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Das Sommerhaus des Glücks

hier erhältlich:

Nahe der Küste von Washington liegt die kleine Insel Spruce Island. Hier, direkt am Strand, wo die Wellen glucksend gegen den kleinen Pier schlagen, befindet sich das malerische viktorianische Sommerhaus »Rainshadow Lodge«. Ein ganz besonderer Ort, an dem drei Frauen je einen Monat verbringen - einen Monat, der ihr Leben für immer verändern wird: Die geschiedene Catherine trifft auf ihre unvergessene Jugendliebe Michael. Die junge Witwe Beth und ihr Teenager-Sohn müssen sich das Sommerhaus mit einem charmanten Fremden teilen. Und die entspannte Rosie ist gezwungen, auf engstem Raum mit dem attraktiven Workaholic Mitch zusammenzuarbeiten.

»Drei der talentiertesten Liebesromanautorinnen überhaupt! »Das Sommerhaus des Glücks« entführt die Leser auf eine paradiesische Insel, wo Herzen zueinander finden und die Liebe regiert.«
Literary Times


  • Erscheinungstag: 03.04.2018
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767891
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Vorwort

Liebe Leserinnen,

haben Sie schon mal einen Ort besucht, an dem Sie noch nie zuvor waren, und haben sich trotzdem sofort zu Hause gefühlt? So ging es mir, als ich zum ersten Mal in den Pazifischen Nordwesten der USA gekommen bin. Es kommt mir gar nicht so lange her vor, dass ich von einer Fähre stieg und ein Paradies entdeckte.

Einige Monate später hatte ich ein Haus mit Blick auf einen entzückenden Hafen gekauft, über dem die Adler kreisen und durch den Segelboote gleiten – ein Ort der Ruhe und des Friedens. Ich stamme zwar von der Westküste, doch mein kleines Stückchen dieser wundervollen Insel ist der schönste Ort, an dem ich jemals gelebt habe.

Über eine Gegend zu schreiben, die mein Herz so durch und durch erobert hat, war für mich etwas ganz Besonderes. Oh, es ist nicht die erste Insel, über die ich schreibe. Vier meiner Bücher spielen auf welchen, und ich habe immer schon gewitzelt, dass ich in einem vergangenen Leben einmal eine Insel gewesen sein muss. Aber das hier ist mein erster Roman, der in der Gegenwart spielt, und zwar an einem Ort, an dem ich lebe.

Ich freue mich sehr über die Möglichkeit, für einen Sammelband mit zwei fabelhaften und talentierten Autorinnen aus dem Nordwesten schreiben zu dürfen, die ich inzwischen beide als gute Freundinnen bezeichnen darf. Susan und Debbie haben mich hier mit offenen Armen willkommen geheißen.

Ich hoffe, dass Sie beim Lesen dieser Geschichten ein wenig von dem miterleben können, was wir hier jeden Tag zu sehen bekommen: Bäume, so üppig und groß, dass sie die Sonne verdecken, Wasser, so still, dass man sich kaum zu atmen traut, und Sonnenaufgänge, so perfekt, dass man glaubt, sie nur geträumt zu haben.

Viel Spaß!

Jill Barnett

1. Kapitel

San Francisco, 1997

Im vergangenen Winter hatte Catherine Wardwell Winslow ein einwöchiges Zeitmanagementseminar besucht, bei dem ihr ein paar Experten von einer großen Bühne herab erklärten, der Mittwoch sei der behäbigste Tag der Arbeitswoche.

Sie hatten gelogen.

Catherine stützte das Kinn in die Hand und starrte ihr Telefon an. Es war Mittwoch, noch nicht mal neun Uhr früh, und trotzdem blinkten vier der fünf Telefonleitungen bereits wie verrückt. Sie wusste nicht, welchen Anruf sie zuerst annehmen sollte. Also nahm sie gar keinen an.

Ihr Leben wäre so viel leichter, wenn sie einer von diesen Zeichentrickrobotern wäre, einer mit Augen, die an Münzschlitze erinnerten, und Kugelnase und spindeldürren Metallarmen und Metallbeinen, die bei jeder Bewegung einknickten. So wie der Haushaltsroboter Rosie in Die Jetsons.

Catherine befand sich jedoch nicht in einem futuristischen Haus, das aussah wie die Space Needle in Seattle, sondern saß in ihrem Büro in San Francisco im dritten Stock eines renovierten Altbaus im viktorianischen Stil. Das Gebäude war nur eines von vielen bonbonfarbenen Giebelhäusern in der steilen, engen Straße, in der inzwischen vornehmlich Zahnarztpraxen und Büros für Anwälte und andere Gutverdiener zu finden waren.

Nun gab auch noch die letzte Telefonleitung ein Übelkeit erregendes Brummen von sich und begann dann, wie die anderen zu blinken. Catherine stöhnte, schloss die Augen, als würde die Welt einfach verschwinden, wenn sie nur nicht hinsah, und ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich als Roboter-Catherine auf Rollenfüßen, die aussahen wie Messingsofabeine, in ihrem Büro herumfahren. Mit ihren klauenartigen Händen, die an die Greifarme eines Spielzeugautomaten erinnerten, klemmte sie sich Aktenordner unter die Arme, rollte hektisch durch ihr chaotisches Büro, schnappte sich Mappen und Berichte, fügte Kostenabrechnungen und Hefter hinzu.

Je mehr Unterlagen sie bearbeitete, desto höher wurden die Stapel auf ihrem Tisch jedoch. Also rollte sie noch schneller herum, von hier nach dort, von dort nach hier. Hektik. Hektik. Hektik.

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch verwandelte sich in ein altmodisches schwarzes Schaltbrett voller kleiner goldglühender Punkte, die blinkten und summten und nur dann aufhörten, wenn Catherine eins von Hunderten schwarzer spinnenähnlicher Kabel hineinsteckte. Aber egal, wie schnell sie stöpselte, die Telefonleitungen blinkten weiter wie Warnleuchten an einem Bahnübergang.

Warnung, Überlastung! Achtung! Achtung!

Und dann …

BUMM!

Mit einem Schlag explodierte Roboter-Catherine zu einer Wolke herumfliegender Schrauben, Muttern und Sprungfedern.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Catherine fuhr erschrocken in ihrem Bürostuhl zusammen und blinzelte. Myrtle Martin, seit fünfzehn Jahren ihre Sekretärin, stand in der Tür und starrte sie an.

»Alles bestens.« Beschämt blickte Catherine zu Boden, dann breitete sie betont geschäftig ein paar Unterlagen auf ihrem Tisch aus.

Myrtle musterte ostentativ erst Catherines Tisch, danach die blinkenden Telefonleitungen. »Du gehst nicht ans Telefon.«

»Ich weiß.« Catherine verbrachte übertrieben viel Zeit damit, einen ohnehin schon ordentlichen Stapel Hefter zurechtzuklopfen. Sie fühlte sich, als wäre sie tatsächlich gerade explodiert und als wären die Schrauben und Muttern, die sie zusammengehalten hatten, dabei so großräumig verteilt worden, dass sie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag würde suchen müssen, um sie alle aufzuklauben.

»Was machst du denn da?«

»Meine Schrauben und Muttern suchen«, murmelte Catherine.

»Die kommen mir seit deiner Scheidung allerdings auch ein bisschen locker vor. Und das ist acht Jahre her, Catherine. Wird Zeit, dass jemand sie mal wieder nachzieht«, erwiderte Myrtle gnadenlos, schloss die Verbindungstür und lehnte sich dagegen.

Catherine schüttelte den Kopf und musste ein Lächeln unterdrücken. Dann schnappte sie sich einen Stapel Unterlagen und stippte sie so oft gegen die Tischplatte, bis die Kanten eine ordentliche Fläche ergaben.

Myrtle starrte sie nach wie vor an.

Catherine blickte auf und versuchte, dabei ruhig, gelassen und auch ansonsten wie die personifizierte Herrin der Lage zu wirken.

Ihre Sekretärin stand einfach nur da, den Rücken kerzengerade gegen den Türknauf gepresst und einen wissenden Ausdruck auf dem Gesicht.

Es war unmöglich, sie zu ignorieren. Vollkommen unmöglich. Weil Myrtle Martin nämlich eine neue Haarfarbe hatte. Orange. Kreischendes Orange, um genau zu sein.

Catherine war nicht bewusst gewesen, dass es Haarfarben gab, deren Anblick Augenschmerzen verursachen konnten. Einen kurzen Moment lang verspürte sie ernsthaft den Drang, ihre Sonnenbrille zu zücken.

Im Januar hatte Myrtle sich das Haar tintenschwarz gefärbt, sich einen Schönheitsfleck auf die Wange gepinselt und sich dicke, gebogene Augenbrauen à la Die Nacht des Leguan gemalt. Dazu hatte sie Outfits mit Animalprint und riesigen Strassschmuck getragen. Zu der Zeit war sie mit einem Waliser namens Richard zusammen gewesen.

Myrtle kam mit einem ihrer »Du-brauchst-mich-jetzt-damit-ich-dir-ganz-genau-erkläre-was-gut-für-dich-ist«-Blicken auf sie zu. Sie hatte nur zwei Wochen freigehabt, doch das Büro sah aus, als wäre sie ein Jahr lang fort gewesen.

Catherine wappnete sich innerlich für eine Standpauke, aber stattdessen stemmte Myrtle nur ihre Hüfte gegen die Tischkante, hob den Hörer ab und drückte auf eine Reihe von Knöpfen. »Ms. Winslow ist heute leider nicht zu sprechen.«

Puff! Und weg war Leitung eins.

»Ms. Winslow befindet sich in einem Meeting und darf nicht gestört werden.«

Leitung zwei: weg.

»Ms. Winslow ruft Sie so bald wie möglich zurück.«

Leitung drei: weg.

Leitung vier widerfuhr dieselbe Behandlung.

Myrtle drückte auf Leitung fünf. »Ja? M-hm, richtig. Wer? Oh, hallo! Ja, mir geht es blendend. M-hm. M-hm … ja, ich hab es gestern Abend gefärbt.« Sie lächelte und tätschelte ihre Hochsteckbanane. »Flambeaux-Rot. Ja, sehr leuchtend. Mir gefallen kräftige Farben auch. Catherine? Ja, sie sitzt gleich neben mir.« Myrtle warf ihr einen langen, musternden Blick zu. »Einen Hosenanzug natürlich. In Schwarz«, fügte sie hinzu, als würde sie eine Kakerlake beschreiben.

Catherine blickte auf ihren taillierten schwarzen Hosenanzug hinab und runzelte die Stirn. Sie mochte ihr Outfit. Es passte zu ihrer Stimmung.

»Was sie macht?« Myrtle warf ihr ein fieses kleines Lächeln zu. »Sie werden es nicht glauben, aber Ihre Tochter ist gerade auf der Suche nach Mutte…«

Catherine riss Myrtle das Telefon aus der Hand und bedachte sie mit einem giftigen Blick.

Myrtle zeigte sich allerdings völlig unbeeindruckt und ließ sich auf den Stuhl gegenüber sinken, von wo aus sie die Unterlagen auf Catherines Schreibtisch sortierte.

»Hi, Mom. Myrtle hat sich nur einen Spaß erlaubt. Nein, alles in Ordnung, ich bin nur ein wenig erschöpft. Hm? … Mandeln? Wieso sollte ich denn Mandeln brauchen?«

Catherine verstummte und lauschte ihrer Mutter, weil sie nun einmal ihre Mutter war und es Dinge im Leben gibt, die sich nie ändern. Schließlich atmete sie tief durch und sagte: »Ich weiß, dass Mandeln gut für die Konzentrationsfähigkeit sind.« Dann hielt sie das Mundstück des Hörers zu und simulierte ein Kopfschussszenario für Myrtle, während sie sich von ihrer Mutter die weiteren Vorzüge des neusten Wundermittels ihrer Wahl aufzählen ließ.

Fünf Minuten später – ihr Blick war schon glasig, und sie kannte nun die vollständige Geschichte der Mandel als Nutzpflanze – sagte sie: »Aber natürlich habe ich zugehört, Mom. Ich habe jedes einzelne Detail mitbekommen.« Dann holte sie tief Luft und sprach hastig, um ein paar Worte in den Redefluss ihrer Mutter einschieben zu können: »Also, ich muss jetzt los. Ich wünsch dir eine gute Reise. Nein danke, ich brauche keine Rauchmandeln.«

Sie verzog das Gesicht und massierte sich die pochende Stirn. »Ja, ich erinnere mich, wie gern Dad die mochte. Ich hab dich auch lieb. Und ich verspreche, dran zu denken, den Mädels zu erzählen, wie gesund Mandeln sind.« Sie hielt inne, dann fügte sie in weicherem Tonfall hinzu: »Ja, ich muss auch immer weinen, wenn ich an Mandeln denke, Mom.«

Sie seufzte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Inzwischen verteilen sie im Flugzeug Salzbrezeln.« Sie brach ab und verlagerte ihre Massage auf den Nasenrücken. »Ich weiß auch nicht, wieso.« Den Blick auf ihre Schreibunterlage gerichtet, fuhr sie fort: »Ich weiß, dass Dad Salzbrezeln gehasst hat … Nein!« Sie fuhr in ihrem Stuhl hoch. »Nein, nicht den Flug canceln!« Panisch suchte sie Myrtles Blick und strich sich hektisch durchs Haar, dann fügte sie ruhiger hinzu: »Bitte, Mom. Du musst diese Reise machen. Das wird dir guttun.«

Es folgte eine Pause, die sich schier endlos in die Länge zog. Catherine saß mucksmäuschenstill da und lauschte mit angehaltenem Atem der Stille am anderen Ende der Leitung. Doch endlich stimmte ihre Mutter zu.

Catherine atmete aus und sank wieder auf ihrem Stuhl zusammen.

»Ja, es wäre wirklich ganz schön kompliziert, den Flug jetzt noch zu canceln. Amüsier dich gut. Die Mädchen werden dich auch vermissen. Tschüss, Mom!« Sie legte auf und versuchte, Myrtle mit einem bitterbösen Blick zu grillen.

Ihre Sekretärin beugte sich nur vor und klatschte ein paar Geldscheine auf den Tisch. »Ich wette zehn Dollar darauf, dass hier eine Kiste Mandeln eintrudelt, ehe die Woche vorbei ist.«

Catherine zog ihre Schreibtischschublade auf und warf eine Banknote neben Myrtles. »Zwanzig, dass sie schon morgen früh ankommt.« Sie verstummte kurz, dann fügte sie spitz hinzu: »Etwa um dieselbe Zeit, zu der du dein Kündigungsschreiben auf dem Tisch hast.«

»Du? Mich feuern?« Myrtle winkte mit einem müden Lächeln ab. »Jeder sonst würde dich doch zu Tode langweilen. Und außerdem brauchst du mich.«

»Ich brauchte auch heftige Wehen, um meine Kinder zur Welt zu bringen.«

Myrtle brach in schallendes Gelächter aus.

Eine Kündigung war eine lächerliche Drohung, weil sie beide wussten, dass Catherine ohne ihre Sekretärin vollkommen hilflos war. Das zugemüllte Büro war der beste Beweis dafür.

Mit den Jahren hatte sich aus ihrer Geschäftsbeziehung eine Freundschaft entwickelt. Catherines Töchter nannten Myrtle Martin »Tante Martin«. Es war Myrtle Martin gewesen, die sie in den Monaten, nachdem ihr Mann Tom sie sitzenlassen hatte, an jedem einzelnen schrecklichen Tag zum Lachen gebracht hatte. Und er hatte nicht nur sie im Stich gelassen, sondern, was noch viel herzzerreißender war, auch seine kleinen Töchter. Weil sie ihm das Leben zu kompliziert machten. Myrtle war die Erste gewesen, die sie anrief, als ihr Exmann zwei Jahre nach der Scheidung starb, und auch, als vor sechs Monaten ihr Vater überraschend bei einem Unfall ums Leben gekommen war.

Während sich Myrtle daranmachte, das Büro aufzuräumen und die Unterlagen zu sortieren, stieß sich Catherine vom Tisch ab und stand auf, um in das kleine Bad zu gehen, wo sie den alten Inhalt einer Kaffeetasse wegkippte und sich mit den Händen auf den Waschbeckenrand stützte. Sie beugte sich zum Spiegel vor und fragte sich, ob es wirklich ihr Gesicht war, das ihr da entgegenblickte.

Sie sah aus wie ihre Mutter. Und ihre Großmutter. Blondes Haar, braune Augen, genauso wie die beiden, nur dass auf ihrer Nase ein paar Sommersprossen prangten, die nie wieder verblasst waren, obwohl ihre Haut seit Jahren keinen ernstzunehmenden Sonnenkontakt mehr gehabt hatte. Sie waren einfach geblieben, als Erinnerung an einen Sommer, in dem sie sich einen schlimmen Sonnenbrand geholt hatte.

Sie hörte Myrtle im Büro vor sich hin murmeln und trat in die Tür. »Redest du mit mir?«

»Ja.« Myrtle warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Ich sagte gerade, eigentlich bist du diejenige, die eine Auszeit auf den griechischen Inseln braucht.«

Catherine schloss die Toilettentür und durchquerte das Büro. »Was ich wirklich brauche, ist eine effiziente Urlaubsvertretung für dich.« Sie setzte sich.

Myrtle drehte sich zu ihr um. »Zumindest mache ich Urlaub.«

»Ich mache auch Urlaub.«

»Wann?«

Catherine hob das Kinn. »Ich bin mit den Mädchen nach Disneyland gefahren!«

»Da waren sie zwei und sechs.«

Inzwischen waren Catherines Töchter elf und fünfzehn. »Und in New Orleans war ich auch, weißt du noch?«

»Ja, weiß ich noch.«

»Super.«

»Zu der Zeit war Reagan Präsident.«

»So ein Quatsch.«

»Na ja …« Myrtle winkte dramatisch ab und pfefferte eine Schublade des Aktenschranks zu. »Dann war es eben Bush. Jedenfalls erinnere ich mich, dass es einer von den guten alten Republikanerjungs war.«

Catherine musterte die Papierstapel auf ihrem Tisch. Sie hatte so viel zu tun. »Ich kann jetzt nicht einfach wegfahren …« Das letzte Wort ließ sie im Raum verklingen, weil sie feststellte, dass Myrtle lautlos mitsprach.

Halb überrascht, halb beschämt sah Catherine ihre Assistentin an. Sie konnte ihre ewigen Ausflüchte, die ewig gleichen Ausreden, ja selbst nicht mehr hören.

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Sie fühlte sich, als hätte jemand einen riesigen Amboss auf sie fallen lassen. Einen, auf dem das Wort »Rabenmutter« stand. Sie barg das Gesicht in den Händen. Noch immer sah sie die Aufregung in Alys und Danas kleinen Gesichtern, als sie zum ersten Mal vor dem Dornröschenschloss gestanden hatten.

Es waren einmal zwei kleine Mädchen, die vor Ehrfurcht erstarrten, wenn sie Goofy, Micky Maus und Co. vor sich sahen. Aber gerade erst letzte Woche hatte Aly ein Poster mit den Hansons über ihr geliebtes Die-Schöne-und-das-Biest-Plakat gekleistert, und Dana war nach einer Übernachtungsparty bei einer Freundin mit ihrem dritten Loch oben in einer ihrer Ohrmuscheln nach Hause gekommen.

Catherine ließ sich gegen die Stuhllehne sinken und suchte Myrtles Blick. »Ist das wirklich schon so lange her?«

»Ein paar Jahre sind das allerdings, seit du zuletzt mit Aly und Dana verreist bist.«

Seitdem waren die Mädchen jedes Mal nur mit den Großeltern im Urlaub gewesen und hier und da auch mal eine Woche im Sommerlager. Die vertrauten Alleinerziehende-und-berufstätige-Mutter-Schuldgefühle trafen Catherine wie ein Faustschlag.

Es hatte immer so wunderbar geklungen, wenn ihre Eltern die Mädchen an irgendeinen aufregenden Ort mitnahmen. Und zufälligerweise fielen diese Reisen stets ausgerechnet auf die Termine, zu denen sie wichtige Präsentationen hatte. Rückblickend kam sie sich nun fürchterlich egoistisch vor.

In ihrer Kindheit und Jugend waren ihre Eltern fast jeden Sommer mit ihr nach Washington gefahren, in eine wunderbare, schindelverkleidete Villa im viktorianischen Stil auf einer kleinen Insel der San Juans. Die Sommer waren unbeschwert und frei gewesen, eine vergangene Zeit, in der die Luft sauber war und der Himmel blau und sie vom klagenden Geschrei der Möwen oder dem weichen Prasseln von Regen auf dem Dach geweckt wurde. Ein Ort, an dem der Sonnenaufgang und der Mond am Himmel die einzige Zeit vorgaben, an die sich jemand hielt.

Auf Spruce Island hatte sie mit sieben Jahren die Namen aller Sterne und Sternenkonstellationen erlernt, weil es dort keinen Fernseher gab, über den man ihr einreden konnte, dass die wirklich wichtigen Sternchen menschlich waren und in Hollywood lebten.

In einer dunklen Sommernacht am Meeresufer hatte sie ihren ersten Marshmallow geröstet und im flackernden Schein des goldenen Strandfeuers ihre erste Geistergeschichte gehört. Und auf eben dieser Insel hatte sie an einem kühlen Morgen, wie er in dieser Gegend häufiger vorkam, ihren ersten Fisch gefangen – einen fünfzehn Zentimeter langen Wels, den ihr Vater entgegen den Spielregeln ausnahmsweise einmal nicht zurück ins Wasser warf.

Hier hatte sie das Schwimmen gelernt, das Segeln und auch das Küssen. Denn es war während eines melancholisch-schönen Sommers in den Sechzigerjahren gewesen – damals, als sie Yardley-Seife benutzte, sich wie Jean Shrimpton kleidete und ihr langes Haar mit dem Glätteisen bearbeitete –, als sie die Liebe kennenlernte.

Mit Michael.

Wehmut, die häufig mit dem Gedanken an Dinge, die hätten sein können, einhergeht, überkam sie. Das Bild von ihm, das sie vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor, weckte gemischte Gefühle bei ihr, und sie fragte sich, ob er wirklich so groß, so ernsthaft gewesen war, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Michael Packard war zwanzig gewesen und hatte auf die siebzehnjährige Spätzünderin, die schon mit elf in ihn verknallt gewesen war, unglaublich reif und geheimnisvoll gewirkt.

Mit seinen zwanzig Jahren hatte er damals bereits die Stärke und Sanftheit eines Mannes besessen, Eigenschaften, die sie von ihrem Vater kannte, aber von keinem der jungen Männer in ihrem Umfeld. Die Jungen in ihrer Heimatstadt interessierten sich nur für schnelle Autos und Mädchen, die leicht zu haben waren. Sie tranken Colt-45-Starkbier, hatten Marlboro-Päckchen in der Tasche ihrer kurzärmligen Karohemden und cruisten in polierten Schlitten mit lautem Motor und breiten Reifen durch die Straßen.

Michael war anders als diese Jungen. Auch heute noch, rund dreißig Jahre später, konnte sie sich an vieles an ihm erinnern: wie seine Stimme klang, wenn er ihren Namen sagte, an seine langen, gebräunten Beine, ausgestreckt in der kleinen Schaluppe, mit der sie in eine abgelegene Bucht gesegelt waren. An seine wunderbaren Hände und wie sie den Anker hochwuchteten, ihre Initialen in ein Stück Holz schnitzten und mit derselben Selbstverständlichkeit eine Träne von ihrer Wange wischten.

In jenem Juni hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt – in diesen dunkelhaarigen jungen Mann mit der tiefen, ruhigen Stimme, die klang, als entspränge sie seiner Seele. Er hatte die Augen eines Dichters, Augen, wie sie sie von Schwarzweißfotos von Laurence Ferlinghetti und Bob Dylan kannte, Augen, die einem direkt ins Herz blickten, besonders wenn man erst siebzehn war. Seine hungrigen Blicke ließen ihr verträumtes junges Herz dahinschmelzen wie die Kokosbutter, die sie auf ihrer sonnengebräunten Haut verteilten. Und er gab ihr lange, verzehrende Küsse, die wohl selbst den Nebel über dem Puget Sound zum Verdampfen gebracht hätten.

»Du liebes Lieschen, woran denkst du denn gerade?«

Catherine setzte sich aufrecht hin und sah Myrtle erschrocken an. »An nichts Besonderes. Wieso?«

»Weil du ausgesehen hast, als würdest du dir ein Schäferstündchen mit George Clooney ausmalen.«

Catherine lachte auf und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich nur an einen lang, lang zurückliegenden Sommer erinnert.«

»Muss ein ziemlich heißer Sommer gewesen sein.«

Heiß war er allerdings gewesen, so heiß, dass er all ihre jugendlichen Träume zu einem Häufchen Asche verbrannt hatte. Sie blickte auf und warf Myrtle einen schiefen Blick zu. »So heiß kann er nicht gewesen sein. Ich war schließlich erst siebzehn.«

Myrtle zählte ungerührt an den Fingern ab: »Lolita, Kleopatra …«

»Und inzwischen bin ich siebenundvierzig«, schnitt Catherine ihr das Wort ab, weil sie nicht weiter über längst Vergangenes reden wollte. Besser, sie schloss all das wieder weg in einen geheimen Teil ihres Herzens, den Ort, an dem ihre Tagträume begannen und genügend Was-wäre-Wenns für ein ganzes Leben verborgen lagen.

»Ich bin fünfundfünfzig«, sagte Myrtle. »Und lasse ich mich davon aufhalten?«

»Dich kann nichts aufhalten.«

»Ich weiß.« Myrtle grinste.

»Es ist einfach zu harte Arbeit, einen Partner zu suchen und eine neue Beziehung aufzubauen. Für so was habe ich keine Zeit, besonders jetzt nicht, wo die wichtigste Präsentation meiner Karriere nur einen Monat entfernt ist.«

»Letni Corporation?«

Catherine nickte.

»Ich dachte, die wollen sich erst im September ernsthaft Gedanken machen.«

»Dachte ich auch, aber kurz bevor du reingekommen bist, haben sie mich angerufen. Sie haben die Präsentation auf den ersten Dienstag im Juli vorverlegt.«

Nun schien es Myrtle ausnahmsweise doch einmal die Sprache verschlagen zu haben. Ihre Sekretärin wirkte genauso verblüfft, wie sie es gewesen war, nachdem sie am Morgen mit Letni gesprochen hatte.

Catherine musste ein Lächeln unterdrücken, als sie sagte: »John Turner ist gefeuert worden.«

Myrtle unterdrückte ihr Lächeln nicht, es war eins von der gemeinen Sorte, das Lächeln einer Katze, die schon längst weiß, dass die Maus ausgespielt hat.

»Ohne Turner haben wir endlich mal eine echte Chance, Westlake zu schlagen.« Catherine hörte sich die eigene Aufregung an. »Ein Großkunde wie Letni ist unsere Chance. Das ist der Moment, auf den wir immer gewartet haben!«

Letni, der weltweit größte Computerchiphersteller, wollte aus dem steuerlich unvorteilhaften Kalifornien in zwei neue Bundesstaaten expandieren: Washington und Arizona. Im Rahmen des Zehn-Jahres-Plans des Unternehmens würden Tausende Angestellte umziehen müssen.

Catherines Herz klopfte ein wenig schneller bei dem Gedanken, dass sie diesen Auftrag vielleicht tatsächlich ergattern konnte. »Die Umsiedlungen alleine würden schon reichen, damit wir zehn Jahre lang schwarze Zahlen schreiben.«

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch begann zu summen und gelb zu blinken.

Myrtles und Catherines Blick schossen unisono zu dem Gerät.

Innerhalb weniger Sekunden leuchteten vier weitere Lämpchen.

Catherine schloss die Augen und lehnte sich frustriert seufzend zurück.

Myrtle öffnete die Tür zum Vorzimmer. »Ich kümmere mich um die Anrufer. Und den Rest des Tages stelle ich nur dringende Gespräche durch, versprochen.«

Catherine warf ihr ein schwaches Lächeln zu, dann fiel die Tür ins Schloss, und sie saß alleine da und fühlte sich verloren, verwirrt und zerstreut, weil sie einfach nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Nach einigen Sekunden, in denen das einzige Geräusch das Ticken der Wanduhr war, schnappte sie sich einen Stapel mit Rechercheergebnissen, setzte ihre Zweistärkenbrille auf und klappte den ersten Ordner auf.

Die Worte verschwammen, und ein attraktives Gesicht aus ihrer Jugend blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Ehe sie zu lesen begann, fragte Catherine sich einen seltenen, zarten Moment lang, was wohl aus Michael Packard geworden sein mochte.

2. Kapitel

Er stand am Ende eines langen Bootsstegs. Die Brise, die vom Wasser heranwehte, zerzauste ihm das Haar, so wie es schon vor dreißig Jahren gewesen war. Er war jetzt fünfzig, und sein Haar war zwar noch dunkel, aber über den Schläfen, den Ohren und der Stirn zeigten sich die ersten grauen Strähnen. Und jedes einzelne dieser grauen Haare hatte er sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit Millionen internationaler Flugmeilen verdient.

Seine Augen waren eisblau, und alle, die im Lauf der Jahre den Fehler gemacht hatten, ihm in die Quere zu kommen, hatten schnell feststellen müssen, dass hinter diesen Augen ein scharfer und kühl kalkulierender Verstand lauerte – der Verstand und die Kälte eines Mannes, der anderen mit einem einzigen harten Blick den ihnen gebührenden Platz zuweisen konnte.

Tief in den Winkeln dieser kühlen Augen lagen versteckt Lachfältchen, die seine wenigen engen Freunde häufig zu sehen bekamen. Eben diese Fältchen bewiesen all jenen, die ihm zum ersten Mal die Hand schüttelten, dass er gelebt hatte, und zwar lange genug, um genau zu wissen, wie er an das kam, was er wollte.

Sein Gang war entspannt und locker, der Gang von jemandem, der sich wohlfühlte mit der Macht, über die er verfügte. Hin und wieder knarrten die alten Bohlen, als wolle das Holz gegen Michaels Schritte protestieren. Er war auf dem Weg zum Bootshaus, das am Ende des Stegs stand und noch grauer und verwitterter war als er.

Das Bootshaus stand schon lange Zeit. Es war bereits dort, als er zum ersten Mal einen Fuß auf Spruce Island setzte. Damals war er dreizehn gewesen, verwaist und wütend auf eine Welt, in der Eltern am Morgen mit ihrem Sohn am Frühstückstisch sitzen und am Abend desselben Tages bei einem Autounfall ums Leben kommen konnten.

An seinem ersten Tag auf der Insel war er, aufgebracht und voll vorgespieltem Selbstbewusstsein, an dem alten Bootshaus vorbeimarschiert auf dem Weg zu einem Großvater, über den er seine Eltern in der Vergangenheit nur äußerst selten hatte reden hören.

Mit seinen dreizehn Jahren hielt er die Insel für ein hinterwäldlerisches Nichts am Arm der Welt. Sein Großvater war für ihn ein Fremder, der an einem fremden Ort lebte, jemand, der ihn nicht kannte, nun aber plötzlich die Macht über sein Leben hatte. Die Insel kam ihm vor wie Alcatraz. Er hatte Angst gehabt.

Heute, wie er hier auf dem Steg stand, war er älter und weiser. Ein wenig erschöpft vom Leben. Die Empfindungen aus seiner Jugend waren verschwunden, waren einem Gefühl für die Freiheit gewichen, die die Insel bot. Er erkannte, wie besonders dieser Ort war, der niemals von kalten Freeways seziert worden war.

Die Insel war üppig und grün, umgeben von glasklarem, silbrigem Wasser anstelle silbern verglaster Wolkenkratzer. Fichten, Zedern, Ahorn und Douglastannen tupften die zerklüfteten Felsrücken, die sich in der Inselmitte erhoben, und die nackten Klippen und schmalen Buchten, in denen sich Vögel durch die klare Luft schwangen.

Einen Augenblick lang stand er reglos da und starrte hinauf in den klirrend blauen Himmel über Cutters Cove, wo ein großer, dunkler Vogel seine Kreise zog. Überrascht sah er genauer hin. Das Tier hatte einen majestätischen weißen Kopf. Michael schirmte mit einer Hand seine Augen vor der Sonne ab und beobachtete den Flug des Adlers.

Als der Vogel außer Sicht war, schob er die Hände in die Hosentaschen zurück und sog tief die kalte, feuchte Luft des frühen Vormittags ein. Auf Spruce Island relativierten sich seine Sorgen, ein Gefühl, das ihn ein wenig demütig werden ließ und ihm seltsam willkommen war.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er dagestanden hatte, und es spielte auch keine Rolle, weil es keinen Flieger gab, den er erwischen musste. Kein Meeting, bei dem er erwartet wurde. Keine Aktionäre, die er zu besänftigen hatte. Keinen Deal, bei dem es ums Ganze ging. Hier konnte er einfach nur … sein.

Als er sich schließlich wieder bewegte, tat er es langsam und mit Bedacht. Er öffnete die Tür zum Bootshaus, die mit ihrem lauten Quietschen die schwarzen Krähen vertrieb, die auf dem alten Schindeldach kauerten. Er duckte sich und trat ein.

Die Sonne stahl sich durch die Scheiben der grob gearbeiteten, mit den Jahren verwitterten Fenster und warf Streifen aus milchigem Licht in einem Karomuster auf den Boden, das an ein riesiges Schaltbrett erinnerte. Dichte Spinnweben wiegten sich in den Sonnenstrahlen. Er roch den metallischen, nassen Duft der Algen, die sich hier in der Gegend sofort auf Holz festsetzten.

Michael stieg über einige Teakholzpaddel und warf eine abgenutzte orangefarbene Rettungsweste beiseite, die Wasser, Luft und die Jahreszeiten hart wie Beton hatten werden lassen. Ein paar Schritte weiter, und er strich mit der Hand über die alten Bretter entlang der Fenster. Vorgebeugt und mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Holzverkleidung. Er hatte seine Brille zusammen mit seinem Handy, dem elektronischen Kalender und seiner Aktentasche in der Hütte gelassen.

Mit einer Vorsicht, die seine Geschäftspartner ihm wohl niemals zugetraut hätten, streichelte er die alten Zedernholzbretter.

Und doch bewegte er seine Hände nur ganz sachte, genauso wie er vor fast dreißig Jahren ihre Tränen fortgewischt hatte. Auf einmal hielt er inne, die Finger wie erstarrt über einer zersplitterten Stelle. Dort, auf den Brettern, stand in zackigen Lettern: MP+CW.

Sommer 1960

Bei ihrer ersten Begegnung war er vierzehn und sie elf. Er hatte eine Erledigung für seinen Großvater zu machen und lief den Kiesweg von der Hütte seines Großvaters aus durch den Wald bis zum alten Sommerhaus.

Sie hing kopfüber von einer großen Fichte, die knochigen Knie über einen dicken, niedrig wachsenden Ast gelegt, und schwang vor und zurück, sodass ihre langen blonden Zöpfe herumbaumelten wie Tarzans Lianen. Dabei summte sie »Alley Oop« und machte die größte pinkfarbene Kaugummiblase, die er jemals gesehen hatte.

Er hatte nicht gewusst, dass man gleichzeitig summen und Kaugummiblasen machen konnte. Als er an ihr vorbeilief, platzte die Blase mit einem lauten Plopp.

»Wer bist du?« Sie schwang sich hoch und stützte sich mit den Armen auf dem Ast ab, sodass eins ihrer Beine rittlings über den Ast hing und das andere hinten herabbaumelte, und beäugte ihn von oben.

Fichtennadeln und Blütenstaub rieselten auf ihn herab. Er sah sie genervt an und rieb sich über Gesicht und Kopf. Auf Höhe seiner Nase hing ein Paar roter Leinenschuhe ohne Schnürsenkel. Auf den abgewetzten Gummispitzen stand das Wort Keds. Sein Blick glitt ihre sommersprossigen, schlaksigen Beine und die aufgeschürften Knie hinauf bis zu ihrem kleinen Gesicht mit der empörten Miene, das an das einer Trollpuppe erinnerte.

»Ich hab gefragt, wer du bist«, wiederholte sie, als wäre sie die Inselkönigin.

»Ich suche einen Mr. Wardwell.«

»Oh.« Sie machte noch eine Kaugummiblase, sog sie ein Stückchen ein und ließ sie schließlich auf unerträglich nervige Art platzen.

Dann fragte sie: »Was willst du denn von ihm?«

»Geht dich nichts an, du Zwerg.« Michael kehrte ihr den Rücken zu und folgte dem Kiesweg, der auf die alte Villa zuführte.

Sie sprang vom Baum und tauchte neben ihm auf. »Ich heiße nicht Zwerg, sondern Catherine.«

Er brummte irgendeine Antwort und lief weiter.

»Hey! Wie heißt du denn?«, rief sie ihm hinterher.

»Für dich Mr. Packard«, erwiderte er, um sie zu ärgern.

»Du bist nicht Mr. Packard«, sagte sie und hüpfte neben ihm her. »Mr. Packard ist älter und größer, und er hat graue Haare und einen Hund namens King Crab.«

Michael ignorierte sie.

»Und er ist nicht so ein Muffel wie du.«

Er blieb stehen und sah sie an.

Ihre Miene forderte ihn heraus, bloß weiter zu versuchen, sie zu ignorieren.

»Das ist mein Großvater«, erklärte er ihr und setzte sich wieder in Bewegung.

Sie hielt Schritt und sagte nichts mehr, aber er konnte spüren, wie sie ihn musterte. Also sah er sie sich noch einmal genauer an. Ihm fiel nichts Besonderes an ihr auf, nur ein ausdrucksstarkes Gesicht mit skeptischen braunen Augen in der Farbe von Dunkelbier.

Sie hatten nun den schmalsten Abschnitt des Klippenpfads erreicht, der an dieser Stelle parallel am Wasser entlangführte. Er wurde langsamer. »He, Zwerg, sei vorsichtig.« Er packte sie am Arm. »Hier geht es ganz schön steil nach unten. Wenn du die Klippen runterfällst, landest du im Wasser. Und das ist ganz schön kalt.«

Stirnrunzelnd musterte sie seine Hand, die um ihren Arm lag. Dann wand sie sich mit einem Ausdruck sturen Unabhängigkeitsdrangs aus seinem Griff und sah zu ihm hoch. Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte sie ihn nur an.

»Wir kommen jeden Sommer her. Aber dich hab ich hier noch nie gesehen.«

Er hatte nicht vor, irgendeinem kleinen Mädchen zu erzählen, warum es ihn hierher verschlagen hatte, doch sie wollte einfach nicht die Klappe halten.

»Also, wo kommst du her?«

»Der Storch hat mich durch den Schornstein fallen lassen.«

»Sehr witzig.« Fast unhörbar schob sie nach: »Blödian.«

Beinahe hätte sie ihn damit zum Lachen gebracht.

Als er nichts erwiderte, sagte sie piepsig: »Nur damit du’s weißt, ich bin kein Baby mehr.«

Er schnaubte und lief weiter.

»Ich weiß alle möglichen Sachen, zum Beispiel warum das Meer blau ist.«

Er ignorierte sie.

»Und wieso Flugzeuge fliegen können und warum Motoren Öl brauchen …« Sie verstummte, als würde sie darauf warten, dass er sie aufforderte, ihr Wissen unter Beweis zu stellen.

Als er noch immer schwieg, verkündete sie: »Und ich weiß alles über Sex.«

Er blieb stehen und sah auf sie hinunter. Und dann musste er lachen, diesmal wirklich. Laut und lange, weil sie so fürchterlich albern war.

Sie stemmte die Fäuste in ihre jungenhaften Hüften, hob das Kinn und sagte: »Ist aber so.«

Doch er schüttelte nur den Kopf und ging weiter den Pfad entlang. Er konnte hören, wie sie hinter ihm herlief.

»Na los! Frag mich was.«

»Nein.«

»Aber ich weiß …« Und dann gab sie einen lauten Schrei von sich.

Michael fuhr herum.

Eben stand sie noch schwankend auf der Klippenkante, doch ehe er nach ihr greifen konnte, purzelte sie auch schon den Hang hinunter aufs Wasser zu, wobei sie brüllte wie am Spieß.

Er lief ihr fluchend hinterher, rutschte, die Füße voran, die steile Böschung hinab.

Sie schrie weiter und weiter, bis sie am Fuß der Klippe ins Wasser fiel. Steine, Erde und Schlamm rollten wie eine kleine Lawine vor ihm nach unten. Die ganze Zeit über suchte er die spiegelglatte Wasseroberfläche ab, wartete, dass ihr albernes kleines Köpfchen wieder auftauchte.

Doch da war nichts.

Er wurde panisch und legte die restliche Strecke mit einem halben Kopfsprung zurück. Keinen Meter von der Stelle entfernt, an der sie untergegangen war, landete er im Wasser und tauchte nach ihr.

Das Wasser war hier tief und eiskalt. Das Mädchen war hysterisch, trat um sich und ruderte mit den Armen wie jemand, der nicht schwimmen kann.

Er klemmte sich ihren zuckenden, mageren Körper unter den Arm und stieß sich vom Seegrund ab. Sie hörte auf, um sich zu treten, und umschloss mit ihren kleinen Händen fest seinen Unterarm, während sie gemeinsam emporglitten.

Ihr Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, und er merkte, dass sie nach Luft schnappte. Er schwamm durchs Wasser und zog sie mit sich in Richtung des steinigen Uferstreifens. Dort kroch er an Land, den schlaffen Körper des Mädchens im Schlepptau.

Als sie sicher den Kiesstrand erreicht hatten, kam wieder Spannung in ihre Gliedmaßen, und sie rollte sich von ihm weg. Dann lag sie einfach nur da, das Gesicht in eine ihrer Armbeugen gedrückt. Ihr Rücken hob und senkte sich mit jedem schweren Atemzug. Als sie zu husten begann, wusste er, dass er keine Angst mehr um sie zu haben brauchte.

Er setzte sich auf, stützte die Arme auf die Knie und beobachtete das Mädchen. Nach einer Minute sah er ein braunes Auge unter einem knochigen Ellbogen hervorspähen. Er schüttelte den Kopf und warf ihr einen strengen Blick zu. »Du musst aufpassen, wo du hinläufst, Zwerg.«

Sie wühlte ihr Gesicht noch tiefer in ihre Armbeuge und murmelte etwas vor sich hin.

»Was hast du gesagt?«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich habe gesagt, dass ich absichtlich gestürzt bin.« Sie schob das Kinn vor wie das Muli, das er einmal gesehen hatte. »Ich wollte wissen, wie kalt das Wasser ist.«

Sie wussten beide, dass das gelogen war.

Sie war einfach nur zu stolz, um zuzugeben, dass sie ausgerutscht und ins Wasser gefallen war.

Er stand auf und begegnete ihrem herausfordernden, trotzigen Blick. Er hätte sie bloßstellen können, doch er ließ es bleiben. Stolz war etwas, das er nachvollziehen konnte. Also wandte er ihr den Rücken zu und lief auf die kleine Bucht direkt hinter dem Kiesstrand zu.

Hinter sich hörte er sie murmeln, sie sei ja wohl nicht irgend so ein dummer kleiner Zwerg, sondern Catherine Wardwell, die alles über Sex wisse.

Er blieb stehen und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Hey, Zwerg.«

Inzwischen war sie aufgestanden und funkelte ihn an.

»Wenn ich du wäre, würde ich aufhören zu versuchen, alles über Sex zu lernen, und erst mal herausfinden, wie man schwimmt.«

3. Kapitel

Sommer 1963

Die Wardwells kehrten nach Spruce Island zurück. In den vergangenen drei Jahren waren sie jeden Juni wieder hergekommen, und Jahr für Jahr hatte Catherine Wardwell den Großteil des Monats damit verbracht, ihm auf den Wecker zu gehen. Sie hatte die nervtötende Angewohnheit, stets im denkbar schlechtesten Augenblick aufzukreuzen, beispielsweise als er heimlich im Wald das Bier trank, das er in einem der Boote seines Großvaters gefunden hatte, nachdem eine Gruppe von Sportanglern damit hinausgefahren war. Oder als er mit einem Mädchen namens Kristy hinter dem alten Brunnenhaus bei der kleinen Bucht herumgeturtelt hatte, in der ihre Eltern mit ihrem Schiff vor Anker lagen.

Nun war wieder Juni, und wie schon Dylan gesungen hatte, änderten sich die Zeiten. Die Coca Cola Company war auf ein neues Verpackungsmodell umgestiegen, von Flaschen zu Aluminiumdosen. Die Beach Boys eroberten den ersten Platz der Popcharts, und im Kino liefen Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben und My Fair Lady. Aber für Michael war der Juni der Höllenmonat. Denn es war Catherine Wardwells Monat.

Sie war jetzt vierzehn, und sie benutzte etwas als Lippenstift, das sich »Erace« nannte. Es ließ sie zu blass erscheinen. Die Haare trug sie kurz geschnitten wie ein Titelmädchen der Seventeen. Sie sah plump und unbeholfen und lächerlich aus, weil sie so verzweifelt versuchte, älter zu wirken, als sie war.

Er erklärte ihr, sie trage zu viel Make-up und sähe aus wie eine Leiche.

Sie erwiderte, nur Streber würden ihre Oxford-Hemden so hoch hinauf zuknöpfen wie er.

Schon kurz nach ihrer Ankunft hatte sie ihn wieder so weit, dass er ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte. In der ersten Juniwoche wachte er eines Morgens auf und erwischte sie dabei, wie sie ihn durchs Hüttenfenster beobachtete. Er schlüpfte nach draußen und spritzte sie mit dem Wasserschlauch nass.

In der zweiten Woche klaute sie ihm eine Packung Zigaretten und brach sie alle in der Mitte durch. Er rauchte nicht einmal sonderlich gerne und trug sie nur mit sich herum, um cool zu wirken. Aber um Catherine zu ärgern, rauchte er alle Zigarettenstummel auf und blies ihr dabei den Rauch ins Gesicht. Sie war dermaßen störrisch, dass sie trotzdem die ganze Zeit über bei ihm stehen blieb und sich weigerte davonzulaufen.

Der schlimmste Zwischenfall ereignete sich jedoch an dem Nachmittag, an dem er einen Brief fand, den sein Vater am Tag seiner Geburt an seinen Großvater geschrieben hatte. Einen Brief, der nur so strotzte vor Vaterstolz und großen Träumen, Dingen, die Michael an die Familie erinnerten, die er verloren hatte.

Niemand hatte ihn je weinen sehen. Sein Stolz verbot ihm, seinen Schmerz zu zeigen.

Aber sie sah ihn an diesem Tag weinen, als er mit seinen siebzehn Jahren auf einem Felsen in einem verlassenen Teil der Insel saß. Er glaubte sich allein, wie er dort hockte und zwischen seine Knie schluchzte.

Sie kam zu ihm und schnappte sich einfach den Brief.

Er fluchte und versuchte, ihn ihr wieder wegzunehmen, seine Augen waren jedoch tränennass, und er sah nur verschwommen.

Hastig stopfte sich Catherine den Brief in den BH und lief davon.

Er hatte nicht die Kraft, ihr hinterherzulaufen. Also starrte er in die Ferne und bemühte sich dabei, sich das Gesicht seines Vaters vorzustellen. Doch alles, was er vor seinem inneren Auge erkennen konnte, war der Schatten eines großen, schlanken Mannes.

Nach ein paar Minuten kam sie zurück. An ihren langsamen Schritten und ihrer ernsten Miene erkannte er, dass sie den Brief gelesen haben musste.

Sie setzte sich neben ihn und hielt ihm den zerknitterten Bogen Papier hin.

Er würdigte den Brief keines Blickes. Würdigte sie keines Blickes. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben.

Sie begann, das Papier auf einem Stein zu glätten, ein müder Versuch, es wieder in den Zustand zu bringen, in dem es sich einmal befunden hatte.

Ihr Vorhaben war so sinnlos, so dumm. Als würde es ihm weniger wehtun, seinen Dad verloren zu haben, wenn der Brief nicht mehr zerknittert war.

Nach einer Weile hörte sie auf und schwieg. Beklommene, angespannte Sekunden vergingen, schienen eine Ewigkeit zu dauern. Es war einer dieser Augenblicke, in denen man fortlaufen und sich vor allem und jedem verstecken will.

Aber sie saß einfach neben ihm, so nah, dass er dort, wo sich ihre Schultern fast berührten, ihre Wärme spüren konnte. Sie faltete die Hände in ihrem Schoß und ließ den Kopf hängen. Und dann tat sie etwas, das er niemals von ihr erwartet hätte.

Sie weinte mit ihm.

Sommer 1966

Zum ersten Mal seit 1963 waren die Wardwells wieder auf die Insel gekommen. Am selben Tag, an dem er seinen Einberufungsbescheid erhielt.

Sehr geehrter Mister Packard,

der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika grüßt Sie …

Es bestand keinerlei Zweifel, dass dieser Brief seine Zukunft verändern würde. Zeitungen und Fernsehsendungen waren voller Proteste und Debatten, in denen sich Aktivisten gegen den Krieg äußerten und erklärten, die Einberufungen seien archaisch und unfair. Bier dürfe man zwar nicht kaufen, für sein Land sterben jedoch schon. Man dürfe den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zwar nicht wählen, müsse aber auf seinen Befehl töten.

Manche, die diesen Brief bekommen hatten, waren in den Krieg gezogen, andere nach Kanada geflohen. Er hatte die Benachrichtigung einfach nur gelesen und sie beiseitegelegt. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Der Krieg schien ihm so weit entfernt, viel weiter als Vietnam. Er ging zum Arbeiten in den Wald, um nicht darüber nachdenken zu müssen.

Er hatte gar nicht gewusst, dass die Wardwells dieses Jahr kommen würden.

Drei Jahre lang waren sie nicht da gewesen, deswegen gab es keinen Grund, sie in diesem Sommer zu erwarten. Als er sah, wie Catherine das alte Haus verließ und den Strand entlang zum Steg lief, war der Einberufungsbescheid mit einem Mal vergessen.

Michael stand verborgen in einem Wäldchen aus Zedern und Ahornbäumen, die die kleine Bucht umgaben, und schnitt die Äste von einem Baum, der im Winter umgestürzt war, als er die Haustür in den Angeln quietschen und dann zufallen hörte. Er warf einen kurzen Blick in Richtung der alten viktorianischen Villa. Eine junge Frau in einem leuchtend rosafarbenen Bikini kam die Verandatreppe herunter und lief über den Rasen vor dem Haus.

Er lehnte sich an einen Baumstamm und beobachtete sie. Ihre Figur ließ jedes Mädchen von Seite drei blass aussehen.

Und dann erkannte er ihr Gesicht.

Verschwunden war er, der plumpe, unbeholfene Backfisch, der zu viel Make-up trug und ihn auf Schritt und Tritt verfolgte. Sie war bestimmt zehn Zentimeter gewachsen, und ihre Kurven verschlugen ihm die Sprache. Er musste an ein Poster denken, das er in Seattle gesehen hatte. Es zeigte eine klitschnasse Ursula Andress in einem ebenfalls klitschnassen hautfarbenen Bikini, das Haar aus dem Gesicht gekämmt, deren höllisch heißer Körper garantiert so manchem Mann schlaflose Nächte bescherte.

Ungläubig schüttelte er den Kopf. Die magere kleine Catherine Wardwell – die Plage, die alles über Sex wusste, die ihn durchs Fenster ausspioniert und ihn weinen gesehen hatte – stellte sexy Ursula mit links in den Schatten.

Er spürte etwas Lebendiges, Sinnliches in seiner Körpermitte auflodern. Die Axt glitt ihm aus der Hand und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Unter leisem Fluchen verlagerte er sein Gewicht.

Er konnte einfach nicht anders, als sie anzustarren, und wollte es auch gar nicht.

Ihr Haar war heller, länger und glatter als früher. Es wippte auf ihren Schultern, während sie bis zum Ende des Stegs lief, wo ein rotblaues Handtuch mit Nautikmuster lag, daneben ein Transistorradio mit einer Silberantenne, aus dem ein Song von Lovin’ Spoonful schepperte.

Michael ließ sich wieder gegen den Baum sinken und verschränkte die Arme. Dann stieß er leise pfeifend die Luft aus, erstaunt, dass es wirklich Mädchen gab, die so gebaut waren.

Sie beugte sich vor und warf etwas auf das Handtuch.

Er stöhnte auf und schloss die Augen. Die Musik schwebte durch die Bucht und trug denselben Rhythmus zu ihm, in dem sein Herz pochte. Er öffnete die Augen, weil er sich nicht länger verstecken konnte. Er musste sie von Nahem sehen, unbedingt.

Sie stand am Rand des Stegs, die Zehen ragten darüber hinaus, ihre Haltung steif und aufrecht, die Arme in die Höhe gestreckt, und bereitete sich auf einen Kopfsprung vor.

Michael stieß sich vom Baumstamm ab und ging auf sie zu. Die Dinge hatten sich geändert. Nun war er es, der ihr hinterherlief.

Sie drückte sich ab.

Als sie ins Wasser glitt, verschlug es ihm den Atem, und er hielt die Luft an, als befände er sich mit ihr dort unten. Er lief schneller, das Dock entlang und aufs Wasser zu. Aber als er das Handtuch erreichte, hielt er inne, stand einfach da und starrte auf die Ringe, die sie auf der Wasseroberfläche hinterlassen hatte, während die Musik aus dem Radio durch die Bucht plärrte.

Ihr Kopf brach durch die Wasseroberfläche, geschmeidig, golden und nass. Er beugte sich vor und stellte das Radio leiser, dann richtete er sich wieder auf und wartete, bis sie sich im Wasser zu ihm umgedreht hatte.

Als sie ihn sah, erstarrte sie augenblicklich. »Michael?«

Ihre Stimme klang älter, kehliger. Sie beschwor Gedanken an Dinge wie weiche, glatte Haut in ihm herauf. An heiße, leidenschaftliche Küsse. An Präser.

Er machte zwei Schritte auf den Stegrand zu, eine Hand auf seinen Schenkel gestützt kauerte er sich hin. Dann musterte er Catherine schweigend, genoss ihren Anblick. Die Luft schien heißer und dicker zu werden, fühlte sich schwer an.

Sie schwamm auf ihn zu.

Er hielt ihr eine Hand hin. »Hi, Zwerg.«

Sie legte ihre Hand in seine, und er richtete sich auf, zog sie mit sich nach oben und beobachtete dabei, wie das Wasser ihre Gliedmaßen hinabrann.

Sie stand ganz nah bei ihm, so nahe, dass er sich einfach nur nach vorne hätte lehnen müssen, damit ihre Körper aneinanderstießen, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte, Lippen an Lippen. Er hatte eine seltsame, alberne Vision davon, wie sie einander berührten und wie um sie herum plötzlich Dampf in die Luft stieg.

Sie war über eins fünfundsiebzig groß. Kein kleiner Zwerg mehr. Doch das machte ihm nichts aus, weil sie immer noch zu ihm und seinen eins neunzig hochschauen musste.

Sie löste ihre Hand aus seinem Griff, drehte sich um und schnappte sich das Handtuch. Unbeholfen versuchte sie so zu tun, als würde sie sich abtrocknen, aber es war klar, dass sie sich nur dahinter verstecken wollte.

Reglos stand er da, beobachtete sie einfach nur. Er sagte nichts, bis sie schließlich zu ihm hochsah. Er warf ihr einen langen Blick zu, an dem es nichts falsch zu verstehen gab.

Sie begriff. Ihr Gesicht lief rot an, und sie blickte schnell zu Boden und rubbelte ihre Beine ab wie verrückt, weswegen ihr das Grinsen entging, das er nur mit Mühe unterdrücken konnte. Dann richtete sie sich wieder auf, das Handtuch um den Körper geschlungen. Sie hob das Kinn ein wenig, trotzig und herausfordernd, ganz die Catherine, die er in Erinnerung hatte.

Ein Augenblick verging, eine Minute, vielleicht zwei. Keiner von ihnen sagte einen Ton. Sie standen einfach nur wortlos auf dem Steg und musterten einander in der warmen, wankelmütigen Sommersonne. Er kam sich vor wie ein Verdurstender vor einem eiskalten Bier, das er nicht trinken durfte.

Catherine erwiderte seinen Blick, dann flüsterte sie mit dieser rauen, erwachsenen Stimme seinen Namen, und er hatte das Gefühl, sie würde ihn von Kopf bis Fuß durchdringen.

»Michael.«

Einfach nur Michael.

Und damit war er verloren.

Danach schien die Zeit nur so dahinzurasen. An den Tagen, an denen der Sprühregen vom Himmel kam, der die Insel manchmal einhüllte, gingen sie zusammen am Strand spazieren, ohne sich vom düsteren Wetter ablenken zu lassen. Mit jedem Tag, an dem der Sommer den Nordwesten ein wenig mehr eroberte, ging die Sonne später unter, und sie verliebten sich ein wenig mehr ineinander.

Sie schwammen dort, wo das Wasser flach und warm genug war, um angenehm zu sein, durch die kleine Bucht. Er brachte ihr das Segeln bei. Als der erste starke Sommerregen niederging, ankerten sie und suchten Schutz in der kleinen Kabine des Segelboots, lachten über das verrückte Wetter und aßen Sandwiches mit Eiersalat und Kartoffelchips mit Barbecuegeschmack, die Catherine mitgebracht hatte.

Der Geschmack von Salz und Grillgewürz lag auf ihren Lippen. Noch Jahre später konnte er keine Kartoffelchips mit Barbecuegeschmack essen, ohne an jenen Tag zu denken, an dem die zwei mal zwei Meter große Kabine des Segelboots schnell zu klein wurde für das, was sie darin vorhatten, das, was sie so sehr wollten, dass sie schließlich an einer alten Boje festmachten, um den ganzen Nachmittag lang knutschen zu können.

Von diesem Tag an betete Michael jedes Mal, wenn sie mit dem Boot hinausfuhren, heimlich um Regen. Am Ende verbrachten sie die Nachmittage aber so oder so in der Bootskabine, in der es zunehmend schwül und heftig zuging, sodass der kleine Spiegel über der harten Koje beschlug und sie beide die Schallupe mit geschwollenen Lippen und vor Verlangen pochenden Körpern wieder verließen.

In diesem Monat lernte Michael, was es bedeutete, eine Frau wirklich zu wollen. Er lernte die dunkle Seite von Sex kennen: die Schuldgefühle, den verbotenen Hunger, die eine junge Liebe mit sich brachte. Nachts lag er wach, so hart vom bloßen Gedanken an sie, dass er kein Auge zubekam. Und wenn sie ihn mit diesem besonderen Blick ansah, als würde er die Antworten auf alle Fragen des Lebens wissen, fühlte er sich lebendig und stark, glaubte, ihr die ganze Welt zu Füßen legen zu können. Er lernte, dass neben dem Mädchen, das man liebte, alles andere seine Bedeutung verlor, solange man jung war.

Eines Tages ölte er die Angeln der alten Fliegengittertür der Villa, nur weil er dadurch einen Grund hatte, in Catherines Nähe zu sein. In der darauffolgenden Nacht schlüpfte sie zum ersten Mal aus dem alten Haus und traf sich im Wald mit ihm, wo er sie gegen einen Baum drückte und sie küsste, als würde es kein Morgen geben, ihren Büstenhalter öffnete und sich zum ersten Mal vortastete.

Er brauchte Catherine nur zu berühren, und sie standen beide in Flammen. Aber sie liebkosten und küssten einander nicht nur, ließen nicht nur die Spiegel beschlagen. Manchmal saßen sie auch einfach nur im Schutz der alten Findlinge bei der kleinen Bucht und beobachteten, wie die Nacht an ihnen vorbeizog.

Und sie redeten. Über ihren Heimatort. Über den Krieg. Über die Gedichte, die ihr gefielen. Über die Musik, die ihm gefiel. Darüber, dass Bob Dylan und Paul Simon sowohl Dichter als auch Musiker waren. Sie unterhielten sich über Leben und Tod und ihre Träume.

Sie brachte ihm die Namen der Sterne bei, weil sie sagte, wenn er sie berührte und küsste, würde sie sich immer fühlen, als trage er sie zu eben diesen Sternen empor.

Es war ihm egal, dass sie siebzehn war und er fast zwanzig. Es war ihm egal, dass die Welt ihn für einen Mann hielt, der alt genug war, um in den Krieg zu ziehen, während sie noch ein Jahr Highschool vor sich hatte und minderjährig war.

Es war ihm egal, weil in dem Moment, in dem er Catherine Wardwell küsste, nichts anderes auf dieser gottverdammten, durchgedrehten Welt mehr zählte. Bis zu der Nacht, in der sie nicht mehr aufhören konnten und bis zum Letzten gingen, der Nacht, in der er ihre Initialen ins Holz schnitzte.

Der Nacht, in der ihr Vater sie im Bootshaus erwischte.

4. Kapitel

San Francisco, 1997

Catherine nahm ihre Brille ab und ließ sich im Stuhl zurücksinken. Sie starrte auf den rosafarbenen viktorianischen Altbau gegenüber von ihrem Büro. Es war vier Uhr nachmittags, und etwa alle zehn Minuten war ein dringender Anruf reingekommen.

Sie massierte sich den Nasenrücken und stellte fest, dass sie Sternchen sah. Als sich das Bild vor ihren Augen wieder klärte, fiel ihr Blick auf die Schar silbergerahmter Fotos auf ihrem Schreibtisch, aus denen ihr ihre Töchter Alyson und Dana fröhlich entgegengrinsten.

In einem Rahmen, dessen Ecken mit zierlichen Ballettschuhen dekoriert waren, befand sich eine Aufnahme von ihrer älteren Tochter Dana in einem rosa Tutu, das blonde Haar streng aus dem herzförmigen kleinen Gesicht gekämmt. Als das Foto aufgenommen wurde, war Dana sechs gewesen und hatte gerade keine Schneidezähne gehabt. Ihr Zahnfleischlächeln wirkte fast schon zu groß für ihr Gesicht. Auf der Aufnahme daneben saß sie auf dem Schoß des Weihnachtsmanns und sah ihn bewundernd von unten an. Das letzte Foto von ihr war erst vor einigen Monaten auf einer Schulparty entstanden.

Catherine wendete sich Alysons Bildern zu. Da war das Foto aus der zweiten Klasse, geschossen am Tag, nachdem sie versucht hatte, sich selbst einen Pony zu schneiden. Aly sah aus, als hätte sie eine Auseinandersetzung mit einem Rasenmäher gehabt. Beim Anblick dieses Fotos musste Catherine jedes Mal lachen.

Es gab keine Aufnahme von Aly auf dem Schoß des Weihnachtsmanns. Ihr waren Tiere immer schon lieber gewesen als Menschen. Der Disneyfilm Robin Hood hatte ihr besser gefallen als Dornröschen, und der Weihnachtsmann war ihr suspekt, seit sie mit drei Jahren im Kindergarten von den älteren Kindern erfahren hatte, dass es den Weihnachtsmann überhaupt nicht gab. Von da an hatte er für sie jede Bedeutung verloren.

Der Osterhase war jedoch ein anderes Thema. Über den Osterhasen hatten die älteren Kinder nämlich nichts gesagt. Und deswegen gab es statt eines Fotos vom Weihnachtsmann ein Bild von Aly auf dem plüschigen Schoß des Osterhasen. Die Hände um seine rosa Kuschelwangen gelegt, hatte sie ihn gelöchert, wie er es schaffte, in nur einer Nacht alle Häuser auf der Welt abzuklappern und überall Eier zu verstecken. Eine typische Aly-Frage – die Art Frage, auf die es keine guten Antworten gab.

Catherines Blick glitt zu dem unordentlichen Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch, dann wieder zurück zu den Bildern ihrer lächelnden Töchter. Sie nahm den Hörer ab und ließ sich mit dem Fremdenverkehrsbüro von Seattle verbinden.

Eine Viertelstunde später hatte sie das altmodische viktorianische Haus in der kleinen Bucht auf der abgelegenen San-Juan-Insel gebucht, in dem sie so viele Sommer ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Diesen Juni, das schwor sie sich, würden ihre Töchter völlig anders verbringen als in den vergangenen Jahren.

Und tatsächlich kam alles ganz anders. Die Mädchen wollten nämlich nicht mit.

Dana musste eine kostenlose Karte für ein Rockkonzert im Vergnügungspark Great America ablehnen, und Aly würde eine Geburtstagsfeier auf der Uferpromenade in Santa Cruz verpassen. Zumindest Aly akzeptierte Catherines Entscheidung, auf die Insel zu fahren, schließlich, vor allem weil Catherine sie mit dem Versprechen bestach, sie dürfe ihren Kater Harold mitnehmen. Die fünfzehnjährige Dana aber benahm sich nach wie vor, als hätte sich die ganze Welt gegen sie verschworen. Kein Angebot zeigte auch nur die geringste Wirkung. Gäbe es Schmollen als Schulfach, wäre Dana Klassenbeste.

Es war jetzt schon über eine Stunde her, dass sie in Orcas von der Fähre gestiegen waren, Vorräte eingekauft und sie auf das Boot von Blakely Charters geschleppt hatten, das die Insel bis Januar, wenn der tägliche Fährenverkehr nach Spruce Island einsetzen sollte, zweimal die Woche anfuhr. Sonntags und donnerstags. Abgesehen von Wasserflugzeugen war ein Boot die einzige Möglichkeit, die abgelegeneren Regionen der San Juans zu erreichen.

Es war spät, und die Sonne trat bereits ihren Weg hinter den Horizont an. Sie färbte die Wattewölkchen am westlichen Himmel golden, lila und rot ein. Catherine beugte sich über den Bug und zeigte auf das leuchtende Farbspiel. »Mädels, schnell! Seht euch nur den Himmel an.«

Sie hatte ganz vergessen, wie atemberaubend die Sonnenuntergänge hier waren. Die Farben. Die unverfälschte Schönheit der Natur. Wer dieses Fleckchen Erde einmal besucht hatte, konnte wohl gar nicht anders, als an die unfehlbare Hand Gottes zu glauben.

Catherine drehte sich zu ihren schweigenden Töchtern um, weil sie beobachten wollte, wie die Mädchen auf ihren ersten Sonnenuntergang im Sommer des Pazifischen Nordwestens reagierten. Der Anblick der beiden war jedoch alles andere als ermutigend.

Dana saß mit dem Rücken zu ihr da und starrte so trübsinnig aufs Wasser hinaus, als wäre sie eine Gefangene auf dem Weg in den Todestrakt. Auf ihrem Schoß lag aufgeschlagen eine Ausgabe von Stephen Kings The Green Mile. Ohne Catherine auch nur eines Blickes zu würdigen, blinzelte sie und steckte die Nase zurück in ihr Buch.

Danas Geschmolle verletzte Catherine. Aber da sie sich nicht anmerken lassen wollte, dass ihre Tochter es schaffte, ihr an die Nieren zu gehen, sah sie hastig weg. Aly hatte sich ihre Kopfhörer aufgesetzt und wippte zu einem Lied mit dem Kopf, das so laut war, dass es sogar durch die Ohrstöpsel dröhnte.

Catherine beugte sich vor, griff nach der leeren CD-Hülle und las den Namen.

Alanis Morissette.

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