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Das Mädchen hinter dem Vorhang

Als Buch hier erhältlich:

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Rasant, historisch akkurat, cineastisch erzählt: Leif Karpe schreibt über die dunkle Seite der Kunst

Als Peter Falcon ins Büro der Chefin des Auktionshauses Chrosebys bestellt wird, ahnt er schon, dass sein neuer Auftrag ihm noch mehr abverlangen wird als alles zuvor: Giovanna ist ein Brief in die Hände gefallen, der die Macht besitzt, unser Verständnis der Kunstwelt zu revolutionieren. Um 1600 schreibt ein junger Linsenschleifer, der sich selbst Grinderman nennt, von der Kunst seines Handwerks, von seinen großen Ambitionen – und seinen Kunden, darunter Jan Vermeer. Hat der Meister der Malerei wirklich mit einer Camera Obscura gearbeitet, um seine Gemälde so realistisch werden zu lassen? Und was macht diese Vermutung mit der Trennschärfe zwischen bloßem Handwerk und »wahrer« Schöpfung? Peter Falcon fliegt nach Amsterdam, um den Spuren des mysteriösen Grindermans zu folgen. Doch was so lange versteckt war, möchte nicht gefunden werden ...


  • Erscheinungstag: 25.06.2024
  • Aus der Serie: Peter Falcon Ermittelt
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906758
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Die Peter-Falcon-Reihe basiert auf einer Idee von Achim Fell und Leif Karpe

PROLOG

Peter stand hinter dem Vorhang und beobachtete sie.

Es war heiß. Giovanna war schön und unnahbar wie immer. Sie schritt zum Fenster und öffnete es. Nochmal nahm sie den Brief in die Hand. Peter sah, wie Giovanna die Stirn runzelte. Ihre Augen huschten über die Zeilen, ein leichter Windstoß fuhr durch ihre schwarzen Locken. Sie war konzentriert und beachtete ihn nicht.

Das Bild der Giovanna am Fenster verband sich allmählich mit dem Bild eines alten Meisters: Johannes Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster.

Ja, und der grüne Vorhang! Das war Vermeers Geheimnis. Das Spiel von Verhüllen und Enthüllen. Je länger Peter am Vorhang vorbeischaute, desto größer und weiter wurde der Raum dahinter. Er öffnete sich. Und dann plötzlich stand Peter da und wurde zum Teil des Geschehens. Er näherte sich dieser Frau, die ganz still und versunken las. Das konzentrierte Gesicht spiegelte sich im Fenster. Was bewegte diese Frau? War sie gefangen – oder frei wie die Welt vor ihrem Fenster?

Die Gedanken daran jagten Peter einen kalten Schauer über den Rücken. Er riss sich los und sehnte sich zurück in seinen Comicladen in Manhattan am St. Mark’s Place. Doch es war so gekommen, wie es immer kam, wenn Giovanna rief, wenn sie ihn brauchte: Er war sofort zu ihr geeilt. Meist brauchte sie ihn glücklicherweise, wenn gerade wieder ziemlich Ebbe in seiner Kasse war. Und jedes Mal hatte er zugesagt, um seinen Laden zu retten, auch wenn es bedeutete, dass er wieder in eine dieser todbringenden Metallröhren steigen musste, die ihn in sechs Stunden über den Atlantik oder sonst wohin brachten. Hätte der liebe Gott gewollt, dass der Mensch flog, hätte er ihm Flügel gegeben.

Giovanna schüttelte leicht den Kopf und begann noch einmal zu lesen. Welches Geheimnis verbarg der Brief? Doch schon die Frage verstärkte den Schauer, ja, sie aktivierte sogar einen Fluchtinstinkt. Nicht noch einmal, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht hatte das gar nichts mit IHM zu tun, versuchte er sich zu beruhigen. Ganz sicher war es nur diese zufällige Komposition dieses Bildes, wie Giovanna an einem geöffneten Fenster einen Brief las, die all die Erinnerungen wieder hervorspülte an eine Zeit, in der sein Leben plötzlich eine radikale Veränderung erfuhr.

Dass er eine besondere Beziehung zu Kunst hatte, hatte Peter schon immer irgendwie gespürt. Kunstgeschichte zu studieren war so folgerichtig, dass er noch nicht einmal eine Alternative in Betracht gezogen hätte. Peter wurde zum Liebling der Professoren und sah sich selbst schon an einer der großen alten Universitäten der Ivy League an der Ostküste eine glänzende Karriere machen. Doch dann begannen die Bilder mit ihm zu sprechen, er geradezu in sie hineinzufließen. Die Erfahrung war beängstigend und faszinierend zugleich. Dann stand ER eines Tages neben ihm – und damit änderte sich alles. ER begann einen Disput mit Peter. Es ging um das Recht auf Sehen, um den Erkenntnisgewinn durch bildende Kunst, um die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Und aus dem Disput wurde eine Anklage, eine Anklage gegen Peter und das Fach, das er vertrat. Kunsthistoriker, so wütete er, würden den Betrachter blind machen, würden ihn der Fähigkeit berauben, wirklich zu sehen. Peter versuchte dagegen anzuargumentieren, doch der Andere wurde dadurch nur noch wütender und Peter immer verängstigter. Schließlich flüchtete er aus dem Museum, in der Hoffnung, seine Pein würde enden. Doch der Andere verfolgte ihn nun in seinen Träumen. Oft erwachte Peter schweißgebadet mitten in der Nacht, zitternd, verängstigt. Was wollte der Maler von ihm? Peter fürchtete, verrückt zu werden. Er mied von da an jedes Museum, wagte kaum noch, ein Buch über Kunst zu öffnen. In seiner Not vertraute er sich seinem Freund Charlie an, der ihm zunächst nur vorschlug, sie sollten einfach ein Wochenende zum Fischen fahren. Tatsächlich schien er zunächst wieder zur Ruhe zu kommen. Charlie bot ihm an, ihn bei einem Museumsbesuch zu begleiten. Dankbar nahm Peter an, doch der Besuch endete in einem Fiasko. Bei den Alten Meistern zog es ihn wieder in ein Gemälde, und ER war wieder da. Alles begann von vorn.

»Du brauchst professionelle Hilfe«, hatte Charlie nüchtern gemeint. Doch Peter lehnte panisch ab. Wem konnte er sich anvertrauen, mit einem so unüblichen Talent? Sosehr Charlie es auch probierte, Peter blieb stur.

»Es ist ein Jammer!«, rief Charlie aus. »Du besitzt ganz offenbar eine einzigartige Gabe, aber willst sie nicht nutzen? Gemälde sprechen zu dir! Denk doch mal nach, welche Perspektiven dir das eröffnet. Du könntest der gefragteste und bekannteste Kunsthistoriker aller Zeiten werden.«

»Oder im Irrenhaus landen«, gab Peter verzweifelt zurück.

»Lerne, mit der Gabe umzugehen. Vielleicht ist es gar nicht so schwer. Und vielleicht triffst du auch noch andere. Stell dir vor, du könntest mit Leonardo da Vinci sprechen, mit Picasso, mit Tizian, mit Dürer, mit Monet, mit …«

»Hör auf, Charlie, hör auf!« Peter hielt sich die Ohren zu.

»Dann nimm dir eine Auszeit. Aber eines Tages werde ich wieder zu dir kommen und dir beweisen, dass du deine Fähigkeit beherrschen und nutzen kannst.«

Mehr als 20 Jahre war das nun her. Peter hatte seine hoffnungsvolle Karriere als junger Kunstgelehrter aufgegeben und seinen Comicladen eröffnet, von dem er mehr schlecht als recht leben konnte. Tatsächlich hatte er gelernt, mit seiner Gabe umzugehen. Er hatte viele große Meister getroffen, doch das Unbehagen hatte ihn nie ganz verlassen. ER war ihm nie mehr begegnet, doch mit der wachsenden Zahl der Aufträge, mit denen ihn Giovanna bedachte, schien es nur eine Frage der Zeit, wann sich Peters Wege wieder mit seinen kreuzen würden. Und davor hatte er Angst – panische Angst.

***

Giovanna hatte ihn zu Chroseby bestellt. Das war ungewöhnlich. Wenn sie etwas von Peter wollte, kam sie gewöhnlich in seinen Comicladen am St. Mark’s Place. Dort stöberte sie gerne in den Manga-Comics, unterhielt sich mit ihm über dies und das, um sich dann ganz vorsichtig an das eigentliche Thema heranzutasten, auf ganz leisen Sohlen, wie eine Katze, die es auf eine Maus abgesehen hatte. Peter wurde stets zur Beute – das war so sicher wie seine Überzeugung, nie wieder einen Auftrag für Chroseby anzunehmen, nur um dann am Ende doch Giovannas Charme zu erliegen. Die CEO des drittgrößten Auktionshauses der Welt liebte es, aus ihrem Elfenbeinturm an der Madison Avenue zu fliehen, in eine Welt, in der die Häuser nur vier statt vierzig Stockwerke hatten und die Menschen nicht mit Milliarden jonglierten, sondern sich des Wertes eines jeden einzelnen Dollars sehr bewusst waren, hatten sie ihn doch hart erarbeitet. Giovanna fühlte sich hier im East Village geerdet, ganz anders als zwischen Park und 5th Avenue, zwischen Times Square und Central Park.

Doch dieses Mal hatte sie ihn angerufen und gebeten, in die Zentrale in der Madison Avenue zu kommen. Es waren schon einige Monate vergangen, seit er das letzte Mal in dem blitzenden Aufzug mit den edlen Messingarmaturen hinauf in den 42. Stock gefahren war, da, wo Giovanna residierte. Der Fahrstuhl hielt, die Tür öffnete sich, und Peter wollte die Kabine verlassen. Doch ein junger Mann, der sich als Assistent von Mrs. Ferrara vorstellte, schob ihn sanft zurück.

»Sie erwartet Sie oben«, erklärte der junge Mann ebenso geheimnisvoll wie bedeutungsschwanger. Er schob einen Schlüssel in das Schloss unterhalb der Knöpfe für die einzelnen Stockwerke. Die Fahrstuhltür schloss sich wieder. Nach kurzer Fahrt erläuterte der junge Mann: »Wir sind da!«

Peter trat hinaus. Er war im Penthouse des Chroseby-Gebäudes angekommen, in den Privaträumen von Giovanna. Er hatte schon von ihrem sagenumwobenen privaten Büro gehört, das als das Allerheiligste in dem großen Auktionshaus galt. Er blickte gebannt in den riesigen Raum. Mehrere Sitzecken waren über den Raum verstreut, der seinerseits durch seidene Vorhänge unterteilt war. Was dagegen fehlte, war ein Schreibtisch, wie man es von der Vorstandsvorsitzenden eines weltweit agierenden Unternehmens hätte erwarten können. Stattdessen stand ein Stehpult an der Wand nahe der Fensterfront. Durch eine Glastür konnte man das Dach betreten, das hier geradezu ein kleiner Garten war. Ein Bistrotisch mit drei Jugendstilstühlen stand da, umsäumt von üppigem Grün. Die Sitzgruppe kontrastierte zu einem kleinen Marmorbrunnen, der munter eine bescheidene Wassersäule spie.

»Kommen Sie endlich hinter dem albernen Vorhang vor«, meinte Giovanna schließlich und lächelte nachsichtig. »Glauben Sie, ich hätte nicht bemerkt, dass Sie mich die ganze Zeit beobachten?«

Peter schwieg betreten und starrte auf seine Schuhspitzen.

»Jetzt zieren Sie sich nicht.« Sie wedelte mit dem Brief durch die Luft. »Auf diesem Blatt Papier könnte Ihr nächster Auftrag stehen. Und Sie wissen, ich zahle gut.«

Peter machte einen Schritt in den Raum.

»Ja, Giovanna, ich weiß, und ich bin Ihnen dafür auch dankbar. Aber meinem Laden geht es im Moment ganz gut.«

»Dann tun Sie es mir zuliebe. Sie sind mir was schuldig!«

Peter seufzte.

»Sie wissen, ich kann Ihnen nichts abschlagen«, gab er matt zurück.

»Fein!«, rief sie enthusiastisch aus. »Der Auftrag wird Sie interessieren. Wenn Sie Glück haben, begegnen Sie Jan Vermeer.«

Ausgerechnet Vermeer, jenem niederländischen Meister, der mit dem Spiel von Geheimnis und Verborgenem in seinen Bildern wie kein anderer Maler Peters Begabung triggerte.

Peter wurde schwarz vor Augen, und er musste sich an der Stuhllehne festhalten.

Es war also so weit, dachte Peter. Er hatte gewusst, dass das einmal passieren würde, ja, vielleicht sogar musste. Vielleicht würde er in der Begegnung endlich auch seine eigene Begabung besser zu verstehen lernen. Er atmete tief durch.

»Hat man versucht, Ihnen ein paar falsche Vermeer anzudrehen?«, fragte er.

Doch Giovanna lachte nur glockenhell und winkte ab.

»Lassen Sie uns draußen sitzen. Es ist so ein schöner Tag.«

Sie öffnete die Tür zur Dachterrasse und machte eine einladende Handbewegung, ohne den Brief, den sie so angestrengt gelesen hatte, aus der Hand zu legen. Sie versuchte, die gleiche Leichtigkeit in dieses Treffen zu legen, die ihre bisherigen Begegnungen am St. Mark’s Place ausgezeichnet hatte, doch es wollte ihr nicht gelingen. Steif ließ sich Peter auf einem der Jugendstilstühle nieder, der nicht gerade besonders bequem aussah. Da saß er nun auf der Kante des Stuhles zwischen dem plätschernden Springbrunnen und einem Thuja-Baum.

»Also, was ist mit dem Brief, und was ist mit Vermeer?«, fragte er ungeduldig. Er sah sich schon wieder in einem Flugzeug in Richtung Europa sitzen. Wie er das Fliegen hasste!

»Nun, es gibt zwar keinen falschen Vermeer … Also doch, wahrscheinlich schon, aber wir haben nichts damit zu tun. Es geht stattdessen um diesen Brief – und um noch einiges mehr. Wir müssen wissen, ob diese Schriftstücke echt sind«, erklärte Giovanna geschäftsmäßig. »Sie sollen dreihundert Jahre alt sein.«

Peter streckte den Arm aus. Giovanna reichte ihm das Blatt.

»Ich glaube nicht, dass meine Intuition bei Briefen wirkt«, meinte Peter mit einer Spur Abweisung in der Stimme. »Ich falle in Bilder, nicht in Worte.«

»Das weiß ich doch. Aber ich schätze Sie, das wissen Sie, Peter. Ich mag Ihre Aufrichtigkeit, und ich mag Ihre Empathie und Ihre Intuition. Wenngleich«, sie unterbrach sich, »uns Letzteres auch schon in die ein oder andere Schwierigkeit gebracht hat.«

Peter schaute ein wenig betroffen auf den Boden. Giovanna spielte auf eine Ermittlung an, die in der Toskana ein ganz anderes Ende gefunden hatte als von Chroseby erhofft.

»Aber das ist Schnee von gestern«, wischte sie das Thema schnell wieder vom Tisch. »Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass jemand mit uns Spielchen treiben will, als vor zwei Wochen der erste Brief bei mir eintraf«, erzählte sie.

Peter deutete auf die Kopie, die vor ihm auf dem fein ziselierten Tisch lag.

»Dieser hier?«

»Nein«, sagte Giovanna und schüttelte den Kopf, dass ihre schwarzen Locken flogen. »Es war lediglich die Ankündigung für diesen Brief.«

»Wie bitte?«, fragte Peter verwirrt.

»Ich sag doch – Spielchen. Vor zwei Wochen kam also ein Brief. Handgeschrieben! Wer macht denn heute noch so was? Aber das machte mich natürlich neugierig. Zunächst einmal ging es um das Briefeschreiben per se. Der Autor oder die Autorin schickte mir doch tatsächlich eine philosophische Abhandlung über den Brief an sich.«

»Jetzt versteh ich gar nichts mehr.«

»Nun ja, es ging darum, dass in vergangenen Zeiten der Brief nicht ein Mittel der Nachrichtenübermittlung war, sondern nachgerade eine Kunstform. Hier wurde auch fabuliert und der Fantasie Raum gegeben. Oder denken Sie an diplomatische Depeschen, Peter. Ein Brief konnte immer in falsche Hände geraten, darum galt es, sich entweder möglichst kryptisch auszudrücken oder einen Brief gleich ganz zu verschlüsseln.«

»Vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren Brieffreundschaft«, lächelte Peter.

»Genau genommen liegen Sie damit gar nicht so falsch. Der Autor oder die Autorin bot mir einige Briefe aus dem 17. Jahrhundert zum Kauf an. Nun ja, so alte Manuskripte haben sicher einen Wert an sich, aber für Chroseby? Da kommt es dann schon auf den Inhalt an. Natürlich versteigern wir auch Autographen von schier unschätzbarem Wert, aber das liegt natürlich auch am Autor.«

»Und nun lassen Sie mich raten: Es handelt sich um die Autographen eines weltberühmten Malers, und ich soll herausfinden, ob sie echt sind, weil der Maler nicht nur durch den Brief, sondern ganz persönlich mit mir spricht?«

»Aber nein!«

»Nein? Nicht?« Peter stutzte.

»Die Sache ist viel komplizierter, als Sie denken, deshalb habe ich Sie ja auch gebeten, heute zu mir zu kommen.«

»Jetzt bin ich aber neugierig!«

»Wenn ich Sie regelmäßig langweilen würde, hätten Sie meine Einladung wohl ausgeschlagen«, meinte Giovanna nüchtern. »Wir wissen nicht, wer diese historischen Briefe geschrieben hat.«

»Was macht sie dann so wertvoll – falls sie echt sind?«

»Der Inhalt. Der könnte ziemlich brisant sein. Sagt Ihnen der Name Antoni van Leeuwenhoek etwas?«

»Müsste er?«

»Delft? 17. Jahrhundert?«

»Jan Vermeer?«

»Genau. Leeuwenhoek war sein Testamentsvollstrecker.«

»Und was ist daran so sensationell?«

»Leeuwenhoek war auch der bedeutendste Linsenschleifer seiner Zeit.«

»Ach Gott, nein, die alte Geschichte! Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Giovanna!«, rief Peter empört aus und winkte ab. »Wir wissen nicht, ob Jan Vermeer eine Camera obscura verwendet hat oder nicht. Und wenn Sie meine persönliche Meinung wissen wollen, es würde auch nichts ändern. Sich der Wissenschaft zu bedienen, entwertet Kunst nicht.«

»Andere sehen das anders. Hätte Vermeer eine Camera obscura benutzt, wäre das kaum etwas anderes gewesen als Malen nach Zahlen«, wandte Giovanna ein.

»Und dieser obskure Briefschreiber, verzeihen Sie das Wortspiel, behauptet nun, Beweise zu haben, dass Leeuwenhoek für Vermeer ein solches Gerät gebaut hat. Oder sind diese historischen Briefe gar von Leeuwenhoek selbst?«

»Dann wäre es ja einfach. Möglicherweise geht es nämlich um eine dritte Person, jemand, der sich selbst ›Grinderman‹ nennt. In den Briefen bittet er um die Aufnahme in die Royal Academy.«

»Und was hat das nun mit Vermeer zu tun?«

»Zunächst noch nichts. Verwunderlich ist nur, dass die Academy ihrerseits Leeuwenhoek Jahre später die Mitgliedschaft von sich aus angetragen hatte. Das deutet darauf hin, dass der mysteriöse Grinderman und Leeuwenhoek wohl nicht die gleiche Person sind. In seinen Briefen bezieht sich der Grinderman andererseits immer wieder auf seinen Malerfreund.«

»Aber Giovanna, Sie wissen so gut wie ich, dass es in Delft eine Malergilde gab, mit mehreren Dutzenden von Künstlern. Das könnte jeder sein, warum ausgerechnet Jan Vermeer?«

Giovanna stand auf und ging einige Schritte. An der Balustrade blieb sie stehen und schaute zum Central Park hinüber. Schließlich drehte sie sich um.

»Peter, es geht im Grunde nicht mehr um Vermeer und auch nicht um Leeuwenhoek. Es geht um ganz grundsätzliche Fragen. Zum Beispiel: Was darf Kunst? Was darf Wissenschaft? Was bedeutet es, wenn beide eine Art Symbiose eingehen? Und wer bestimmt eigentlich, was Kunst ist und, daraus folgernd, was wir sehen dürfen?«

»Und das machen Sie jetzt an Vermeer fest?«

»Es geht um sein Geheimnis, um seine fotorealistische Malweise! War es sein Genie? Oder hat er einfach nur eine technische Apparatur aufgestellt, die ein Bild projiziert hat, das er nur noch akribisch abpausen musste? Oder ist er nach Italien gereist, hat die großen Renaissancemaler studiert und ihre Techniken dank seines Genies vervollkommnet? Wenn diese Briefe echt wären, dann könnten sie uns auf all diese Fragen eine Antwort geben – und es wären Antworten, die weit über einen Vermeer oder einen Leeuwenhoek hinaus reichen.«

Peter schien verstimmt.

»Sie glauben also, ich fliege nach Europa, stelle mich im Mauritshuis vor das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge und warte, bis der Meister persönlich erscheint und mir ins Ohr flüstert: Mir hat der Leeuwenhoek eine Camera obscura gebaut, und dann musste ich die Maid nur noch abmalen. Giovanna, so läuft das nicht.«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Sie müssen die Briefe lesen und herausfinden, wie sich das alles wirklich verhält.«

»Warum ich?«

»Wir haben nur Kopien von den Briefen. Untersuchen können wir sie erst, wenn wir sie gekauft haben. Ich will die Katze nicht im Sack kaufen – andererseits brauchen wir die Briefe. Ich vertraue in diesem Fall nicht auf irgendwelche Geister längst verstorbener Maler. Was ich brauche, ist Ihre Intuition. Ich will ganz offen sein: Als ich zum ersten Mal von Ihrer Gabe hörte, habe ich das alles für Hokuspokus gehalten. Doch ich lag ja mit meiner Einschätzung ganz offensichtlich falsch. Nun lässt sich das, was Ihnen widerfährt, wissenschaftlich nur schwer fassen, aber von einem bin ich fest überzeugt: Ihnen würde das alles nicht passieren, wenn Sie nicht über eine hohe Intuition verfügen würden. Und ich hoffe, dass diese mir sagen wird, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen.«

Peter seufzte.

»Also, was genau soll ich nun tun?«

»Das, was Sie immer für mich tun: in die Vergangenheit eintauchen. Fliegen Sie nach Europa, in die Niederlande. Besuchen Sie Delft, besuchen Sie Museen, und vor allem: Bekommen Sie für mich heraus, was es mit diesem Grinderman auf sich hat.«

DER BRIEF

Der Flieger war riesig und einschüchternd. Einem Rat aus dem Internet folgend hatte sich Peter vor dem Abflug intensiv mit dem Fluggerät auseinandergesetzt. Das, so hieß es in dem Artikel, könne die Flugangst nehmen oder wenigstens lindern. Er erinnerte sich an seine Bekannte Martha, wie sie es damals verstanden hatte, ihn auf ihrer gemeinsamen Flugreise über den Ärmelkanal mit Fakten zu beruhigen. Er spähte aus dem Panoramafenster am Gate. Da stand es, fest verbunden mit dem Rüssel der Gangway. Das war kein Flugzeug, das war ein Leviathan, dachte Peter. Sollte er da wirklich einsteigen? Die Boeing 777-300, auch Triple Seven genannt, ist das größte zweistrahlige Verkehrsflugzeug der Welt, repetierte er im Geiste. Sie ist 74 Meter lang, hat eine Spannweite von 64 Metern und ist 18,60 Meter hoch. Sie bietet bis zu 550 Passagieren Platz. Die Reisegeschwindigkeit beträgt ca. 900 Stundenkilometer in einer Höhe von rund 13.100 Metern. Nichts, aber auch gar nichts von alldem, was er mühsam auswendig gelernt hatte, half ihm jetzt weiter. Dagegen riet ihm sein Fluchtinstinkt, kehrtzumachen und so schnell er konnte zu laufen. Die Boeing 777 ist eines der ersten Verkehrsflugzeuge mit einer ETOPS-Zulassung von 330 Minuten. Das bedeutet, die Maschine muss im Falle eines Triebwerksausfalles innerhalb von 330 Minuten auf einem Flughafen landen. Vordergründig klang das gut. Der Flieger konnte also mit einem Triebwerk noch fünfeinhalb Stunden weiterfliegen. Er sollte also zumindest nicht ins Wasser fallen. Aber was bedeutete das in Wahrheit? Wieso sollte überhaupt ein Triebwerk ausfallen? Alleine, dass es dieses ETOPS-Dings gab, war doch schon Beweis genug, dass die Triebwerke ausfallen könnten. Die Ingenieure sollten, verdammt nochmal, ihren Job tun. Und was passierte, wenn beide Triebwerke gleichzeitig ausfallen sollten? Alles schon vorgekommen. Immerhin musste Peter zugeben, dass erst zwei B 777 wirklich vom Himmel gefallen waren. Die eine war über der Ukraine abgeschossen worden und die andere einfach vom Radar verschwunden. Aber das machte nun alles nicht besser. In seinem Drang, sich endlich von seiner Flugangst zu lösen, war er auch dem Rat gefolgt, ganz offensiv einen Fensterplatz zu buchen. Nun verfluchte er sich dafür. Wenigstens wurde es langsam dunkel. Die Maschine nach Amsterdam sollte um 19 Uhr starten und um 11.15 Uhr Ortszeit in Schiphol landen. Wenn er es richtig timte, dann schlief er vielleicht, wenn es in drei, vier Stunden schon wieder hell wurde, und er musste nicht in den Abgrund schauen.

Die Maschine rollte zur Startbahn, und je lauter die Motoren röhrten, desto schneller schlug Peters Herz. Als die Boeing zum Start beschleunigte, klammerte er sich an den Armlehnen fest und presste die Augenlider fest aufeinander. Die Maschine stieg unerbittlich, aber das Dröhnen ließ nach. Ganz langsam öffnete Peter seine Augen, aber vorsichthalber nur einen winzigen Spalt. Er sah durch das Fenster eine schmale, bleiche Mondsichel, halb auf dem Rücken liegend. Ihr gegenüber funkelte ein heller Stern: die Venus. Und plötzlich fielen bei Peter Angst und Beklemmungen ab und er sah sich wieder in der Provence, konnte den Lavendel riechen, fühlte den warmen Wind auf der Haut, sah die Sternennacht über sich und hörte eine Melodie, die sich zu den Worten formte: »Now I understand what you try to say to me …« Don McLeans unvergleichliche Ballade über Vincent van Gogh. Gemessen an dem unfassbaren Leiden des Meisters schien ihm seine eigene Flugangst nun nachgerade peinlich klein.

Die Maschine stieg weiter, drehte in Richtung Osten, und die strahlende Venus verschwand alsbald aus Peters Blickfeld. Er rief sich zur Ordnung und erinnerte sich daran, dass eine Aufgabe auf ihn wartete, auf die er sich noch während des Fluges gründlich vorzubereiten gedachte. So kramte er die Papiere heraus, die ihm Giovanna mitgegeben hatte. Im Grunde handelte es sich bisher nur um zwei Briefe. Der eine, handgeschrieben, bot mehrere Briefe aus dem 17. Jahrhundert an, verfasst von einer mysteriösen Person, die sich Grinderman nannte. Merkwürdiger Name. Der andere war eine Kopie des ersten angebotenen Briefs. Peters von Giovanna so gelobte Intuition schwieg beharrlich. Er hatte nicht das geringste Gefühl dafür, ob die Person, die diesen Brief verfasst hatte, es ehrlich meinte oder einen Betrug vorbereitete. Er zuckte mit den Schultern und begann zu lesen:

13. September 1652

An die Mitglieder der Royal Society.

Mein Name ist in dieser Angelegenheit nebensächlich, da es uns nur um die Wissenschaft geht. Hier in Delft nennt man mich den Grinderman, weil das, was ich tue, ihnen unheimlich ist.

Ich schleife Linsen.

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