möchtest. Und da hinten, das ist Benno, unser Azubi.«

Sie schaute hinüber zu dem jungen strohblonden Mann und zwinkerte ihm verschmitzt zu, woraufhin dieser einen hochroten Kopf bekam.

Mia dachte an ihre eigene Teenagerzeit zurück und schenkte ihm noch ein aufmunterndes Lächeln. Wie er sich als sechszehnjähriger Schlaks fühlen mochte, der noch nicht so genau wusste, wo er mit seinen langen Armen und Beinen hin sollte, konnte sie voll und ganz nachempfinden.

Dann wandte sie sich wieder an Hannes Lehmacher. »Was steht denn für heute auf dem Plan?«

»Wir drei sind quasi schon auf dem Weg zum Mandelstein im Bopparder Hamm, am Lachespfad, unweit der Schutzhütte. Gegen halb eins kannst du uns bitte etwas zu essen hochbringen. Mein Vater wird dir erklären, wo du hin musst. Zu den Abendessen wird Vincent übrigens nicht dabei sein, da musst du jeweils nur für uns vier planen.«

Natürlich kannte sie die Lage Mandelstein und wusste, welche Parzellen davon zum Weingut gehörten. Aber sie würde sich trotzdem anhören, was Peter ihr dazu zu sagen hatte, allein um ihm so einen Anlass zu geben, mit ihr zu sprechen.

»Irgendwelche speziellen Wünsche zur Verpflegung?«, wollte sie wissen.

Ungeduldig schaute Hannes auf seine Armbanduhr. »Lass dir das von meinem Vater erklären, der kennt sich aus.«

Dann nickte er ihr zu, gab seinen Kollegen ein Zeichen, und die Küche leerte sich.

Mia wandte sich um und setzte sich zu Peter Lehmacher in die Rundsitzgruppe. Er wirkte genauso griesgrämig wie sein Sohn, sah ihm aber überhaupt nicht ähnlich. Im Gegensatz zu Hannes war er nur mittelgroß und von schlanker Statur. Sein Haar war grau, und mit seinen blauen Augen betrachtete er sie vorwurfsvoll durch eine Metallbrille.

Warum vorwurfsvoll?

»Irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte sie ihn.

»Nichts ist in Ordnung«, antwortete er, ehe er den Blick abwandte. Hier passte das Sprichwort: Wie die Faust aufs Auge. Wobei sie den Eindruck hatte, dass Peter etwas gegen sie persönlich hatte, während das distanzierte Wesen bei Hannes wohl eher seiner zurückhaltenden Art entsprach.

Nun gut, darüber würde sie sich jetzt erst einmal keine weiteren Gedanken machen. Das würde sich mit der Zeit von selbst klären.

Da Peter Lehmacher ganz offensichtlich keinen Wert auf irgendwelches Geplauder legte, stand sie wieder auf.

»Dann werde ich mich in meinem neuen Zuhause mal ein wenig umschauen und mich in meinem Zimmer einrichten«, erklärte sie und griff nach ihrem Rucksack.

Peter machte nur eine Handbewegung, als wolle er eine Fliege verscheuchen, und widmete sich konzentriert der Rhein-Zeitung, die aufgeschlagen vor ihm lag.

Mia schulterte den Rucksack und verließ die Küche. Sie würde sich ihre gute Laune nicht vermiesen lassen, weder von Peter noch von seinem Sohn. Und jetzt war sie gespannt darauf, auch die anderen Räumlichkeiten ihres alten Zuhauses zu erkunden. Zuerst öffnete sie die Tür, die der Küche gegenüberlag, und lugte in den Raum hinein. Das Büro. Das hatte sich schon hier befunden, als sie noch mit ihrer Familie hier gelebt hatte. Die Einrichtung war moderner geworden, vor allem natürlich die technischen Gerätschaften. Aber es stand noch immer der alte Eichenschreibtisch unter dem Fenster, an dem schon ihr Urgroßvater gesessen hatte.

Sie verschloss die Tür, bewunderte einmal mehr das große Wandbild ihr gegenüber und ging dann den Flur hinunter. Sie war neugierig, was sich wohl hinter der Tür versteckte, die früher noch nicht dort gewesen war.

Ein topmodernes, großzügiges Badezimmer, erkannte sie, als sie sie öffnete. Sogar mit Badewanne! Ihr Herz machte einen Hüpfer. Die hatte es damals nicht gegeben, da die beiden anderen Bäder, im ersten Stock und im Dachgeschoss, nur Platz für eine Dusche hatten. Als sie noch klein gewesen war, hatte es neben der Dusche noch eine Sitzbadewanne gegeben. Die war aber schon vor vielen Jahren, wegen des Einbaus einer geräumigeren Dusche, entfernt worden.

Zudem gab es früher hier unten keine Toilette. Und nun auch noch eine richtige Badewanne, der pure Luxus. Gut gelaunt verschloss Mia die Tür und wandte sich dem Wohnzimmer zu, das sich hinter der letzten Tür im Erdgeschoss eigentlich verbergen sollte.

Und richtig. Quer über die gesamte Hausbreite hinweg erstreckte sich immer noch der große Raum, auch wenn der ehemalige Essbereich inzwischen dem Badezimmer zugeschlagen worden war. Hier im Raum hatte sich einiges an der Einrichtung geändert. Während die eine Hälfte mit Bücherregalen und einer gemütlichen Leseecke eingerichtet war, stand auf der anderen Seite eine moderne schwarze Ledercouch, flankiert von zwei dunkelrot gepolsterten Entspannungssesseln. An der Wand hing ein großer Flachbildfernseher und gab dieser Raumhälfte einen eher männlichen Touch. Nichtsdestotrotz konnte sie sich gut vorstellen, sich hier wohlzufühlen, sollte sie dieses Zimmer mitnutzen dürfen. Vor allem die Leseecke hatte es ihr angetan. Aber sie bremste sich, bevor sie noch anfing, die Regale nach spannender Lektüre zu durchforsten, und verließ den Raum, um nach oben zu gehen.

Direkt die erste Tür hinter der Treppe führte sie zu einem Schlafzimmer, das sie von der Ausstattung her Hannes zuordnen würde. Es war eher minimalistisch, in unterschiedlichen Grautönen und weißen Kontrasten eingerichtet. Das Bett war sorgfältig gemacht, und nichts lag auf dem Boden herum. Hannes schien ein ordnungsliebender Mensch zu sein.

Sie schaute in das Zimmer nebenan und erkannte Peters Schlafzimmer, das immer noch so aussah, als würde es von zwei Personen bewohnt. Rasch schloss sie die Tür, da sie vorerst nicht weiter in seine Privatsphäre eindringen wollte. Irgendwann würde sie hier vielleicht auch saubermachen müssen, aber im Moment fühlte sich ein Betreten dieses Raums für sie einfach falsch an.

Rasch schüttelte sie das bedrückende Gefühl ab, das sie eben überfallen hatte. Bevor sie die Geschichte von Hannes Mutter nicht näher kannte, wollte sie sich darüber auch keine Gedanken machen.

Stattdessen öffnete sie die nächste Tür und erkannte, dass es sich um einen weiteren Raum von Peter handeln musste. Zwei Arbeitstische standen sich unter den beiden Fenstern gegenüber, Staffeleien und Regale voller Malutensilien standen aufgereiht an den Wänden. Erstaunt sah sie, dass ein weiteres Fenster in die Giebelwand gebaut worden war und dem Raum dadurch deutlich mehr Licht verlieh. Ganz eindeutig das Arbeitszimmer eines Künstlers.

Zweier Künstler, korrigierte sie sich selbst. Doch auch hier fühlte sie sich wie ein Eindringling und schloss rasch die Tür. Der nächste Raum war das ehemalige Frauenbad, da ihr Vater immer den kleinen Duschraum unter dem Dach benutzt hatte. Hier hatte sich auf den ersten Blick seit ihrem Auszug nichts verändert. Noch immer hingen die dunkelblauen Gardinen am Fenster, die ihre Mutter damals zu den blau-weißen Bodenfliesen ausgesucht hatte.

Mia war schon gespannt, welches der Bäder Hannes ihr zuweisen würde oder ob sie sich eines mit den Männern teilen musste. Da sie über einige WG-Erfahrung verfügte, war ihr das einerlei.

Sie betrat ihr altes Kinderzimmer, das sie bereits gestern angeschaut hatte, und stellte den Rucksack neben das Bett. Dann trat sie ans Fenster und schaute hinaus. Da das Fenster nach Osten wies, schaute sie von dort aus direkt auf den Rhein und das gegenüberliegende Ufer. Trügerisch träge floss der Strom dahin. Ein Ausflugsdampfer kämpfte sich gegen die Strömung in Richtung Boppard voran. Doch obwohl sie den Rhein liebte, stundenlang an seinem Ufer sitzen und aufs Wasser schauen konnte, fesselte sie am Blick aus dem Fenster ihres Zimmers nach wie vor am meisten die Marksburg, die linker Hand auf einem Felsen über Braubach thronte. Wie oft hatte sie damals hier gestanden und sich in frühere Zeiten geträumt? Wobei ihr dabei niemals das Leben als Prinzessin in den Sinn gekommen wäre. Nein, ein Ritter in schimmernder Rüstung zu sein, war ihr großes Ideal gewesen. Sie wollte sich im Schwertkampf üben und mit ihrem treuen Pferd von Schlachtfeld zu Schlachtfeld reiten. In Zelten schlafen oder eben auf Stroh in der großen Halle der Burg. Etliche Male hatte sie ihren Vater überredet, mit ihr hinüberzufahren und den Geschichten der Führer zu lauschen.

Doch nicht nur die Geschichten der ritterlichen Helden hatten sie brennend interessiert, auch das ganze Drum und Dran, das mit dem Leben auf einer mittelalterlichen Burg einherkam, faszinierte sie. So hatte sie zum Beispiel die Burgküche geliebt, mit all ihren Töpfen und Pfannen, der großen Feuerstelle und vor allem der altertümlichen Kochsäge, an der ein gusseiserner Kessel hing. Wer weiß, vielleicht hatte ihre Liebe zum Kochen bereits dort ihren Ursprung gefunden.

Sie riss sich los von ihren Erinnerungen und wandte sich wieder dem Zimmer zu. Noch wirkte es kalt und leer, weshalb es wirklich schön wäre, wenn sie das eine oder andere Möbelstück auf dem Dachboden finden würde. Vielleicht ein Tischchen und einen Stuhl. Eine Kommode wäre auch nicht schlecht. Sie hatte immer genügend Klimperkram, der am besten in einer Schublade aufgehoben war. Eventuell fand sie sogar ein Bild auf dem Speicher, das sie an die leere weiße Wand hängen konnte.

Leichten Schrittes lief sie hinauf ins Dachgeschoss. Das Zimmer des Azubis lag genau über Hannes’ Schlafzimmer. Mia grinste, während sie die Tür öffnete und die auf dem Boden liegenden Motorzeitschriften inmitten verstreuter Kleidung sah. Sie selbst war mit sechszehn kein bisschen ordentlicher gewesen, was ihr Benno sehr sympathisch machte.

An der Tür zu dem kleinen Duschbad ging sie vorbei und betrat den großen Speicher, der die gesamte übrige Fläche des Dachgeschosses einnahm. Sie blieb stehen und blickte auf das Durcheinander an Möbelstücken aus verschiedenen Epochen, Kisten und Regalen und den dazwischen abgestellten Gegenständen jeglicher Größen und Formen. Das Paradies eines jeden Trödlers.

Die Luft roch nach Muff und Staub. Als sie eines der beiden Giebelfenster öffnete, sah sie eine junge Frau über den Hof laufen. Das musste Katta sein, die zur Arbeit kam. Wenn sie hier oben fertig war, würde sie sich bei ihr vorstellen gehen.

Sie wandte sich wieder dem Speicher zu und ließ ihren Blick über die größeren Möbelstücke wandern. Zwischen einem wuchtigen Schrank und einer alten Wiege sah sie eine kleine Kommode aus glänzendem Birkenholz. Die sich verjüngenden v-förmig angebrachten Holzbeinchen wiesen auf eine Entstehung in den fünfziger Jahren hin. Wahrscheinlich ein Stück aus der Schlafzimmereinrichtung ihrer Großeltern. Sie ging hinüber und hob sie an. Da sie nicht besonders schwer war, würde sie sie gleich mit hinunternehmen. Ein erster Schatz war also gefunden. Nun bräuchte sie noch einen Stuhl oder einen Sessel. In einer Ecke stand ein Cocktailsessel, den sie am ehesten in den sechziger Jahren sah. Zur damaligen Zeit sicher ein topmodernes Möbelstück. Ob das auch eine Anschaffung ihrer Großmutter gewesen war?

Mia ging hinüber und setzte sich darauf. Eine dicke Staubwolke quoll aus dem Polster hervor, und sie musste niesen. Dieses Prachtstück müsste sie erst einmal in den Hof bringen und kräftig ausklopfen, ehe sie ihm anschließend noch mit einem Staubsauger zu Leibe rückte. Aber er war gar nicht so unbequem und würde wunderbar zu dem alten Schrank in ihrem Zimmer passen. Ein rundes, schwarz gebeiztes Tischchen fand sich auch noch unter dem Sammelsurium, und Mia begann damit, ihre Fundstücke nach unten zu schleppen.

Nachdem sich ihr Zimmer mit dem Tisch und der Kommode bereits gut gefüllt hatte, nahm sie auch noch eine weiße Kugellampe mit nach unten, die auf einem der Regale gestanden hatte. So langsam bekam der Raum so etwas wie Atmosphäre. Eine sehr gewöhnungsbedürftige zwar, aber immerhin.

Sie schleppte den Sessel hinaus in den Hof und betrachtete ihn von allen Seiten. Wenn sie sich nicht irrte, müsste das Polster unter all dem Staub lila sein. Volltreffer! dachte sie und klatschte erfreut in die Hände. Heute war wirklich ein schöner Tag.

»Hallo?«, erklang plötzlich eine weibliche Stimme neben ihr.

Mia wandte sich um. Vor ihr stand die Frau, die sie schon aus dem Fenster gesehen hatte. Sie war vielleicht ein wenig jünger als sie, trug ein sommerliches Batikkleid und dazu pinkfarbene Doc Martens. Ihren eigentlich brünetten Pony hatte sie knallblau gefärbt und strahlte sie nun mit ebensolchen Augen an.

»Sie müssen Katta sein«, sagte Mia und reichte der jungen Frau die Hand. »Ihren Nachnamen kenne ich leider nicht.«

»Katharina Freiberg«, antwortete diese und schlug ein. »Aber alle nennen mich Katta, das stimmt.«

»Ich bin Mia Schumann«, stellte sie sich vor. »Die neue Haushaltshilfe. Heute ist mein erster Tag. Hannes meinte, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen, wenn ich Fragen habe.«

»Sicher, gerne. Käffchen? Ich habe mir gerade frischen aufgebrüht.«

Mia nickte und folgte Katta in den Verkaufsraum des Guts. Hinter einem der Regale verbarg sich der kleine Büroraum, in dem sich ebenfalls ein Kaffeevollautomat befand. Hannes Lehmacher schien nicht nur ein Weinkenner, sondern auch ein Kaffeeliebhaber zu sein.

Was ihr nur recht sein konnte. Sie wählte einen Cappuccino und setzte sich Katta gegenüber auf einen der zwei Bürostühle.

»Sollen wir uns nicht duzen?«, schlug Katta vor.

»Sehr gern«, stimmte Mia zu. »Seit wann arbeitest du schon hier?«

»Seitdem Hannes das Gut übernommen hat, also knapp zwei Jahre.«

»Und? Wie ist er so?«

»Heiß?« Katta grinste sie an.

Mia lachte. »Heiß? Meinst du das ernst?«

»Nun, für mich kommt er nicht infrage, ich habe vorläufig die Nase voll von Männern. Aber du musst schon zugeben, dass es einem nicht schwerfällt, ihn anzuschauen.«

»Es ist nicht unangenehm, da muss ich dir recht geben, aber charakterlich wirkt er sehr schwierig.«

»Hannes? Der ist völlig unkompliziert. Solange er in die Weinberge oder in seine geliebte Kelterhalle kann, ist er mit der Welt zufrieden. Sollte allerdings etwas dazwischenkommen, wird er knötterig.«

Erneut lachte Mia. Katta war ihr total symphatisch. »Knötterig? Das ist wirklich passend. Und du schmeißt hier den Laden?«

»Ich mache den Verkauf – auch online. Dazu die Buchhaltung, Pflege der Websites und Verkostung der Weine. In den vier Monaten, in denen die Straußwirtschaft geöffnet ist, wird der Ladenverkauf auch nach drüben verlegt, damit ich die Gäste auch bewirten kann.«

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