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Das Geheimnis von Turtle Bay

hier erhältlich:

Die Frauenleiche in der Strömung, die Haare im Meerwasser wie eine schwimmende Decke über dem schönen Gesicht … Der schreckliche Anblick lässt Brianas heile Welt schlagartig zusammenbrechen. Ihre Zwillingsschwester Daria ertrunken, gefangen in ihrem gekenterten Boot - während Briana selbst sich retten konnte. Für die Polizei ist es ein Unfall, doch für Briana ist zu vieles ungeklärt. Sie will die Wahrheit herausfinden. Hilfesuchend wendet sie sich zunächst an Cole DeRoca. Der verstörend attraktive Bootsbauer hat sie an dem Unglückstag erschöpft an Land gefunden …


  • Erscheinungstag: 20.05.2013
  • Seitenanzahl: 380
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955762957
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karen Harper

Das Geheimnis von Turtle Bay

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ralph Sander

1. KAPITEL

Im Golf von Mexiko vor der Südküste Floridas

12. September 2006

Als Briana Devon wieder an der Wasseroberfläche auftauchte, war das Boot verschwunden. Sorgenvoll sah sie sich um. Auch die See war deutlich rauer geworden, obwohl kein Unwetter vorhergesagt war.

Es kostete Briana Kraft, ihre Unterwasserkamera festzuhalten, damit sie ihr nicht von den Wellen aus der Hand gerissen wurde. Die umgehängte Plastiktafel, auf der sie unter Wasser Notizen gemacht hatte, schlug ihr hart ins Gesicht. Sie schob sie sich auf den Rücken.

Das Mundstück des Schlauchs hielt sie immer noch fest zwischen die Lippen gepresst, während sie weiter Sauerstoff aus der Pressluftflasche einatmete. Ihr angestrengtes Schnaufen ging im Heulen des auffrischenden Windes fast unter. Da sich nur noch wenig Luft im Tank befand, schaukelte dieser auf ihrem Rücken wie eine Boje hin und her.

Aber das konnte doch nicht sein! War sie an der falschen Stelle aufgetaucht? Nein, der von ihr ausgesetzte Schwimmer tanzte auf den Wellen auf und ab. Sie befand sich wieder genau dort, wo sie den Tauchgang begonnen hatte, doch wo war Daria mit dem Boot geblieben? Zudem erstaunte es sie, wie schnell der Sturm aufgezogen war.

Während sie ihre Ausrüstung festhielt, begann sie im Kreis zu schwimmen und nach dem Boot Ausschau zu halten. Vielleicht war die Mermaids II vor der pechschwarzen Wolkenwand am Horizont nur nicht auf Anhieb auszumachen. Nein, so sehr sie sich auch anstrengte, außer Wolken und Wellen war weit und breit nichts zu erkennen. Auch wenn das Unwetter deutlich schneller näher gekommen war als vorhergesagt, wäre Daria doch niemals ohne sie aufgebrochen.

Trotz ihrer langjährigen Taucherfahrung stieg in Briana Panik auf. Bree und Daria Devon waren nicht nur Zwillinge, sondern auch beste Freundinnen, solange Bree zurückdenken konnte.

Sie pumpte mehr Luft in ihre Weste, damit sie an der Oberfläche trieb, und zwang sich zur Ruhe. Immerhin tauchte sie seit ihrem achten Lebensjahr, also inzwischen seit zwanzig Jahren, und geschwommen war sie in diesen Gewässern schon lange davor. Jede Woche tauchten sie und Daria zu diesem künstlichen Riff hinunter, das aus dem Wrack eines alten Frachters entstanden war, und kontrollierten, wie sich das durch die Verschmutzung des Wassers bedrohte Seegras und andere maritime Lebensformen entwickelten. Das Gras stellte einen Gradmesser für die Sauberkeit des Golfs von Mexiko insgesamt dar, und bis zu diesem Moment war alles reine Routine gewesen.

So hatte Bree auch nicht darauf geachtet, ob der Anker während ihres Tauchgangs gelichtet worden war. Sie war vielmehr ganz darauf konzentriert gewesen, ihre Arbeit gründlich und zügig zu erledigen: Fotos schießen, Notizen machen, Beweise sichern. Das Resultat versprach nichts Gutes und würde einigen mächtigen Leuten alles andere als gefallen. Bree war heute nur früher als üblich aufgetaucht, weil die Sicht sich verschlechtert hatte, was für stärkeren Wellengang sprach. Dass sie eine so tosende See vorfinden und mit einem drohenden Unwetter konfrontiert werden würde, hätte sie sich nicht träumen lassen.

Die Zwillinge tauchten immer gemeinsam, wenn sie nicht gerade im Hafen damit beschäftigt waren, Schiffsrümpfe von Muscheln zu befreien. Dass Daria heute an Bord des Boots geblieben war, hatte zwei Gründe: zum einen starke Zahnschmerzen, die durch den Druck unter Wasser unerträglich geworden wären, zum anderen musste stets einer auf dem Boot bleiben. Normalerweise erledigte das Manny, der einzige Angestellte in ihrem Bergungsunternehmen, doch ihm hatten sie den Nachmittag freigegeben, weil es einige Probleme mit seiner Tochter gab. Allerdings war Daria im letzten Monat ohnehin nur noch selten getaucht, da ihr Buchhaltungskurs viel Zeit beanspruchte.

Brees Arme schmerzten, da es sie in der stärker werdenden Strömung mehr Kraft kostete, die Kamera und das Blitzlicht festzuhalten. Das weite Meer hatte ihr nie Angst eingejagt, allenfalls Respekt eingeflößt, doch nun war sie vor Entsetzen wie gelähmt. Sie war allein hier draußen. Hatte Daria sie im Stich gelassen? Es wäre sicher angebracht, in Richtung Land zu schwimmen, aber bis dahin waren es über sechs Kilometer, und sie würde ihre wertvolle Ausrüstung zurücklassen müssen. Sie hätte es als ein schlechtes Omen deuten und umkehren sollen, als sie in der Nähe des Wracks den Bullenhai sah, wo sich sonst nur die dort heimischen Barsche aufhielten. Diese Haie reagierten bei aufgewühlter See mit Unruhe, und es war bekannt, dass sie Menschen attackierten. Wie oft hatte sie selbst andere Leute gewarnt, nicht allein schwimmen zu gehen, sich nicht zu weit vom Ufer zu entfernen und hektische Bewegungen grundsätzlich zu vermeiden!

Bree verfügte zwar über eine Trillerpfeife, aber wenn niemand in Hörweite war, wer hätte ihr helfen sollen? Vielleicht hätte sie mit dem Blitzlicht auf sich aufmerksam machen können, aber es würde ihr wertvolle Kraft rauben, wenn sie über längere Zeit die Lampe hochhielt. Widerstrebend ließ sie Blitzlicht und Kamera los und konnte nur hoffen, dass beides nahe dem Wrack auf dem Meeresboden liegen blieb, damit sie es später holen konnte. Nein, damit sie und Daria das tun konnten. Die Kamera war sündhaft teuer gewesen, und für sie hatten sie sehr, sehr viele Schiffsrümpfe von Muscheln befreien müssen.

Das Bergungsunternehmen der Zwillinge hatte eine Zeit lang ums Überleben kämpfen müssen, aber in den letzten Monaten war es stetig bergauf gegangen. Sie hatten Aufträge erhalten, die von Unterwasserexpeditionen über die Wartung von Schiffsrümpfen bis hin zur Bergung von verlorenen Gegenständen oder gesunkenen Booten reichten. Die Arbeit mochte noch so anstrengend oder sogar gefährlich sein, sie und Daria liebten ihren Job trotzdem. Sie kannten den Meeresgrund vor der Südwestküste Floridas fast so gut, wie einer dem anderen vertraut war.

Zu ihrer großen Überraschung und Begeisterung hatte die angesehene Kommission für einen sauberen Golf ihnen beiden – nicht aber ihrem größeren Konkurrenten auf der anderen Seite der Bucht – den Auftrag gegeben festzuhalten, wie sich die Tier- und Pflanzenwelt vor der Küste von eingeleiteten Giftstoffen erholte. Das gesamte Ökosystem vor Ort war durch die Überdüngung der Zuckerrohrfelder, durch den Verlauf der Schiffsrouten quer durch den Golf und durch eine generell zu hohe Einleitung von Schadstoffen schwer geschädigt worden.

Um ihre Kräfte zu schonen, beschloss Bree wieder zu tauchen, damit sie sich unter Wasser so weit wie möglich dem rettenden Ufer nähern konnte, um dann ihre Sauerstoffflasche und den Bleigürtel zurückzulassen und den Rest der Strecke an der Wasseroberfläche weiterzuschwimmen. Auch wenn sie nirgends ein Boot entdecken konnte, war vielleicht näher am Ufer eines unterwegs in Richtung Hafen, das Bree an Bord nehmen würde. Sie tauchte tief genug unter, bis der Wellengang nicht mehr so stark zu spüren war.

Der Golf von Mexiko war in der Gegend vor Naples, Marco Island und Turtle Bay ein flaches Gewässer, jedenfalls wenn man ihn mit dem Atlantik verglich. Der Grund war bis weit ins Meer hinaus fast gleichmäßig tief, denn nach dem ersten steileren Abschnitt fiel der Boden auf einen Kilometer nur etwa gut einen halben Meter ab und wurde hier und da von einer Felserhebung oder einem künstlichen Riff unterbrochen. Aber gerade wegen dieser geringen Tiefe konnte sich die Strömungsgeschwindigkeit schnell und heftig ändern. Bree war auf den Wetterumschwung aufmerksam geworden, da ringsum Sand und Schlick aufgewirbelt wurden. Obwohl sie heute viele, gut ausgeleuchtete Nahaufnahmen gemacht hatte, war ihr die Trübung des Wassers nicht entgangen.

Allen voran die Touristen aus dem „frostigen Norden“ – wie befreundete Taucher die Region bezeichneten – hielten das Wasser vor Naples für kein bemerkenswertes Tauchgebiet. Die Zwillinge dagegen hatten sich dort stets wohler gefühlt als in den vornehmeren Keys oder in der Karibik. Knapp fünf Meter Sicht in diesem Teil der Welt waren für manche Taucher eine große Enttäuschung, aber im Sommer war die See oft spiegelglatt und fast ohne Strömung. Dieser Abschnitt des Golfs war daher nicht von Tauchern bevölkert, und seine reichhaltige Fauna aus Barschen, Tarponen, Rochen, Meeresschildkröten, hübschen Muscheln und zu dieser Jahreszeit leider auch aus Haien schien nichts zu bedrohen.

Die Zwillinge liebten den Golf auch, weil sie hier das Tauchen gelernt hatten. Die gesamte Region wirkte so unberührt, wenn man über die Tatsache hinwegsah, dass die Riffe künstlich angelegt waren. Doch wenn ihr Projekt nicht ein Umdenken bewirkte, dann stand die weitere Existenz der natürlichen Korallenriffe vor der gegenüberliegenden Golfküste auf dem Spiel.

Aufgewirbelter Sand und Schlick waren inzwischen so dicht, dass Bree sich nicht sicher sein konnte, ob sie noch in der richtigen Richtung unterwegs war. Die meiste Zeit ließ sie sich von der Strömung mittreiben, die sie eigentlich ans Ufer bringen sollte. Dummerweise hatte inzwischen die Ebbe eingesetzt, und gleichzeitig trieb der Wind das Wasser Richtung Küste, sodass Bree sich nicht länger auf die Strömung verlassen konnte.

Es war so trüb, dass sie nicht einmal den Kompass ablesen konnte, den Daria ihr letzten Monat zum Geburtstag geschenkt hatte. Daria … und das Boot. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihre Schwester sie während eines Tauchgangs im Stich lassen sollte. Gekentert war die Mermaids II ganz sicher nicht, damit war bei einem über sieben Meter langen Boot mit flachem Boden nicht zu rechnen. Und es gab auf dieser Seite von Florida auch kein sogenanntes Bermudadreieck. Piraten und Drogenschmuggler interessierten sich nicht für ein langsames Boot mit ein paar Tauchern an Bord, und die Flüchtlinge aus Kuba und Guatemala waren nur nachts im Golf unterwegs, damit sie unbemerkt blieben. Selbst wenn Daria etwas zugestoßen wäre, hätte es einen Hinweis auf ihren Verbleib geben müssen. Das alles ergab keinen Sinn.

Zwar konnte sie im trüben Wasser die Druckanzeige ihrer Sauerstoffflasche nicht erkennen, doch sie merkte, wie mühselig es allmählich wurde, durch das Mundstück einzuatmen. Sie musste auftauchen! Die Wellen waren inzwischen über zwei Meter hoch und rissen Bree mit sich. Außerdem hatte es mittlerweile zu regnen begonnen, sodass Bree jeglichen Rest an Orientierung verlor.

Versehentlich bekam sie Wasser in den Mund, konnte es aber sofort wieder ausspucken. Sobald sie Salzwasser schluckte, wurde ihr übel, aber ihr war vor Angst und Wut ohnehin schon schlecht. Dad hatte immer gesagt, man dürfe sich nicht von seinen Gefühlen beherrschen lassen, besonders nicht beim Tauchen. Nach dem Tod ihrer Mutter war das für ihn zu einem Lebensmotto geworden. Man musste sich ablenken und sich mit anderen Dingen beschäftigen, damit keine Zeit blieb für diese erdrückenden, erstickenden Gefühle …

Bree öffnete den Bleigürtel und streifte den Sauerstofftank von den Schultern, dann atmete sie durch den Schnorchel weiter. Die Flasche ging mit einem Gurgeln unter, und sofort fühlte sich Bree leichter. Oder besser gesagt, sie versuchte sich Mut einzureden. Ja, sie konnte es schaffen, sich in Sicherheit zu bringen. Etwa fünf Kilometer entfernt musste Keewadin Island liegen, ein langes, schmales Eiland. Gott sei Dank, dass sie nicht an Stellen wie Black Hole Sink oder Naples Ledges getaucht war, die rund fünfzig Kilometer vor der Küste lagen.

Sie versuchte sich weiszumachen, dass es sich um eines der üblichen kurzen Unwetter handelte, die im Sommer den Golf heimsuchten, den Everglades eine Dusche verpassten und dann weiterzogen, um schwülwarme Luft zu hinterlassen. Wann würde dieses Unwetter vorüber sein?

Wieder musste sie aufpassen, kein Wasser zu schlucken. Das Schwimmen strengte sie zunehmend an, aber so sehr sie sich auch wünschte, möglichst schnell an Land zu kommen, so musste sie doch auf ihre Kräfte achten. Sie zwang sich zu langsameren, aber gleichmäßigen Zügen in jene Richtung, in der sich das rettende Ufer befinden musste.

Zug, Zug, Zug, und durchatmen. Trotz Ebbe war sie sich sicher, dass die Wellen sie in Richtung Land tragen mussten. Aber der Weg dorthin war noch so weit, und es war so schwierig durchzuatmen, ohne gleichzeitig Salzwasser zu schlucken.

Und dann auf einmal hörte sie das, wovor sie sich am meisten fürchtete.

Donnergrollen! Und das bedeutete Blitze.

O nein! Erst letzte Woche hatte sie noch auf der Veranda in Turtle Bay gesessen und ein solches Gewitter beobachtet. Zahllose Blitze trafen das Wasser im Golf und schließlich in der Bucht jenseits der Docks, als das Unwetter näher und näher kam. Wie üblich fiel für eine Weile der Strom aus, aber die Zwillinge waren nicht nach einer Klimaanlage süchtig wie beispielsweise ihre ältere Schwester Amelia, die nicht mal bei schönem Wetter ein Fenster öffnete. Sie hatte Angst, es könnte Staub ins Haus gelangen, dabei hätten ihre bedauernswerten, praktisch klinisch sauberen Kinder mal ein wenig Staub und Schmutz vertragen können.

Brees Muskeln begannen zu brennen, und im Geiste konnte sie ihren Dad zu ihr und Daria sagen hören: „Wenn du dich nicht wohlfühlst, raus aus dem Wasser.“ Oh, sie wollte nur zu gern raus aus dem Wasser. Sie wollte bei Daria auf der Mermaids II sein – oder zu Hause und in Sicherheit. Sie liebte das Meer und die Wellen, aber nicht hier draußen, wo sie allein war und allmählich von ihren Kräften verlassen wurde. O Gott, bring mich in Sicherheit. Und bring auch Daria in Sicherheit. Was ist geschehen? Daria, wo bist du?

Eine Welle riss ihr eine Schwimmflosse weg, und sie musste die zweite ausziehen, wenn sie nicht im Kreis schwimmen wollte. Weiter, weiter. Zug, Zug, und durchatmen. Nur weg von dem Donner und den Blitzen, die sich ihr beharrlich näherten. Allmählich gelang es ihr, sich in eine Art Trance zu versetzen, die sie auch vom Joggen kannte. Aber gleichzeitig wurde ihr schwindlig.

Der erste Blitz, den sie wahrnahm, traf das Wasser so dicht in ihrer Nähe, dass sie vor Schreck einen Schrei ausstieß und ihr fast der Schnorchel aus dem Mund rutschte. Ein Blick zur Seite lieferte ihr dann aber noch einen weiteren Grund zum Schreien. Neben ihr schwamm ein großer Bullenhai.

Cole DeRoca war erschrocken darüber, wie schnell das Unwetter aufgezogen war. Normalerweise konnte man nach den nachmittäglichen Regenfällen über dem Golf die Uhr stellen, doch dieser Sturm war etwas anderes. Er war stark, wild und gefährlich. Auch wenn die auf seine Wünsche zugeschnittene Slup komplett aus Holz bestand, missfiel ihm der Gedanke, dass der Mast seines Boots das höchste Objekt weit und breit war. Immerhin war auf der Streamin’ auch Kupfer und Messing verarbeitet worden, und jeder Seemann wusste, wie unberechenbar und tödlich Blitze überspringen konnten.

Das Festland erreichen zu wollen, kam einem Himmelfahrtskommando gleich, also würde er Keewadin Island ansteuern und darauf hoffen müssen, dass er seine Slup später ohne Probleme vom Strand zurück ins Wasser ziehen konnte. Die Windgeschwindigkeit betrug gut fünfundzwanzig Knoten, der Sturm pfiff schrill durch die Takelage. Bei gutem Wetter gefiel es ihm, so schnell unterwegs zu sein, aber so …

Zu seiner Verwunderung beschrieb sein Boot plötzlich eine so harte Wende, dass es fast umkippte, dann schlug es einen südlichen Kurs ein. Cole fühlte sich machtlos, als er an Bord hin und her geschleudert wurde. Eine Kabbelung? Ja, eine schmale, aber lebensgefährliche Kabbelung, die von dem Kampf zwischen Wind und Wellen verursacht wurde.

Ein Stück weit ließ er sich mittreiben, so wie man es auch machen sollte, wenn man beim Schwimmen von einer Strömung überrascht wurde. Schließlich steuerte er wieder nach Norden, dann endlich schälte sich der lange beigefarbene Strand von Keewadin Island aus dem Grau des niederprasselnden Regens heraus. Cole holte das Schwert auf, als sich seine Slup dem Uferstreifen näherte. Da die Wellen ihn mit guter Geschwindigkeit vorantrieben, ließ er Großsegel und Fock los, doch sie begannen im Wind wie wild zu flattern. Sein erster Gedanke war, sich und das Boot zu retten, notfalls auch auf Kosten der beinahe neuen Segel.

Als er sich dem Strand näherte, stellte er die Klampen quer, um die Fallleinen zu lösen, und begann an den Segeln zu ziehen, bis beide auf dem Deck landeten und dem Wind keinen Widerstand mehr boten. Er spürte, wie eine Welle den Bug der Streamin’ traf, die das Boot hochdrückte und es mit einem dumpfen Knall auf dem Sand landen ließ. Das Heck wurde von weiteren Brechern getroffen.

Wenigstens war es diesmal keine lebensgefährliche Kabbelung, sondern nur die Brandung, der sein Boot ausgesetzt war. Er sprang über Bord und landete in hüfthohem schäumendem Wasser, dann mühte er sich ab, den Bug herumzudrehen und das Boot noch ein Stück weiter an Land zu bringen. Donnergrollen und zuckende Blitze waren eine wortlose Aufforderung, das Wasser schnellstens zu verlassen.

Cole liebte das Boot, das er zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Es war das einzige gewesen, bei dem er ihm hatte helfen können, bevor alles aus dem Ruder gelaufen war. Inzwischen vierunddreißig, war er seit seinem zwanzigsten Lebensjahr ganz auf sich allein gestellt, und er fühlte sich beim Segeln seinem Dad so nah wie zu keiner anderen Zeit. Seine Familie konnte auf fünf Generationen Bootsbauer zurückblicken, angefangen in Portugal, dann auf den Bahamas, weiter nach Key West, schließlich Sarasota und Naples. Bahamische Slups so wie diese hatte man früher überall in den Tropen benutzt, doch inzwischen waren sie eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Er träumte oft davon, nicht länger das Innenleben von Yachten mit edlen Hölzern auszustatten, sondern sich als Bootsbauer zu versuchen. Es würde ihm große Freude bereiten, Bootstypen wie diesen wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. In Amerika hatte die Wegwerfkultur auch schon auf den Schiffsbau übergegriffen. Sein Baby jedoch war für die Ewigkeit bestimmt, selbst wenn es in ein Unwetter geriet, das schneller aufzog als alles, was er bislang erlebt hatte.

Er versuchte, mit seinen Sportschuhen auf dem weichen Sand Halt zu finden, während er mit beiden Händen das Heck umklammert hielt und schob. Die Streamin’ glitt weiter den Strand hinauf, dann nahm er den Anker, achtete darauf, dass er nur das Tau berührte, nicht aber das Metall, und lief in geduckter Haltung über den Strand, um das Boot zu sichern. Die Schuhe voll Wasser und Sand begab er sich hinter eine Reihe Mangroven und hockte sich auf den Fußballen kauernd hin. Flach hinlegen durfte er sich nicht, da er nur so möglichst wenig Kontakt zum Boden hatte, falls der Blitz auf der Insel einschlug. Zum Glück war es ihm wenigstens gelungen, überhaupt ein Stück Land zu erreichen.

Am liebsten hätte Bree die Augen geschlossen und einfach aufgegeben. Eine Gegenströmung erfasste sie, womöglich eine Kabbelung, die sie weiter von ihrem Kurs abbringen würde. Trotz der Angst vor ihrem gefährlichen Begleiter schwamm sie unverdrossen weiter. Sie hätte kurz stoppen können, um sich umzudrehen und zu sehen, ob sich der Hai dann vielleicht entfernte. Aber auch wenn sie so ihre Kräfte hätte schonen können, bestand das Risiko, dass die Strömung sie wieder auf die offene See trieb. Und wenn ein Blitz … oder der Hai …

Eine schreckliche, archaische Angst erfasste sie, und am liebsten hätte sie sie laut hinausgeschrien, doch … was war das? Großer Gott, sah sie jetzt doppelt? Nein, da waren tatsächlich zwei Haie, zwei große graue Leiber mit weißem Bauch und spitzer, dreieckiger Rückenflosse. Der Neuankömmling war deutlich über zwei Meter lang, und jedes Mal, wenn er sich der Wasseroberfläche näherte, konnte sie seine kleinen schwarzen Augen erkennen, mit denen er sie beobachtete. Sie verharrte reglos im Wasser. War es vielleicht besser, wenn sie sich nicht rührte und sich stattdessen von der Strömung mitziehen ließ? Bullenhaie waren aggressive Tiere, und sie reagierten gereizt auf jede Art von Unruhe. Vielleicht würde die raue See die beiden Haie von ihr ablenken, wenn sie selbst sich ruhig verhielt.

War das alles nur ein entsetzlicher Albtraum? Wenn ein Blitz sie traf oder die Haie über sie herfielen, dann würde man ihren Leichnam vermutlich niemals finden. War Daria dem gleichen Schicksal zum Opfer gefallen, das jetzt auf Bree wartete?

Sie ließ sich eine scheinbare Ewigkeit von der Strömung mittreiben, und erst als die spürbar schwächer wurde, begann sie wieder in Richtung Land zu schwimmen – nach wie vor in Begleitung der beiden Haie. Bei jedem Zug und bei jedem Blick zur Seite rechnete sie unwillkürlich damit, in das Maul einer der zwei Kreaturen zu schauen. Gleichzeitig fürchtete sie, der nächste Blitz könnte sie treffen und sie bei lebendigem Leib schmoren.

Plötzlich schien irgendetwas nach ihr zu greifen und sie durch die nächste Welle zu ziehen. Wieder eine Kabbelung? Einer der Haie, der sie gefasst hatte? Mit der Zunge drückte sie das Mundstück heraus und begann zu schreien.

Vor ihren Augen und in ihrem Kopf explodierten blutrote Farben. Etwas Großes jagte auf sie zu. Dann versank um sie herum alles in Schwärze.

2. KAPITEL

Cole war bis auf die Haut durchnässt. Der Wind peitschte ihn, der Regen prasselte auf ihn nieder und traf seine Schultern wie Nadelstiche. Jeder Donner schien die lange, schmale Insel zu erschüttern, und trotz dieses Höllenlärms konnte er deutlich ein Kreischen hören.

Er hob den Kopf. Nein, das war nicht bloß der Sturm, der durch die Takelage seines Boots pfiff, das war mehr menschlichen Ursprungs …

Blinzelnd warf er einen Blick um die dicht beieinanderstehenden Mangroven herum auf seine Slup. Zwar war die Streamin’ von der Brandung in eine leichte Schräglage gebracht worden, aber sie schien nach wie vor unbeschädigt zu sein. Doch neben dem Rumpf lag etwas im Sand, fast so, als wäre der Bug mit jemandem kollidiert.

In geduckter Haltung lief er über den Strand, um herauszufinden, was da angespült worden war. Als er es erkennen konnte, verschlug ihm die Entdeckung den Atem, und sein Herz raste noch schneller. Eine Frau – eine Frau, die aussah wie eine gestrandete Meerjungfrau!

Nein, nein, natürlich nicht, korrigierte er sich, während er sich über die Unbekannte beugte, die wie hingeworfen am Strand lag. Der kurzärmelige, silbriggrüne Taucheranzug umschloss ihre Kurven so eng anliegend, dass er wie auf die nackte Haut gesprüht aussah. Zudem ließ sich ein Muster aus Schuppen und Flossen erkennen, sodass es schien, als seien die Beine der Frau der Schwanz einer Meerjungfrau. Dabei waren es nur ihre Beine … ihre langen Beine. Das schulterlange kastanienbraune Haar klebte an ihrem Kopf, die schlanken Arme hatte sie wie eine Ballerina ausgebreitet. War sie tot?

Da er es nicht wagte, ihren Kopf zu sich zu drehen – womöglich hatte sie beim Zusammenprall mit seinem Boot eine Schädel- oder Wirbelsäulenverletzung davongetragen –, fühlte er zunächst den Puls an ihrem Hals. Die Haut war kühl, Wangen und Kinn waren blass und wirkten wächsern, fast so, als handelte es sich lediglich um eine lebensgroße Puppe. Einen schwachen Puls konnte er zwar fühlen, doch er war sich nicht sicher, ob sie atmete. Behutsam drehte er schließlich ihren Kopf zu sich, damit er ihr Gesicht sehen konnte.

Um ihre Augen herum war der Abdruck einer Tauchermaske zu sehen, aber er erkannte die Frau auf den ersten Blick! Sie war eine der Zwillinge, denen das Bergungsunternehmen Two Mermaids in Turtle Bay gehörte, nicht weit entfernt von seinem eigenen Geschäft. Einmal hatte er mit einer der beiden – Briana – spontan zu Mittag gegessen, als sie die Richardson-Yacht von Muscheln befreite, während er den Salon mit edelstem Mahagoni vertäfelte. Zu der Zeit machte er gerade seine Scheidung durch, und das einzige Date hatte er mit seiner Slup, sonst hätte er sie angerufen, um sich mit ihr zu verabreden. Gott sei Dank, sie lebte noch, doch das würde sich schnell ändern, wenn sie nicht bald wieder atmete.

Ohne sich um den Regen und das Gewitter zu kümmern, zog er die Frau vorsichtig den Strand hinauf, damit sie nicht länger von der Brandung umspült wurde. Über sie gebeugt kauerte er da und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. Das hatte er nicht mehr gemacht, seit er seinen Vater auf dem Fußboden liegend entdeckt und versucht hatte, ihm das Leben zu retten. Damals war er zu spät gekommen.

Aber was war mit dieser Frau geschehen? Sie konnte doch nicht bei diesem Wetter im Golf geschwommen sein. Sie wirkte schlank und zierlich, jedoch wusste er, dass sich dahinter eine starke Frau verbarg. Komm schon, Baby. Komm zurück. Atme. Lass dich von meinen Lippen wärmen, Süße. Komm schon, jetzt komm schon!

Anfangs hatte es ihn amüsiert, dass zwei Frauen in einer so rauen Branche tätig waren, zumal ihr Konkurrent auf der anderen Seite der Bucht ein schroffer Kerl namens Sam Travers mit einem Quasi-Monopol auf Bergungsaufträge in der Gegend war. Doch dann hatte die Zähigkeit der beiden Frauen ihn mehr und mehr beeindruckt. Sie erledigten überwiegend leichte Bergungsaufträge auf dem Meer, keine von den schweren Arbeiten, für die man Schwimmbagger und ähnliches Gerät benötigte. Dennoch war auch ein solcher Job immer mit Gefahren verbunden.

Komm schon, Baby. Ich weiß, du hast es drauf. Lass dir das Leben retten. Komm schon, du süße kleine Meerjungfrau!

Allmählich ergriff ihn Panik, Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, obwohl der Sturm kühle Luft mit sich brachte. Nach einer scheinbaren Ewigkeit bemerkte er, wie sich ihr Mund bewegte. Er unterbrach seine Anstrengungen, hob den Kopf und betrachtete ihr Gesicht, das vom Regen und Meerwasser nass war. Ihre Lider zuckten leicht, sie legte die Stirn in Falten und stöhnte.

„Hey, Briana Meerjungfrau“ , sagte er und kam sich dabei wie ein Trottel vor. Aber ihr Nachname wollte ihm nicht einfallen, und er war sich nicht sicher, welchen der Zwillinge er vor sich hatte. Dennoch sprach er sie mit dem Namen an, der ihm seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, da er so gut zu ihr passte. Der Name erinnerte ihn an das Wort brio, das für ihren Enthusiasmus stand, den er bei dem einen gemeinsamen Mittagessen bei ihr wahrgenommen hatte. Er fühlte sich damals sofort zu ihr hingezogen, sein plötzlich erwachtes Verlangen nach ihr versuchte er zu kontrollieren, indem er sich an diesem Tag übermäßig höflich und witzig gab. „Briana?“ , seine Stimme zitterte. „Briana!“

Sie öffnete die Augen zu einem schmalen Spalt. „Daria?“ Dann begann sie zu husten und Wasser auszuwürgen.

Vorsichtig drehte er sie auf die Seite und legte einen Arm um sie, während er mit der anderen Hand ihren Kopf festhielt, wie seine Mutter es früher bei ihm gemacht hatte, wenn er sich übergeben musste. Erst als er die Verbrennungen an ihrem linken Handgelenk sah, wurde ihm bewusst, dass sie womöglich vom Blitz getroffen worden war. Er legte sie wieder rücklings in den Sand und beugte sich über sie, um sie mit seinem Körper vor Wind und Regen zu schützen.

„Wo ist Daria?“ , fragte er. „Was ist passiert?“

Keine Antwort. Er erschrak über die ungewöhnlich geweiteten Pupillen – so sehr geweitet, dass sie das Graugrün der Iris praktisch verschlangen. Ihm war klar, sie musste sofort medizinisch versorgt werden, nicht erst, wenn das Unwetter weitergezogen war. Doch der Strand war mit einem Rettungswagen nicht zu erreichen, und ein Helikopter konnte bei dem Wetter nicht starten. Wenn er mit seinem Funkgerät einen Notruf absetzte, würde es eine Weile dauern, bis die Küstenwache eintraf, und in der Zeit hätte er sie längst nach Naples gebracht. Sofern alles so lief, wie er es sich vorstellte.

Schnelles Handeln war gefragt, denn seine Meerjungfrau war entweder ohnmächtig geworden oder ins Koma gefallen. Vorsorglich legte er eine Hand auf ihre Brust, um sich davon zu überzeugen, dass sie noch atmete. Ihr Atem ging flach, aber gleichmäßig. Auch wenn es ihm nicht gefiel, sich mit der Slup wieder auf den Weg zu machen, musste er das Risiko eingehen, wieder loszusegeln. Es würde eine ungemütliche Reise werden, aber ihm blieb keine andere Wahl, als es zu versuchen.

Er konnte nur hoffen, dass sie keine Knochenbrüche oder inneren Verletzungen davongetragen hatte, da er sie in seine Slup heben musste. Nachdem er behutsam ihre Arme und Beine festgezurrt hatte, damit sie nicht durch den starken Seegang umhergeschleudert wurde, zog er sein Polohemd aus und bedeckte damit ihren Oberkörper, obwohl es vom Regen völlig durchnässt war. Einer seiner Kunden war einmal auf dem Golfplatz vom Blitz getroffen worden, und von dem behandelnden Arzt hatte er anschließend erfahren, dass die schnelle medizinische Versorgung schwerere Folgeschäden verhindert hatte. Und wenn er eines nicht ertrug, dann die Vorstellung, dass er nicht alles getan hätte, um dieser hübschen und mutigen Frau so gut zu helfen, wie er nur konnte.

Mit aller Kraft stemmte Cole sich gegen den Bug der Streamin’ und versuchte, das Boot mit dem zurücklaufenden Wasser vom Strand zu schieben, doch die gleich wieder anrollenden Wellen machten seine Anstrengungen hinfällig. Er wusste, dass eine solche Brandung ein Boot überspülen oder zum Umkippen bringen konnte, wenn man es vom Strand aufs Meer schaffen wollte. Seine Slup, die er besser kannte als die Frau, die sich an Bord befand, widersetzte sich ihm hartnäckig.

Doch dann bemerkte er, dass der Wind auf nördliche Richtung gedreht hatte. Also konnte er die Segel setzen und sich von der Kraft des Windes helfen lassen. Er zog die Fallleine bis zur Mastspitze hoch, dann endlich gelang es ihm, sein Boot von der Stelle zu bewegen, das sich knarrend und ächzend über den Sand ins Wasser schob. Als es sich dann in den Wind drehte und die Segel sich aufblähten, geriet es schnell in tieferes Wasser. Cole zog sich an Bord und packte mit einer Hand die Pinne, während er mit der anderen die Großschot sicherte. Als dann das Schwert ins Meer eintauchte, trieb die Slup gleich viel sicherer auf den Wellen. Das Boot nahm schnell Fahrt auf und schoss fast wie ein Rennwagen übers Wasser.

Es war jedoch brutal, unter solchen Bedingungen zu segeln. Er musste einen Schritt über seine Meerjungfrau hinweg machen, wenn er an der Großschot zog, und er musste sich weit über die Reling lehnen, wenn sich der Rumpf zu sehr zu einer Seite hin neigte. Um ein Kentern zu verhindern, musste er die Pinne unentwegt korrigieren. Sobald das Boot in Schräglage geriet, schwappte Wasser über die Bordwand und traf die auf dem Boden liegende Briana. Nach einer Weile kam sie wieder zu Bewusstsein, stützte sich auf einem Arm ab und hob den Kopf, dann rief sie: „Haie! Daria, pass auf! Haie!“

„Bleib liegen!“ , brüllte Cole. „Runter, oder der Baum trifft dich am Kopf, sobald er umschlägt! Leg dich wieder! Hier sind keine Haie! Und wenn doch, halte ich sie von dir und Daria fern!“

Seine Worte schienen sie zu beruhigen. Dass sie ihm so vertraute, rührte ihn an. Er musste es einfach rechtzeitig zu einem Arzt schaffen! Offensichtlich war sie verwirrt, und von seinem Freund wusste er, Amnesie und Hirnschäden zählten zu den möglichen Folgen bei Personen, die vom Blitz getroffen worden waren. Wenn er doch bloß die Pinne loslassen und für ein paar Augenblicke das Funkgerät bedienen könnte. Dann würde er Hilfe rufen, damit im Yachthafen ein Rettungswagen auf ihn wartete, wenn er dort eintraf. Aber er wusste ja nicht mal, wo er sich befand. War er bereits in der Nähe des Piers? Mit dem wollte er nun wirklich nicht kollidieren.

Was die Haie anging, konnte Briana sie von ihrer Position aus unmöglich gesehen haben, aber sie lag genau richtig mit ihrer Warnung. Ein Stück weit vor dem Boot konnte er mehrere Bullenhaie ausmachen, die sich ein Wettrennen mit ihm zu liefern schienen. Der Anblick erinnerte ihn an eines der Bilder in seinem Büro, ein Gemälde von Winslow Homer mit dem Titel The Gulf Stream. Dieses Gemälde war der Grund, weshalb er sein Unternehmen Gulf Stream Yacht Interiors genannt und sein Boot auf den Namen Streamin’ getauft hatte. Doch diese Haie dort vorn waren nicht aus Ölfarbe auf einer Leinwand, sondern aus Fleisch und Blut – und sie lieferten sich mit ihm ein Rennen auf Leben und Tod.

3. KAPITEL

„Mayday! Mayday! Mayday! Hier ist die Slup Streamin’!“

Cole nahm prinzipiell kein Mobiltelefon mehr mit zum Segeln, da er dort über ein Funkgerät verfügte. Zu viele Telefone waren ihm ins Meer gefallen oder nass und damit unbrauchbar geworden. Sein tragbares Funkgerät war dagegen wasserdicht, und er konnte es mit einer Hand bedienen. Endlich reagierte jemand auf seinen Notruf.

Streamin’, Streamin’, hier Station Naples Harbor der US-Küstenwache. Ich kann Sie empfangen, Streamin’. Nennen Sie Ihre Position. Over.“

„US-Küstenwache, hier Slup Streamin’. Hier spricht Cole DeRoca, ich segle allein von Turtle Bay aus. Ich habe bei diesem Unwetter eine Pause auf Keewadin eingelegt, bin aber jetzt auf dem Weg nach Naples. Vermutlich Port Royal.“ Adrenalin jagte durch seinen Körper, während er hoffte, dass seine Antwort einen Sinn ergab. „Ich habe eine halb ertrunkene Frau an Bord, die auf Keewadin angespült wurde oder dorthin geschwommen ist. Möglicherweise wurde sie vom Blitz getroffen, zeitweise ist sie bei Bewusstsein.“

Streamin’, haben Sie GPS an Bord?“

„Kein GPS, und hier draußen tobt noch immer die Hölle. Warten Sie … ich sehe die Ufermauer am Gordon Pass, die Felswand südlich von …“

„Gehen Sie gleich nördlich vom Gordon Pass an Land. Wir schicken einen Wagen hin …“

Cole ließ das Funkgerät fallen und fasste die Pinne wieder mit beiden Händen, um gegen die Wellen anzukämpfen, die sein Boot gegen jene Felswand zu drücken versuchten, an der er schon so oft entlanggesegelt war. Das Wasser, das vom Gordon River ins Meer strömte, traf hier auf die Brandung und brachte die Streamin’ im Zusammenspiel mit dem Sturm beinahe zum Kentern.

Er lehnte sich über die Bordwand, so weit er konnte, um mit seinem Gewicht gegen die seitliche Neigung der Slup anzukämpfen. Hätte er doch bloß Zeit gehabt, um ein Sicherungstrapez anzulegen! „Komm schon, Baby!“ , brüllte er. Seine Meerjungfrau regte sich abermals und schrie wieder etwas, doch die Streamin’ kam an erster Stelle, denn in dieser unberechenbaren Strömung genügte eine falsche Bewegung, um das Boot kentern zu lassen. Es war mehr als zweifelhaft, so etwas lebend zu überstehen, doch für Briana war er die letzte Hoffnung. Also gab er nicht auf.

Cole biss die Zähne zusammen und kämpfte weiter, um dem in Schräglage geratenen Gefährt etwas entgegenzusetzen. Einen Moment musste er die Pinne tatsächlich mit dem Fuß in die richtige Position drücken, da er mit dem Takelwerk und dem Großschot alle Hände voll zu tun hatte. Das Tau schnitt sich ins Fleisch ein und ließ seine Hand taub werden, während es ihm vorkam, als könne er jeden Knochen, jede Sehne und jeden Muskel in seinem Körper vor Schmerz aufschreien hören, als er sich noch ein bisschen mehr hinauslehnte, damit das Boot nicht umkippte.

Ja! In einer Entfernung von vielleicht zehn Metern glitt der Rumpf der Streamin’ an den Felsen vorbei, dann nahm Cole Kurs aufs Ufer und kletterte zurück ins Boot, wo er sich auf den Ruck gefasst machte, wenn seine Slup sich in Sand und Muscheln fraß. Er warf sich neben Briana und drückte sie an sich, und schließlich kam das Boot wie erwartet unsanft zum Stillstand.

Als er sich aufrichtete, kam es ihm so vor, als habe sich das Unwetter wie durch ein Wunder abgeschwächt, aber vermutlich hatte er sich inzwischen einfach zu sehr an den prasselnden Regen gewöhnt, um ihn überhaupt noch wahrzunehmen. Doch das Wetter besserte sich tatsächlich, das Gewitter zog über die Bucht und die Glades weiter ins Landesinnere. Es war wie eine Belohnung dafür, dass er diesen Kampf gegen die See überlebt hatte.

Er griff über die reglose Frau hinweg nach seinem Funkgerät, das zu seinem Erstaunen noch funktionierte. Als er wieder mit der Küstenwache Kontakt aufnahm und sie wissen ließ, dass er sich sechs Strandhäuser nördlich vom Gordon Pass befand, wurde ihm versichert, der Rettungswagen sei bereits unterwegs.

„Da wäre noch was“ , sagte er zu dem diensthabenden Officer. „Geben Sie bitte weiter, es handelt sich bei der Frau um Briana vom Bergungsunternehmen Two Mermaids in Turtle Bay. Den Nachnamen weiß ich nicht. Sie sprach von ihrer Schwester Daria. Wenn jemand weiß, wo sich Daria befindet, soll er sie doch bitte von Brianas Unfall in Kenntnis setzen. Ich bin mir nicht sicher, aber womöglich waren sie beide draußen unterwegs, als das Unwetter einsetzte.“

„Falls Daria oder ihr Boot tatsächlich vermisst wird, dann lassen Sie uns das umgehend wissen. Over and out.“

„Werde ich machen“ , erwiderte Cole, dessen Stimme sich in seinen eigenen Ohren auf einmal müde und erschöpft anhörte. „Werde ich … versuchen“ , murmelte er, während er das Funkgerät abschaltete und sich über Briana beugte.

Er zog sie an sich und versuchte, sie zu wärmen. Einmal schlug sie kurz die Augen auf, diese wegen der geweiteten Pupillen fast schwarzen Augen, schien ihn aber nicht zu sehen, auch wenn sie sich fester an ihn drückte. Sein Herz schien einen Salto zu schlagen, weil es lange her war, dass er eine Frau in den Armen gehalten hatte – vor allem eine Frau, die ihn brauchte.

Als er die Sirene des Rettungswagens auf dem Gordon Drive näher kommen hörte, erschien ihm die verstrichene Zeit einerseits viel zu kurz, andererseits wie eine halbe Ewigkeit. Erst als die Sanitäter zwischen zwei Häusern auftauchten und mit einer Trage den Strand überquerten, ließ Cole Briana widerstrebend los. Die Männer untersuchten sie und legten ihr eine Infusion an, während Cole ein paar Schritte zurückging und schließlich die Slup verließ, damit er ihnen nicht im Weg stand.

Aus verschiedenen Strandhäusern kamen Menschen hinaus in den nachlassenden Regen, und ein kleiner, ältlicher Mann legte Cole eine zu kleine Jacke über die Schultern. Erst in dem Moment wurde Cole bewusst, wie sehr er zitterte.

„Falls ich mit ihr ins Krankenhaus fahren muss, könnten Sie dann auf mein Boot aufpassen?“ , fragte Cole ihn. Vor Kälte und Anspannung klapperte er pausenlos mit den Zähnen.

„Ja, sicher. Was ist mit ihr? Ist sie Ihre Frau?“

„Eine Freundin.“

„Ah. Schönes altes Boot. Machen Sie sich mal keine Sorgen, das kommt schon alles in Ordnung. Ihre Freundin und auch das Boot, meine ich.“

Manuel Salazar, von jedem kurz Manny genannt, warf die Wagentür seines alten Ford-Trucks zu, lief durch den allmählich nachlassenden Regen und schloss die Eingangstür zum Büro des Two Mermaids auf. Seine vierzehnjährige Tochter Lucinda folgte ihm und nörgelte unentwegt herum. Erst vor Kurzem hatte sie aufgehört, so wie alle anderen innerhalb der Familie nur spanisch zu reden. Manny beharrte darauf, dass es zu ihrem bevorstehenden fünfzehnten Geburtstag die traditionelle quinceañera-Feier geben würde, jene große Party für all ihre Freunde und Verwandten, mit der gefeiert wurde, dass sie bald eine erwachsene junge Frau sein würde. Die meisten chicas konnten diesen Tag gar nicht abwarten, der viel besser war als eine amerikanische Geburtstagsparty, nur seine Tochter wollte davon nichts wissen. Praktisch über Nacht hatte sich seine Lucinda von der engelsgleichen jüngeren Tochter in einen ihm fremden Menschen verwandelt.

Er ging zum Schreibtisch und sah nach, ob der Anrufbeantworter Nachrichten aufgezeichnet hatte, aber das Band war leer. Sein Magen verkrampfte sich unwillkürlich, als er überlegte, was in diesem Unwetter mit der Mermaids II geschehen sein mochte.

„Aber das kostet doch so viel, Papa. Überleg mal, was ihr mit dem Geld alles machen könnt“ , versuchte Lucinda eine neue Taktik. „Ich hab doch gehört, wie du zu Mama gesagt hast, dass du dir das gar nicht leisten kannst und dass du versuchen musst, es schon irgendwie hinzubekommen. Aber warum willst du das tun?“ Die dunklen Augen in ihrem munteren, rundlichen Gesicht blitzten verärgert auf, und wie sie so dastand mit den Händen auf die Hüften gestützt, da erinnerte sie ihn einmal mehr an seine ehrwürdige Mutter. Allerdings hätte die niemals eine zerrissene Jeans und ein knappes Top getragen, das zu viel Haut unbedeckt ließ. „Meine Freundinnen … meine amerikanischen Freundinnen“ , redete sie weiter, „finden das total altmodisch.“

„Dann sind sie ja wohl auch keine Freundinnen, ? Caramba, red von deinen Latino-Freunden nicht so herablassend. Ich kenne keine andere chica, die auf ihre quinceañera verzichten möchte! Deine Latino-Freundinnen freuen sich auf ihre Partys, tanzen mit Jungs und machen ihre Eltern, Großeltern und padrinas glücklich, ? Aber du richtest dich nur nach deinen Americana-Freunden. Und was ist mit der ethnischen Vielfalt und all diesen Dingen?“

„O Mann, erst redest du wie ein Psychiater, dann wie ein Priester, und jetzt kommst du mir wie ein Politiker vor, Papa. Ich bin ein amerikanischer Teenager, und die reden bei den Sachen mit, die in ihrem Leben laufen. Okay, dann wollen die meisten chicas halt eine quinceañera-Party, aber ich will sie nicht. Wenn du unbedingt Geld ausgeben willst, das du gar nicht hast, warum kaufst du mir dann nicht ein Auto, damit ich mir in der Stadt einen Job suchen kann, wenn ich sechzehn werde. Das ist nämlich das Alter, auf das sich amerikanische Teenager freuen.“

„Kein Auto! Sag deinen amerikanischen Freundinnen, dass sie nicht kommen müssen, wenn sie sich eine gute Party entgehen lassen wollen. Wenn sie aufs Tanzen und Essen verzichten wollen, dann …“

„Ich kann ja mit dir und Mama kein vernünftiges Wort mehr reden!“ , platzte sie heraus und schlug sich mit den flachen Händen auf die Schenkel. „Carianna musste das auch nicht mitmachen.“

Musste das nicht mitmachen? Deine große Schwester wäre glücklich gewesen, wenn wir die Party hätten bezahlen können. Sie hätte gern mit all unseren Freunden und Verwandten gefeiert. Aber jetzt habe ich diese Stelle hier bei Briana und Daria. Die beiden werden sogar padrinas sein und uns helfen, das nötige Geld …“

„Dann ist das eine Party für die beiden? O nein, das Ganze ist für dich und Mama, und auch noch für Carianna und Grandmama! Aber ich habe damit nichts zu tun!“

„Ich, ich, ich!“ , wiederholte er spöttisch und warf frustriert die Arme hoch. „Das ist das Einzige, wofür sich ein amerikanischer Teenager interessiert! Als deine Mama und ich so alt waren wie du …“

„Ich bin nicht Mama, und ich bin nicht du, und ich war auch noch nie in diesem großartigen Mexiko, wo alle Hunger leiden mussten! Warum kannst du mir nicht zuhören?“

„Halt den Mund! Du bekommst deine quinceañera und wirst deine Mama und deine Grandmama ehren. Du wirst dafür sorgen, dass deine Familie stolz auf dich sein kann, oder du kannst dir eine neue Familie suchen. Und jetzt setz dich dahin, bis ich die Videokamera gefunden habe.“

Sie wandte ihm den Rücken zu und ließ sich in den Stuhl hinter Brees Schreibtisch fallen, während er leise murmelnd das kleine Büro verließ und den großen Raum dahinter betrat, in dem die Tauch- und Bergungsausrüstung untergebracht war. Über der Tür hing ein Schild mit dem Text ‚Das Meer ist unser Büro’, an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Foto von der Größe eines Posters mit den Zwillingen in ihren Tauchanzügen, vor sich auf dem Boden die Sauerstoffflaschen mit der Aufschrift ‚Es geht nichts über Luft in Flaschen’. Ein anderes großes Foto zeigte die zwei, wie sie kopfüber ins Wasser sprangen, sodass nur noch die an den Schwanz einer Meerjungfrau erinnernden Beine zu sehen waren.

An den Wänden hingen Seekarten, Diagramme der verschiedenen künstlichen Riffe in diesem Teil des Golfs sowie Zeichnungen des kostbaren Seegrases, um das sich die Zwillinge draußen am Frachterwrack kümmerten. Auf dem Boden war die Ausrüstung in langen Reihen angeordnet: Seilwinden, Bojen, Metalldetektoren, Unterwasserlampen, Hebe- und Schneidewerkzeuge, Schwimmer und Kameras.

Mannys Bereich befand sich im hinteren Teil des großen Raums, wo die schwerste Ausrüstung gelagert wurde, insbesondere alles, was mit Motoren zu tun hatte. Mit den Zwillingen war vereinbart, dass er nicht mit Sauerstoffflaschen tauchen musste, sondern nur dicht unter der Oberfläche arbeitete, wo er mit einem Schnorchel auskam. Sobald er tiefer tauchte, geriet er in Panik – „Wasserplatzangst“ hatte Daria es im Scherz bezeichnet. Trotzdem gefiel ihm die ganze Atmosphäre, von der dieses Geschäft geprägt war. Sein Traum war es, eines Tages ein eigenes Unternehmen zu eröffnen und es so zu führen, wie er es sich vorstellte. Er würde es mit dem konkurrierenden Bergungsunternehmen auf der anderen Seite der Bucht aufnehmen und diesem großspurigen Sam Travers ein für alle Mal das Maul stopfen. Man hätte meinen sollen, dass er mit seinen aufwendigen Bergungsarbeiten mehr als genug zu tun hatte, um den Zwillingen die leichteren Jobs überlassen zu können, aber Sam hegte einen persönlichen Groll gegen die beiden, vor allem gegen Bree.

Im Lager sah es stets nach einem organisierten Durcheinander aus, was nach Mannys Meinung auch für das hektische Leben seiner Arbeitgeberinnen galt. Wie sehr er sie doch um ihr Geschäft beneidete! Aber gerade weil er ihnen beim Aufbau geholfen hatte, fand er, seine Hilfe sei mehr wert als das, was sie ihm zahlten. Doch seit Kurzem wusste er, er würde die Hälfte des Unternehmens erben, wenn einer der Frauen etwas zustieß, und seitdem war er gezwungen gewesen, einige schwierige Entscheidungen zu treffen.

Caramba, er würde dann vielleicht nicht länger nur an der Oberfläche arbeiten können, sondern sich sogar zum Tauchen zwingen müssen, um das zu bekommen, was er wollte. Ein leises Brummen kam über seine Lippen, während er weiter nach der Kamera suchte, mit der er im großen, vornehmen Garcia Party House filmen wollte, das er für Lucindas quinceañera angemietet hatte. Seine madre sollte sehen, wie gut es ihnen ging, bevor der Krebs sie ihnen entreißen konnte. Sie hatte seinetwegen in ihrem Leben auf so vieles verzichtet, und nun wollte er, dass sie stolz auf ihn war – koste es, was es wolle.

Schließlich entdeckte er die Kamera und nahm sie aus der wasserdichten Hülle, dann kehrte er zu Lucinda zurück, die sich mit dem Bürostuhl um die eigene Achse drehte, bis ihr schwindlig wurde. Wenigstens hatte sie aufgehört, sich am laufenden Band zu beklagen. Andererseits jedoch machte die beharrliche Stille ihm zu schaffen, da ihn nichts von seinen Grübeleien ablenken konnte, die ihn nahezu verrückt machten, weil er noch immer nichts von Bree und Daria gehört hatte.

Dieses eine Mal war Amelia Westcott froh, die Einfahrt zu ihrem Haus vor sich zu sehen. Bei Regen zu fahren, war für sie mit das Schlimmste, was es gab. Und sie hasste die heißen und schwülen Monate im Jahr, in denen man von einem klimatisierten Gebäude zum nächsten hetzen musste, um den Tag zu überstehen. Wenigstens waren ihre Söhne noch nicht vom Pfadfindertreffen zurück, und sie konnte in Ruhe duschen und sich eine Weile entspannen, ehe sie nach Hause kamen. Ihr Treffen mit Daria war eine einzige Katastrophe gewesen, und der Termin mit dem Dozenten in der Kunstgalerie hatte wesentlich länger gedauert als erwartet, was zum Teil auch daran lag, dass wegen des Unwetters vorübergehend der Strom ausgefallen war. Ach, irgendwann in diesem oder im nächsten Monat würde sich das Wetter bessern, und dann konnte sie endlich wieder durchatmen.

Hätte sie nicht Ben geheiratet, der jetzt der sehr bekannte und sehr beschäftigte Bezirksstaatsanwalt von Collier County war, dann wäre sie vermutlich nach Norden in die Carolinas umgezogen. Vielleicht hätte ihr das geholfen, jenen schmerzhaften Erinnerungen zu entkommen, die sie mit der Gegend hier verband. Sie liebte Ben, und ihr gefiel der Lebensstil, den sie sich erlauben konnten. Auch war sie wirklich stolz auf ihren Mann, und doch wünschte sie sich manchmal eine eigene Karriere – eine Sache, für die sie sich einsetzen konnte, um anderen Menschen tatsächlich zu helfen, etwas Bedeutsameres als ihre diversen Komitees. Die dienten zwar alle einem guten Zweck, aber sie förderten auch Bens Karriere. Wenn sie eine solche Karriere hätte, dann gäbe es für sie mehr als luxuriöse vier Wände und die Unordnung, die ihre Jungs anrichteten. Sie war eine Hausfrau, die genau das nicht sein wollte.

Soeben hatte sie das Garagentor geschlossen und war ins Haus gegangen, als sie noch das abschließende Piepsen des Anrufbeantworters hörte. Vielleicht war das für morgen vorgesehene Treffen der Umweltkommission verschoben worden. Wenigstens hatten ihre Schwestern zugeben müssen, dass Amelias Mitgliedschaft zu etwas taugte, auch wenn der Vorschlag, ihnen die Aufsicht über das Seegras zu übertragen, letztendlich vom Kongressabgeordneten Josh Austin gekommen war.

„Sie haben – eins – neue Nachrichten“ , verkündete das Gerät auf Tastendruck. Warum war die moderne Technologie eigentlich nicht in der Lage, einem Mikrochip richtige Grammatik beizubringen? Immerhin versah das Textprogramm ihres Laptops doch auch jeden Tipp- und Grammatikfehler mit einer roten Wellenlinie.

„Diese Nachricht ist für Amelia Devon Westcott“ , hörte sie eine Frauenstimme sagen und bekam sofort ein ungutes Gefühl. Sie benutzte nie ihren Mädchennamen. „Einer der Ärzte aus unserer Notaufnahme erwähnte, dass Sie beim Spendenkomitee des Krankenhauses mitarbeiten, deshalb konnten wir Sie ausfindig machen. Mrs Westcott, ich rufe an, weil Ihre Schwester – wir glauben, es handelt sich um Briana Devon – nach einem Unfall mit dem Rettungswagen ins Naples Hospital gebracht wurde. Wir hatten gehofft, Sie könnten in die Notaufnahme kommen, um sie zu identifizieren und bei ihr zu sein.“

Bree! Bree? Ein Unfall? Sie identifizieren? Sollte das etwa heißen, Bree war tot? Das konnte nicht sein. Es konnte nicht Bree sein!

Die Frau redete weiter: „Uns wurde gesagt, dass sie mit ihrer Schwester Daria zusammenlebt, aber wir konnten sie weder in ihrem Geschäft noch zu Hause erreichen, daher ist es uns bis jetzt nicht gelungen, mit ihr Kontakt aufzunehmen.“

Als würde sie der Frau persönlich antworten, flüsterte Amelia: „Ich habe mit keiner von beiden jemals wirklich Kontakt aufnehmen können, auch wenn ich das noch so verzweifelt versucht habe.“

Wie ein werdender Vater ging Cole im Warteraum der Notaufnahme auf und ab. Er wusste, er sah erbärmlich aus, da er noch immer seine durchnässten Shorts und die nassen Schuhe trug, die bei jedem Schritt quietschten. Dazu trug er die geborgte Jacke, die so klein war, dass er sie gar nicht zumachen konnte. Zusätzlich brachten ihn die anderen Menschen aus der Ruhe, die sich ebenfalls hier aufhielten: eine aufgeregte Mutter, deren Sohn eine Münze verschluckt hatte; ein junger Mann, dessen Nierensteine ihm schreckliche Schmerzen bereiteten; ein paar ältere Leute, die aussahen wie der wandelnde Tod. Der Warteraum war hoffnungslos überfüllt, aber wenigstens hatte man Briana sofort in eines der Behandlungszimmer gebracht. Mindestens ein halbes Dutzend Mal war er schon zu der Stationsschwester gegangen, um etwas über ihren Zustand zu erfahren. Warum bekam er von niemandem eine Antwort?

All das erinnerte ihn viel zu sehr an die entsetzliche Nacht, in der sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte. Cole wusste, dass er nichts mehr tun konnte, und dennoch hatte er den Krankenwagen gerufen. Anstatt aber den Tod seines Vaters festzustellen, schlossen die Sanitäter ihn an eine Herz-Lungen-Maschine an und brachten ihn ins Krankenhaus, wo die Ärzte ihm schließlich das erzählten, was er bereits wusste. Aber Briana durfte nichts zugestoßen sein. Sie war stark, immerhin hatte sie die brutalen Wellen ebenso überlebt wie die Haie. Cole hatte sich seinen Weg an Brianas Seite bis zur Notaufnahme regelrecht erkämpft. Aber hier schlossen sich die Türen endgültig vor seiner Nase.

Er wurde einfach links liegen gelassen, ein Gefühl, das er seit der Trennung von Jillian im letzten Jahr nur zu gut kannte. Als sie begann, ihre gemeinsamen Freunde gegen ihn auszuspielen, war es bereits zu spät gewesen, und er konnte nur noch den Schluss ziehen, dass er mehr von seiner Welt aufgegeben hatte als Jillian von ihrer. Und dazu zählte auch der Freundeskreis, denn jeder, der sich nach der Scheidung gegen ihn wandte, war ursprünglich ohnehin mit ihr befreundet gewesen.

Auch beruflich war das Zusammenschmelzen seiner Kontakte nicht besonders hilfreich gewesen. Allenfalls fand er dadurch einen Vorwand, um sich gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen. Was er aber nach den zwei Jahren Ehe mit Jillian begriffen hatte, war, dass sie nie wirklich ein Teil von ihm gewesen war. Er hatte sie nach der Trennung nicht einmal vermisst. Sicher, das Scheitern seiner Ehe stimmte ihn traurig, doch er empfand es nicht als Verlust, dass Jillian nicht mehr an seiner Seite war. Sonderbarerweise würde es ihn mehr schmerzen, wenn Briana nicht überlebte, und dabei hatte er nur ein Mal vor Monaten mit ihr zu Mittag gegessen und sie heute in diesem verheerenden Unwetter zurück aufs Festland gebracht.

Es überraschte ihn, dass in diesem Moment Amelia Westcott durch die Glastür in den Warteraum kam und zielstrebig auf die Stationsschwester am Empfang zuging. Er kannte Amelia von der Kommission für einen sauberen Golf, der er selbst auch angehörte.

„Sie haben angerufen“ , sagte Amelia atemlos, aber laut genug, dass Cole sie verstehen konnte. „Ich bin die Schwester von Briana Devon. Ist ihre Zwillingsschwester Daria inzwischen aufgetaucht?“

Cole ging zu ihr. „Hallo, Amelia, ich wusste nicht, dass Sie Brianas Schwester sind – zugegeben, es gibt auch keinen Grund, wieso mich das etwas angehen müsste –, aber Sie sollten vielleicht wissen, dass ich Briana halb ertrunken am Strand auf Keewadin Island gefunden und an Land gebra…“

„Halb ertrunken? Ich wette, sie war mit Daria unterwegs. Sie ist immer mit Daria auf dem Meer unterwegs, um etwas zu suchen oder zu erkunden. Ich begreife nicht, wie sie bei diesem Wetter rausfahren konnten!“

Amelia war zwar in erster Linie besorgt, doch in ihrer Stimme schwang eine gewisse Verbitterung mit. Je älter er wurde, umso deutlicher wurde ihm, dass jede Familie ihre Probleme hatte, die dicht unter der Oberfläche des Alltags dieser Menschen brodelten. Früher war er immer der Meinung gewesen, seine Familie sei ein Einzelfall, doch inzwischen wusste er, dass dem nicht so war.

Die Stationsschwester versuchte sich telefonisch nach Brianas Zustand zu erkundigen. Endlich würde auch er ein paar Antworten bekommen. Während Amelia die Arme verschränkte und innerlich zusammenzubrechen schien, blieb Cole dicht neben ihr. Sie war eine attraktive Frau, platinblonde, makellos frisierte Haare und eisblaue Augen. Sie wirkte völlig anders als Briana mit ihrem natürlichen, kastanienbraunen Haar und ihren graugrünen Augen. Selbst jetzt bot sie ein perfektes Erscheinungsbild und wirkte wie auf dem Weg zu einem Fototermin, wohingegen die Zwillinge meistens vom Wind zerzaust und von der Arbeit am und im Wasser nass waren – was er als eine sexy Kombination empfand. Amelia war erkennbar älter als ihre Schwestern und vermutlich eher ein von Natur aus zugeknöpfter Typ. Anstatt erst mal tief durchzuatmen, wie er es ihr empfahl, kniff sie die Augen zusammen und schnaubte wie ein Stier, der auf jemanden losgehen wollte. Ihm fielen die Bullenhaie ein, aber er entschied, sie damit nicht auch noch zu behelligen, wenigstens nicht im Moment.

Wenige Augenblicke später kam ein schmaler Arzt mit schütterem Haar aus der Notaufnahme und ging schnurstracks auf Amelia zu. Der Mann – auf dem Namensschild stand Dr. Micah Hawkins – blätterte in den Papieren auf seinem Klemmbrett, dann fragte er: „Mrs Westcott, sind Sie mit Briana Devon verwandt?“

Cole bekam weiche Knie. War Briana etwa gestorben? Sie durfte nicht tot sein!

„Ja, ihre Schwester … eine ihrer Schwestern“ , antwortete sie, während der Arzt ihr bedeutete, ihm zu folgen. Cole blieb beharrlich an ihrer Seite, und diesmal würde er sich nicht wieder abwimmeln lassen.

„Sie hat viel Salzwasser geschluckt, aber wir befürchten, dass sie darüber hinaus von einem Blitz getroffen wurde, als sie sich im Wasser aufhielt. Das kann noch zu Komplikationen führen. Und Sie sind …?“ , wandte sich Dr. Hawkins plötzlich an Cole.

„Cole DeRoca, ein Freund von Briana. Ich habe sie gefunden, versorgt, so gut ich konnte und sie hierhergebracht. Wird sie wieder gesund werden?“

„Ich muss Ihnen mein Lob aussprechen, Mr DeRoca. Wahrscheinlich haben Sie ihr das Leben gerettet. Wenn Mrs Westcott nichts einzuwenden hat, können Sie mitkommen. Wir müssen noch einige Tests durchführen, außerdem holen wir auch einen Neuropsychologen dazu. Sie ist immer wieder für kurze Zeit bei Bewusstsein und fragt dann nach Daria.“

„Na, das ist kein Wunder“ , sagte Amelia. „Aber soll das heißen, Sie konnten Daria noch nicht aufspüren?“

„Daria ist ihre Zwillingsschwester. Briana war offenbar mit ihr auf einem Boot unterwegs“ , erklärte Cole dem Arzt. „Aber Briana ist wohl über Bord gegangen.“

„Mein Gott, Daria kann doch nicht da draußen auf hoher See unterwegs gewesen sein!“ , rief Amelia und packte Dr. Hawkins’ Handgelenk. „Doktor, holen Sie jeden Spezialisten dazu, der helfen kann. Ich weiß nicht, wie Briana versichert ist, aber darum werde ich mich schon kümmern.“

Coles Abneigung gegen Amelia schwächte sich bei diesen Worten ein wenig ab. Als sie aber auf dem Weg durch das Labyrinth aus Behandlungseinheiten nichts weiter sagte, fragte er: „Wenn Briana mit ihr im Golf unterwegs war, wo ist dann Daria?“

War sie tot? Briana öffnete die Augen einen winzigen Spalt, damit das grelle Licht sich nicht bis in ihr Gehirn brennen konnte. Sie fühlte sich schlapp und hilflos, der Gnade der wogenden See ausgesetzt. Auf, ab, seitwärts … doch der Himmel war so weiß, viel zu weiß eigentlich, und durch die einzelne große Wolke über ihr schienen gleich mehrere Sonnen. Deckenlampen! Sie stachen ihr in den Augen, und als sie Leute im Raum reden hörte, kam es ihr so vor, als würden die sie anbrüllen.

Fremde Gesichter gelangten in ihr Blickfeld und verschwanden wieder. Die Haie waren nicht mehr bei ihr. Hatte sie die wirklich gesehen? Wo war Daria, ihr Spiegelbild? Es gefiel ihr nicht, allein zu tauchen. Sie wollte Daria bei sich haben, ihr anderes Selbst, wenn sie gemeinsam das Spiegelglas durchschritten und in die Welt der Tiefe eintauchten.

Jemand zog ihre Augenlider auf und richtete einen grellen Lichtstrahl auf ihre Pupille, der sich wie ein Messer in ihr Gehirn bohrte. Sie drehte den Kopf zur Seite und wollte die Hände vor ihr Gesicht legen, doch an den einen Arm waren verschiedene Schläuche angeschlossen, der andere war verbunden und tat höllisch weh. Ein Mann – ein Arzt – beugte sich über sie. Oh, Amelia stand neben ihm. Aber was tat sie hier? Und wer war der große, gut aussehende Mann mit den dunklen Augen und dem schwarzen Haar, der sie so sorgenvoll betrachtete? Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er kein Arzt. War er mit ihr im Wasser unterwegs gewesen?

„Was ist passiert?“ , versuchte sie zu fragen, aber es klang nicht nach ihrer Stimme, und niemand gab eine Antwort. Was war mit diesen Leuten los? Und wo war Daria?

„Verbrennungen hat sie nur am linken Handgelenk erlitten“ , erklärte der Arzt an Amelia und den Fremden gerichtet. „Genau genommen ist es wohl nur eine Hautreizung – eine Reaktion, die in ein paar Tagen bereits wieder verschwunden sein könnte. Ich habe eine CT und eine MRT angeordnet, und wir verlegen sie so schnell wie möglich auf ein Zimmer, wo wir sie besser überwachen können. Wir werden auch einige andere Funktionen untersuchen, aber dafür lassen wir einen Spezialisten kommen.“

„Funktionen – im Sinne von Gehirnfunktionen?“ , wollte der Mann wissen, dessen tiefe Stimme im Gegensatz zu den anderen wie ein sanftes Flüstern klang.

„Ja, genau. Die Folgen eines Blitzschlags können sehr unterschiedlich sein. Aber auch wenn ihre Pupillen geweitet sind, möchte ich betonen, dass das Gehirn deshalb nicht zwangsläufig geschädigt wurde, Mrs Westcott.“ Er beugte sich vor, bis er ganz dicht über ihrem Gesicht war. „Briana, ich bin Dr. Hawkins. Können Sie mich hören?“

Hören konnte sie ihn sehr gut. Sie hörte jedes Geräusch in diesem Raum, sogar das Tropfen der Infusion. „Ja“ , brachte sie mit viel Mühe heraus, da sie nicht glaubte, dass sie zu einem Nicken in der Lage gewesen wäre. Ihre Lippen fühlten sich steif und spröde an. „Wo ist Daria?“

Wieder sprach der große Mann. „Briana, kannst du uns sagen, wo du Daria zuletzt gesehen hast?“

Sie kämpfte, um die Worte zu formen, aber die anderen sollten wissen, dass sie bei der Suche nach Daria helfen mussten.

„Als ich tauchte – von unserem Boot – beim Frachterwrack – vor dem Unwetter.“

Amelia schnappte erschrocken nach Luft, ein Geräusch, das sich durch Brees Trommelfelle zu schneiden schien. „Soll das heißen, sie ist noch irgendwo da draußen?“ , fragte ihre Schwester aufgebracht, doch der Mann legte eine Hand auf Amelias Arm, damit sie sich beruhigte.

„War sie noch auf dem Boot, als du sie zuletzt gesehen hast?“ , wollte der Mann wissen.

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