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Das Geheimnis der Bienenvilla

hier erhältlich:

Eine seit 2000 Jahren verleugnete Liebe, ein wohlgehütetes Geheimnis - eine Frau auf der Suche nach der Wahrheit:

Laura Cuddihy wurde an den besten Schulen ausgebildet – doch in New York ist die Linguistin in einer Sackgasse angekommen. In der Beziehung zu ihrem Freund kriselt es und ihr Lehrauftrag an der NYU läuft aus. Da kommt das rätselhafte Jobangebot aus Cornwall gerade recht: Für die exzentrische Wyona Guinness de Figueras soll sie einen jahrhundertealten Kodex übersetzen. Laura ist fasziniert, und schon bald entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Zunehmend entfernt sich Laura von ihrem Leben in New York. Als Wyonas Sohn James mit seiner Frau und den beiden Töchtern in der Bienenvilla auftaucht, lässt er sich von Lauras Leidenschaft für den Kodex mitreißen. Die beiden verbindet jedoch bald weit mehr als ihre gemeinsamen Recherchen. Laura muss sich die Frage stellen, was sie vom Leben will – und stößt unterdessen auf ein Geheimnis, das weit größer ist, als sie sich je hätte ausmalen können…


  • Erscheinungstag: 16.02.2021
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950010
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Piqui

Und schritten jene Füße einst auf Englands grünen Bergeshöhn?

William Blake, Jerusalem

»Lass Traurigkeit und Melancholie beiseite.

Das Leben währt nur ein paar Tage, und wir haben allein das Hier und Jetzt, um sie zu genießen.«

»Aber eines Tages werden alle Sterne verschwinden.«

»Denk nicht daran, lieber Freund.

Genieße, was die Morgendämmerung uns bringt.«

Federico Garcia Lorca, Der Fluch des Schmetterlings

»Auf niemanden wartet so etwas wie eine finstere Höllengrube. Der Geist kann nicht allein für sich, ohne den Körper, sein, ganz ohne Sehnen und Blut. Ihr müsst deshalb zugeben, dass, wenn der Körper gestorben ist, auch das Ende der Seele gekommen ist, die sich aus ihm heraus verströmt. Es ist gewiss aberwitzig, etwas Sterbliches mit etwas Ewigem zu paaren.«

Lukrez, Über die Natur der Dinge

1

Es war genau so, wie sie es sich erhofft hatte. Herbstwinde wehten von der Keltischen See herein. Beim Herunterschalten vor einer Kurve konnte sie sehen, wie graue Wellen unter der elfenbeinfarbenen Mähne der Gischt gegen einen Sandstrand anbrandeten, an dem Treibholz verstreut lag. Die Küstenlinie war vielerorts von zerklüfteten Klippen unterbrochen, die, durchsetzt von Erzadern und Moos, steil aufragten. Als sie einige Kilometer zuvor auf diese Straße abgebogen war, hatte ein Schild sie als Stichstraße ausgewiesen, ohne einen Hinweis darauf, dass dort, wo das schmale Asphaltband endete, ein eleganter, geschotterter Vorplatz begann, der zu einem Anwesen von gewaltigen Ausmaßen gehörte. Das Tor stand offen, und Laura fuhr hindurch, um anschließend seitwärts zu parken. Sie stieg aus und atmete tief diese Luft ein, die nach Salzwasser und Klee roch. Dabei staunte sie über die Tatsache, dass sie noch vor zwei Tagen um den Washington Square in New York gejoggt war, um anschließend Bialy und Kaffee zu sich zu nehmen. Gestern Abend hatte sie mit Fiona in London ordentlich gebechert, und nun war sie hier, offenbar am Ende der Welt.

Sie hatte sich das Anwesen auf der Website der Liste der national wertvollen Kulturgüter Englands angesehen. Das Landgut mit seinen sechsundzwanzig Zimmern, das offiziell den Namen Provence House trug, aber seit jeher Bienenvilla genannt wurde, war im 15. Jahrhundert erbaut worden und seither stets im Besitz derselben Familie geblieben. Es war im Tudorstil aus grauem Granit errichtet und wurde von strengen elisabethanischen Parkanlagen flankiert. Seine über 240 Hektar gehörten zu den Weltkulturerbestätten der Bergbaulandschaft in Cornwall.

Sie holte ihren Koffer aus dem Auto, und während sie auf die wuchtige Eingangstür zuging, kam sie sich wie die Hauptfigur in einem Roman von Daphne du Maurier vor. Als sie mit dem schweren Messingring an die Tür klopfte, fragte sie sich, wer ihr wohl öffnen würde. Ein mürrisches Hausmädchen, möglicherweise mit einer gestärkten weißen Schürze, oder ein hochnäsiger Butler in Frack und Weste. Oder vielleicht ein Verwandter der Frau, die zu treffen sie so weit gereist war – ein attraktiver Junggeselle in Twillhose und mit Ascotkrawatte womöglich. Doch an die Tür kam die Eigentümerin höchstpersönlich, eine schlanke, elegante Frau, die Laura als fast siebzigjährig einschätzte und die den fremdartigen Namen Wynona Guinness de Figueras trug.

»Sie müssen Laura sein«, sagte die Frau.

»Mrs. Figueras?«

Eine schmale Hand ganz und gar ohne Juwelen streckte sich ihr entgegen, während sich die Tür vollends öffnete. »Nennen Sie mich Winnie.«

Laura hatte ein angemessen dunkles Interieur erwartet. Aber die Eingangshalle war luftig und weiß. Sie stellte ihren Koffer neben einer großen chinesischen Bodenvase ab, in der rustikale Regenschirme und Gehstöcke mit silbernen Griffen steckten.

»Es tut mir leid, dass ich so spät komme«, sagte sie. »Ich habe den Zug nach Truro genommen und dort einen Wagen gemietet – ich bin nur das Linksfahren nicht gewöhnt.«

»Es ist nicht sehr komfortabel, hierherzureisen, fürchte ich.«

»Ich bin erst gestern in London angekommen und habe die Nacht bei Fiona verbracht.«

»Sie müssen todmüde sein.«

»Ein wenig.«

»Sie kommen gerade rechtzeitig zum Tee.«

»Das wäre wunderbar.«

»Oder vielleicht ziehen Sie Kaffee vor?«

»Tee ist absolut perfekt. Kann ich mich irgendwo frisch machen?«

»Unter der Treppe da drüben befindet sich eine Gästetoilette.«

Die fragliche Treppe war breit und wirkte herrschaftlich. In der Mitte lag ein orientalischer Läufer; er wurde von Beschlägen aus Messing, die wieder einmal eine Politur nötig gehabt hätten, an Ort und Stelle gehalten. Die Gästetoilette entpuppte sich als fensterloses, aber hübsches Örtchen, das nach Feuchtigkeit roch, in die sich der Duft eines großen, noch unbenutzten Stücks Vetiverseife in einer Porzellanschale mischte. Es gab bestickte Handtücher, ein Waschbecken und einen Spiegel sowie ein altmodisches Wasserklosett mit hölzerner Sitzbrille und einem Kettenabzug. Beim Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass ihre Augen gerötet waren, und bemerkte den Fingernagel, der eingerissen war, als sie versucht hatte, den Sicherheitsgurt des Mietwagens zu schließen. Sie ließ sich auf dem Toilettensitz nieder und gab, während sie sich erleichterte, Tropfen in ihre Augen und machte sich mit einer Nagelfeile ans Werk.

Sie fühlte sich noch immer ein wenig benebelt von dem Gelage gestern Abend in London – ein Abendessen nach Fionas Vorstellung war hauptsächlich flüssiger Natur. Sie waren in den Groucho Club gegangen, und Laura war es leider nicht gelungen, hilfreiche Informationen über dieses sonderbare Vorstellungsgespräch, das Fiona für sie arrangiert hatte, aus ihr herauszubekommen. Laura sah sich in der Gästetoilette um, doch sie konnte nicht einen Fetzen Klopapier entdecken. Sie erforschte die Tiefen ihrer Handtasche, die ihr immer so unerklärlich schwer vorkam, und stieß erleichtert auf das kleine Päckchen Papiertaschentücher, das sie einem zerlumpten Kerl am Bahnhof abgekauft hatte.

Den beiden Frauen wurde veritabler Tee serviert, wie er in Großbritannien üblich ist: mit Scones, Konfitüre und dicker Sahne. Sie nahmen ihn in einem gelbweißen Frühstücksalkoven ein, der von einem Kristalllüster ein wenig zu grell beleuchtet wurde. Um dorthin zu gelangen, durchquerten sie eine große Bibliothek, an deren Wänden ringsum über zwei Ebenen Regale voller ledergebundener Bücher standen. Von dem runden Tisch, an dem sie sich niederließen, blickte man auf einen der Gärten hinaus, den ein lang gezogener, spiegelnder Teich, der von Buchsbäumen eingefasst war, in der Mitte teilte. Eine Steinbank stand am anderen Ende des Teichs; in der Mauer, die den Garten von der Straße trennte, war in einer eigens angelegten Nische ein kunstvoller Bienenkorb aufgestellt. Wohl als Reminiszenz an die Imkerei, die hier seit Jahrhunderten betrieben wurde und der das Haus seinen Spitznamen verdankte.

»Ich habe einige Frühstückspensionen recherchiert und mir eine Liste gemacht«, sagte Laura. »Können Sie mir eine davon empfehlen?«

»Ob ich Sie am Ende nun einstelle oder nicht«, erwiderte Wynona, »ich habe nicht die Absicht, Sie in irgendeinem trostlosen Inn unterzubringen. Wenn Sie nichts dagegen haben, werden Sie mein Gast sein. Hier ist niemand, der uns stören könnte, einmal abgesehen von dem irischen Ehepaar, das für mich arbeitet, aber ganz ruhig und harmlos ist.«

»Das wäre wunderbar«, antwortete Laura und schwor sich, während ihres Aufenthalts hier nie wieder das Wort »wunderbar« zu gebrauchen.

»Fantastisch.«

Sie versuchte, Wynonas Akzent einzuordnen. Obwohl sie Freunde in verschiedenen Schichten der britischen Gesellschaft hatte, zwei Jahre als Gaststudentin in Oxford verbracht und ein Jahr mit ihrem damaligen Freund in London gelebt hatte, war Laura kein Henry Higgins und bestenfalls dazu imstande, den Tonfall der reichen, gebildeten Tatler-Elite von der Stimme des gemeinen Volkes zu unterscheiden. Zudem hatte Fiona erzählt, sie habe Wynona – die eine alte Freundin der Familie war – gegoogelt und wisse nun, dass sie der Upperclass angehörte, und mehr als das – sie sei von altem Adel. Aber in ihrer Stimme war noch etwas anderes, ein ganz bestimmtes Timbre, das sie unverwechselbar machte, fast, als stammte Wynona aus einem anderen Land. Womöglich war es der Einfluss Spaniens – Fiona hatte erwähnt, dass Wynona dort viele Jahre lang gelebt hatte. Oder vielleicht war es auch nur ein lokaler Zungenschlag, eine Reminiszenz daran, wie das gute alte Englisch, das Milton oder Tennyson gesprochen hatten, geklungen haben mochte.

»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir diese Möglichkeit geben.«

»Das müssen Sie nicht«, entgegnete Wynona und trank ihren Tee aus. »Trotz der Zuneigung, die ich zu Fiona und vor allem ihrer Mutter hege, hätte ich Sie nicht hergebeten, wenn ich Sie nicht für geeignet halten würde. Ihr Lebenslauf ist beeindruckend.«

»Danke schön.«

»Ich spreche noch mit einigen anderen Leuten. Zwei Herren aus Oxford, um genau zu sein.«

»Natürlich«, sagte Laura und versuchte, es auch so zu meinen. »Darf ich fragen, um wen es sich handelt?«

»Das möchte ich lieber nicht sagen.«

»Es ist nur so, dass einige meiner ersten Übersetzungen dort veröffentlicht wurden. In Oxford habe ich mich auch in die französische Literatur des 13. Jahrhunderts verliebt, dort und an der Sorbonne. Jedenfalls ist es ziemlich gut möglich, dass ich die Herren kenne.«

»Ja, all das weiß ich. Und dennoch …«

Laura blickte auf den Teppich hinunter; er war senffarben, in einem Blumenmuster gehalten und von einer breiten königsblauen Bordüre eingefasst. Wynona sprach weiter.

»Wie mir scheint, sprechen Sie fließend Italienisch, Spanisch, Hebräisch, Arabisch, Aramäisch, Altgriechisch, Latein und Alt- wie Neufranzösisch – das ist, wie ich sagen muss, recht außergewöhnlich.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Ich habe mit Interesse Ihren Lebenslauf gelesen, und mein Sohn hat Sie sich online angesehen und so weiter. Sie wirken sehr kompetent. Obwohl es so aussieht, als würden Sie nicht mehr an der New Yorker Universität unterrichten.«

Laura spürte, wie ihr Herz sich zusammenkrampfte.

»Das stimmt. Ich bin wegen meines Lebensgefährten dorthin gezogen. Man hatte ihm eine wichtige Position angeboten, und um ihm die Zusage noch leichter zu machen, haben sie auch mir einen Posten in meinem Fachbereich gegeben. Aber es war eine auf drei Jahre befristete Dozentur, die nicht verlängerbar war und im Mai ausgelaufen ist. Deshalb bin ich derzeit frei, und deshalb kommt auch Ihr Angebot für diesen Job zum genau richtigen Zeitpunkt.«

»Verstehe.«

»Von welcher Art ist das Dokument, das Sie übersetzen lassen möchten? Fiona schien nicht viel darüber zu wissen.«

»Das liegt daran, dass ich es ihr nicht gesagt habe.«

»Tatsächlich wusste sie nicht einmal, dass es sich um ein Dokument handelt.«

»Es ist etwas, das schon seit sehr langer Zeit im Besitz meiner Familie ist. Um ehrlich zu sein, bin ich mir keineswegs sicher, worum es sich dabei eigentlich handelt oder was es enthält. Aber mir wurde gesagt, dass es sehr alt ist und – möglicherweise sehr wertvoll.«

»Das klingt faszinierend, ich würde es mir sehr gern anschauen!«

Wynona sah weg, als hätte sie etwas abgelenkt. Ihr Haar war in einem satten Kastanienbraun gefärbt und im Nacken zu einem einzelnen Zopf geflochten. Dann blickte sie ihre Besucherin wieder an und fand sie ungewöhnlich hübsch. Sie wusste, dass Fotografien trügen konnten, und war besorgt gewesen, dass die junge Frau von Angesicht zu Angesicht anders aussehen oder so überdreht sein könnte wie so viele Amerikaner. Doch zu ihrem ansehnlichen Äußeren kam noch hinzu, dass sie stilsicher gekleidet war und erfrischend zurückhaltend wirkte.

»Wenn Sie so viel Zeit erübrigen können«, sagte sie, »zumal Sie die lange Reise bis hierher gemacht haben, hätte ich gern einen Tag oder zwei, bevor ich mich entscheide – bevor ich mehr ins Detail gehe. Ist das in Ordnung? Wir könnten hier heute Abend zusammen essen und uns besser kennenlernen und dann sehen, wohin uns das bringt.«

Nach oben wurde Laura von Bidelia gebracht, der recht robusten, rotwangigen Irin, die ihnen den Tee serviert hatte. Das Zimmer, das für sie hergerichtet worden war, lag am Ende des ersten Stockwerks, war groß und herrschaftlich und mit Fenstern versehen, die vom Boden bis zur Decke reichten und auf die Küste von Cornwall hinausgingen. Die grauen Wände schmückten alte Familienporträts, die weiße Zimmerdecke war mit kunstvollen Stuckarbeiten verziert. Zwei Sessel standen vor dem Kamin, in dem sie aufrecht hätte stehen können, und das wuchtige Himmelbett mit vier Pfosten und Blick auf den Ozean hatte eine so dicke Matratze, dass ein kleiner Tritt aus Mahagoniholz nötig war, um hinaufzuklettern. Ihre Garderobe beanspruchte nur einen Bruchteil des begehbaren Schranks; dieser war mit einem riesigen Spiegel und einem eingebauten Sekretär ausgestattet, in dessen sämtlichen Schubladen jeweils ein Säckchen mit getrocknetem Lavendel lag. In dem angrenzenden Badezimmer – ebenfalls mit Blick auf die See – gab es zwei Waschbecken unter einem großen alten Spiegel voller blinder Flecken, eine gusseiserne Badewanne aus weißem Emaille und hinter einer dicken Glastür eine separate, geräumige Dusche mit diversen Wasserhähnen.

Begeistert von alldem, erlaubte Laura sich zum ersten Mal an diesem Tag, sich zu entspannen. Sie stand an einem der Fenster und war im Großen und Ganzen eigentlich zufrieden, auch wenn Wynonas Hinhaltetaktik sie enttäuschte und obwohl mit jeder Minute ihre Überzeugung wuchs, dass sich Nathans Einschätzung, dieser Trip sei sinnlos und beruflich idiotisch, als ärgerlich zutreffend erweisen würde. Aber selbst wenn sich herausstellen sollte, dass alles, was als Ergebnis für den ganzen Aufwand heraussprang, ein paar Übernachtungen fern von New York in diesem Raum waren, würde es das schon wert sein.

Sie tauschte die Stiefel gegen ein Paar Espadrilles, ging ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne einlaufen. Eine kaum berührte Flasche mit einem teuren italienischen Duschgel lag in einem Behälter – sie gab etwas davon hinein. Dann zog sie sich aus; und nachdem sie das Licht wieder ausgeschaltet hatte, um den tosenden Ozean in all seiner Schönheit bewundern zu können, glitt sie in das dampfende Wasser und genoss den magischen Wechsel des Lichts, der sich vollzog, während die Sonne langsam unter die Wolkenlinie sank. Einerseits bedauerte sie es, dass Nathan nicht hier war, um all das gemeinsam mit ihr zu erleben, aber andererseits freute sie sich auch unglaublich darüber, allein zu sein. Sie waren einander im vergangenen Jahr zunehmend überdrüssig geworden, besonders als sich Lauras Dozentur dem Ende zuneigte und es klar wurde, dass die Universität ihr keine Weiterbeschäftigung anbieten würde. Es war demütigend und doppelt beschämend für sie, weil Nathan beschlossen hatte, sich ebenfalls dafür zu schämen. Er machte sich Sorgen, diese Entwicklung könnte Ausdruck seines möglicherweise schwindenden Einflusses an der Uni sein.

Bevor sie ihn besser kennengelernt hatte, war sie wie verzaubert von ihm gewesen, von seiner Intelligenz, seinem Draufgängertum, seinen Verbindungen in die besten Kreise der politikwissenschaftlichen Arena, seinen gelegentlichen Auftritten in Nachrichtensendungen und in der BBC und von seiner Ladung in den Rat für auswärtige Beziehungen. Sie war sehr offen dafür gewesen, London zu verlassen und mit ihm nach New York zu gehen, wo ihr Stiefvater ihr ein Apartment geschenkt hatte – ein Apartment, das sie liebte, ein Apartment, in das Nathan nur zu gern einzog.

Aber sie hatte sich im Mikrokosmos der New Yorker Universität nie heimisch gefühlt und auch nicht in der amerikanischen akademischen Welt im Allgemeinen. Oft hatte sie den Eindruck, sie sei eine Generation zu spät auf der Bildfläche erschienen. Die wenigen verbliebenen Stars und Rebellen auf ihrem Fachgebiet hatte man vergrault, und eine von der Modern Language Association abgenickte, zugeknöpfte, poststrukturalistische Mannschaft war an ihre Stelle getreten – politisch korrekte Kämpfer, deren geschicktes Spiel nach den Regeln des Systems sie wahnsinnig machte. Nathan hatte in dieser Welt mit dem Strom zu schwimmen gelernt, und ihre Kritik daran beschwor so manchen Streit herauf. Als man ihren Lehrauftrag nicht verlängerte, machte er dafür ihre Einstellung verantwortlich, die seiner Meinung nach nicht mit den derzeitigen akademischen Realitäten in Übereinstimmung zu bringen war. Sie wusste, dass er sich Sorgen machte, sie könnte für ihn zur Belastung geworden sein.

Andererseits schenkte ihm das Zusammenleben mit ihr eine begehrte Adresse und – zu Anfang jedenfalls – eine ergebene Bewunderin. Er verachtete das Leben, das sie in London als Single geführt hatte, und hasste es, wenn sie Zeit mit Fiona verbrachte oder auch nur mit ihr telefonierte. Er hielt sie für frivol, oberflächlich und antisemitisch, was alles durchaus zutraf, das musste Laura zugeben. Nathan mochte es nicht, dass sich seine Partnerin mit solch einer Sorte Mensch öffentlich blicken ließ. Das war doch die Welt, aus der er sie »gerettet« hatte. Mehr, als dass dieses neue Jobangebot durch Fionas Vermittlung zustande gekommen war, musste er gar nicht darüber wissen.

Sie ließ das Wasser ablaufen, blieb dabei in der Wanne liegen und fragte sich, warum sie überhaupt noch mit Nathan zusammen war. Zum Teil war sicherlich ihr eigener Dickkopf schuld daran, den sie von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hatte: die Abneigung, sich eine Niederlage einzugestehen und anzuerkennen, dass diese Beziehung genauso zu Ende gehen würde, wie so viele von ihren Freunden es ihr prophezeit hatten. Zuerst hatte die Chemie zwischen ihnen beiden gestimmt. Der Altersunterschied mit all seinen ödipalen Implikationen, die sie in ihrer Therapie durchaus zur Kenntnis genommen hatte, sowie die Fallhöhe in Karrierebelangen hatten Hand in Hand gearbeitet, um die geeigneten Endorphine auszuschütten. Aber mit der Zeit trübte sich das Glück. Was hatte Fionas süßer schwuler Freund gestern Abend gesagt? »Jemanden jede Nacht im Bett zu haben kann ziemlich herrlich sein, aber es muss nicht zwingend Liebe dahinterstecken.« – »Und was ist Liebe?«, hatte sie ihn aus dem Auge eines Wodka-Lemon-Orkans heraus gefragt. »Es ist das Ding, das dein Herz packt und nicht mehr loslassen will«, antwortete der Bursche – aufrichtig und ebenso abgedroschen wie auch unstreitig wahr. »Na ja, nicht jeder hat dieses Glück«, gab sie zurück. Ihre Eltern hatten es nicht gehabt. Ihre Mutter und ihr Stiefvater nicht. Auch keiner ihrer Freunde. Wer wollte heutzutage überhaupt noch zugeben, dass er sich so etwas wünschte?

2

Finn, Bidelias schmallippiger Ehemann, servierte das Abendessen. Er war groß und schlank und trug sein Haar über eine kahle Stelle gekämmt, was sie fast unsichtbar machte, und er hatte ein spitzes, aber nicht unfreundliches Gesicht mit einer von roten Äderchen marmorierten Habichtsnase. Während der Mahlzeit – Brathähnchen mit Fingerlingkartoffeln und gekühltem Rotwein – vermied Wynona es wie angekündigt, auf das Projekt einzugehen, für das sie Laura möglicherweise engagieren wollte. Anfangs steuerte sie kaum etwas zum Tischgespräch bei, was Laura nervös machte und dazu brachte, zu viel über sich selbst zu sprechen.

»Als ich Doktorandin an der Columbia in New York war, bin ich mit einem Dichter ausgegangen.« Wynonas gezwungenes Lächeln ließ ihr Selbstvertrauen schwinden. Doch sie redete weiter. »Sehr zum Leidwesen meiner Mutter bin ich mit ihm in Greenwich Village kurz vor meinem Abschluss zusammengezogen, und nachdem wir ein Jahr lang darauf gespart hatten, flogen wir nach Europa und blieben schließlich fast drei Monate bei meinem Onkel Manolo hängen – er ist das schwarze Schaf in der Familie meiner Mutter und lebte wie ein Pascha in den Hügeln um Málaga.«

Ihre Gastgeberin begann an ihrer Serviette herumzunesteln – ein deutliches Zeichen dafür, dass Laura rasch zum Ende kommen sollte. Doch wie ein Lemming rannte sie mit Höchstgeschwindigkeit immer weiter auf die Klippe zu. »Er hatte dieses herrliche Haus voller Bücher, Katzen und Hunde, das inmitten von Zitronenplantagen lag, und er unterhielt eine ménage à trois mit zwei finnischen Schwestern. Es waren immerzu Gäste im Haus, von kalifornischen Drogenschmugglern bis hin zu halbseidenen Europäern – unter anderem ein ausgemergelter, nicht gerade begnadeter Maler mit Neigung zur Glatze, der ein Nachfahre des Marquis de Sade war.«

Dieses letzte Detail erwähnte sie bewusst in der Hoffnung, dass wenigstens jetzt eine von Wynonas Augenbrauen in die Höhe schießen würde. Doch die Frau, die die Selbstbeherrschung eines Zen-Mönchs besaß, zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Jeder wusste Manolos Wein und Whiskey und die politisch nicht gerade korrekten Gespräche mit ihm zu schätzen. So wenig es mir auch manchmal gefällt, aber ehrlich gesagt hatte er großen Einfluss auf mich. Einmal abgesehen davon, dass er ein Mensch war, der sich ganz offen über die geltenden Moralvorstellungen hinwegsetzte, dabei aber durchaus einen katholischen, von Gewissensbissen zerfressenen Kern besaß, war er ein Polemiker erster Güte. Seine Spezialität war es, angriffslustig selbst die glühendsten Überzeugungen zu zerpflücken, ob sie nun politischer oder religiöser Natur waren. Und sobald jemand Anstalten machte, ihm zuzustimmen, konnte er besonders unausstehlich werden – dann wechselte er einfach die Seiten, nur um den anderen zu ärgern. Fiona hat in jenem Sommer mit mir einige Zeit dort verbracht und es geliebt. In Manolos Haus begann ich auch, Literatur tonnenweise zu verschlingen. Er besaß eine herrliche Bibliothek, und dort fiel mir eine Bibel in die Hände, eine großartige alte King-James-Ausgabe.«

Letzteres schien wieder etwas Leben in Wynonas Gesicht zu bringen. »Ich merkte ihm an, wie sehr er sich darüber freute, dass ich mich mit einem Buch beschäftigte, das so wenig zu meinem Alter passte. Er zeigte mir seine Zustimmung mit kleinen Sticheleien und erklärte mir, warum der Text, den ich da las, fehlerhaft und meilenweit von den Originaltexten entfernt war. Das Ganze fiel mit einer Reise zusammen, die Saul – der Poet – und ich nach Paris unternahmen, wo ich einige alte Manuskripte in Augenschein nehmen durfte. Kurz nach unserer Rückkehr nach New York trennten wir uns allerdings. Er war entsetzt über mein Interesse an Hebräisch, einer Sprache, die untrennbar mit seiner Kindheit verbunden war, die er als Albtraum erlebt hatte. Ich wurde an der Columbia promoviert und nahm meine Th. D.-Promotion in Harvard in Angriff. Dort begann ich mit einem Professor auszugehen, der Kurator der Abteilung für griechische und römische Antiken am British Museum war, aber gerade beurlaubt. Wir lebten eine Zeit lang in London zusammen, bis ich mir eingestehen musste, dass er eigentlich schwul war – aber mir wurde auch klar, dass mich Themen faszinierten, die mit seinem Fach zu tun hatten. Schließlich wurde ich als Gaststudentin nach Oxford eingeladen und ging anschließend an die Sorbonne, wie ich Ihnen ja gestern schon erzählte.«

Sie hielt inne, atemlos und von einer Woge des Selbstekels überrollt, und griff nach ihrem Weinglas in der Hoffnung, dass sie nicht rot geworden war. Was mache ich hier eigentlich? fragte sie sich. Bei einem gewöhnlichen Vorstellungsgespräch hätte sie das niemals getan. Dann bestätigte Wynona ihre schlimmsten Befürchtungen, indem sie nämlich nicht auf all das einging, was Laura soeben von sich gegeben hatte.

»Woran werden Sie als Nächstes arbeiten?«, fragte sie.

»Ich habe mich auf eine ganze Reihe von Stellen beworben«, antwortete Laura. »Aber ich habe noch andere Einkünfte, genug, um davon leben zu können, sodass ich noch nicht völlig verzweifelt bin.«

Sie trank erneut einen Schluck Wein – einen großen.

»Und wann genau haben Sie Fiona kennengelernt?«

»Fiona kam auf meine Highschool, nachdem ihre Mutter sich hatte scheiden lassen und für eine Weile nach New York gezogen war. Eine private Mädchenschule namens Chapin. Wir waren in derselben Klasse. Sie hat oft ihre Hausaufgaben bei uns gemacht – unser Apartment lag praktisch gegenüber der Schule.«

»Ah ja. Ich habe sie in dieser Zeit einmal besucht.«

»Und dann, als ich in London lebte, wurden wir gute Freundinnen.«

»Sie haben Ihren derzeitigen Freund erwähnt, glaube ich. Ich möchte nicht vorgreifen, aber würde sich diese Beziehung womöglich als problematisch erweisen im Hinblick darauf, wie lange Sie hierbleiben können?«

Dies war das erste Anzeichen dafür, dass man ihr die ungefragten Enthüllungen über ihr Privatleben vielleicht doch nicht übel nahm.

»Ja, ich habe einen Freund, jemanden, mit dem ich zusammenlebe. Aber das ist kein Problem – keineswegs.«

»Keineswegs.«

»Sagen wir einfach, dass ich im Moment froh bin, hier zu sein und nicht bei ihm.«

»Wie alt sind Sie, Laura?«

»Fünfunddreißig.«

»Und Sie waren noch nie verheiratet?«

»Nein.«

Das Gespräch nahm eine Richtung, die ihr nicht behagte. Hatte sie doch geglaubt, Wynona wären derlei Dinge vollkommen gleichgültig. »Und warum?«

»Vielleicht bin ich zu romantisch?«

»Inwiefern?«

»Ich habe eine feste Vorstellung davon, welche Gefühle ich jemandem gern entgegenbringen würde, bevor ich daran denke, ihn zu heiraten – und das ist mir eben bisher nicht passiert.«

»Noch nicht.«

»Noch nicht. Ja. Genauso ist es.«

»Und wie steht’s mit Kindern?«

»Ich wünsche sie mir nicht dringend genug, als dass ich sie allein großziehen oder mit jemandem bekommen wollte, auf den ich nicht wirklich stehe.«

»Nein. Sehr richtig. Nun, ich wünschte, ich wäre mehr wie Sie gewesen. Vielleicht bin ich ja ein wenig zu früh geboren oder im falschen Umfeld.«

Laura spürte, wie sich ein kleiner Riss in der eleganten Fassade dieser Frau auftat. »Wie hat es Sie eigentlich nach Spanien verschlagen, Winnie? Darf ich Sie tatsächlich so nennen?«

»Ja.«

»Fiona hat erzählt, dass Sie dort viel Zeit verbracht haben.«

»Zunächst einmal bin ich dort geboren.«

»Nun, das reicht ja schon.«

»Ich bin mir sicher, sie hat Ihnen auch den ganzen Rest erzählt. Dass sich meine Mutter mit siebzehn in einen irischen Jungen verliebt hat – einen irisch-englischen, um genau zu sein – und mit mir schwanger wurde, kurz bevor er in den Zweiten Weltkrieg zog. Und noch ehe er etwas Anständiges deswegen unternehmen konnte, hat er sich in Belgien bei der Explosion einer V2-Rakete umbringen lassen.«

»Wie schrecklich.«

Was sie von Fiona wusste, war, dass es nicht irgendein irisch-englischer Junge gewesen war. Sie bewunderte den Stil dieser Frau.

»Und in jenen Tagen waren derlei Dinge viel dramatischer – in sozialer Hinsicht, meine ich –, als sie es heute sind. Jedenfalls ließ mein Großvater meine Mutter per Schiff nach Mallorca bringen. Haben Sie schon einmal von Robert Graves gehört?«

»Ja, natürlich.«

»Sein Vater kannte meinen Großvater, und das Haus der Graves’ auf Mallorca stand zu jener Zeit noch leer. Graves hatte es mit der einen Ehefrau verlassen, als der Spanische Bürgerkrieg begann, und es sollte noch einige Monate dauern, bis er mit einer neuen Ehefrau zurückkehrte. Und so mieteten meine Mutter und eine Tante, die wir alle liebten, das Haus von ihm, und dort kam ich mit Unterstützung einer Hebamme zur Welt, wie bei Chaucer. Als Robert und Beryl eintrafen, bezogen wir unser eigenes Heim gleich gegenüber und verbrachten dort den größten Teil meiner Kindheit. Ich bin in Deià ziemlich wild aufgewachsen, aber von Büchern umgeben, wie Sie bei Ihrem Onkel Manolo. Graves nahm großen Anteil an meiner Erziehung, und so ist also alles recht gut gegangen.«

»Das kann ich mir vorstellen!« Laura fehlten die Worte.

»Dann bin ich auf die Universität von Cambridge gegangen. Eines Sommers traf ich in der Nähe von Cádiz einen Mann, einen Katalanen, der dort im Urlaub war und ein ziemlich guter Kerl zu sein schien, und wir heirateten – ich konnte es wirklich kaum erwarten, dem Dunstkreis meiner Mutter zu entfliehen. Er und ich lebten die meiste Zeit über in Barcelona, wo meine Kinder geboren wurden, mein Sohn und meine Tochter, die starb, als sie noch klein war. Danach begann ich, mehr Zeit hier zu verbringen.«

»Es tut mir leid, das zu hören.«

»Dass ich begann, hier mehr Zeit zu verbringen?«

»Nein. O nein. Was Ihre Tochter betrifft, meinte ich.«

»Es war … sehr traurig.«

Wynona sah weg, und Laura wurde klar, dass es höchste Zeit für einen Themenwechsel war.

»Die Geschichte meiner Mutter ähnelt ein wenig der Ihren.«

»Wie das?«

»Sie stammte aus einer sehr konservativen Familie aus Granada. Ihr Vater war ein ultrakatholischer Franco-Anhänger und ein wichtiger Professor an der medizinischen Fakultät, an der meine Mutter studierte. Aber sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich in einen Kommilitonen zu vergucken, der aus Palästina kam. Und das einfach nur, um ihre Eltern vor den Kopf zu stoßen. Ich meine, das hat sie mir jedenfalls erzählt. Sie ist sogar zum Islam übergetreten, hat ihn in einer Moschee geheiratet, und nachdem sie ihre Abschlüsse gemacht hatten, ging sie mit ihm nach Hebron im Westjordanland, wo ich geboren wurde.«

»Davon hatte ich keine Ahnung. Ich dachte, Sie kämen aus New York.«

»Das ist eine lange Geschichte. Na ja, so lang nun auch wieder nicht.«

»Erzählen Sie weiter.«

»In Hebron stellte sie fest, dass ihre Schwiegereltern noch konservativer als ihre eigene Familie waren. ›Das habe ich dir doch gesagt‹, meinte mein Vater offenbar zu ihr. ›Wir hätten in Spanien bleiben sollen. Als dein Mann hätte ich mich einbürgern lassen und dort praktizieren können. Wir hätten dort ein gutes Leben haben können. Das können wir immer noch.‹ Aber meine Mutter war nicht in der Lage, einen Misserfolg vor sich selbst oder gegenüber ihrer Familie zuzugeben, deshalb ließ sie sich von meinem Vater scheiden, nahm mich und zog nach Madrid. Sie fand eine Anstellung als Gynäkologin in der Praxis eines Arztes, die vor allem auf amerikanische Patienten ausgerichtet war. Dort traf sie meinen Stiefvater, einen Staatsbeamten, der in der Botschaft beschäftigt war. Er kam aus einer reichen protestantischen Familie aus New York, Neuengland. Als seine Zeit in der Botschaft um war, bat er meine Mutter, ihn zu heiraten. Sie sagte Ja, wurde natürlich Presbyterianerin, und wir siedelten nach Manhattan über. Ich nahm den Nachnamen meines Stiefvaters an. Als meine Mutter vor fünfzehn Jahren ganz plötzlich starb, wurde sie auf dem protestantischen Friedhof von Southampton auf Long Island begraben, fern des römisch-katholischen campo santo hinter der Alhambra, auf dem ihre Eltern, meine Großeltern, begraben liegen.«

»Das ist ja eine Geschichte! Und ja, ich sehe die Ähnlichkeiten auch. Was ist aus Ihrem Vater geworden?«

»Er starb, als ich noch klein war, nachdem wir Palästina wieder den Rücken gekehrt hatten.«

»Oje.«

»Er wurde während der ersten Intifada von einer verirrten Kugel getroffen, als er einem Verletzten helfen wollte.«

Wynona wollte schon etwas erwidern, aber da kam Bidelia herein, um die Teller abzuräumen, und gleich danach servierte Finn den Nachtisch und schenkte Wein nach. Als sie wieder allein waren, war die Gelegenheit anzuknüpfen vorüber.

Nachdem sie einander Gute Nacht gesagt hatten, ging Laura noch ein wenig spazieren. Vom Meer her wehte ihr eine feuchte Brise ins Gesicht. Sie mochte das leise Knirschen, das ihre Stiefel auf dem Kies der Einfahrt verursachten. Ihr mittlerweile von Tau benetzter Mietwagen stand immer noch an eine große Hecke geschmiegt, die neben einer Backsteinmauer wuchs. Daneben parkte jetzt jedoch ein alter Land Rover, der bei ihrer Ankunft noch nicht da gewesen war.

Das Gespräch über ihre Familie und Vergangenheit hatte sie aufgewühlt. Obwohl sie früher durchaus überlegt hatte, den Nachnamen ihres Vaters wieder anzunehmen – Hourani –, dachte sie eigentlich selten an ihn, geschweige denn, dass sie über ihn redete. Dieser Teil ihres Genpools kam nur auf Dinnerpartys zur Sprache – Nathan prahlte um seiner eigenen kulturellen Glaubwürdigkeit willen gern damit. Plötzlich hatte Laura Lust auf eine Zigarette und wühlte in ihrer Handtasche nach einem Kaugummi, um sich abzulenken. Dabei fühlte sie sich besonders tugendhaft, weil sie der Verlockung widerstand, ohne dass Nathan sie ermahnen musste.

Als sie sich jenseits des Tors auf die Straße wagte, war es bereits sehr dunkel. Es fiel ihr schwer, auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Straße die niedrige Mauer aus unregelmäßigen Steinen auszumachen, die ein brachliegendes Feld begrenzte, auf dem noch am Nachmittag Schafe gegrast hatten. Das Areal war abschüssig und endete, wo Dünen, Strand und Meer begannen. Beim Geräusch der sich brechenden Wellen durchströmte sie ein Glücksgefühl.

Ihr Telefon läutete. Sie hatte vergessen, es vor dem Abendessen lautlos zu stellen, und dankte den Sternen, dass der Klingelton – ein Rap – nicht während der Mahlzeit ertönt war. Es war Nathan. Sie zögerte ranzugehen, doch dann biss sie die Zähne zusammen und tat es doch.

Unterdessen hatte Wynona schon ihr Flanellnachthemd angezogen und war in ihr gondolaförmiges Renaissancebett gestiegen, in dem, wie sie zuweilen erwähnte, »zwei Könige geboren wurden und zweifellos alle möglichen wüsten Umtriebe stattgefunden haben«. Sie war mit dem Verlauf des Abends zufrieden und ganz allgemein mit Laura. Die Vorstellung, Bewerbungsgespräche mit zwei Oxford-Professoren führen zu müssen, hatte sie nie begeistert. Vermutlich hätte sie es nicht lange ausgehalten, mit einem wunderlichen Mann in Tweedhose und mit einer Pfeife und schlechten Zähnen im Mund über ihr Anwesen zu laufen.

Sie beglückwünschte sich einmal mehr zu der Entscheidung, die Kodizes fachgerecht übersetzen zu lassen, bevor sie sie Sotheby’s anbot. Obwohl die schlecht erhaltene Schriftrolle und die Kodizes innerhalb der Familie ihrer Mutter nahezu tausend Jahre lang weitergereicht worden waren, manchmal über hundert Jahre lang verloren gingen, bevor sie wiedergefunden wurden, nur um erneut verloren zu gehen und wiedergefunden zu werden, besaß sie keine emotionale Verbindung zu ihnen. Wenn es sich um ein Gemälde oder ein Haus oder auch ein Schmuckstück gehandelt hätte, wäre es vielleicht anders gewesen, aber für drei so fremdartige und rätselhafte Gegenstände konnte sie sich nicht wirklich erwärmen. Sie war nur dankbar dafür, dass sie existierten – und dass ihre Katastrophenmutter sich gerade noch rechtzeitig daran erinnert hatte, wo sie sich befanden, bevor der Alzheimer sie dahinraffte. Mit etwas Glück würde der Verkauf Wynona zu einem ordentlichen Notgroschen für ihren Sohn und seine Mädchen verhelfen – für den Fall der Fälle.

Nachdem sie die Leselampe ausgeschaltet hatte, lag sie noch eine Weile wach und dachte an ihre Mutter, die in genau diesem Bett geschlafen und ihre Affären beglückt hatte und die hier auch gestorben war. Sie dachte daran, wie oft sie in diesen Raum gekommen war, um Gute Nacht zu sagen – vor gar nicht allzu langer Zeit, wie ihr schien –, und dass ihre Mutter, das Gesicht mit Nachtcreme bedeckt, dann öfter betrunken als nüchtern gewesen war. Ihre Mutter, die nie müde geworden war, zu klagen, Wynona sei die erste Frau in der Familiengeschichte, die nicht reich heiratete. Ihre Mutter, die sich ständig darüber beschwerte, dass Wynona stattdessen mit jemandem aus der spanischen Mittelklasse durchgebrannt war, einem attraktiven, aber provinziellen Geschäftsmann ohne Titel. Und immer wenn Wynona mit der Feststellung gekontert hatte, dass ihre Mutter kein einziges Mal verheiratet gewesen sei, trank diese noch einen Schluck Wein, bevor sie erwiderte: »Aber dein Vater, meine Liebe, war der Viscount Elveden, Arthur Onslow Edward Guinness, der Multimillionär geworden ist, und wenn du ein Junge geworden wärst anstelle eines dummen Mädchens, hätte dein Großvater väterlicherseits mehr Interesse gezeigt und uns eine Menge mehr Schweigegeld hinterlassen, als er es getan hat.«

3

Laura ging um kurz vor halb neun nach unten und hörte von Bidelia, dass Wynona bereits gefrühstückt hatte und aufgebrochen war, um sich den Großteil des Tages über um ein Pferd zu kümmern. Laura fragte sich, ob ihre Gastgeberin das ohnehin vorgehabt hatte, und beschloss, den letzten Abend nicht zu erwähnen.

»Ich wusste nicht, dass sie ein Pferd hat.«

»Aber ja, Miss. Einen ganzen Stall davon. Eines der Mädchen hat ihr heute Morgen Bericht über das Pferd erstattet, das krank ist, und sie haben das arme Tier in einen Anhänger verladen und sind weggefahren. Sie hat mir aufgetragen, sie bei Ihnen zu entschuldigen.«

»Kein Problem«, erwiderte Laura. »Um welche Zeit frühstückt sie für gewöhnlich, Bidelia?«

»Um sieben Uhr, wenn sie auf ihrem Zimmer bleibt, und um sieben Uhr dreißig, wenn sie herunterkommt, Miss.«

Und doch hatte sie Laura dazu ermuntert, so lange zu schlafen, wie sie wollte. War dies vielleicht eine Art Prüfung gewesen, die sie nicht bestanden hatte?

Zwei auf den Punkt gekochte Eier mit Toaststreifen und eine Tasse irischen Frühstückstees beruhigten sie wieder. Sie beschloss, sich zu entspannen und zu amüsieren, und sei es auch nur, um Nathans Unkerei gestern Abend zu trotzen: Sie verschwende nur ihre Zeit und solle lieber an Konferenzen teilnehmen und Veröffentlichungen auf den Weg bringen, wenn sie es ernst mit ihrer Karriere meinte. »Du wirst schon sehen«, hatte er gesagt. »Sie wird dich ein paar Tage auf ihrem Wuthering-Heights-Verschnitt gefangen setzen und zappeln lassen, wenn sie überhaupt im Besitz eines so einzigartigen Schatzes ist. Am Ende sind es wahrscheinlich bestenfalls ein paar schlechte Verse auf Mittelfranzösisch.« In dem, was er sagte, schwang immer auch die unausgesprochene Anspielung mit, dass sie irgendwie faul sei, dass ihr die notwendige Disziplin oder das Feuer im Bauch fehle, kurzum, dass sie ein verzogenes Gör sei, das sich zu leicht von der Art von Herausforderungen abschrecken ließ, die echte Akademiker wie er selbst natürlich spielend leicht bewältigten. Er hatte sie aus dem Apartment an der West Tenth Street angerufen und auf ihre Nachfrage zugegeben, dass er einmal mehr vergessen hatte, die Pflanzen auf der Terrasse zu wässern. Er besaß doch tatsächlich die Frechheit, ärgerlich zu werden, als sie ihn deswegen sanft rügte.

Sie stöberte in der Bibliothek herum und dachte darüber nach, Fiona anzurufen, die darauf brennen würde, von Lauras ersten Eindrücken zu erfahren; doch sie wusste, dass Fiona erst in einigen Stunden aufstehen würde. Stattdessen schickte sie ihr eine Textnachricht: Winnie ist heute den ganzen Tag weg! Tolles Anwesen – gehe jetzt spazieren – Mr. Darcy suchen. Aber anders als angekündigt kehrte sie auf ihr Zimmer zurück, um die Zähne zu putzen und ein Buch zu holen, das sie gerade las. Dann erkundete sie das Haus, warf einen Blick in jedes der zwölf riesigen Schlafzimmer, auch in das von Wynona mit seinem bizarren, einer Barke nachempfundenen Bett, das sie ein bisschen kitschig fand.

Unten im Erdgeschoss machte sie es sich auf einem tiefen und gemütlichen Sofa in einem Raum bequem, der wohl als Salon gedacht und von jener Art war, wie man sie in vielen herrschaftlichen Häusern fand und die nur selten genutzt wurde. Sie sah sich ein Album mit Familienfotos an, das groß und braun war und zwischen dessen Seiten Blätter aus Zwiebelschalenpapier eingearbeitet waren. Obwohl nichts auf Blaublütigkeit hindeutete, zeigten die Bilder ein Jahrhundert Familienleben, das zumindest dem Anschein nach privilegiert gewesen war. Lange Tafeln unter Bäumen und Weinreben, vermutlich auf Mallorca, an deren Kopfende Robert Graves thronte, eine muntere Wynona im Teenageralter neben einer Frau, die sicherlich ihre Mutter war – einer Frau mit einem aristokratisch wirkenden Kopf, aber breiten Handgelenken und Händen, die Wynona glücklicherweise nicht geerbt hatte. Lebhaftes Treiben im Patio einer Villa am Ufer eines Gewässers, welches ganz nach dem Comer See aussah. Reit- und Jagdgesellschaften hier auf dem Anwesen in Cornwall – viel Fliegenfischen –, ein dunkelhaariger Junge, wahrscheinlich Wynonas Sohn, dem ein Schluck aus einem silbernen Flachmann angeboten wurde. Zwei ältere Männer, die grinsend danebenstanden. Bilder von Wynona mit einem kleinen Mädchen, wahrscheinlich dem, das gestorben war.

Schließlich nahm sie sich ihr Buch vor und schlief beim Lesen ein; eine Stunde später wachte sie wieder auf und brach zu einem langen Spaziergang auf. Am frühen Vormittag war das Wetter noch ruhig und sonnig gewesen, aber nun wälzten sich Wolken von der See heran, und einmal mehr wehte eine steife Brise. Die Landschaft rechts und links der Zufahrtsstraße zum Landhaus war prachtvoll und hatte nichts mit der Heide von Wuthering Heights zu tun. Lauter Hügelchen und grüne Weiden, rasch fließende Bäche, kleine Waldstücke, die von sanften Lichtungen unterbrochen wurden, und dann der Strand und die Klippen, die sich gewunden gen Norden zogen. Sie wanderte über weite Flächen mit Gras und Erika und rastete hin und wieder auf Granitfindlingen. Als sie den Rand eines sumpfigen Tals erreichte, sah sie hinunter auf Haine aus knorrigen alten Eichen. Der Gesang von Schwarzkehlchen und Steinschmätzern begleitete sie, und über den Klippen segelten Möwen im Aufwind, ohne auch nur einmal mit den Flügeln schlagen zu müssen.

Als sie um die Mittagszeit heimkehrte, war sie fast am Verhungern, genierte sich allerdings, das irische Ehepaar um etwas zu essen zu bitten. Daher nahm sie das Auto und fuhr ins nächste Dorf, kaufte einige Zeitungen, setzte sich in einen Gastropub und bestellte sich ein Glas Bier und ein Croque Monsieur. Die Dorfbewohner, wie viele Briten teigig und blass, hielten sich ihr gegenüber im Großen und Ganzen zurück, aber sie freute sich trotzdem, hier zu sein. Die unerwartete Auszeit von New York wirkte immer noch belebend, und bevor sie wieder dorthin zurückkehrte, würde sie noch London die Ehre erweisen – zum Shoppen und um alte Freunde zu besuchen.

Zurück im Auto, rief sie Fiona an und erreichte sie auch.

»Ich habe dir ja gesagt, dass sie ein bisschen wunderlich ist«, sagte Fiona lachend. »Aber Mutter liebt sie – sie sagt, es kann sehr lustig mit ihr werden, sobald man sie besser kennt.«

»Lustig?«

»Nicht in geselliger Hinsicht. Ich glaube, sie ist eine kleine Einsiedlerin. Aber auf ihre eigene Art.«

»Ich wünschte einfach, sie würde endlich zur Sache kommen.«

»Du bist eben erst angekommen. Es ist doch herrlich, oder?«

»Aber hallo.«

»Ein bisschen einsam vermutlich.«

»Einsam ist gar nicht so übel nach den letzten fünf Monaten mit Nathan.«

»Stoß ihn ab. Tu dir den Gefallen.«

»Du meinst dir.«

»Tu uns beiden den Gefallen. Es wäre schön, dich ohne Kerkermeister hier zu haben.«

Laura wollte sich nicht weiter über Nathan streiten, denn das hatte oft den Effekt, dass es ihn ihr wieder näher brachte.

Der Jetlag und das Bier taten schließlich ihr Werk, und als Wynona am Nachmittag heimkehrte, schlief Laura tief und fest – was ihr womöglich ein weiteres Häkchen auf der Negativliste eintrug, wie sie beim Aufwachen befürchtete. Doch Wynona zeigte keine Spur von Missbilligung, und vor dem Abendessen tranken sie gemeinsam einen angenehmen Aperitif, bei dem Laura alles über Wynonas Leidenschaft für Pferde erfuhr.

Heute Abend gab es Lammkarree, Spinatcreme und Kartoffelpüree sowie einen zwanzig Jahre alten Burgunder von der Sorte, die Nathan sie niemals hätte bestellen lassen, sogar wenn sie die Rechnung selbst übernommen hätte.

»Sie erwähnten, dass Sie einen Th. D. haben«, sagte Wynona beim Essen. »Was ist das genau?«

»So kürzt man in den USA den Doktortitel in Theologie ab.«

»Dann müssen Sie gläubig sein.«

»Nicht wirklich, nein.«

»Sie sind nicht spirituell?«

»Ja und nein.« Sie wollte sich lieber behutsam vorwärtstasten. »Ich weiß, wie Religion, ganz allgemein gesprochen, entstanden ist. Ich meine: Das war einer meiner Forschungsbereiche. Und ich kann nachempfinden, dass Menschen darin Trost suchen, und finde viele religiöse Bilder und Texte ausnehmend schön. Ich verehre Kirchen und Tempel und Moscheen, indem ich einfach nur dort sitze, um des Friedens willen, den sie bieten, aber ich finde es auch … nun, seltsam, dass in einem Zeitalter, in dem wir so viel wissen, die Religion noch so viel Macht in so vielen Teilen der Welt besitzt. Das erstaunt mich wirklich.«

»Sie glauben an keine wie auch immer geartete Gottheit.«

Laura beschloss, alle Vorsicht fahren zu lassen.

»Wie könnte man das heute noch?«

Wynona lächelte, und diesmal war es ein echtes Lächeln. »Ich weiß Ihre Ehrlichkeit zu schätzen.«

»Habe ich gerade eine falsche Antwort gegeben? Ich möchte nicht respektlos erscheinen, niemandem gegenüber.«

»Nein. Ich verstehe Ihren Standpunkt durchaus. Was ich glauben kann oder glauben möchte, wird wahrscheinlich von meinem Hintergrund bestimmt.«

»Bei Robert Graves sind Sie sicherlich mit den großen Mythologien in Berührung gekommen, oder?«

»Mit mehr davon, als ich zählen konnte.«

»Im College habe ich Der goldene Zweig verschlungen.«

»Es freut mich, das zu hören«, gab Wynona zurück.

Sie tranken ihren Wein aus.

»Ich habe den Eindruck, dass die religiösen Überzeugungen der meisten Leute in tiefen Gefühlen ihren Ursprung haben«, fuhr Laura fort. »Dass sie kulturellen Ursprungs sind – und dass die Leute nicht sehr viel Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, was das ist, an das zu glauben sie behaupten.«

»Dem entnehme ich, dass Sie an die Wissenschaft glauben.«

»Nein, das trifft es nicht. Ich glaube nicht an die Wissenschaft – ich meine, das, woran ich glaube, ist eher die wissenschaftliche Methodik.«

»Aber viele der Texte, die Sie übersetzt haben, waren doch religiöser Natur, oder?«

»Es klingt paradox, das gebe ich zu. Aber was ich am meisten an dem liebe, was ich tue, ist, Gedanken, die gewissermaßen codiert niedergeschrieben wurden, aufzudecken, zurückzuholen. Echte Empfindung, die notiert und dann verloren wurde, zu entschlüsseln.«

Wynona schenkte ihnen nach, ohne auf Finn zu warten.

»Haben Sie jemals eine Vertraulichkeitserklärung unterzeichnet?«

»Einmal bisher, ja.«

»Gut.«

»Warum? Wird das notwendig sein?«

»Ich fürchte, ja. Aber es wäre nur eine Formalität. Nun – wir sprechen morgen weiter darüber.«

Wynona läutete ein Glöckchen neben ihrem Teller und erhob sich vom Tisch. Laura tat es ihr gleich.

»Könnten Sie mir nur eines sagen?«, fragte Laura und biss sich fast auf die Zunge dabei.

»Ja?«

»Woher stammt das … was auch immer es ist?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher«, entgegnete Wynona, während sie verstohlen in einem Spiegel einen Blick auf sich selbst warf. »Ich hoffe, dass das etwas ist, das sich enträtseln lässt. Ich meine: Ich kenne die Geschichte, die mir über die Jahre erzählt wurde. Aber erstaunlicherweise war nie jemand in meiner Familie, mich selbst eingeschlossen, neugierig genug herauszufinden, was daran wahr ist.«

4

Obwohl sie bis Mittag hätte schlafen können, legte Laura großen Wert darauf, pünktlich um sieben Uhr dreißig am Frühstückstisch zu erscheinen. Wynona kam eine Minute später, begrüßte sie und legte eine Mappe neben Lauras Teller. Es war die Vertraulichkeitserklärung.

»Wenn Sie sie lesen und unterschreiben könnten, bin ich bereit, Ihnen die Stelle anzubieten.«

»Wirklich! Und was ist mit den Oxford-Professoren?«

»Ich habe gestern Abend noch mit meinem Sohn telefoniert, und wir beide sind uns einig, dass wir uns lieber für Sie entscheiden. Um ganz offen zu sein: Ich bin nicht so wahnsinnig gut in diesen Dingen, und die Vorstellung, zwei weitere Kandidaten treffen zu müssen – vollkommen Fremde –, schreckt mich.«

Es war nicht gerade eine flammende Lobrede auf ihre Fähigkeiten, doch Laura beließ es dabei. Sie begann, das Dokument durchzusehen.

»Sie sollten es sorgfältig lesen«, gab Wynona zu bedenken.

Das tat sie, sah aber nichts, was sie nicht schon vorher gesehen hatte. Sie versicherte sich, dass es eine Klausel gab, der zufolge sie ihre Ergebnisse publizieren durfte, sobald eine Auktion der Papiere stattgefunden hatte. Sie unterschrieb mit einem Stift, den sie zum Lösen eines Kreuzworträtsels verwendet hatte.

»Hier«, sagte sie und reichte Wynona die Mappe.

»Großartig. Oh, und wir müssen über die Konditionen sprechen, die Vergütung.«

»In Ordnung.«

»Was verdienen Sie normalerweise – sagen wir: im Laufe eines Jahres?«

»Schwer zu sagen, vielleicht, äh, etwa fünfundsechzigtausend Dollar – für ein ganzes Jahr.«

»Ich bin bereit, Ihnen den Gegenwert von hunderttausend Dollar in Pfund zu zahlen, solange Sie brauchen, was nicht mehr als etwa ein Monat sein sollte, denke ich – mit der Option, neu zu verhandeln, wenn es doch länger dauern sollte. Wie klingt das?«

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