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Das Herz der Sternenuhr

  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Aus der Serie: Sternenuhr
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 400
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802358

Leseprobe

Prolog

Hoch oben in einem Baumhaus drückte Andel mit den Fingern eine kleine Sprungfeder zusammen. Er stellte gerade ein Spielzeug zum Aufziehen her, und es sollte perfekt werden.

Der Raum, in dem er arbeitete, war eine Mischung aus dem Hof eines Schreiners und der Werkstatt eines Zauberers – voller Holz und Werkzeug, blubbernder Flüssigkeiten und Edelsteine.

Das Blätterdach ringsherum raschelte, Eichhörnchen schnatterten in den Bäumen, und Andel beugte sich tiefer über seine Arbeit. Wenn der Spielzeugfrosch wie ein echter Frosch hüpfen sollte, musste er die Federn genau richtig einstellen.

Andel hörte die Treppe knarren und blickte auf. Er erwartete keinen Besuch … Falls die Frau aus dem Baumhaus am See gekommen war, um weitere singende Kästen zu bestellen, würde er sich ein Versteck suchen müssen.

Doch es waren flinke Schritte. Vielleicht kam seine Tochter Daniza, um ihn nach Hause zu holen? Sie neckte ihn ständig, indem sie sagte, er ginge doch nur in seine Werkstatt, um ein Nickerchen zu halten.

Aber heute wollte Andel sich auch ein Späßchen erlauben. Er eilte zu seinem Schaffellsessel, setzte sich hinein und bemühte sich, nicht zu grinsen.

Die Stufen knarrten lauter. Daniza war schon fast oben angelangt.

Andel schloss die Augen und tat so, als würde er schnarchen. Er konnte die Reaktion seiner Tochter kaum erwarten.

Die Drossel, die gesungen hatte, verstummte. Die Schritte kamen jetzt über den Balkon und näherten sich dem Eingang. Sie waren schwerer, als Andel anfangs gedacht hatte.

Er öffnete sein Auge einen ganz schmalen Spalt. Eine Gestalt stand in der Tür – aber es war nicht Daniza, sondern ein Mann. Andel riss sein Auge auf.

»Ähm … hallo?«, sagte er.

Der Mann trat in die Werkstatt. Er war nicht besonders groß, aber er war kräftig. Andel merkte es an der Art, wie er sich bewegte. Sein Kopf war kahl rasiert, und er trug einen Spitzbart. Er richtete seinen kühlen Blick auf Andel … und Andel spürte, wie er schrumpfte.

Aber es gab keinen Grund, Angst zu haben. Nur weil der Mann am Ende des Tages gekommen war, bedeutete nicht, dass er Böses im Schilde führte. Nur weil er ein Schwert und zwei Dolche bei sich trug …

Andel versuchte, sich zu erinnern, wo er sein kleines Messer hingelegt hatte.

»Ich bin Andel«, sagte er und stand auf. »Man nennt mich den Uhrmacher, obwohl ich andere Sachen herstelle. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

Mit einer einzigen Handbewegung fegte der Mann die Holzspäne von Andels Werkbank. Dann legte er auf den Platz, den er freigewischt hatte, ein Päckchen.

Etwas an diesem Gesicht gefiel Andel nicht – die spöttische Miene erinnerte ihn an den Mann, der ihm das Auge ausgestochen hatte.

Wut und Angst kamen in ihm hoch.

Er hatte gedacht, er hätte seinen Frieden damit gemacht, er hatte gedacht –

»Was wollen Sie?«, stieß er hervor.

Endlich sprach der Mann, so als hätte er nur darauf gewartet, dass Andel Angst zeigte. »Bestellung«, knurrte er.

Ach so … er war also einfach ein neuer Kunde. Andel atmete auf. »Ich habe eine kleine Warteliste«, sagte er. »Aber wenn Sie mir Ihre Adresse hinterlassen wollen, benachrichtige ich Sie, sobald ich Zeit habe.«

Der Mann faltete das Packpapier auseinander, und ein glänzendes schwarzes Buch kam zum Vorschein. Der Einband war angesengt, so als hätte man das Buch aus einem Feuer gezogen, aber der Titel war noch zu erkennen: Das Buch der geflügelten Geschöpfe.

Als der Mann das Buch aufschlug, sah Andel, dass es voller Falter war. Sie waren in allerfeinsten Einzelheiten gezeichnet. Unwillkürlich beugte Andel sich vor. Der Mann blätterte die Seiten um.

Aber halt! Diese Falter waren nicht gezeichnet – es waren echte Insekten, getötet und platt gedrückt wie gepresste Blumen. Andel unterdrückte ein Schaudern.

Auf einer Seite mit einem silbergrauen Falter stoppte der Mann. Er brach den Rücken des Buches und schob es Andel hin. Mezi Můra lautete die krakelige Bildunterschrift. Andel kannte zwar den Namen, aber er hatte das Insekt noch nie gesehen. Der Falter besaß riesengroße Fühler und einen samtigen Körper.

»Sehr schön.« Andel richtete sich auf und sah dem Fremden ins Gesicht. »Und was genau möchten Sie bestellen?«

»Einen Falter«, sagte der Mann. »Wie den da.« Er stieß mit dem Zeigefinger auf die Seite.

Andel dachte über den Wunsch nach. Er arbeitete gern im kleinen Maßstab, und der silbergraue Falter war wirklich schön. Etwas herzustellen, das fliegen konnte, würde eine tolle Aufgabe sein …

Aber warum wollte so ein Mann einen Falter haben? Doch sicherlich nicht als Spielzeug?

»Muss haargenau so sein wie dieser hier«, sagte der Fremde. Er griff in seine Tasche, zog eine Geldbörse heraus und klatschte sie auf den Arbeitstisch.

Andel hörte unten im Wald Schritte. Leichte Schritte, flinke Schritte. Daniza. Und aus einem Grund, den er nicht richtig benennen konnte, wollte Andel nicht, dass dieser Mann seiner Tochter begegnete.

»Abgemacht«, rief er, ohne seine Bedenken weiter zu beachten. Was der Mann mit dem mechanischen Schmetterling vorhatte, ging ihn nichts an. Jedenfalls konnte er damit keinen Schaden anrichten.

»Einen Monat«, sagte der Fremde, als er steifbeinig das Baumhaus verließ. »Sie haben einen Monat Zeit, den Falter herzustellen.«

Kapitel 1

Imogen spazierte barfuß durch die Küche, sodass ihre bloßen Füße über die kalten Fliesen patschten. Sie griff nach der Keksdose und holte sich eine Faustvoll gefüllte Schokokekse heraus. Einer wanderte gleich in ihren Mund und zwei in die Taschen ihres Schlafanzugs.

Knusper, mampf, schmatz. Die Kekse waren gut.

Imogen liebte den Sonntagmorgen. Mama schlief aus, und bis Marie aufwachte, hatte sie den Computer ganz für sich. Nur sie, Cosmic Defenders und die Kekse.

Neben dem Spülbecken lag ein Männerpullover. Jemand hatte ihn achtlos fallen lassen, als gehöre er dahin … und so war es auch. Letzten Monat war Mark eingezogen, und seine Sachen lagen im ganzen Haus verstreut.

Imogen hatte beschlossen, dass der zusätzliche Mantel, die zusätzlichen Schlüssel und die großen, quietschenden Schuhe sie nicht störten. Im Gegenteil, diese Gegenstände erinnerten sie daran, dass Mark jetzt zum Haus gehörte – wie ein Sofa, ein Teppich oder ein Vater.

Sie hob seinen Pullover auf und zog ihn über den Kopf. Die Ärmel reichten ihr bis zu den Knien, und die Wolle roch nach Kaffee. Und da war auch noch ein anderer Geruch, ein rauchiger Duft, als hätte Mark an einem Lagerfeuer gesessen.

Imogen überlegte, ob ihr richtiger Vater wohl ähnlich roch, doch dann schob sie den Gedanken fort.

Sie warf einen Blick auf Maries Bilder, die neben Mamas Listen am Kühlschrank hingen. Dort mischten sich das Alltägliche und das Magische: Flussnixen, Brot und Bleichmittel. Imogen nahm einen Bleistift und schrieb »Kekse« auf die Einkaufsliste.

Dann holte sie einen Schokokeks aus der Tasche und aß ihn, diesmal langsamer, um die Schokocreme in der Mitte ganz auszukosten. Es war zwar schon mehrere Monate her, dass sie aus der Welt jenseits der Tür im Baum zurückgekehrt war, aber wieder zu Hause zu sein erschien ihr immer noch neu.

Sie genoss die beruhigenden Geräusche des Hauses – das schwache Zischen des Wassers in den Rohren, das sanfte Brummen des Kühlschranks. Bald würde Kater Mog erscheinen und so lange miauen, bis er sein Futter bekam. Also sollte sie den morgendlichen Frieden jetzt lieber gut nutzen.

Imogen rückte sich am Küchentisch einen Stuhl zurecht und griff nach dem Laptop ihrer Mutter. Sie durfte Cosmic Defenders spielen, solange sie den Ton ausgestellt ließ. Als sie mit dem Finger über das Mousepad strich, erwachte der Bildschirm zum Leben. Sie dachte voll Vorfreude an ihr Lieblingsspiel.

Aber Mama musste die Nachrichten gelesen haben, bevor sie ins Bett gegangen war, denn ein Browser war noch geöffnet. Imogen wollte ihn gerade schließen, da fiel ihr Blick auf ein Bild oben auf der Seite.

Es war ein Foto vom Premierminister, der gerade aus seinem Haus trat. Er wirkte angeschlagen, eingefallen wie ein Staubsaugerbeutel. Imogen legte den Kopf schräg. Vielleicht hatte er sich das Dasein als Premierminister anders vorgestellt.

Auf dem Foto wirbelte alles durcheinander, Mikros wurden vorgestreckt, Polizeiuniformen verschwammen. Nur die Frau oben auf der Treppe stand still. Sie blickte direkt in die Kamera, als hätte sie gewusst, dass dieser Moment kommen würde, als wäre sie dafür geboren und jetzt startklar.

Imogen erkannte sie sofort.

Das blonde Haar.

Die veilchenblauen Augen.

Imogen blinzelte auf den hellen Bildschirm. Dann schlug sie den Laptop zu und wich zurück. Der Küchenschrank drückte in ihren Rücken. Sie hörte ihr Herz wummern. Das ist sie, das ist sie …

Anneschka.

Aber Anneschka konnte doch nicht in dieser Welt sein! Das war unmöglich!

Bestimmt war das eine Doppelgängerin … oder irgendein Photoshop-Scherz.

Imogen versuchte, sich zu sammeln. Sie griff nach dem Laptop, öffnete ihn wieder und wartete darauf, dass der Bildschirm hell wurde.

Der Zeitungsartikel war noch da. Imogen überflog die Überschrift:

Grünes Licht für neues Projekt

Sie betrachtete das Foto genauer. Der Körper der Frau war hinter dem Premierminister versteckt, der so schnell vor den Kameras floh, wie seine durch den Anzug behinderten Beine es erlaubten.

Die Frau jedoch hatte es nicht so eilig. Sie hatte das lange Haar aus dem Gesicht gestrichen. Selbst ihr Make-up war eindeutig von dieser Welt – mit schwungvoll gezogenen Lidstrichen.

Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Imogen war, als würde Anneschkas Blick den Bildschirm durchstoßen, als würde sie sich damit einen Weg in die Küche bohren.

Ja, das war Anneschka Mazanar, so sicher, wie Schokolade süß war. Was machte sie da mit dem Premierminister? Was sollte dieses Gerede von einem »Projekt«?

Imogen stellte die Keksdose auf den Küchentisch und steckte sich einen weiteren Schokokeks in den Mund. Krümel rieselten auf den Laptop, aber sie merkte es nicht. Der Artikel nahm sie gefangen.

Annabelle Clifford-Marbles rettete jahrelang Waisenkinder im Ausland, bevor sie in England ihre neue Firma gründete. Sie genießt bereits die Unterstützung von …

»Imogen?« Mama stand in der Küchentür. »Alles in Ordnung?«

Imogen sah vom Laptop zu ihrer Mutter hinüber, die sich gerade den Bademantel zuband. Mama hob die Augenbrauen und wartete auf ihre Antwort.

»Ich kenn die Frau in dem Artikel«, flüsterte Imogen. Ihre Stimme war so trocken wie die Kekskrümel. »Das ist die Frau, die Marie entführt hat.«

Kapitel 2

Imogen hatte den Satz noch nicht beendet, da wurde Mama schon aktiv. Als Erstes rannte sie zum Telefon und rief Oma an. »Ja, komm her«, sagte sie. »Du kannst deinen Tee auch hier trinken.«

Dann flitzte sie mit flatterndem Bademantel nach oben. »Mark!«, rief sie im Laufen.

Imogen blieb allein in der Küche sitzen. Ihr Magen war in Aufruhr. Anneschka Mazanar war hier … in England …

Die Welt war ihr so sanft und sonnig erschienen. Aber jetzt fiel ein Schatten darauf.

Mark kam die Treppe heruntergepoltert, mit ernstem Gesicht und getrockneter Zahnpasta auf dem Hemd. Er legte Imogen schwer die Hand auf die Schulter. »Können wir – bist du sicher, dass es Anneschka ist?«

Imogen nickte.

Marie kam langsamer die Treppe herunter. Ihr Haar war verstrubbelt, und ihre Augen waren groß. Imogen wollte etwas sagen, um ihre kleine Schwester zu beruhigen, aber alle tröstlichen Worte waren verschwunden.

Ihre Gedanken wanderten zu der Prophezeiung zurück … denn damit hatte alles angefangen. Anneschka war dazu bestimmt, das größte Königreich zu regieren, das hatte die Sternenuhr gesagt.

Die Uhr hatte auch eine kleine Gestalt in einem Regenmantel gezeigt – ein Figürchen, das wie Marie aussah. Daraufhin war Anneschka überzeugt gewesen, dass Marie ihr helfen würde, Königin zu werden.

»Alles gut, mein Schatz«, flüsterte Mama. Sie drückte Marie beschützend an sich. »Ich bin ja hier. Bei mir passiert dir nichts.«

Aber Imogen war sich da nicht so sicher. Sie konnte nicht vergessen, was Otschi, die Waldhexe, zu ihr gesagt hatte: Dieses Kind ist ein Teil von Anneschkas Prophezeiung. Ihre Schicksale sind miteinander verknüpft.

Ein Bremsenquietschen verkündete Omas Ankunft. Mit Lockenwicklern im Haar und auf links angezogener Bluse stürzte sie ins Haus. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte!«, rief sie.

Sogar der Kater kam dazu. Er schoss durch seine Katzenklappe herein und sprang auf den Tisch. Dabei miaute er, als wollte er sagen: »Willst du mich besuchen?«

Und so war die ganze Familie versammelt. Alle setzten sich um den Küchentisch, mit Imogen an einer Schmalseite. »Nur zu, Imogen«, sagte Mama. »Zeig uns, was du gefunden hast.«

Imogen klappte den Laptop auf, als würde sie den Käfig eines wilden Tieres aufschließen. Mama, Oma und Mark reckten die Köpfe. Marie rührte sich nicht.

Imogen wünschte, sie hätte nicht so viele Kekse gegessen. Ihr war ein bisschen schlecht. Aber wenigstens nahm ihre Familie die Sache ernst. Niemand hatte gesagt, sie würde diese Geschichte bloß erfinden. Alle waren da – und alle hörten zu.

Da war das Foto. Da waren Anneschkas veilchenblaue Augen. Imogen drehte den Computer so, dass die anderen den Bildschirm sehen konnten.

Marie stieß ein merkwürdiges Geräusch aus. Oma sog durch die Zähne Luft ein. Der Kater rieb den Kopf am Laptop und schnurrte.

»Das ist sie«, sagte Mark durch die zusammengebissenen Zähne. »Das ist Anneschka Mazanar.«

Mama schüttelte den Kopf. »Sie sieht so – so –«

»Wo lässt sie sich die Haare machen?«, rief Oma mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung.

Marie vergrub das Gesicht an Mamas Seite, was Imogen zwar etwas babyhaft, aber durchaus verständlich fand. Sie wusste ja, was Marie durchgemacht hatte – sie war von Anneschka gekidnappt worden und hatte ihre Befehle ausführen müssen.

»Hast du nicht gesagt, dass sie im Ausland lebt?«, fragte Oma und steckte den Lockenwickler in ihren Ponyfransen fest.

»Nicht im Ausland«, sagte Imogen. »Sie kommt aus einer anderen Welt. Aber sie kann nicht durch die Tür im Baum gekommen sein. Die Tür im Baum kann nur der Schattenfalter öffnen.«

»Und der Falter würde Anneschka niemals durchlassen!«, rief Marie.

»Hmm«, sagte Mama. »Dann muss es noch einen anderen Weg geben.«

Imogen versuchte, sich das vorzustellen – eine zweite magische Tür … Wo könnte sie sein? In der Nähe von ihrem Zuhause vielleicht? Oder in einem anderen Land? Möglicherweise gab es sogar viele solcher Portale, ganz hinten auf alten Friedhöfen versteckt oder von Efeu überwuchert in den Ecken und Winkeln von Parks oder tief in uralten Wäldern verborgen …

Mark sagte im Flüsterton: »Ihr glaubt doch nicht, dass Anneschka …« Er beherrschte sich, aber alle wussten, wie sein Satz weitergegangen wäre: … dass Anneschka Marie holen will?

Maries Augen füllten sich mit Tränen. »Aber ich gehe nicht mit! Sie kann mich nicht dazu zwingen!«

»Natürlich nicht«, sagte Mama. »Diese Frau kommt mir nicht in deine Nähe.«

»An mir kommt sie nicht vorbei!« Oma stieß ihren Gehstock auf den Boden.

Imogen sah kurz aus dem Fenster, als könnte Anneschka jeden Moment vor dem Haus auftauchen. Sie wusste zwar, dass das albern war, aber sie konnte nicht anders.

Die Schwestern warfen sich über den Küchentisch hinweg einen Blick zu. »Anneschka wird alles tun, damit ihre Prophezeiung wahr wird«, sagte Marie. »Das ist das Einzige, was ihr wichtig ist.«

»Ich dachte, sie hätte das größte Königreich schon gefunden«, sagte Mark. »Ich dachte, deshalb hätte sie dich laufen lassen.«

»Aber wenn nicht?« Marie rang nach Luft. »Was ist, wenn sie immer noch danach sucht? Dann will sie – dann will sie mich mitnehmen!«

Imogen versuchte, ihre Panik zu unterdrücken.

Bei dem Gedanken, dass Anneschka in dieser Welt war, fühlte sie sich, als stünde sie am Rand einer sehr steilen Klippe. Sobald sie den Blick von dem Steilhang abwandte, würde sie mit Sicherheit abrutschen.

Mark stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Glaubt ihr nicht, dass das hier bei uns ist? Das größte Königreich, meine ich?«

Oma prustete so heftig los, dass sie ein Taschentuch brauchte. »Nein, Mark, das glaube ich nicht. Wenn es so was überhaupt gibt, dann ist es Italien. Die Oper, die Architektur, die –«

»Was sollen wir denn bloß machen?«, rief Marie. Sie sah erst Mark, dann Oma und dann Mama an.

»Ich schreibe einen Brief an den Premierminister«, sagte Mark. »Und kläre ihn über Anneschka auf. Sie gehört eingesperrt für das, was sie getan hat.«

»Einen Brief?« Oma sah Mark ungläubig an. »Was soll das nützen? Man muss diese Frau zur Vernunft bringen. Sie kann doch nicht viel älter als zwanzig sein. Fast noch ein Kind. Ich gehe hin und halte ihr eine ordentliche Standpauke.«

»Nein«, sagte Mama ziemlich laut. Alle Köpfe wandten sich ihr zu. »Keine Briefe. Keine Standpauken. Ihr müsst euch von Anneschka, oder Annabelle oder wie auch immer sie sich nennt, fernhalten. Und das meine ich ernst. Ich will nicht, dass ihr euch auch nur in der gleichen Gegend aufhaltet wie sie.«

Imogen musste zugeben, dass sie keine Lust hatte, Anneschka wiederzusehen. Schon beim Gedanken daran kribbelte ihr die Haut im Nacken.

»Und ich will auch nicht, dass ihr Mädchen euch Sorgen macht«, fuhr Mama fort. »Mark und ich werden uns überlegen, was zu tun ist. Und so lange gibt es keinen Grund, anzunehmen, es hätte irgendetwas mit uns zu tun, dass Anneschka hier aufgetaucht ist. Sie weiß ja nicht einmal, wo wir wohnen. Am besten vergesst ihr die ganze Sache.«

Dass Mama mit solcher Zuversicht sprach, beruhigte Imogen ein bisschen. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie Anneschka so einfach vergessen konnte.

»Ich brauche Tee«, murmelte Oma und stellte den Wasserkocher an. »Tee und einen Orangensaft zum Nachspülen. Will sonst noch jemand?«

Mama nickte und stand auf. Mark blieb sitzen und griff nach dem Kater. Aber Mog, der sich sonst so gern streicheln ließ, fauchte und sprang auf den Boden.

Das ist seltsam, dachte Imogen. Sie sah Mark an – dieses Mal richtig.

Er griff über den Tisch und verwuschelte ihr das Haar. »Was geht in deinem Kopf vor, Imogen? Hast du nicht gehört, was deine Mutter gesagt hat? Wir kümmern uns um diese Sache mit Anneschka. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Kapitel 3

Imogen gewöhnte sich an, ihre Mittagspause im Computerraum der Schule zu verbringen. Ihre Freundinnen fanden das langweilig und weigerten sich, mitzukommen. Sie konnten nicht verstehen, warum Imogen sich so brennend für »irgendeine Geschäftsfrau« interessierte.

Aber Imogen konnte nicht aufhören, über Anneschka nachzudenken. Obwohl Mama gesagt hatte, sie solle es vergessen. Obwohl Mark gesagt hatte, alles würde gut werden.

Es war, als wäre Anneschka ein Planet und Imogen ein Steinbrocken, der auf einer ewigen Umlaufbahn gefangen war. Ihre Gedanken kreisten immer weiter und weiter.

Sie wollte nicht, dass ihre Mutter sich Sorgen machte, und sie hatte immer noch kein eigenes Smartphone, daher waren die Unterrichtspausen ihre einzige Möglichkeit, Nachforschungen anzustellen.

Zuerst suchte sie nach Anneschkas falschem Namen. Mehrere Zeitungsartikel erschienen.

Annabelle Clifford-Marbles ist eine gute Freundin des Herzogs von Sconfordshire. Die beiden kamen auf die Idee, während sie zusammen über sein Gut Little Piddlington Estate ritten.

Auf welche Idee?, fragte sich Imogen.

Sie las weiter …

Ms. Clifford-Marbles erklärte: »Und ich dachte bloß, seht euch doch mal dieses viele Grün an. Ist das Grün nicht wunderbar? Wäre es nicht schön, wenn es mehr Grün gäbe?«

Na, das klang nicht gerade nach Anneschka.

Imogen scrollte weiter herunter.

»Wir nennen unsere Firma Grün & Schön.

Eine stylishe Art, die Welt zu retten.«

Das klang nun ganz und gar nicht nach Anneschka. Aber da war sogar ein Foto von ihr, auf dem sie so tat, als würde sie einen Baum pflanzen.

Imogen begriff das alles nicht.

Hatte Anneschka Mazanar sich tatsächlich geändert? Tat es ihr leid, dass sie versucht hatte, Miro zu töten? Bereute sie, dass sie Marie entführt hatte?

Imogen klopfte beim Nachdenken auf den Tisch.

Nein.

Dass Anneschka zur Umweltschützerin geworden war, war unwahrscheinlich. Aber vermutlich hatte sie einen Fehler gemacht. Anscheinend glaubt sie nicht mehr, dass Wálkaha das größte Königreich ist, dachte Imogen, und deswegen sucht sie jetzt nach einem neuen Thron … so wie Marie es gesagt hat. Diese »neue Anneschka« war bloß eine weitere Tarnung.

Imogen tippte ein: »Was ist Größe?«

Der Computer hatte Tausende von Antworten auf diese Frage:

Eine natürliche Fähigkeit, besser zu sein als andere.

Imogen hätte gern eine natürliche Fähigkeit, besser zu sein, gehabt, das musste sie zugeben. Sie hätte gern besser singen und besser rechnen können. Einmal hatte sie sich das so sehr gewünscht, dass sie sogar die Lösungen in einem Mathetest abgeschrieben hatte.

Sie schüttelte den Gedanken ab und suchte weiter.

Ah, da war eine neue Definition:

Die Eigenschaft, groß zu sein (in Bezug auf Körpergröße, Fähigkeiten oder Macht).

Imogens Blick blieb am letzten Wort hängen.

Macht.

Ja, das klang eher nach Anneschka.

Macht, Macht, Macht –

Der Junge am Computer neben ihr sah sie seltsam an, und ihr wurde bewusst, dass sie das Wort laut vor sich hin gesprochen hatte.

»’tschuldigung«, sagte sie und begann eine Bildersuche. Da waren Fotos von Anneschka, wie sie ein Baby küsste, wie sie einen Kampfjet grün anstrich, wie sie neben einem Stück Abfall ein trauriges Gesicht machte.

Auf der Tasche ihres Kleides war ein Symbol aufgenäht. Imogen zoomte es heran. Es war eine kleine grüne Krone … War das Anneschkas Logo?

Auf dem Foto mit dem Müll stand in einer Ecke ein Mann, der ein wenig wie ein Wikinger aussah. Er hatte einen Spitzbart und einen kahl geschorenen Kopf. Auf dem nächsten Foto stand er direkt neben Anneschka. Er trug ein Abzeichen am Jackett, das wie eine Krone geformt war.

Forschend betrachtete Imogen die nächsten Bilder. Da war wieder dieser Mann, wie er Anneschka Platz machte. Und da herrschte er ein Kind böse an. Der Wikinger war auf allen Fotos zu sehen.

Imogen packte den Bildschirm an den Rändern. »Wer ist das?«, flüsterte sie.

Der Junge am Computer neben ihr glotzte sie an, aber das war ihr egal. Sie musste es herausbekommen. Ihr schien, dass die Schwestern sich nur vor Anneschka schützen konnten, wenn sie mehr über sie wussten, als diese Frau über ihre Familie wusste.

Vielleicht war der Wikinger mit Anneschka befreundet … oder vielleicht war er ihr neuer Leibwächter? Etwas an ihm machte Imogen ein wenig Angst. Er sah aus, als könne er nicht lächeln.

Drrring!, machte die Schulglocke.

Die Mittagspause war vorbei.

Frustriert schlug Imogen mit der Faust auf den Tisch. Sie würde ihre Recherche übers Wochenende unterbrechen müssen – gerade jetzt, wo sie das Gefühl hatte, dass sie Fortschritte machte.

Das ist okay, beruhigte sie sich. Es ist ja nicht so, als würde Anneschka gleich morgen hier auftauchen. Mir bleibt immer noch Zeit, um dieses Rätsel zu lösen.

Kapitel 4

Als Imogen aus der Schule nach Hause kam, versuchte sie, nicht an Anneschka zu denken.

Sie versuchte das auch am Abend, als sie Mamas berühmten Hühnertopf aßen; und sie versuchte, nicht an Anneschka zu denken, als sie sich ins Bett legte, wo Marie schon schlummerte.

Seit Marie entführt worden war, schlief sie mit in Imogens Bett. In ihrem eigenen Zimmer hatte sie Probleme beim Einschlafen, und bei Imogen schien sie sich geborgener zu fühlen.

Als Mama am nächsten Morgen verkündete, dass sie alle zusammen in den Haberdash-Park fahren würden, versuchte Imogen immer noch, nicht an Anneschka zu denken. »Mark hat gesagt, wenn ihr euch gut benehmt, macht er ein Lagerfeuer«, erklärte Mama.

Imogen wusste, dass das der Code war für »Geht bloß nicht wieder auf Wanderschaft«.

Aber das störte sie nicht. Sie war überrascht, dass Mama sie überhaupt mitnehmen wollte. Schließlich war im Park die Tür … die Tür in die magische Welt.

Sie befand sich im Stamm eines mächtigen Baumes, und sie hatte die Neigung, ins Schloss zu fallen. So war es gekommen, dass Imogen und Marie in Jaroslaw festgesessen hatten. Und so war auch Mark in der anderen Welt festgehalten worden.

Das konnte leicht noch einmal passieren …

Aber in der Zeit, als die Mädchen vermisst worden waren, hatte Mama sich angewöhnt, in den Park zu fahren. Da hatte sie sich ihren Töchtern am nächsten gefühlt. Und seit die Mädchen wieder zu Hause waren, nahm sie die beiden an den Wochenenden meistens zu Mrs. Haberdash und in ihren verwilderten Park mit.

Mama sagte, es ginge einfach um »Vertrauen«. Sie sagte, sie wisse, dass die Mädchen keinen Ärger machen würden (womit sie die Tür im Baum meinte). Und je mehr Vertrauen Mama Imogen schenkte, desto vernünftiger wollte Imogen sein.

Als Mark auf den Parkplatz abbog, spürte Imogen ein vertrautes Kribbeln. Sie erinnerte sich an ihre Abenteuer in der anderen Welt und daran, wie alles angefangen hatte …

Mama saß vorne neben Mark, Marie und Imogen saßen hinten. Und vor ihnen lag der Haberdash-Park. Pflanzen drängten sich gegen den Zaun, Ranken krochen unter der Pforte hindurch.

Das Land war seit Jahrhunderten im Besitz der Haberdashs. Doch Mrs. Haberdash war das Geld ausgegangen, und sie konnte sich schon seit vielen Jahren keine Gärtner mehr leisten.

Zum Glück besaß Mrs. Haberdash die Teestube. Das war ein kleines Holzhaus auf der anderen Seite des Parkplatzes, in dem sie heiße Getränke und Kuchen verkaufte. Die Teestube, ihre kleinen Hunde und ihre vielen Freundinnen sorgten offenbar dafür, dass Mrs. Haberdash glücklich und zufrieden war.

Über dem Eingang in den Park hingen in ansprechenden Buchstaben die Worte Willkommen im Haberdash-Park. Quer auf der Pforte stand in weniger ansprechenden Buchstaben: KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE!

Aber Mrs. Haberdash hatte gesagt, die Schwestern hätten Zutritt, wann immer sie wollten.

Mark parkte, und die Mädchen sprangen aus dem Wagen und rannten um die Wette zur Pforte. Bald spazierte die ganze Familie den Parkweg entlang, umgeben von Vogelgesang und Laub.

Oben auf einer hohen Blume hockte ein Sorgenteufel und machte ein gruseliges Gesicht. Marie, Mama und Mark gingen einfach weiter. Sie konnten das Biest nicht sehen.

Aber Imogen blieb stehen. Sie konnte das Teufelchen gut sehen. Sehr gut sogar.

Es war etwa so groß wie eine Zwiebel, hatte kurze, runzlige Beine und blasse Augen. Die Sorgenteufel tauchten oft auf, wenn Imogen ängstlich war. Sie machten die Sache nie besser – immer nur schlimmer. Allerdings konnte Imogen mittlerweile viel besser mit ihnen umgehen.

Hinter dem Busch da könnte Anneschka sitzen, zischte der Sorgenteufel.

»Beeil dich, Imogen«, rief Mama. Sie war ganz vorn auf dem Weg und fast schon hinter dem dichten Gebüsch verschwunden.

Imogen schlug den Teufel von der Blume herunter, sodass er kreischend ins Gestrüpp stürzte. Dann trabte sie los, um die anderen einzuholen.

Die Familie ging weiter, bis sie Mamas Zelt erreichten. Es stand jetzt dauerhaft im Park, unter den Ästen einer großen Rosskastanie. Das wild wachsende Gras ringsherum war lang geworden, außer an den Stellen, die sie bei ihren Picknicks platt getreten hatten.

Wie immer hatte Mama eine Kleinigkeit zu essen und ein Buch mitgebracht. Mark legte Steine in einen Kreis, sammelte Kleinholz und stapelte es darin auf. »Es geht nichts über ein schönes Lagerfeuer«, sagte er. »Ich habe das bei den …«

»… Pfadfindern gelernt«, ergänzte Imogen, denn diesen Satz hatte Mark schon oft genug gesagt. Aber sie musste doch lächeln.

Kurz darauf saßen die Mädchen am knisternden Feuer und knabberten Chips. »Marie«, flüsterte Imogen. »Ich hab Anneschka gegoogelt.«

»Mama hat gesagt, wir sollen nicht daran denken«, gab ihre Schwester zurück.

Imogen stöhnte. Für Marie mochte es leicht sein, nicht zu denken, aber Imogen konnte ihr Gehirn nicht einfach so ausschalten.

Wie zum Beweis dafür wurde der zwiebelgroße Sorgenteufel wieder sichtbar. Er hüpfte von einer Pflanze zur anderen und nutzte die Blütenköpfe des Wiesenkerbels dabei als schwankende Trittsteine.

Imogen rückte näher an ihre Schwester heran. »Aber hast du gewusst, dass Anneschka mit einem Herzog befreundet ist?«

Marie war sehr still. Gestern beim Abendbrot war sie auch sehr still gewesen. Imogen hatte gedacht, ihre Schwester wäre einfach müde gewesen, aber jetzt fragte sie sich, ob da vielleicht noch etwas anderes im Spiel war.

Mama und Mark unterhielten sich auf der anderen Seite des Feuers. Sie wirkten sehr ernst und redeten leise. Imogen hatte den Verdacht, dass auch sie über Anneschka sprachen …

Der Sorgenteufel rutschte an einem Stängel hinab wie ein Feuerwehrmann, der an einer Rutschstange hinuntersaust. Du kannst vor Anneschka nicht sicher sein, wenn du nicht weißt, was sie vorhat, zischte er.

»Sie sagt, sie will die Welt grüner machen«, fuhr Imogen fort. »Aber ich glaube, das stimmt nicht.«

»Ist mir egal, falls du das noch nicht bemerkt hast«, fauchte Marie.

Imogen blinzelte erschrocken. Sie sprach oft mit Marie über ihre Ängste und Sorgen. Das war die beste Methode, um die Sorgenteufel zu vertreiben.

Aber so hatte Marie noch nie reagiert.

Plötzlich kam Imogen sich total blöd vor, denn wie hatte sie das nur vergessen können? Sie selbst war vielleicht gestresst wegen Anneschka, aber für Marie war das alles noch viel schwieriger.

In den stillen Momenten vor dem Einschlafen, wenn die Mädchen im Bett lagen, erzählte Marie oft von ihren Erlebnissen …

Sie erzählte davon, wie Anneschka ihr gedroht hatte, sie an einen Drachen zu verfüttern. Marie hatte gedacht, sie müsste gleich sterben.

Manchmal erzählte Marie auch von der alten Königin – die vor ihren Augen ermordet worden war. Imogen hatte Marie erklärt, dass das nicht ihre Schuld gewesen sei und dass sie nichts dagegen hätte tun können. Aber Marie hatte immer noch Albträume von jenem Abend.

Imogen aß den letzten Chip und seufzte. Ihr Sorgenteufel kam zischend näher, aber sie richtete ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihre Schwester.

»Tut mir leid, Marie«, flüsterte sie. »Du hast recht … ich sollte nicht über Anneschka reden, wenn du das nicht möchtest. Ich spreche nicht mehr von ihr.«

Marie starrte in das wuchernde Unterholz und ließ nicht erkennen, ob sie Imogen gehört hatte.

Anneschka könnte da draußen sein, flüsterte der Sorgenteufel.

Imogen kickte ihn weg.

»Außerdem«, fügte sie hinzu und konzentrierte sich dabei nur auf Marie, »gibt es für uns gar nichts zu besprechen. Mama und Mark sind hier. In dieser Welt ist das ganz anders – hier sind wir viel sicherer.«

Auf der anderen Seite des Lagerfeuers saßen Mama und Mark jetzt dichter zusammen, und wenn sie glaubten, die Mädchen könnten es nicht sehen, berührten sich ihre Finger.

Kapitel 5

Wie Imogens Nachforschungen ergeben hatten, hatte Anneschka Mazanar in dieser Welt viel erreicht.

Sie hatte Religionsführer ausgefragt. Sie hatte erfolgreich die Queen erpresst. Sie hatte sogar überlegt, den Premierminister zu erwürgen. Das wäre gar nicht schwer gewesen. Anneschka hatte nasse Waschlappen gesehen, die sich besser verteidigen konnten als dieser Mann.

Aber im Moment war ihr der Premierminister nützlicher, wenn er am Leben blieb. Er schien nichts gegen das »Verschwinden« von Anneschkas Feinden zu haben. Er freute sich sogar, wenn er ihr helfen konnte, an Geld zu kommen, solange bei ihren Projekten auch für ihn etwas abfiel. In diesem Vereinigten Königreich konnte Anneschka sehr reich werden.

Aber Reichtum allein war nicht Größe. Das hatte Anneschka gelernt. Die fünf Königinnen von Wálkaha hatten vor lauter Silber wie poliert ausgesehen, und wie war es ihnen ergangen? Sie waren ertrunken wie mit Metall überzogene Ratten.

Selbst das Vermächtnis der fünf Königinnen existierte nicht mehr. Dafür hatte Miroslaw Krischnow gesorgt, als er dem Kruttemosch beim Duell die Maske heruntergerissen hatte.

Allerdings … bevor Anneschka Wálkaha verlassen hatte, hatte sie mehrere Truhen mit dem Silber der fünf Königinnen gefüllt – so viele, wie eine Kutsche transportieren konnte.

Auch wenn Geld allein noch nicht zu Größe führte, half es doch, wenn man reichlich davon zur Hand hatte.

Nach dem Duell hatte Anneschka sich wieder als Prinzessin Paula ausgegeben, und König Tibor war darauf hereingefallen. Er war abgelenkt gewesen, weil er nach seiner jüngsten Tochter gesucht hatte, und er hatte gesagt, »Paula« könne tun und lassen, was sie wolle.

Also hatte Anneschka auch sein Geld an sich genommen, sie hatte es aus den Kellergewölben der Burg geholt. Mit diesem gestohlenen Vermögen hatte sie eine Legion Jesdetz gekauft, grimmige Krieger, die gegen Bezahlung kämpften.

Die Jesdetz waren mit Anneschka durch die Tür im Baum nach England gereist. Sie hatten sich als Landadel verkleidet und trugen grüne Gummistiefel, Tweedanzüge und Schiebermützen.

Mit diesen Soldaten, dem restlichen Silber und ihrer Gerissenheit hatte Anneschka kein Problem gehabt, sich in die englische Elite hineinzudrängeln. Hier hatte sie ihren Reichtum vervielfacht und einflussreiche Freunde gewonnen.

Aber nicht alles war einfach gewesen. Anneschka hatte einen machtvollen Zauber entdeckt, der das ganze englische Königreich lenkte, von der Art und Weise, wie die Leute Geld verdienten, bis hin zur Wahl ihrer Ehepartner. Diesen Zauber hatten die Menschen in ihren Taschen, ihren Rucksäcken und ihren Häusern. Er besaß die Macht, Leben zu nehmen oder zu retten.

Die Einheimischen nannten ihn Technik.

Und auch wenn anscheinend keiner dieser Bauern richtig wusste, wie sie funktionierte, war Anneschka klar, dass diese Technik Größe bedeutete. Sie kontrollierte alles. Und wer oder was konnte größer sein als so etwas?

Anneschka musste nur den Ursprung der Zauberkraft finden und ihn in Besitz nehmen. Dann würde sie über dieses Königreich herrschen. Die Politiker oder das Königshaus spielten keine Rolle … Sie hatten in diesem Land nichts zu sagen.

Anneschka würde auf dem Thron der Technik sitzen.

Wenn sie ihn bloß finden könnte.

Nach einigen frustrierenden Monaten, in denen sie mehr Fragen als Antworten entdeckt hatte, kehrte Anneschka in ihre eigene Welt zurück. Die Menschen in England mochten nichts von Magie verstehen, aber sie wusste eine Person, die sich damit auskannte.

Anneschka stand in den Kolsaniwäldern. Samo, der Anführer der Jesdetz, stand neben ihr. Er war kahlköpfig und hatte einen recht eindrucksvollen Bart.

Im Zwielicht der Dämmerung hatte der Wald abstrakte Formen angenommen. Ganz gleich, wo Anneschka sich hinwandte, sie sah ein endloses Muster aus senkrechten Linien. Die Bäume wiederholten sich selbst.

»Wie ich diesen Wald hasse«, murmelte Anneschka, und im gleichen Moment überkam sie das scheußliche Gefühl, dass sich hier nichts verändert hatte. Obwohl sie so viel durchgemacht hatte, obwohl sie so viele Menschen getäuscht hatte – der Wald war noch ganz genau so, wie er immer gewesen war …

Auch sie selbst war noch genau so … sie war ihrem Ziel, das größte Königreich zu regieren, keinen Schritt näher gekommen.

Anneschka holte tief Luft. »Otschi!«, rief sie. »Wo bist du?«

Nur ein ärgerliches Eichhörnchen gab Antwort.

Vielleicht hat die Hexe Angst, dachte Anneschka. »Leg deine Waffen nieder«, befahl sie Samo.

Der Anführer der Jesdetz legte sein Schwert und seine Dolche an den Fuß eines Baumes.

»Otschi!«, rief Anneschka wieder. »Zeigst du uns den Weg zu deinem Haus? Dieser Mann hier möchte eine Prophezeiung erwerben. Er ist bereit, seine Seele zu verkaufen.«

Samos kühler Blick huschte über Anneschkas Gesicht, aber er widersprach nicht. Er schwieg fast immer, und dafür mochte Anneschka ihn.

Ein Velekur krächzte, und Anneschka fuhr erschrocken herum. Als sie sich wieder umdrehte, bemerkte sie eine Lücke zwischen den Bäumen – einen Pfad, der vorher nicht da gewesen war. Er schien zu einem alten Häuschen zu führen.

»Folge mir«, befahl Anneschka und ging auf das Haus zu.

Samo folgte ihr mit unhörbaren Schritten.

In den Baumstämmen waren Augen.

»Otschi schuldet mir Antworten«, murmelte Anneschka. Sie erinnerte sich an einen Satz aus der anderen Welt, der gut zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passte. »Jetzt ist Schluss mit lustig.«

Kapitel 6

Otschi war im Garten. Sie sah jung und gertenschlank aus und begrüßte Anneschka mit einem Lächeln. Allerdings fiel Anneschka auf, dass dieses Lächeln nicht bis zu den Augen der Hexe reichte.

»Komm herein, Kind«, sagte Otschi. »Na, du warst aber fleißig. Die Bäume haben mir so viel erzählt.« Sie verneigte sich vor Samo. »Du auch, tapferer Krieger. Ihr seid sehr willkommen.«

Anneschka betrat das Häuschen. Es sah noch genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch. Der Schreibtisch war da und der Kamin, überall standen Tontöpfe, und in einer Schublade schlief ein Huhn.

Kaum war die Hexe über die Schwelle getreten, da sackte sie in sich zusammen, ihr dunkles Haar wurde weiß, und sie wurde immer dünner, bis kaum noch etwas von ihr übrig war.

Anneschka hatte diese Verwandlung schon oft miterlebt, aber sie ekelte sich jedes Mal wieder davor. Die echte Otschi war ebenso wenig eine junge Frau, wie ein uralter Eichbaum eine Eichel war.

Die Verwandlung geschah in Sekundenschnelle, und die alte Hexe humpelte zu ihrem Sessel. »Also«, krächzte sie, während sie Samo musterte, »was kann ich für euch tun?«

»Kümmere dich nicht um ihn«, fuhr Anneschka sie an. »Ich bin es, die deine Hilfe braucht.«

»Aber deine Seele ist doch schon …«

»Die Sterne haben gesagt, ich werde über das größte Königreich herrschen«, sagte Anneschka. »Und ich habe das richtige Reich gefunden. Es gibt eine Welt mit fliegenden Maschinen und Unterwasserschiffen, und die Häuser werden dort mit Feuer beleuchtet, das nicht brennt, man nennt das Elek-tri-zi-tät.«

Anneschka musste Luft holen. »Wenn ich nur die Magie dahinter verstehen könnte … es muss ein System von Zaubersprüchen geben. Dann wäre ich eine mächtige Herrscherin. Nicht bloß Königin, sondern Magierin – ich würde über alle Lebewesen herrschen. Das ist Größe. Das ist meine Bestimmung.«

Die Hexe legte die knochigen Fingerspitzen zusammen, sodass ihre Hände vor ihrem Gesicht ein spitzes Dreieck bildeten. Sie nahm sich Zeit, bevor sie antwortete. »Magie? Davon verstehe ich nur sehr wenig.«

»Unsinn«, kreischte Anneschka. »Du bist eine Hexe!«

Das Huhn wachte auf und schüttelte sich aufgeregt. Otschi wirkte verlegen. »Meine Kräfte sind bescheiden und von dieser Welt. Außerdem bist du doch schon eine Prinzessin, die Erbin von König Tibors Thron … reicht das nicht?«

»Das nennst du Thron? Die Tieflande sind halb überflutet und vermodern vor Feuchtigkeit!« Anneschka trat auf die alte Frau zu. »Wie kann ich Englands Magie kontrollieren? Wo ist der Zugang dazu?«

»Das weiß ich nicht«, beteuerte Otschi.

»Also gut.« Anneschka gab Samo ein Zeichen. Schnell wie ein Schatten huschte er durch den Raum und griff nach einem von Otschis Tontöpfen.

»Was machst du –«, begann die Hexe.

Samo schmiss den Topf auf den Fußboden. Er zersplitterte, sodass die Scherben flogen.

Otschi schrie.

Das Huhn in der Schublade sah erschrocken aus.

Und zwischen den Tonscherben stieg etwas wie Dampf auf – ein zarter, glitzernder Dunst.

Das ist also eine Seele, dachte Anneschka. Sie war so klein, so fein, so leicht zu übersehen. Als wäre sie das ganze Theater kaum wert …

Doch ihre Befreiung hatte die gewünschte Wirkung auf die Hexe.

Otschi warf sich auf die Knie und griff nach dem Wölkchen, konnte es aber nicht festhalten. Es glitt zwischen ihren Fingern hindurch und legte sich um ihre Handgelenke. »Nein!«, krächzte sie.

Die Seele wirbelte einen Moment auf der Stelle, als wolle sie sich sammeln, dann flog sie mit einem Schrei zum Schornstein hinaus.

Anneschka zuckte zusammen. Ihr war, als würde dieser Schrei ihr das Trommelfell durchbohren.

»Wie konntest du nur?«, rief Otschi. »Ich habe mir diese Seele verdient, mit ehrlicher Arbeit! Ich brauche sie – ich brauche sie zum Leben!«

»Wie kann ich Englands Magie beherrschen?«, fragte Anneschka. »Das weißt du doch, oder? Sag mir die Wahrheit!«

Otschi schüttelte nur den Kopf. Sie zitterte heftig.

Samo nahm noch einen Tontopf und ließ ihn fallen. Dieser Topf landete mit einem dumpfen Krachen. Die Seele schlüpfte durch einen Riss heraus, schimmernd und wabernd. Dann flog auch sie schreiend durch den Schornstein hinauf davon.

Die anderen Töpfe begannen zu wackeln, als wollten die Seelen darin als Nächste befreit werden. Es waren Hunderte – auf der Fensterbank aufgereiht, unter die Treppe geschoben und in den Ecken des Raumes aufeinandergestapelt.

Samo machte weiter. Er griff sich zwei Töpfe und schlug sie gegeneinander – wums, krach, knack! Die Tontöpfe zerbrachen, und die Seelen schwebten hinaus.

»Hör auf!«, rief Otschi. »Stopp!« Sie fasste Samo am Arm, aber er schüttelte sie ab.

Anneschka guckte belustigt zu.

Sie nahm selbst einen Tontopf und spürte das Gewicht in ihrer Hand. Er war recht stabil. Sie pfefferte ihn gegen die Wand.

Das Huhn duckte sich, als der Topf über seinen Kopf sauste. Ton splitterte, und die Seele flüchtete schreiend. Anneschka bebte vor Freude.

Samo arbeitete sich langsam und systematisch rings um den Raum herum. Das Huhn suchte unter dem Schreibtisch Schutz. Die befreiten Seelen versammelten sich auf dem Boden, legten sich als Dunst um Anneschkas Knöchel und warteten, bis sie an der Reihe waren, in die Freiheit aufzusteigen.

Je mehr Tontöpfe Samo zerbrach, desto schwächer wurde Otschi. Sie lag jetzt ausgestreckt auf dem Fußboden und konnte kaum noch den Kopf heben. Jede befreite Seele schien die Hexe älter zu machen und sie dem Tod näher zu bringen.

Da hob Anneschka die Hand, und Samo hielt inne. »Hast du uns etwas zu sagen?«, fragte sie die Hexe.

»Ich weiß nichts – über ihre – Magie«, keuchte Otschi.

Anneschka schielte an ihrer hübschen Nase entlang nach unten. »Du bist wirklich erbärmlich, was? Du bist keine Botschafterin der Sterne! Du bist nichts als ein kaputtes Gehäuse, du taugst zu nichts –«

Anneschkas Blick fiel auf eine Uhr. Sie stand auf dem Kaminsims, und das Zifferblatt war völlig zerkratzt. Winzige Edelsteine, die wie Sterne aussahen, schwebten davor in der Luft. Alle fünf Zeiger standen still.

»Wo ich gerade von kaputtem Gehäuse spreche …« Anneschka erinnerte sich daran, dass Otschi gesagt hatte, die Uhr ginge nach den Sternen. »Samo, nimm die Uhr da an dich.«

Der Anführer der Jesdetz gehorchte.

»Lass uns nach England zurückkehren.« Anneschka machte einen großen Schritt über die zusammengebrochene Hexe hinweg. »Otschi ist bloß eine Übersetzerin und noch dazu eine schlechte. Mit dem richtigen Apparat kann ich den Ursprung der Magie selbst finden.«

Kapitel 7

Am nächsten Wochenende fuhren Mama und die Mädchen wieder in den Haberdash-Park. Es war ein warmer Sonntag im Mai, und Imogen war entschlossen, ihr Versprechen zu halten. Sie würde nicht über Anneschka sprechen. Auch dann nicht, wenn Marie selbst davon anfangen sollte. Und auch nicht, wenn tausend Sorgenteufel in Mamas Zelt warteten.

»Ich weiß nicht, warum«, sagte Mama, als sie auf das Gut Haberdash zufuhren, »aber ich fühle mich hier merkwürdig ruhig. Wenn ich könnte, würde ich jeden Tag herkommen.«

Imogen wusste, was Mama meinte. Sie war gern mit den Vögeln und den Fröschen und den Insekten zusammen. Und abends war es ein guter Ort, um die Sterne zu beobachten.

Mark half Imogen, die Namen der Sterne zu lernen. Er kannte sie selbst nicht alle, aber er hatte eine Astronomie-App auf seinem Smartphone.

Heute allerdings saß Mark nicht mit im Auto. Er hatte mit Mountainbiken angefangen und fuhr zu seiner Geländestrecke.

»Ich will einen Skret zeichnen«, sagte Marie von hinten. Sie war in der vergangenen Woche wieder munterer geworden. Imogen vermutete, dass der Schock über Anneschkas Auftauchen allmählich nachließ.

Imogen sah ihre Mutter an und wartete ab, ob sie jetzt sagen würde, dass es gar keine Skret gab. Aber Mama lächelte nur. »Klingt nach einem guten Plan«, antwortete sie.

Als Mama den Motor ausstellte, hörte Imogen Gebell. Es kam nicht aus dem Park, sondern aus der Teestube auf der anderen Seite des Parkplatzes.

Das war merkwürdig … Mrs. Haberdashs Hunde bellten eigentlich nur, wenn etwas sie sehr aufregte.

Die Mädchen sprangen aus dem Wagen. An der Eingangstür zur Teestube hing ein Zettel: Unerwarteter Besuch. Geschlossen.

Auf der anderen Seite der Tür ging etwas zu Bruch.

Mama kam angelaufen. »Was ist denn? Was ist –«

Peng, schepper, KLIRR!

Wer auch immer da in der Teestube wütete, machte sich gerade über Mrs. Haberdashs Teller her.

Mama klopfte an die Tür, und ein sehr lautes Quäken antwortete. Sie klopfte heftiger. »Mrs. Haberdash?«

»Ich bin nicht da!«, rief Mrs. Haberdashs Stimme.

Imogen und Marie wechselten einen Blick.

»Sind Sie … ist alles in Ordnung?« Mama rüttelte am Türgriff, aber er ließ sich nicht bewegen.

»Wir haben geschlossen«, rief Mrs. Haberdash. »Ich habe –« Weiteres Krachen, Klirren und Hundegebell unterbrachen sie. »Besuch!«

»Schon gut, Mrs. Haberdash«, rief Mama und zog sich von der Tür zurück.

Imogen wollte ihr gerade sagen, dass sie Mrs. Haberdash nicht einfach so allein lassen konnten, weil da eindeutig etwas nicht stimmte, aber da begann Mama schon, durchs Fenster in die Teestube zu klettern. »Ihr wartet hier«, sagte sie zu den Mädchen, bevor sie zwischen den Gardinen hindurchschlüpfte.

Imogens Fantasie ging mit ihr durch. Vielleicht war Anneschka in der Teestube? Vielleicht hielt sie Mrs. Haberdash als Geisel, und die alte Dame konnte niemanden um Hilfe bitten?

»Catherine!«, rief Mrs. Haberdash.

Quääk, quääk, KLIRR!

»Ach nein, nicht den Möhrenkuchen!«

»Mama!«, rief Imogen und hämmerte gegen die Tür. »Was ist denn los?«

»Sind sie gefährlich?«, fragte Mama drinnen.

Imogen wünschte, sie könnte sehen, wer mit »sie« gemeint war. Wenn der Besuch wirklich Anneschka war, würde Mama doch bestimmt nicht erst lange Fragen stellen, oder?

Imogen konnte Mrs. Haberdashs Antwort nicht verstehen, aber sie hatte lange genug gewartet. »Du bleibst hier«, befahl sie Marie, einfach für alle Fälle.

Dann zog sie sich am Fensterrahmen hoch und kletterte in die Teestube hinein. Doch auf das, was sie dort erwartete, hätten selbst ihre kühnsten Fantasien sie nicht vorbereiten können.

Vor der Theke, auf der sonst immer so schön geordnet Scones und Kuchenstücke standen, lag jetzt ein Matsch aus zertrampeltem Biskuitkuchen. An der Tür häuften sich kaputte Untertassen, und die Hunde, die sonst so träge waren, flitzten durch den Raum, bellten, scharrten unter den Tischen und sprangen über Stühle und Sofas.

Mitten in diesem Chaos saß Mrs. Haberdash in ihrem Elektromobil. Sie schwang mit beiden Händen einen Regenschirm und hielt ihn wie einen Schild vor sich. »Sie sind durchgedreht!«, rief sie völlig verzweifelt.

Imogen lugte um Mrs. Haberdashs Regenschirm herum.

Und da, auf einem Tortenständer, hockte ein Wesen, das überhaupt keine Ähnlichkeit mit einem Kuchen hatte. Es sah auch nicht wie Anneschka aus. Es war mager, hatte Stummelflügel und einen langen, scharfen Schnabel. Seine flauschigen Federn hatten noch nicht die Färbung der erwachsenen Vögel – aber es bestand gar kein Zweifel: Das war ein junges Velekur.

Kapitel 8

Der Vogel auf dem Tortenständer stieß ein krächzendes Quäken aus. Er hatte helle Federbüschel und Augen wie Pingpongbälle und sah aus wie eine misslungene Zeichnung aus dem Kunstunterricht. Auf der Theke saß ein zweites Küken und bemühte sich gerade angestrengt, einen Scone zu verschlucken.

Imogen hatte noch nie so kleine Velekurs gesehen. Im Park der Burg Jaroslaw hatte es zwar Jungvögel gegeben, aber selbst die hatten schon das Gefieder der erwachsenen Vögel gehabt. Diese beiden hier mussten gerade erst geschlüpft sein.

»Die sind ja riesig!«, rief Mama laut, um sich verständlich zu machen. Die Hunde rannten immer noch im Kreis herum, kläffend und außer Rand und Band.

»Du solltest die mal sehen, wenn sie ausgewachsen sind«, brummelte Imogen vor sich hin.

»Sie sind nicht gefährlich«, sagte Marie, die nun, trotz der Anweisungen von Imogen und Mama, ebenfalls durchs Fenster hereingeklettert war. »Oder jedenfalls nicht mit Absicht.«

»Sie haben meinen gesamten Kuchen aufgefressen!«, jammerte Mrs. Haberdash. »Und mein bestes Porzellan kaputt gemacht!«

»Was sind das überhaupt für Vögel?«, rief Mama.

»Velekurs«, sagte Marie.

Mama warf ihrer Jüngsten einen Blick zu. »Vela-was?«

»Sie kommen nicht von hier«, sagte Imogen. Sie erinnerte sich an Zubys Worte. Der Skret hatte gewarnt, dass es gefährlich sei, etwas von der einen in die andere Welt durch die Tür schlüpfen zu lassen. Er hatte gesagt, niemand wüsste, welche Zerstörungen das anrichten würde. Ja, die Velekurs konnten bestimmt alles Mögliche zerstören, aber das war vermutlich nicht die Art von Zerstörung, die Zuby gemeint hatte.

»Wollt ihr damit sagen, dass sie aus der anderen Welt kommen?«, fragte Mrs. Haberdash mit bebender Stimme.

Beide Mädchen nickten. Sie hatten Mrs. Haberdash von der Tür im Baum erzählt – und von der Welt dahinter. Die alte Dame war außerhalb der Familie der einzige Mensch, der davon wusste.

»Ach so«, sagte sie jetzt und senkte ihren Schirm. »Das sind also keine exotischen Gänse?«

Darüber mussten alle lachen. Vor lauter Neugier, was denn jetzt los war, hörten die Hunde auf zu bellen. Sogar die Velekurs sahen verwirrt aus.

In die nun folgende Stille fragte Mama: »Wo haben Sie die Vögel gefunden, Mrs. Haberdash?«

»Sie sind mit den Touristen durch meinen Park gekommen. Die zwei müssen aus dem Nest gefallen sein, sie können ja noch nicht einmal fliegen.«

Das Velekur auf dem Tortenständer breitete die Flügelstummel aus und flatterte, als wollte es der alten Dame das Gegenteil beweisen. Es hob ein paar Zentimeter ab und plumpste dann wieder herunter.

»Tut mir leid, da komme ich nicht mit«, sagte Mama. »Welche Touristen?«

Bevor Mrs. Haberdash antworten konnte, kackte das Velekur auf die Theke, und sofort bellten die Hunde wieder los. Mrs. Haberdash hob ihren Regenschirm.

»Schön«, rief Mama. »Wir können zwar nicht die Probleme der ganzen Welt lösen, aber wenigstens können wir Ihre Teestube vor diesen beiden Viechern bewahren.« Sie schnappte sich eine Tischdecke und näherte sich dem Velekur, das auf der Theke hockte.

Das Velekur auf dem Tortenständer stieß einen Kriegsschrei aus. Imogen und Marie duckten sich hinter Mrs. Haberdash und machten sich auf einen Kampf gefasst.

Aber es gab keinen Kampf. Mama warf das Tischtuch, und das Velekurküken stieß ein ersticktes Quäken aus, als der Stoff über seinen Kopf sank. Dann wurde es ganz still.

»Seht ihr?« Mama wischte sich die Hände an ihren Jeans ab. »Ich dachte, so könnte es klappen. Sie glauben dann, es wäre Nacht, genauso wie Wellensittiche.«

Imogen beäugte den truthahngroßen Brocken unter dem Tischtuch. Wie ein Wellensittich sah er nun nicht gerade aus.

Das andere Velekur machte ein würgendes Geräusch, und alle drehten sich zu ihm um. Etwas steckte ihm in der Kehle – etwas, das wie ein Scone geformt war.

»Es erstickt!«, rief Marie. Das Küken warf den Kopf zurück und versuchte mit aller Kraft, den Scone hinunterzuschlucken.

Mama packte das Velekur und schob ihm eine Hand in den Schlund. Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Vogel Mamas Hand fressen, aber dann zog sie den Scone heraus und schwang ihn über dem Kopf.

Imogen, Marie und Mrs. Haberdash jubelten. Das Velekur wehrte sich kreischend. Mama setzte es wieder auf die Theke und deckte es mit einem zweiten Tischtuch zu.

Jetzt waren beide Velekurs still. Die Hunde zogen sich auf ein Korbsofa zurück.

»Gut«, sagte Mama und wandte sich an Mrs. Haberdash, »also … was haben Sie da eben von Touristen gesagt?«

Kapitel 9

»Die Touristen waren schon ein paarmal hier«, vertraute Mrs. Haberdash ihnen an. »Sie sind ganz anders als meine normalen Gäste. Sie tragen immer scheußliche rote Hosen und Gummistiefel. Sogar bei schönem Wetter!«

Die alte Dame schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Perlenkette klackerte.

»Anfangs hab ich gedacht, sie machen Urlaub, aber jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob es echte Touristen sind. Sie sagen, sie gehören zu einer Firma und sie wollen mein Gut kaufen – das Gutshaus, die Teestube, den Park – alles.«

»Und was haben Sie geantwortet?«, fragte Imogen. Ganz tief in ihrer Magengrube hatte sie ein ungutes Gefühl. Sie hatte noch nie Leute im Haberdash-Park gesehen und nie auch nur davon gehört, dass jemand in den Park wollte.

»Ich habe gesagt, das Land ist nicht zu verkaufen«, erklärte Mrs. Haberdash. »Das ist mein Park, und ihr Mädchen habt mich wegen der geheimen Tür gewarnt. Ich wollte nicht, dass die Touristen sie finden … außerdem brauche ich diese Teestube.«

Mrs. Haberdash ordnete ihre langen Diamantohrringe und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Danach waren die Touristen dann gar nicht mehr so freundlich. Sie haben nicht richtig erklärt, warum sie das Gut eigentlich haben wollen. Haben bloß gesagt, sie würden es grüner machen … exklusiver.«

Grüner?

Das ungute Gefühl kroch aus Imogens Magen heraus und breitete sich in ihren Gliedern aus.

Nicht nach Anneschka fragen, befahl sie sich. Nicht mal ihren Namen erwähnen. Das ist das Letzte, was Marie und Mama jetzt gebrauchen können.

»Warum habe ich diese Leute denn nie gesehen?«, fragte Mama.

»Sie kommen immer sehr früh«, sagte Mrs. Haberdash.

Bloß nicht Anneschka erwähnen – mit keinem Wort …

»Heute Morgen habe ich sie auch wieder gesehen«, fuhr die alte Dame fort. »Kurz nach der Morgendämmerung sind sie schon wieder abgefahren. Danach habe ich diese Gänse auf dem Parkplatz gefunden, und sie wirkten so verloren.«

Anneschka, Anneschka, Anneschka …

»Wie heißt diese Firma?«, platzte Imogen heraus.

Mrs. Haberdash überlegte kurz. »Irgendwas wie Blau und Kraut oder Blau und Grün … Nein, nein, das stimmt nicht … Grün & Schön! Das war es.«

Mama schlug sich die Hand vor den Mund.

»Aber das ist doch Anneschkas Firma!«, rief Marie. Ihr Gesicht war plötzlich weiß wie Milch.

Imogen wünschte, sie könnte es ungeschehen machen, wünschte, es wäre nicht so. Aber die Wahrheit lag auf der Hand. Anneschka hatte keine neue Möglichkeit gefunden, zwischen den Welten hin- und herzugehen. Nein, sie nutzte die geheime Tür der Schwestern im Lieblingspark der Familie.

Sie musste die kleinen Velekurs aus Versehen durch die Tür gelassen haben.

»Hallo?«, sagte draußen eine Stimme.

Alle starrten auf die Eingangstür. Einer der Hunde knurrte.

»Ich bin Teddy, von der Wildvogelhilfe. Ich komme, um die Gänse abzuholen.«

»Oh, gut«, sagte Mrs. Haberdash und rollte zur Tür.

»Nein!« Imogen breitete die Arme aus. Mrs. Haberdash wirkte überrascht, und Imogen senkte die Stimme. »Wir dürfen ihn nicht reinlassen. Er darf die Velekurs nicht sehen.«

Die alte Dame blinzelte. »Das ist schon in Ordnung, Imogen. In der Auffangstation werden sie sich gut um die Vögel kümmern.«

»In dieser Welt gibt es keine Velekurs«, sagte Imogen. »Das wäre eine neue Art. Und wenn in Ihrem Park eine neue Vogelart entdeckt wird, wollen die Leute bestimmt nachforschen.«

Imogen bemühte sich, ruhig zu sprechen, aber im Kopf hörte sie dauernd Zubys Worte: Stell dir nur mal vor, was passieren würde, wenn Menschen zwischen den Welten hin- und herwanderten. Dann gäbe es Kriege und Seuchen und wer weiß was alles.

»Verstehen Sie nicht?«, fragte Imo...

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