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Das Gedächtnis des Winters

Als Buch hier erhältlich:

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Winter 1941, Russland: Ein deutscher Militärarzt baut ein Feldlazarett in Jasnaja Poljana, dem Landgut von Tolstoi, mit auf. Während die Soldaten unter der eisigen Kälte sowie den Strapazen des Krieges leiden und immer weiter auf einen Abgrund zudriften, trifft er auf Katerina, eine Russin, deren Herz am Tolstoi-Grundstück hängt. Die beiden versuchen, inmitten des Winters nicht die Hoffnung zu verlieren – doch wird ihre Liebe dabei helfen, der Dunkelheit zu entkommen?


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001011
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Mutter, Rosemary,
und meine Schwester, Eira.

1

Herr Hauptmann?«, sagte Winkel. »Sie sollten Ihren Helm aufsetzen.«

Paul Bauer, vierzig Jahre alt, Feldchirurg, ließ die Augen geschlossen. Dass der Obergefreite sich um ihn sorgte, war anrührend, aber nachdem er im Zelt sechsundzwanzig Stunden am Stück operiert hatte, gefolgt von elf weiteren Stunden sabotierten Schlafs – zuerst unweit einer aktiven Geschützgruppe, dann sitzend in der Fahrerkabine eines schaukelnden Lastwagens –, kümmerte es ihn kaum noch, ob er lebte oder starb. Einen Moment lang schlingerte das Fahrzeug, und Bauer versuchte, sich nicht gegen das Armaturenbrett zu stemmen und dadurch zu verraten, dass er wach war.

»Er schläft«, sagte Pflieger.

»Dann weck ihn auf«, gab Winkel zurück.

»Das würde er mir nicht danken.«

»Dieser Wald … Du solltest ihn wecken.«

»Warum weckst du ihn nicht selbst?«

»Pflieger, ich fahre«, sagte Winkel. »Du sitzt neben ihm.«

Der Lastwagen geriet erneut ins Schlingern, und Bauer schlug mit der Schläfe gegen die Tür. »Hey, Sepp, willst du uns umbringen, oder was?«, schimpfte Pflieger.

»Dieser verdammte Schlamm«, sagte Winkel. Schlamm – allein schon das Wort, ein triefender abscheulicher Affront.

»Leg die Karre bloß nicht auf die Seite«, sagte Pflieger. »Im russischen Straßengraben zu landen, wär nicht ruhmreich.«

Der Wagen steckte fest, die Räder drehten durch, bis es schließlich doch weiterging, das Tempo bestimmt vom langsamsten der siebzehn Konvoi-Fahrzeuge. Ihres war das vorletzte. Eine Weile sprach niemand. Ein wehklagender Motor. Ächzendes Getriebe. Das Regenprasseln auf dem Wagendach. Quietschende Scheibenwischer.

Pflieger sagte: »Es wird spät.«

»Ich weiß«, sagte Winkel.

»Wir hätten im Dorf nicht Halt machen sollen.«

»Sagst du.«

»Ganz genau. Ich sag das. Warum denn nicht?«

»Du, der große Taktiker.«

Gekränkt entgegnete Pflieger: »Ich rede nicht von Taktik, Sepp, sondern von gesundem Menschenverstand.«

»Schon mal etwas von Durchhaltevermögen gehört?«

»Ich meinte nur, dass es bald dunkel wird.«

Ein heftiger Ruck überraschte Bauer und er musste sich am Armaturenbrett abstützen.

»Willkommen zurück, Hauptmann«, sagte Winkel. »Gut geschlafen?«

Bauer öffnete die Augen. Zwischen den rasenden Scheibenwischern erkannte er den Krankenwagen vor ihnen, dessen Heck im Schlamm hin und her schlingerte, obwohl er kaum mehr als Schritttempo fuhr. Herbstliche Regenfälle und die Durchfahrt von mehr als sechzig Panzern hatten die Straße in einen gefurchten Sumpf verwandelt. Links und rechts davon lagen die aufgewühlten Randstreifen, wo Fuhrwerke, Lastwagen und Panzer vergebens festeren Untergrund zu finden versucht hatten. Kiefernwald auf beiden Seiten. Ein Ausschnitt des Himmels, aus dem der Regen fiel wie Tränen. Vor drei Wochen hatte ein sowjetischer Scharfschütze aus einem Wald wie diesem Dieter Clemens, Bauers engsten Freund im Bataillon und besten Anästhesisten, tödlich getroffen.

Winkel sagte: »Ich meinte gerade, dass Sie Ihren Helm aufsetzen sollten.«

»Aber Pflieger nicht?«

»Pflieger ist ein Idiot, Herr Hauptmann.«

»He … Ich bin einfach das Gewicht leid.«

»Und deinen Haarausfall«, sagte Winkel.

Pflieger strich sich über den Kopf. Mit sechsundzwanzig und immer noch zu Akne neigend, lichtete sich sein Haar tatsächlich unübersehbar. »Wär doch möglich, oder? Dass mir wegen des Helms die Haare ausfallen. Was meinen Sie, Herr Hauptmann? Sie sind Arzt.«

»Ich meine, der Obergefreite hat recht«, sagte Bauer und setzte seinen Helm auf. »Wir sollten auf Nummer sicher gehen.«

Pflieger grinste; dabei lugte seine Zunge ein Stück zwischen den Zähnen hervor, was ihm einen dümmlichen Ausdruck verlieh. »Ist vielleicht ein bisschen spät dafür, oder?«, erwiderte er, setzte aber seinen Helm auf. Ein anderer Offizier hätte ihn für die Bemerkung vielleicht gerügt, aber Bauer ging mit Pflieger nachsichtig um, der im Frankreichfeldzug eine Kopfverletzung erlitten hatte, die seine Persönlichkeit im Grunde nicht verändert, sondern sie vielmehr offen hatte zutage treten lassen, sodass nun vollends der gutmütige, einfältige Mensch zum Vorschein kam, der nicht mehr imstande war, seine Äußerungen einer inneren Zensur zu unterziehen. In diesem Fall musste Bauer ihm allerdings beipflichten: Vier Monate nach Beginn von Unternehmen Barbarossa war es tatsächlich längst zu spät, um sich über persönliche oder anderweitige Sicherheitsbelange Gedanken zu machen. Sicherheit war kaum noch ein Thema. Hätte der Größte Feldherr Aller Zeiten auch nur einen Funken Achtung vor dem menschlichen Leben gehabt, hätte er keinen weiteren Feldzug begonnen, und zwar einen, gegen den Frankreich rückblickend wie ein Kindergeburtstag wirkte.

Bauer fröstelte und schlang sich den Schal fester um den Hals, schlug den Kragen seines Wintermantels hoch. Dann zog er die Zigaretten aus der Tasche und hielt sie Pflieger hin, der eine nahm; Winkel lehnte ab. Er kämpfte mit der Schlammpiste, ein Leichtgewicht, die Finger um das Lenkrad geklammert, es sah aus, als würde er die Schläge eines unsichtbaren Gegners abwehren. »Ich kann sie Ihnen anzünden«, erbot sich Bauer.

»Nein danke, Hauptmann. Ich habe aufgehört.«

»Ach ja?«

»Ja. Letzte Woche.«

»Wegen der Gesundheit?«

»Nicht unbedingt.«

»Er hat Angst, dass die Glimmstängel seinem Wachstum schaden«, sagte Pflieger.

»Haha«, sagte Winkel, der kleinste Mann im Bataillon. Um die Pedale des Lastwagens besser erreichen zu können, hatte er sich seinen zusammengerollten Schlafsack in den Rücken gestopft.

»Also, warum haben Sie aufgehört?«, fragte Bauer. »Um damit Tauschhandel zu betreiben?«

»Darauf hat mich Leutnant Hirsch gebracht, Hauptmann.«

»Der Leutnant?«, fragte Bauer, sich der schalen Wirkung bewusst, die der Name des Zahnarztes auf ihn ausübte und die noch größer geworden war seit Hirschs Ernennung zu seinem Anästhesisten, um die durch Dieters Tod entstandene Lücke zu füllen.

»Meine Zähne sind gelb geworden«, sagte Winkel. »Leutnant Hirsch meinte, das kommt vom Rauchen und ich soll aufhören.«

»Ist sicherlich ein guter Rat«, sagte Bauer und steckte sich seine Zigarette an. Ungewollt brachte er damit Pflieger zum Lachen, ein lautes Wiehern, das meistens lustiger war als der Grund, aus dem er lachte. Bauer lächelte und nahm einen tiefen Leben spendenden Lungenzug.

Immer noch wiehernd, stieß Pflieger demonstrativ Winkel mit dem Ellbogen an. »Willst nicht, dass dir deine gelben Beißer die Chancen bei den Miezen verderben, was?«

Der Obergefreite kämpfte weiter mit dem Lenkrad, sagte nichts. Winkels Eitelkeit – seine Haarcreme und die Zahnstocher, seine gezupften Ohren und Nasenlöcher – war unter seinen Kameraden ein geschätzter Anlass für Heiterkeit. Ihr Lachen war ein Ausdruck von Erleichterung darüber, einen Schwachpunkt bei einem Mann gefunden zu haben, den sie ansonsten in hohem Ansehen hielten, Bauer genauso sehr wie die anderen, wenn nicht mehr. Er und Winkel waren im gleichen Alter und teilten das gleiche Schicksal, über das sie zwar selten sprachen, das jedoch nie vollends aus Bauers Gedanken verschwand. Beide hatten sie kurz vor dem Krieg ihre Frau verloren: Bauers Frau war einer Krankheit erlegen, Winkels war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Beide waren sie kinderlos.

Eine Weile schwiegen die drei Männer. Der Regen prasselte aufs Dach, und Bauer wurde schläfrig.

»Dieser verdammte Schlamm!«, sagte Pflieger.

»Amen«, murmelte Bauer. Geboren aus dem russischen Staub, an dem sie und ihre Motoren den ganzen Sommer über beinahe erstickt waren, klebte der Schlamm schwer an den Stiefeln, Hufen und Reifen und brachte eine Armee von fast vier Millionen Mann entlang einer zweitausend Kilometer langen Front beinahe zum Stillstand. Rasputiza nannten die Russen die herbstliche Regenzeit – die Zeit der Unbefahrbaren Straßen –, ein Begriff, den Bauer vor drei Wochen von einer alten Bäuerin gelernt hatte. Sein Russisch war mittelprächtig, aber während der kurzen Unterhaltung mit der russischen Babuschka hatte er genau das begriffen, was das deutsche Oberkommando, das über Abwehrspione und russische Linguisten verfügte, augenscheinlich übersehen hatte: Ende Oktober waren die für die deutsche Strategie maßgeblichen Straßen per definitionem unbefahrbar. Nachdem er das verstanden hatte, hatte er vor Wut eine halbe Stunde lang kein Wort herausgebracht. Seit Beginn des Krieges hatte er dessen Ende herbeigesehnt, und da die Wehrmacht bisher an allen Fronten triumphiert hatte, schien ihm ein deutscher Sieg über die Sowjetunion der schnellste Weg zum Frieden zu sein. Es stimmte, das Verhalten einiger seiner Landsleute in der Sowjetunion war kriminell – manchmal sogar verwerflich –, aber mit dem Krieg würde auch das Töten enden, und danach war es möglich, dass die verbrecherischen Machthaber in Berlin ihre Politik mäßigen oder sogar gänzlich von der Bildfläche verschwinden würden. Zumindest hatte er das vor seinem Gespräch mit der Babuschka gedacht. Seitdem hegte er den Verdacht, dass der Größte Feldherr Aller Zeiten nicht mehr war als ein arroganter Emporkömmling, dass die letzten beiden Monate des Jahres 1941 keinen Sieg bringen würden und dass es Jahre dauern könnte, die Sowjets niederzukämpfen, falls es überhaupt möglich war. Und was, wenn nicht? Er war so unendlich müde, dass die Ränder des Waldes sich vor seinen Augen in gigantische Wände aus Wasser verwandelten, die sich für die Israeliten teilten, er selbst ein Soldat in der Armee des Pharaos, ein Fußsoldat, der über den schlammigen Meeresgrund stapfte.

Sie erklommen eine Anhöhe und fuhren dann wieder bergab, dem Regenwasser hinterher, das von einer Spurrille in die nächste überfloss. Regentropfen brodelten in den Hufabdrücken der Zugpferde. Von Anfang an hatte es Bauer beunruhigt, dass die sowjetischen Streitkräfte offenbar besser motorisiert waren als die Wehrmacht, doch der von Pferden gezogene Nachschub der 3. Panzerdivision hatte größtenteils mit den Panzern Schritt gehalten, deren Fortkommen nicht nur durch den Zustand der Straßen, sondern auch durch den Mangel an Treibstoff erschwert wurde – für Bauer ein weiterer gravierender Fehler der Einsatzplanung.

Eine weite Kurve rückte den gesamten Konvoi ins Blickfeld, und kurz darauf tauchte an der Spitze der Kolonne ein Motorradkundschafter auf und winkte dem Führungsfahrzeug zu, einem Lastwagen unter dem Kommando des Sicherheitschefs der Kompanie, Norbert Ritter, der seit zwei Monaten auch als kommissarischer Quartiermeister fungierte. Die nachfolgenden Fahrzeuge kamen eines nach dem anderen zum Stehen.

Pflieger seufzte. »Was ist denn jetzt schon wieder …?«

Wie um das Regenprasseln auf dem Dach nachzuahmen, begann Winkel aufs Lenkrad zu trommeln, ein lästiges Geräusch. Doch ihn zu bitten, damit aufzuhören, wäre nicht rechtens, denn einfach nur ruhig dazusitzen, lag schlichtweg nicht in Winkels Natur. Bauer hatte den Obergefreiten nur wenige Male schlafen sehen, aber wenn, dann hatte er auch da herumgezappelt, vielleicht weil er gerade von einem Motor träumte, den er zerlegte, oder von einer Blutung, die er stillte.

Nach ein, zwei Minuten setzte sich der Konvoi wieder in Bewegung, nur um nach einigen Hundert Metern wieder anzuhalten. In der Ferne sah Bauer, wie Ritters Sicherheitskommando aus dem Lastwagen stieg. In weitgefasster Auslegung von Artikel 8 (1) der Genfer Konvention (Waffenverbot für Angehörige von Sanitätskolonnen) trugen die Männer Maschinenpistolen, einer ein mittelgroßes Maschinengewehr, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass das Rotkreuz-Symbol auf Fahrzeugen und Armbinden in der Sowjetunion so gut wie keinen Schutz bot.

»So eine Scheiße«, sagte Pflieger. »Es wird dunkel.«

»Karl, Ausdrucksweise«, sagte Winkel. »Offizier an Bord.«

Pflieger entschuldigte sich und saugte an seiner Zigarette, bis die Glut beinahe seine Lippen erreichte, dann ließ er den Stummel fallen und zermalmte ihn unter seinem Stiefelabsatz. »Oh Scheiße, da kommt Ehrlich.«

Stabsgefreiter Egon Ehrlich kam zurückgelaufen und blieb an jedem Fahrzeug stehen, um kurz mit dem Fahrer zu sprechen. Schwerfälliger als nötig stakste er durch den Schlamm, wohl ein neurologisches Problem, wie Bauer dachte, und es dauerte noch weitere fünf Minuten, bis er sie erreichte. Kaum größer als Winkel, ließen Ehrlichs schlammüberzogene Stiefel ihn wie eine Zeichentrickfigur erscheinen – ein wieselgesichtiger Verwandter von Micky Maus in Regenumhang und wassertriefendem Helm. Er stieg aufs Trittbrett, und Winkel kurbelte das Fenster herunter.

»Was gibt’s denn?«

»Ein gesprengter Durchlass. Wir legen Baumstämme drüber. Sepp, nimm dein Gewehr und melde dich bei Ritter. Pflieger –«

»Ich bewache den Laster?«

»Du nimmst eine Schaufel und gehst mit Sepp.«

»Aber ich bin doch gerade erst trocken geworden.«

»Keine Widerrede, tu’s einfach«, befahl Ehrlich. Er hielt sich mit einer Hand lässig am Fensterrahmen fest und bequemte sich schließlich, Bauer mit der anderen Hand zu salutieren, jedoch auf eine etwas nachlässige Weise, was für ihn untypisch war.

»Hauptmann.«

»Stabsgefreiter.«

Ehrlich stieg vom Trittbrett und verschwand zum Ende des Konvois. Bauer war sich nicht sicher, warum der Mann ihn nicht mochte. Neid wegen seines höheren Ranges war es nicht, überlegte er, auch wenn sie etwa im gleichen Alter waren und einen ähnlichen Hintergrund hatten – sie waren beide auf Bauernhöfen aufgewachsen. Nein, eher spürte Ehrlich wohl, dass er, Bauer, sich nicht viel aus dem Ränge-Brimborium machte. Wie und wann und selbst ob man ihm überhaupt salutierte, kümmerte Bauer nicht im Geringsten, und das machte es Ehrlich vermutlich umso schwerer, sich ihm unterzuordnen.

»Warum muss ich buddeln?«, fragte Pflieger missmutig und zog den Regenumhang aus seinem Tornister.

Winkel nahm sein Gewehr von der selbst gebauten Halterung an der Rückwand der Fahrerkabine. »Vielleicht damit du niemanden erschießen musst? Könnte ja sein, dass Ehrlich dich nicht in Gewissensnöte bringen will.«

»Meinst du wirklich?«

»Na sicher. Er nimmt auf diese Weise Rücksicht auf dich, ganz klar.«

Bauer wünschte ihnen Glück und sie kletterten hinaus. Pflieger zog an der Seite des Lastwagens eine der Schaufeln aus der Halterung, und die beiden Männer gingen los, zwei durch den Schlamm watende Marionetten, Pflieger schlaksig und über einen Kopf größer als Winkel.

Endlich eine Gelegenheit zu schlafen. Eine Decke wäre schön gewesen, aber es gab keine in der Fahrerkabine, also begnügte Bauer sich mit seinem Wintermantel. Er streckte sich quer über die Sitzbank aus und bettete seinen Kopf auf dem zusammengerollten Schal. Der Regen ließ nach, und das Geräusch auf dem Dach erinnerte ihn an die Regenschauer auf dem schiefergedeckten Bauernhaus seiner Kindheit, an das Bett mit der Daunendecke in dem Zimmer, das er sich mit Jürgen geteilt hatte, seinem Bruder – der schon lange tot war, Opfer einer verpfuschten Amputation in Verdun.

Ein Klopfen am Fenster ließ ihn aufschrecken. »Hey, Bauer!«

Molineux. Bauer legte einen Arm über seinen Helm. »Ich versuche zu schlafen.«

»Bah! Ihr Insomniker seid euch selbst der schlimmste Feind.«

»Hau ab.«

»Bewegung! Du brauchst Bewegung!«

»Um Himmels willen, es schüttet.«

»Nicht mehr. Hör hin.«

Es stimmte, es hatte aufgehört zu regnen.

»Mach das Fenster auf.«

Fluchend setzte sich Bauer auf und kurbelte die mit Wasserschlieren bedeckte Fensterscheibe herunter, sodass dahinter Hermann Molineux’ rosiges Gesicht zum Vorschein kam. Schlupflider. Schelmisches Grinsen.

»Ich war fast eingeschlafen«, sagte Bauer.

»Lass uns einen Spaziergang machen.«

»Du stehst mit dem Schlaf auf Kriegsfuß, nicht wahr?«

»Unsinn, ich bin sein Verbündeter«, sagte Molineux. Die kalte Luft verwandelte seinen Atem in weiße Dampfwolken.

»Das ist dann irgendein psychologisches Berufstrauma durch deine Arbeit als Anästhesist.«

»Aber, aber, komm mir nicht mit diesem jüdischen Geschwätz. Du enttäuschst mich, Bauer. Du bist zu sehr mit deinen Gedanken beschäftigt. Vertritt dir die Beine. Bring deine Arterien zum Pumpen.«

»Ich dachte, du hasst Bewegung«, sagte Bauer.

»Da denkst du wohl an einen anderen, nachlässigeren Mann. Frische Luft, der Duft von Kiefern, Geschosse, die mir die Frisur zerzausen – darauf bin ich ganz wild.«

»Meine Socken sind fast trocken«, sagte Bauer. »Ich will nicht, dass sie wieder nass werden.«

»Unser Ziel ist nicht mehr weit entfernt, dort kannst du sie wechseln. Ehrlich behauptet, wir werden stilvoll untergebracht – angeblich hat Kompanie B ein stattliches Haus für uns gefunden.«

»Keine Brandruine?«

»Angeblich ist es virgo intacta. Vielleicht hat der Regen es vor den Flammen bewahrt. Irgendein armer Iwan wird für seine Unachtsamkeit erschossen werden. Der Punkt ist, wir werden bald Wodka schlürfen am offenen Kamin und uns am Anblick einer süßen kleinen Galinka oder Innuschka ergötzen, die unsere gewaschenen Uniformen aufhängt.«

Bauer seufzte und griff nach seinem Regenumhang.

»Also kommst du mit?«

»Jemand, der so wahnhaft ist wie du, braucht eine Aufsichtsperson.«

»Wunderbar, wunderbar«, sagte Molineux und sprang vom Trittbrett.

Bauer stieg aus und versank augenblicklich stiefeltief im Schlamm. »Spaziergang …?«

»Gewaltmarsch, Herumstapfen – nenn es, wie du willst. Ich habe es nicht mehr ausgehalten in der Blechbüchse, ich musste einfach raus.«

»Zumindest machen wir uns nicht ohne Publikum lächerlich«, sagte Bauer und deutete auf die Mitfahrer aus Molineux’ Lastwagen, die am Ende der Kolonne eine Verteidigungsstellung gebildet hatten.

Nach wenigen Schritten wusste Bauer, dass er einen Fehler gemacht hatte; der Schlamm gab unter seinen Stiefeln leicht nach, klebte dann aber mit einer irren Kraft an ihnen fest. Er stellte sich vor, Leichen würden sich an ihm festkrallen und versuchen, ihn unter die Erde zu zerren, und um dieses Bild zu vertreiben, stapfte er energisch weiter, sodass ihm bald schon die Oberschenkel brannten. Ihm wurde heiß, und er musste seinen Mantel aufknöpfen, obwohl seine Finger immer noch klamm waren und der Schlamm seine Füße erkalten ließ. Er kam sich wie ein Narr vor, weil er mitgekommen war. Molineux schnaufte schwer. Sein Gesicht war puterrot, stellenweise violett angelaufen. Er war ein großer Mann, älter als Bauer und völlig außer Form, fast schon korpulent – ein Beleg für sein Geschick, Alkohol zu organisieren, und für die Liebe seiner Frau, die ihm regelmäßig kalorienreiche Leckereien schickte. Am vordersten Lastwagen fragte Bauer ihn, ob er verschnaufen wolle, aber Molineux schüttelte den Kopf und deutete auf ihr Ziel: einen Fluss, der quer über die Straße rauschte, daneben fünfzig oder mehr Männer, die Kiefern fällten und zurechtsägten. Die Dämmerung war noch etwa eine Stunde entfernt, aber unter den triefenden Bäumen breitete sich bereits Zwielicht aus.

Am gesprengten Durchlass überwachte Feldwebel Norbert Ritter, ein großer stiernackiger Mann, wortreich den Bau des provisorischen Übergangs; in seinem Berliner Akzent klang ein Kehlkopfschaden mit, den er sich bei einer lange zurückliegenden Schlägerei zugezogen hatte. Nahebei stand der befehlshabende Offizier und Chef-Chirurg des Bataillons, Oberstleutnant Julius Metz, dessen eines Knie auf und ab wippte, als wolle er dadurch die Arbeiten beschleunigen. Der Fluss war reißend schnell und so laut, dass Metz ihre Ankunft zunächst nicht bemerkte. Als er Molineux sah, runzelte er die Stirn. »Hauptmann, Sie sind ja völlig aus der Puste! In dieser Verfassung geben Sie den Männern kein gutes Beispiel ab.«

Molineux nickte, zu ausgepumpt, um etwas zu sagen.

Metz fuhr fort: »Es gibt zwei Arten von Männern auf dieser Welt: solche, die sich und ihren Körper respektieren, und solche, die das nicht tun. Als Mediziner sollten Sie es besser wissen, Molineux.«

Immer noch kurzatmig, erwiderte Molineux: »Oberstleutnant, was soll ich sagen?« Er deutete auf seine schlammbedeckten Stiefel. »Die reinsten Klumpfüße, Herr Oberstleutnant, schwer wie Blei.«

Metz, der weder trank noch rauchte, war mit seinen zweiundfünfzig Jahren in hervorragender körperlicher Verfassung, ein großer Mann mit einem länglichen Gesicht, von dem Bauer annahm, dass Frauen eines gewissen Alters es attraktiv fanden, wenn auch etwas streng: graue Augenbrauen, schmale Nase und ein Grübchenkinn, über das Molineux einmal zu Bauer gesagt hatte, dass es wie ein Hintern aussehe, und seither bekam Bauer dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf.

»Und wo ist überhaupt Ihr Helm?«, herrschte Metz Molineux an. »Habe ich nicht ausdrücklich angeordnet, dass alle Offiziere im Feld einen Helm zu tragen haben?«

»Entschuldigung, Herr Oberstleutnant, das habe ich vergessen.«

»Ich kann es mir nicht leisten, noch einen Anästhesisten zu verlieren.« Er wandte sich zu Ehrlich. »Stabsgefreiter, geben Sie dem Hauptmann Ihren Helm.«

»Jawohl, Oberstleutnant«, sagte Ehrlich und gehorchte schnell, offenbarte dabei seinen Schädel, der genauso schmal war wie sein Gesicht spitz. Molineux dankte ihm und setzte den Helm auf, nahm ihn wieder ab und lockerte den Kinnriemen, als lautes Geschrei Bauers Aufmerksamkeit flussaufwärts lenkte. Zwei Sanitäter hatten am Wasser einen Baumstamm fallen gelassen, der nun in die tosenden Fluten hineinrollte und wie ein Speer auf den halb fertigen Übergang zutrieb.

»Herrgott noch mal!«, brüllte Metz, als der Baumstamm gegen das Provisorium prallte, und obwohl mehrere Männer ins Wasser eilten, um den Stamm wegzuziehen, war es zu spät. Der Übergang wurde von den Wassermassen fortgespült.

Metz brüllte eine Obszönität – bei ihm ein Zeichen brodelnder Wut –, aber verstummte schlagartig, so wie die anderen auch, als im nahen Wald das Geräusch eines überdrehenden Motors ertönte. Bauer hatte das Bild eines T-34 vor Augen, oder sogar mehreren, die durch die Baumlinie brachen, aber während sich die meisten seiner Kameraden in den Schlamm warfen, blieb er stehen, hatte aus irgendeinem Grund keine Angst. Norbert Ritter, ein brutaler, aber tapferer Mann, hatte sich ein Gewehr geschnappt und stapfte ungelenk durch den Schlamm auf die Quelle des Lärms zu, gefolgt von den Männern seines Sicherheitstrupps. Sekunden später fuhr direkt vor ihnen ein sowjetischer Lastwagen aus dem Wald. Er hielt an, und Ritter und seine Männer richteten ihre Gewehre auf die Fahrerkabine. Die mit einer Plane verdeckte Ladefläche sei leer, rief einer der Sanitäter. Dann schwang die Fahrertür auf und ein junger Soldat stieg mit erhobenen Händen aus, stellte sich in den Schlamm. Er war unbewaffnet. Glattes dunkles Haar, auf dem Kopf eine braune Feldmütze. Bleiches Gesicht. Sein Körper bebte. Weitere von Ritters Männern trafen ein, und ein zweiter Russe, ein Offizier, kletterte aus dem Lastwagen. Er war älter, klein, dicklich und kahl. Er trug keine Kopfbedeckung. Stirnrunzelnd blickte er auf die Männer, die ihre Gewehre auf ihn richteten, dann schaute er zum Himmel auf, zog eine Pistole und schoss sich knapp über dem Ohr in den Kopf.

2

Winkel öffnete die Beifahrertür und rüttelte ihn wach. »Wir sind da, Herr Hauptmann.«

Abendzeit. Wind und Regen. Ferner Geschützdonner. Bauer gähnte. »Wie spät haben wir es?«

Winkel schaute auf die Uhr. »Einundzwanzig-null-fünf.«

»So spät?«

»Der Schlamm.«

»Natürlich. Warum frage ich?«

»Ich habe Ihre Sachen ausgeladen, Herr Hauptmann. Und mich um ein Zimmer gekümmert.«

»Gott segne Sie, Sepp.«

»Aber der Oberstleutnant möchte –«

»– mich umgehend sehen.«

»Korrekt.«

Bauer nahm seinen Helm ab und setzte seine Offiziersmütze auf. »Dann zeigen Sie mir den Weg.«

Er stieg aus dem Lastwagen, sein ganzer Körper schmerzerfüllt – ein Vorgeschmack auf das Alter, vermutete er, falls er so lange leben sollte. Sein Gesicht fühlte sich belegt an vom getrockneten Graupel. Willkommen war ihm hingegen das Gefühl von Schotter unter den Stiefeln, endlich fester Untergrund. Im Scheinwerferlicht des Krankenwagens erkannte er ein zweistöckiges Gebäude, das, obwohl es groß war, nicht ganz dem entsprach, was Molineux ihn hatte erwarten lassen. Ein Vorplatz mit einer geschwungenen Auffahrt. Kahle, im Wind schwankende Birken. Auf der Veranda des Gebäudes salutierten er und ein Wachposten einander, dann folgte er Winkel in ein Vestibül, dessen hinterer Teil mit Möbeln vollgestellt war. An der Decke brannte Licht – offensichtlich hatte Kompanie B einen Generator angeworfen. Hinter ihnen trugen zwei Sanitäter einen der Aufbocktische der Kompanie herein, dann folgte der Funker mit seinen Metallkoffern. Neben einer verglasten Flügeltür stand Molineux leicht vorgeneigt an einem hüfthohen Kabinettschrank und schrieb in etwas, das wie ein Gästebuch aussah. Er wandte sich um und hielt Bauer einen Bleistift hin. »Hier, sei der zweite, der unsere Ankunft verewigt. Schreib etwas Würdiges.«

Bauer nahm den Bleistift. »Etwas Würdiges? Warum?«

Molineux räusperte sich und breitete die Arme aus. »Die Kompanie A des Sanitätsbataillons der 3. Panzerdivision ist nun im Besitz eines russischen Nationalheiligtums: der Stammsitz des Grafen Leo Tolstoi.«

Bauer blinzelte. Molineux war ein unverbesserlicher Witzbold. »Das ist ein Scherz, oder?«

»Würde ich einen solchen Moment mit Spott entweihen?« Er öffnete den Kabinettschrank, in dessen Fächern stapelweise Broschüren lagen, und nahm eine heraus. »Hier, der Beweis.« Auf minderwertigem Papier gedruckt, hieß die dünne Broschüre den Besucher in Jasnaja Poljana willkommen, dem Nationalen Gedenk- und Museumsgut von Lew Nikolajewitsch Tolstoi – »Leo« war, so erinnerte sich Bauer, eine Eindeutschung –, dem Autor der »unsterblichen Literaturwerke Krieg und Frieden (Voyna i Mir) und Anna Karenina«, die beide »in eben diesem Haus« entstanden waren. Auf der Rückseite befand sich eine einfache Karte des Anwesens.

Molineux grinste. »Und du hattest die Frechheit, an mir zu zweifeln.«

Bauer war wie vom Donner gerührt. Im letzten Krieg hatte er als Vierzehnjähriger Krieg und Frieden gelesen, ein sechswöchiges Unterfangen, das in ihm eine jahrzehntelange Faszination nicht nur für die Romane Tolstois begründet hatte, sondern auch für das Werk von Dostojewski, Turgenjew, Lermontow und Gogol. In der Hoffnung, sie eines Tages auch im Original lesen zu können, hatte er sogar angefangen, Russisch zu lernen, damit aber wieder aufgehört wegen der Anforderungen seines Medizinstudiums; zudem hatte er erkannt, dass er der Intensität und dem Schwermut der russischen Seele – zumindest so, wie sie in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts beschrieben wurde – überdrüssig geworden war, insbesondere nachdem seine Frau, Clara, ihre Diagnose erhalten hatte.

»Herr Hauptmann, der Oberstleutnant«, sagte Winkel hinter ihm.

Bauer steckte die Broschüre ein. »Natürlich.«

»Zuerst das Gästebuch«, sagte Molineux. »Deine Gelegenheit zur Unsterblichkeit.«

Bauer blätterte in dem Buch. Alle Einträge vor Molineux waren in russischer Sprache verfasst – die neuesten von Soldaten der Roten Armee, die ihre Dienstgrade sowie ihre Namen eingetragen hatten, aber nicht die Einheiten, denen sie angehörten. Molineux’ Unterschrift war über die dafür vorgesehene Zeile weit hinausgeschwappt. In die Kommentarspalte hatte er Veni, vidi, vici geschrieben.

Molineux sagte: »Ich weiß, was du denkst; dass unser eigener Julius das nicht gutheißen würde.«

»Stimmt. Nicht bevor er sich selbst in dem Buch verewigt hat.«

»Sei kein Feigling. Der frühe Vogel fängt den Wurm.«

Bauer hob den Bleistift, aber zögerte. Winkel sagte: »Hauptmann, der Oberstleutnant wollte Sie sofort sprechen.«

»Jetzt beeil dich und schreib irgendetwas«, sagte Molineux, »oder Metz lässt dich erschießen.«

Bauer legte den Bleistift weg. »Vielleicht später.«

»Ach, komm schon«, sagte Molineux. »War doch nur ein dummer Spruch.«

»Es geht nicht um Metz.«

»Worum dann?«

»Nenn es mangelnde Inspiration.«

»Beim Schreiben ist der erste Gedanke immer der beste«, sagte Molineux. »Genau wie beim Reden.«

In Orjol hatte Dieter Clemens nur wenige Tage vor seinem Tod durch die Kugel eines Scharfschützen das beinahe hochverratstaugliche Thema aufgeworfen, ob das Unternehmen Barbarossa in irgendeiner Weise womöglich Napoleons Einmarsch in Russland ähnelte. Dieses Gespräch hatte Bauer an seine frühe, bislang einmalige Lektüre von Krieg und Frieden erinnert. Nun just in dem Haus einzutreffen, in dem dieser Roman verfasst worden war, fand er irgendwie unheimlich, ein Gefühl, dem sich nur mit Logik beikommen ließ.

»Ich muss jetzt zu Metz«, sagte er.

»Ich auch. Und weil du so rumgeeiert hast, bringt er uns nun beide vors Kriegsgericht.«

Winkel führte sie durch die verglaste Flügeltür in eine kleine Empfangshalle. Polierte Dielen, eine Holztreppe, cremefarbene Wände ohne Dekoration. Eine Tür auf der linken Seite führte in einen Salon, aus dem jegliches Mobiliar herausgeräumt worden war, bis auf einen Konzertflügel, um den herum Metz, seine Ordonnanz Ehrlich und die drei Subalternen der Einheit standen. Auf dem Klavierdeckel lagen Landkarten, Papiere und Notizbücher. Alle Männer waren schlammverdreckt, sogar der Oberstleutnant. »Wo ist der Major?«, fragte Metz.

»Er richtet sich oben ein, Herr Oberstleutnant«, sagte Winkel.

»Ich wette, er packt sich die Dicke Bertha ins Bett«, sagte Molineux.

»Holen Sie ihn runter«, befahl Metz.

»Jawohl!«, sagte Winkel und eilte davon.

Die größte Landkarte auf dem Klavierdeckel war auch die detaillierteste. Molineux fragte, wo darauf sie sich befänden; Metz tippte auf einen Punkt an einer Straße, die in Nordsüdrichtung verlief.

»Und der Feind?«

»Bei Tula«, sagte Metz und deutete auf eine Stadt am nördlichen Rand der Karte. »Gut vierhunderttausend Einwohner.«

Bevor Bauer sich für einen genaueren Blick vorbeugen konnte, trat Volker Hirsch von der Seite zu ihm heran und fragte ihn flüsternd, ob er ihn kurz sprechen könne.

»Natürlich«, sagte Bauer und trat vom Klavier zurück. »Worüber?«

Hirsch zögerte. Mit seinen vierundzwanzig Jahren war er zwar ein kompetenter Zahnarzt, aber schüchterner als die meisten Kinder. Groß, aber gebückt. Nicht so sehr mollig, eher von schwammiger Statur. Rotbraunes Haar, sommersprossiges Gesicht, runde Brille. »Dieser Rotarmist«, begann er, »der sowjetische Offizier …«

»Der sich erschossen hat?«, fragte Bauer. Er hatte nicht bemerkt, dass auch Hirsch am Fluss gewesen war.

»Ja, genau der.«

»Ein Volkskommissar«, sagte Bauer, die Frage vorwegnehmend. »Gefangene politische Offiziere werden exekutiert«, fuhr er fort und erwähnte damit freimütig den Befehl, über den er und Dieter heimlich diskutiert hatten. »Er muss es gewusst haben.«

»Sie meinen, wir hätten ihn erschossen, wenn er es nicht selbst getan hätte?«, fragte Hirsch.

»Wir? Eher nicht. Aber wer weiß? An Freiwilligen hätte es uns gewiss nicht gemangelt«, sagte er und klang dabei wütender als beabsichtigt. Hirsch schien ihm kaum ein Fanatiker zu sein, aber seine Generation war auf absoluten Gehorsam gedrillt worden, und so war es angeraten, in seiner Nähe eine gewisse Zurückhaltung zu üben. »Wenn nicht wir, dann hätte es die nächste Einheit getan«, sagte Bauer. »Und wenn nicht die, dann die SS oder das Reichskommissariat. Ich würde gerne glauben, dass ich an seiner Stelle genauso gehandelt hätte.«

Hirsch fingerte an seinen Kragenspitzen herum. »Haben Sie die Wolke gesehen?«

»Welche Wolke? Meinen Sie den Pulverdampf, der von seiner Pistole aufstieg?«

»Nein, nicht das. Die Wolke aus seinem Mund.«

»Glaube nicht«, sagte Bauer. »Was ist damit?«

»Als die Kugel ihn tötete, stieg aus seinem Mund eine kleine weiße Wolke auf«, sagte Hirsch. »Als ob …«

»Als ob was?«

»Ach, ich weiß auch nicht«, sagte Hirsch. »Als ob seine Seele den Körper verlassen hätte.«

»Dann war es wohl eine Atemwolke«, sagte Bauer trocken.

In dem Moment kehrte Winkel zurück, gefolgt von Siegfried Weidemann, dem zweithöchsten Kommandanten und Chefarzt des Bataillons. Er erblickte den Flügel und blieb stehen.

»Ach, der Herr Major«, sagte Metz, »danke, dass Sie sich herbemühen.«

Weidemann, sechzig, würdevoll, schlohweißes Haar, grüßte Metz mit einem Nicken, schaute aber auf das Klavier. Er ging hinüber, hob die Tastenklappe und spielte eine Tonleiter. »Wunderschön«, sagte er und strich andächtig über die Tasten. »Ein Bechstein. Wie bemerkenswert.«

»Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit, Herr Major«, sagte Metz. Weidemann wandte sich um, durch seine verschmolzenen Halswirbel dazu gezwungen, seinen ganzen Körper zu drehen, eine eigentümliche Einschränkung für einen Mann, der Bauer an eine Eule erinnerte mit seinen geschwungenen Augenbrauen und den breiten, sichelförmigen weißen Koteletten. »Ich habe gerade erklärt, dass der Feind sich nach Tula zurückgezogen hat«, sagte Metz, »und dort eine Art Landzunge bildet – eine Protuberanz, wenn man so will, die reif ist für die Exzision.«

»Oh, sehr gut gesprochen, Oberstleutnant«, sagte Molineux.

»Unterdessen haben wir eine bemerkenswerte Kriegsbeute in Besitz genommen«, sagte Metz. Dabei schlug er auf den Konzertflügel, was Bauer kurzzeitig verwirrte. »Stabsgefreiter, die Broschüren«, fuhr Metz fort.

Ehrlich verteilte Exemplare der Broschüre, die bereits in Bauers Tasche steckte. Auf der Rückseite waren in einer nummerierten Legende die Gebäude des Anwesens und andere Landschaftsmerkmale aufgelistet: eine Zufahrt mit einem Zierturm an der Straße von Chern nach Tula; drei größere und mehrere kleinere Gebäude, die sich mehr oder weniger gleichmäßig zwischen Gärten, Obstplantagen und Teichen verteilten; am oberen Kartenrand eine schmale Waldung auf einer Anhöhe, auf der eine gepunktete Linie den Weg zu Tolstois Grab kennzeichnete.

»Wir sind hier«, sagte Metz und deutete auf ein Gebäude, das als Tolstoi-Haus bezeichnet wurde. Bauer ließ seinen Blick durch den leer geräumten Salon schweifen. Leo Tolstoi war in diesem Raum herumgelaufen, wurde ihm bewusst, hier hatte er sich unterhalten, gegessen und getrunken, zweifellos auch gelesen. Bauer erinnerte sich an ein Foto, das er von dem Schriftsteller im hohen Alter gesehen hatte, mit Rauschebart und stechendem Blick, gewandet in eine Bauerntunika, weite Hose, hohe Lederstiefel – ein zum Weisen gewordener Aristokrat, der sich ins zwanzigste Jahrhundert verirrt hatte.

Metz sagte: »Dies ist nicht nur ein idealer Standort für ein Frontlazarett, sondern, wenn die Front sich nach vorne verschiebt, auch für ein Basishospital. Es lässt sich nicht abschätzen, ob es in Tula genauso geeignete Gebäude gibt.«

»Oder ob dort überhaupt noch Gebäude stehen«, sagte Molineux und spitzte demonstrativ die Ohren für den Kanonendonner, der auch im Haus zu hören war.

»Eben«, sagte Metz. »Dementsprechend habe ich bereits Feldwebel Ritter angewiesen, an allen wichtigen Gebäuden Wachen zu postieren.«

»Oberstleutnant, eigentlich ist das unnötig«, sagte Bauer.

»Warum?«

»Weil die Sowjets diesen Ort bewusst verschont haben dürften.«

»Er ist ein Nationalheiligtum«, ergänzte Molineux.

»Wir könnten Ritters Männer gut für andere Aufgaben gebrauchen«, fügte Bauer an. Die Verluste durch Gefechte, Unfälle und Krankheiten waren bei ihnen zwar nicht so schwerwiegend wie bei einer Fronteinheit, aber sie setzten das Bataillon dennoch unter Druck und zwangen einige der Männer in Rollen, für die sie nicht vorgesehen waren, vor allem ihren Zahnarzt, der als zweiter Anästhesist einsprang, aber auch Ritter, der als Feldwebel wenig Geduld für die bürokratischen Aufgaben eines Quartiermeisters aufbrachte.

»Es steht mir nicht zu, die Motive des Feindes zu erraten«, sagte Metz. »Die Russen haben einen Fehler gemacht, und ich werde nicht zulassen, dass sie ihn korrigieren, indem sie die Gebäude von Partisanen angreifen lassen. Darf ich nun fortfahren?«

Bauer nickte, er fühlte sich sehr müde. Womöglich hatte Metz recht. Wer konnte im Krieg schon von sich behaupten, Zufall von Absicht unterscheiden zu können?

Kompanie C würde in Chern bleiben, verkündete Metz, und von dort aus die Verwundeten nach Orjol evakuieren. Kompanie B sei unterdessen vorgerückt, um in dem Dorf Malewka, südlich von Tula, einen Truppenverbandsplatz einzurichten. Das Divisionshauptquartier hatte von heftigen Kämpfen dort berichtet – der schwere Geschützlärm in der Ferne war Beweis genug dafür –, und morgen würden mit Sicherheit Verwundete eintreffen. Dementsprechend würde man in dem Gebäude, das Metz bereits als künftiges Krankenhaus auserkoren hatte, über Nacht einen Operationssaal einrichten. Hier zeigte Metz auf der Karte auf ein längliches schmales Gebäude, etwa dreihundert Meter entfernt, das Wolkonski-Haus. Die Offiziere würden im Tolstoi-Haus unterkommen, die Mannschaften gleich nebenan im dritten der Hauptgebäude, das die Kartenlegende als den Kusminski-Flügel auswies. Metz sprach schnell und überzeugend, offenbar unbeeindruckt von den Strapazen der letzten Tage. Das konnte Bauer nicht von sich behaupten, und als Metz zu logistischen Fragen überging, schweifte seine Aufmerksamkeit zu anderen Dingen ab. An den Wänden erkannte man blasse, rechteckige Schatten, wo vor Kurzem noch Gemälde gehangen hatten; doch dem Klavier und den Möbeln im Vestibül nach zu urteilen war die Räumung des Hauses noch nicht abgeschlossen. Des Tolstoi-Hauses, wie er sich erinnerte.

Metz beendete seine Ausführungen und lud zu Fragen ein. Molineux hob die Hand. »Gibt es heute noch Abendessen?«

»Nur Feldrationen«, sagte Metz. »Die Küche ist erst ab morgen in Betrieb.«

Molineux stöhnte auf. »Könnte Pabst uns nicht irgendetwas in die Pfanne hauen, Oberstleutnant?«

»Wir essen das Gleiche wie die Sanitäter, Hauptmann. Das wissen Sie doch. Zeigen Sie Rückgrat, und falls Ihnen das nicht gelingt, dann versuchen Sie sich vorzustellen, unter welchen Bedingungen Kompanie B heute wohl zu Abend essen wird.«

Weidemann fragte, ob es in der Nähe einen brauchbaren Flugplatz gäbe, und Metz wollte ihm gerade antworten, als im hinteren Teil des Raumes eine Tür aufging und eine Frau eintrat. Alle schreckten zusammen, besonders Metz, der sogleich seine P38 zückte und sie auf den Eindringling richtete. Sie sah unbeeindruckt aus. Sie war weder jung noch alt. Kleiner Mund, große Augen. Herzförmiges Gesicht. Sie trug eine Brille, ihr dunkles kastanienbraunes Haar war zu einem Dutt zurückgebunden.

»Ruki vverkh!«, brüllte Metz sie an und machte ruckartige Bewegungen mit seiner Pistole. Die Frau hob folgsam, aber betont beiläufig die Hände. Sie trug eine braune Steppjacke, einen knielangen Rock, Wollstrümpfe und saubere hellbraune Straßenschuhe – keine elegante Kleidung, aber auch nicht die einer einfachen Arbeiterin. Auf Russisch verlangte sie zu wissen, wer von ihnen das Sagen habe.

»Sieht man das nicht?«, blaffte Metz, nachdem Bauer übersetzt hatte. »Stabsgefreiter, durchsuchen Sie sie nach Waffen«, sagte er, und Ehrlich begann, sie abzutasten – gierig, wie eine Ratte, die ein Käsestück inspizierte.

»Ich glaube, Egon könnte Hilfe brauchen, Oberstleutnant«, sagte Molineux.

»Hauptmann, ersparen Sie mir Ihren Humor«, sagte Metz. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Bauer, finden Sie raus, was sie hier zu suchen hat. Und wie sie reingekommen ist. Ehrlich, das reicht. Sie ist eindeutig unbewaffnet.«

Bauer trat vor. Die Brille ließ die Frau gebildet wirken, ihre großen Augen blickten konzentriert und scharfsinnig. Zögerlich stellte er sich ihr auf Russisch vor und fragte sie nach ihrem Namen, sprach betont langsam, um keinen Fehler zu machen, sich seiner Erschöpfung bewusst.

»Ty perevodchik?«, fragte sie ihn. »Sie sind der Dolmetscher?«

Metz verlangte zu wissen, was sie gesagt hatte.

»Ich bin Chirurg«, erklärte ihr Bauer.

Die Frau entgegnete etwas, aber zu schnell, als dass Bauer es verstand. Sie sah seinen verwirrten Gesichtsausdruck und wiederholte es. »Sie sind ein Schlächter …«

Er sah sie an, zu müde für eine schlagfertige Erwiderung.

»… des Russischen«, fügte sie an.

»Oh«, sagte er. »Das tut mir leid. Aber wir sind Ärzte«, fuhr er fort, »eine medizinische Feldeinheit.«

»Wilde«, sagte sie, als würde sie eine selbstevidente Wahrheit aussprechen.

»Bauer, lassen Sie sich nicht vollsülzen«, sagte Metz. »Sie haben das Kommando, nicht die Frau!«

Die Frau wandte sich Metz zu und redete so schnell auf Russisch auf ihn ein, dass Bauer sie bitten musste, langsamer zu sprechen. Sie gehorchte, sprach nun wiederum herablassend betulich. Die Männer hätten etwas mit den Gebäuden angerichtet, sagte sie. Beschädigt, vermutete Bauer. Er schnappte die russischen Wörter für Türen und Wände auf.

»Wo war das?«, fragte er sie.

»Überall.«

»Hier auch?«

»In meinem Zimmer.«

»Oben?«

»Im Wolkonski-Haus. Übersetzen Sie jetzt oder nicht?«

Bauer gab den Inhalt ihrer Äußerungen weiter, was bei Metz einen ungläubigen Gesichtsausdruck hervorrief.

»Sie beschwert sich, dass wir etwas beschädigt haben? Wo doch die Rote Armee jedes Haus, jede Hütte und jeden Holzschuppen zwischen hier und Brest-Litowsk niederbrennt? Sagen Sie ihr, dass wir ihre kostbaren Gebäude gerettet haben und sie uns dankbar dafür sein soll. Wer ist sie überhaupt? Was tut sie hier?«

Bauer fragte die Frau nach ihrem Namen.

»Trubetzkaja«, antwortete sie. »Towarischtsch Trubetzkaja.«

»Benutzen Sie bei uns bitte nicht die Bezeichnung ›Genosse‹. Auch nicht auf Russisch. Wie lauten Ihr Vorname und Ihr Patronym?«

»Ich ziehe Towarischtsch vor«, beharrte sie.

»Lassen Sie das bleiben, wenn Sie den Krieg überleben möchten.«

»Towarischtsch Trubetzkaja«, wiederholte sie, nun zu Metz gewandt. »Kommissarische Chef-Konservatorin von Jasnaja Poljana.«

Bauer übersetzte ihre Antwort, ließ Genossin aber weg. Sie kam ihm ziemlich jung vor für eine so hohe Position, ob kommissarisch oder nicht.

»Sagen Sie ihr, sie ist keine Chefin von gar nichts mehr«, antwortete Metz.

»Hauptmann«, meldete sich Major Weidemann zu Wort und schwenkte schwerfällig zu Bauer herum. »Ich würde gern erfahren, ob einer unserer Männer sie angerührt hat. Fragen Sie sie das. Sie sagten, sie habe beschädigte Türen erwähnt.«

Metz runzelte die Stirn. »Major, das ist kaum relevant. Und außerdem, kein Mann unter meinem Kommando –«

»Da liegen Sie leider Gottes falsch, Oberstleutnant«, sagte Weidemann. »Mir kommen jeden Tag neue Fälle von Geschlechtskrankheiten unter – leider auch bei Bataillonsangehörigen.«

Volker Hirsch stieg Farbe ins Gesicht – für Molineux eine zu gute Gelegenheit, als dass er ihr hätte widerstehen können. »Hirsch, du ralliger Hund, du holst dir ganz bestimmt einen Tripper.«

»Ich … das ist …«

»Brauchst es nicht abzustreiten.«

»Doch, das tue ich!«

»Was? Dass du dir einen Tripper holen wirst oder dass du schon einen hast?«

Mit angewidertem Blick wandte sich Metz zu Weidemann. »Sind die Bordelle nicht ein wahrscheinlicherer Übertragungsort?«

»Immer noch besorgt wegen unserer Bordelle, Oberstleutnant?«

»Nicht besorgt, Major. Es scheint mir nur, dass die Risiken den Nutzen überwiegen.«

»Unsere Bordellarbeiterinnen werden rigoros auf Infektionen untersucht. Nein, ich bin überzeugt, die Hauptursache liegt bei den einheimischen Frauen. Das werde ich in meinem Bericht an Generalmajor Oeding auch so darlegen.«

»Mit Verlaub, Herr Major«, sagte Molineux, »einen Mann wie Hirsch wird das kaum abschrecken.«

Weidemann ignorierte ihn und fragte Bauer. »Würden Sie der Frau meine Frage bitte übersetzen?«

»Das ist nicht nötig«, sagte Trubetzkaja in fehlerfreiem Deutsch und brachte alle zum Schweigen. »Die Antwort ist Nein. Ich war nicht so dumm, mich in meinem Zimmer zu verstecken, als Ihre Männer eintrafen. Ich habe die Schäden erst jetzt entdeckt.«

»Na, na, na«, sagte Molineux.

»Sie sprechen Deutsch«, sagte Metz.

»Ja und?«, antwortete sie.

»Sie haben versucht, uns zu täuschen.«

»Wohl kaum. Sie haben sich selbst getäuscht.«

»Sie wollten uns aushorchen, um an Informationen zu gelangen.«

»Informationen? Bringen Sie mich nicht zum Lachen.«

Bauer bewunderte ihr Deutsch, das sie ohne die Spur eines russischen Akzents sprach. Es war Monate her, dass er eine Frau mit solcher Verve seine Muttersprache hatte sprechen hören, doch seine Freude darüber wurde getrübt durch die Erkenntnis, dass sie ihn nun nicht mehr als Dolmetscher benötigte. Er rief sich Metz’ und Weidemanns Debatte über Bordelle und Geschlechtskrankheiten ins Gedächtnis und kringelte sich innerlich.

Metz wollte wissen, warum sie Deutsch beherrsche.

Sie zuckte mit den Schultern. »Jede halbwegs gebildete Person beherrscht die fünf oder sechs wichtigsten europäischen Sprachen.«

Metz, der einsprachig war, ging darauf klugerweise nicht ein. »Aber Sie haben überhaupt keinen Akzent«, sagte er.

Eigentlich stimmte das nicht ganz, befand Bauer. Vielmehr sprach sie ein von jeder regionalen Färbung befreites Deutsch – vielleicht das platonische Sprachideal. Für eine Frau hatte sie eine tiefe, ansprechend raue Stimme.

»Ich habe es als Kind gelernt«, sagte sie.

»Wo war das?«, fragte Metz.

»In Leningrad. Damals hieß es noch Sankt Petersburg.«

»Von wem haben Sie es gelernt?«

Sie zögerte. »Von einer Gouvernante.«

»Einer Gouvernante. Und doch sind Sie Bolschewistin.«

Bauer sagte: »Oberstleutnant, wir sollten die Chef-Konservatorin nach ihrem Vornamen und Patronym fragen.«

»Die ehemalige Chef-Konservatorin. Und ihr Nachname genügt mir – schließlich sprechen wir hier alle Deutsch, Hauptmann. Ihr Nachname war noch gleich?«, fragte er sie.

»Trubetzkaja«, sagte sie und fügte an: »Katerina Dmitriewna.«

In Gedanken sagte Bauer ihren Namen einige Male auf, so, wie er es als Jugendlicher gemacht hatte, um sich die Figuren in Krieg und Frieden einzuprägen.

»Frau Trubetzkaja«, sagte Metz, »Sie werden uns jetzt in das Arbeitszimmer von Leo Tolstoi führen. Er hatte sicher eins, nehme ich an?«

»Natürlich. Aber warum sollte ich das tun?«

»Um das Warum brauchen Sie sich ab jetzt keine Gedanken mehr zu machen. Die Zeiten sind vorbei.«

Trubetzkaja lachte. »Kein Warum mehr? Erstaunlich. Hätte ich gewusst, dass die Deutschen so fortschrittlich sind, hätte ich vielleicht die Festtagsgirlanden aufhängen lassen.«

»Das Arbeitszimmer«, wiederholte Metz.

»Wie Sie wünschen«, antwortete sie und führte sie aus dem Raum, durch die Eingangshalle und durch einen Korridor in ein großes Eckzimmer, das noch leerer war als das erste.

»Das ist alles?«, fragte Metz.

»Was haben Sie denn erwartet?«, gab Trubetzkaja zurück. »Dass er noch am Schreibtisch sitzt?«

»Hier hat Tolstoi Anna Karenina geschrieben? Krieg und Frieden?«, fragte Bauer.

»Ja, und alles danach auch.«

Metz wandte sich zu Ehrlich. »Morgen früh lassen Sie mir hier einen Schreibtisch und ein Telefon reinstellen.«

Trubetzkaja spöttelte. »Hoffen Sie, dass dadurch etwas von seiner Größe auf Sie abfärbt, Herr Oberstleutnant

»Größe erlangt man durch Taten, gute Frau, nicht mit Worten. Schriftsteller schreiben von Dingen, große Männer tun sie.«

»So würde es ein Soldat formulieren.«

»Ein Soldat und Arzt«, korrigierte er sie. »Aber was ich sagen möchte: Mit seinem Gewehr prägt unser demütigster Landser die Welt tiefgreifender, als Ihr Tolstoi es je vermocht hat.«

»Wie seltsam. Sie klingen fast wie er in Krieg und Frieden – die langweiligen Stellen: der kleine Mann, der große Ereignisse in Gang setzt. Aber hier irren Sie, Herr Oberstleutnant. Lew Tolstoi hat die Geschichte sehr wohl geprägt. Genau genommen beeinflusst er selbst in diesem Augenblick das Kriegsgeschick zu unseren Gunsten.«

»Unsinn.«

»Unsere Soldaten lesen ihn: Krieg und Frieden, die gekürzte Fassung. Und sie lernen daraus, wie man gewinnt.«

Metz schnaubte. »Ihre Rote Armee ist auf dem Rückzug.«

»Seit drei Tagen höre ich diesen Geschützlärm. Sie wissen natürlich am besten, wessen Geschütze es sind, aber für mein ungeübtes Ohr klingt es nach Widerstand.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Tula fällt, gute Frau, und danach wird das Zentrum der sowjetischen Armee zusammenbrechen. Bis Weihnachten, das versichere ich Ihnen, sind wir in Moskau.«

Metz räumte der Frau erstaunlich viel Redezeit ein dafür, dass er ihr eben noch den Mund verbieten wollte.

»Nehmen wir an, Sie haben recht«, sagte sie, »obwohl ich das stark bezweifle.« Bauer ahnte, was kommen würde, und sie enttäuschte ihn nicht. »1812 hat Napoleon Moskau über den ganzen September und Oktober hinweg gehalten, und doch war seine Grande Armée im November – wie soll ich es ausdrücken? – kopfüber auf dem Rückzug.«

»Gute Frau, Kriegsführung ist nicht länger eine Sache von zusammengewürfelten Armeen, die sich gegenseitig durch die Landschaft jagen. Krieg ist total, und wir sind kräftemäßig überlegen.«

»Russland ist auch heute noch groß. Die Winter sind immer noch bitterkalt.«

Metz lächelte hochmütig. »Sie scheinen eine intelligente Frau zu sein. Wissen Sie nicht, dass Geschichte sich nicht wiederholt?«

»Ah, da liegen Sie falsch, Oberstleutnant. 1707, die Schweden. Hier in Russland haben sie gelernt, sich in Neutralität zu üben. Wenn Sie klug genug sind, werden Sie dieselbe Lektion lernen – obwohl ich das irgendwie bezweifle.«

Metz’ Lächeln war verblasst. Er deutete zur Tür. »Sie zeigen uns jetzt den Rest des Hauses.«

Ihr nächstes Ziel lag auf der anderen Flurseite, ein ähnlich großer Raum voller Bücherregale, die allesamt leer waren.

»Die Bibliothek«, sagte Trubetzkaja. »Alles Russische haben wir weggeschafft, aber man findet vielleicht noch ein paar Sachen auf Deutsch.« Auf dem Boden standen einige Bücherkartons, und sie ging zu einem davon und stöberte darin herum. »Wer sagt’s denn«, verkündete sie und hielt einen dicken grünen Band hoch. »Zu Ihrer Erbauung«, fügte sie hinzu und drückte Metz ein Buch in die Hand, der kurz auf den Titel schaute, ehe er es an Ehrlich weiterreichte.

»Vernichten Sie das.«

»Ist es etwa De Sade?«, fragte Molineux.

»Krieg und Frieden«, sagte Trubetzkaja. »Sie werden es nicht lesen?«, fragte sie Metz.

»Natürlich nicht.«

»Schade. Sie könnten etwas lernen.«

»Ich habe es gelesen«, sagte Bauer.

»In den Verbrennungsofen damit«, sagte Metz zu Ehrlich, »sobald er in Betrieb ist.«

»Ab morgen Mittag«, erklärte Weidemann.

»Danke, Major«, sagte Metz und wandte sich zu Trubetzkaja. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, führen Sie uns nun bitte weiter durch den Rest des Hauses.«

Angeführt von Metz und Trubetzkaja verließen die anderen nacheinander den Raum; Bauer blieb zurück, bis nur noch er und Ehrlich übrig waren.

»Das nehme ich«, sagte Bauer und streckte seine Hand nach dem Buch aus.

»Der Oberstleutnant hat gesagt, ich soll es verbrennen.«

»Und ich befehle Ihnen, es mir zu geben.« Sollte Ehrlich ruhig einen Groll gegen ihn hegen; das war es ihm die Sache wert.

Widerwillig reichte Ehrlich ihm das Buch. »Das werde ich dem Oberstleutnant melden müssen.«

»Tun Sie das.«

»Er wird darüber nicht erfreut sein.«

»Lassen Sie das mal meine Sorge sein«, sagte Bauer und klemmte sich das Buch unter den Arm.

Sie gingen zu den anderen in eine Küche und folgten Trubetzkaja von dort ins obere Stockwerk. Ein Flur. Ein Badezimmer, drei oder vier leere Schlafzimmer.

»In welchem hat Tolstoi geschlafen?«, fragte Metz.

Sie legte den Kopf schräg, taxierte ihr Gegenüber. »Sie sind wirklich ein eitler Mann, nicht wahr?«

»Zeigen Sie uns einfach sein Zimmer.«

Sie zuckte mit den Schultern und führte die Gruppe ans Flurende. Dort öffnete sie eine Tür in ein winziges, weiß getünchtes Zimmer mit einem kleinen Fenster, kaum mehr als eine Zelle. Am Boden standen Weidemanns Koffer und daneben sein Grammophon, die Dicke Bertha, wie Molineux das Gerät zu nennen pflegte.

»Ich brauche nicht viel Platz«, sagte Weidemann. »Deshalb habe ich mir erlaubt, das Zimmer zu nehmen.«

Metz ignorierte ihn und fragte Trubetzkaja, ob das Zimmer wirklich Tolstoi gehört habe.

»In seinen letzten beiden Jahrzehnten, ja«, sagte sie.

»Ich kann das nachprüfen, wissen Sie? Hauptmann Bauer liest Russisch.«

»Wie beruhigend für Sie. Sprechen kann er es jedenfalls nicht.«

»Was ist mit dem ehelichen Schlafzimmer?«, fragte Metz.

»Am anderen Ende des Flurs. Obwohl das Zimmer dort eigentlich Sophia Andrejewna gehörte.«

»Seiner Ehefrau?«

»Richtig. Es ist deutlich größer«, fügte Trubetzkaja hinzu. »Mehr Ihr Stil, würde ich meinen.«

»Da täuschen Sie sich, gute Frau. Dieser Raum hier genügt mir. Major, bringen Sie Ihre Sachen in das Zimmer der Gattin«, sagte er zu Weidemann. Zu Trubetzkaja gewandt, sagte er: »Ihr Russen redet euch ja mit ›Genosse‹ an, aber eure Kameradschaft ist ein Schwindel, eine als Utopie getarnte Tyrannei. Wahre Kameradschaft findet man in der deutschen Wehrmacht, wo das Kommando absolut ist, aber die Strapazen geteilt werden.«

»Das trifft sich gut, denn Ihnen stehen mannigfaltige Strapazen bevor.«

Metz trug dem Stabsgefreiten Ehrlich auf, seine Sachen hochzubringen.

»Wegen des Geistes haben Sie keine Bedenken?«, fragte Trubetzkaja.

Metz hielt inne. »Es gibt einen Geist?«

Trubetzkaja musterte ihn, als vermutete sie einen Scherz, aber Bauer befürchtete, dass Metz es ernst meinte. Vor Monaten hatte er ihnen erklärt, dass er sich sein Horoskop hatte stellen lassen (langes Leben, bescheidener Ruhm, Enttäuschung mit den Kindern), und um den Hals trug er als Glücksbringer ein Souvenir aus dem letzten Krieg, ein Schrapnell, das an seinem Ohr vorbeigesaust war und sich ins Holz eines Unterstandes gegraben hatte.

»Natürlich gibt es hier einen Geist«, sagte Trubetzkaja.

»Den von Leo Tolstoi?«

»Ich habe ihn noch nicht gesehen.«

»Aber andere haben ihn gesehen?«

Trubetzkaja lächelte ihn neckisch an. »Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen das verrate, Oberstleutnant. Das Haus muss sich seine Geheimnisse bewahren.«

Metz sah nicht erfreut aus, drängte sie aber nicht auf eine Antwort. »Auf dem Gelände wird ein Wehrmachtshospital eingerichtet«, sagte er stattdessen. »Sowjetische Bürger, Sie eingeschlossen, müssen bis morgen früh neun Uhr von hier verschwunden sein.«

»Sie erwarten, dass ich den alten Mann im Stich lasse?«, fragte sie.

»Welchen alten Mann?«

»Lew Nikolajewitsch.«

Um sein Unverständnis zu verbergen, reckte Metz sein Kinn vor.

»Sie meint Tolstoi«, sagte Bauer.

»Ich werde nicht gehen«, fuhr Trubetzkaja fort. »Und mein Personal auch nicht.«

»Wie Sie wünschen«, entgegnete Metz. »Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« Er wandte sich zu seinen Offizieren. »Sehen Sie, was für ein Abschaum die Bolschewiken sind? Lassen ihre Frauen zurück, damit die sich dem Feind entgegenstellen?«

»Wir ziehen es vor, dass unsere Männer an der Front sind und Deutsche töten«, erklärte sie, wandte sich dann zur Tür und stieß Bauer im Vorübergehen an. Sie ging durch den Flur zur Treppe, und Molineux pfiff ihr bewundernd hinterher. Sie ignorierte es und war im nächsten Moment verschwunden.

3

Das Wort jasnaja – hell – kannte Bauer bereits; poljana musste er im Wörterbuch nachschlagen – nicht in dem dürftigen Phrasenbuch, das die Wehrmacht herausgab und das Ausdrücke wie Hände hoch und Ergebt euch oder ihr werdet erschossen enthielt, sondern in seinem eigenen Wörterbuch, das er seit dem Studium besaß. Dort stand Lichtung oder Waldwiese. Helle Lichtung oder helle Waldwiese also. Ein sonnenbeschienener Ort.

Aber nicht im Spätherbst. Es war der erste November, und draußen war es noch dunkel, als Bauer in dem Zimmer erwachte, das ihm und Molineux im Obergeschoss zugewiesen worden war. Das Frühstück wurde im Salon eingenommen, der jetzt die Offiziersmesse war. Hinter den Vorhängen und dem eilig angebrachten Verdunkelungspapier blieb es weiterhin finster.

Um 08:00 Uhr versammelten sich Bauer und die anderen Offiziere und Sanitäter im Vestibül. Endlich dämmerte es, aber trotzdem wirkte die Eingangshalle nebenan düsterer als am Abend zuvor bei Licht. Metz erschien, begrüßte sie gut gelaunt und blieb an der Haustür stehen, um mit Feldwebel Ritter zu sprechen. »Haben Sie die Umgebung gesichert?«

»Um die Hauptgebäude herum, Herr Oberstleutnant, dazwischen nicht«, sagte Ritter mit seiner kehligen, heiseren Stimme, die immer seltsam belegt klang.

»Aber wir haben eine Eskorte?«

»Eine Schwadron, Herr Oberstleutnant.«

»Ausgezeichnet. Und haben Sie das russische Personal zusammengetrommelt?«

»Ja. Wir haben die Leute bereits nach Waffen durchsucht. Auch ihre Quartiere.«

»Guter Mann«, sagte Metz, der hellwach klang und in seiner frisch gebügelten Uniform tadellos aussah. Bauer hatte schlecht geschlafen; Molineux’ Schnarchen hatte ihn wachgehalten, und trotz eines Kleiderwechsels fühlte er sich zerknittert und gerädert.

Metz führte sie auf die Veranda und die Eingangsstufen hinunter. Nieselregen. Kein Wind. Am tiefen Himmel eine dichte Wolkendecke. Auf dem Gras totes schlüpfriges Laub. Auf der runden Rasenfläche in der Mitte des Vorplatzes bewachte ein Sanitäter das sowjetische Personal des Anwesens: fünf weißbärtige Männer in Bauernkitteln und sieben Frauen, die jüngste von ihnen die Chef-Konservatorin Trubetzkaja.

Bauer folgte Metz und den anderen über die Kiesauffahrt, und im nächsten Moment stürmte Trubetzkaja auf sie zu, ignorierte den Wachmann, der ihr hinterherrief, stehen zu bleiben.

»Wollen Sie uns jetzt erschießen?«, schleuderte sie Metz entgegen. »Ist das der Grund, warum wir hier sind?« Ehe sie Metz erreichte, packte der Sanitäter sie von hinten. Der Oberstleutnant bedeutete dem Mann, sie loszulassen. »Sie werden nie genug von uns töten, verstehen Sie?«, zischte Trubetzkaja. »Wenn jeder Russe an die Front käme und Ihnen seine Mütze vor die Füße würfe, würden Sie drei Wochen brauchen, um über den Haufen hinwegzusteigen.« Sie trug die braune Steppjacke vom Vorabend und eine Wollmütze, unter der kastanienbraune Locken hervorquollen. Ihre Nase war gerötet, und im Tageslicht sah man die feinen Fältchen um Augen und Mund, sodass Bauer ihr Alter gedanklich nach oben korrigierte, näher an sein eigenes heran, und darüber eine eigentümliche Freude empfand.

»Sind Sie Kommunistin?«, fragte Metz sie.

Sie überlegte. »Oberstleutnant«, sagte sie schließlich, »ich bin Ihr Feind. Ob ich auch eine Kommunistin bin, ist unerheblich.«

»Sind Sie Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands?«

Sie sah ihn verächtlich an. »Ja, das bin ich.«

»Und diese Leute hier«, sagte Metz und deutete auf das Personal. »Sind das auch Kommunisten?«

Sie warf einen Blick über ihre Schulter. »Keiner von ihnen. Ich bin das einzige Parteimitglied hier.«

Metz sagte: »Wenn Sie lügen, wird das Konsequenzen haben, seien Sie sich dessen bewusst. Sie könnten im Lager landen oder standrechtlich erschossen werden. Im Moment neige ich zu Nachsicht. Gestern Abend habe ich Ihnen und Ihren Leuten befohlen, bis neun Uhr verschwunden zu sein.«

»Und ich habe gesagt, dass –«

»Aber«, sagte Metz und hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, »falls Sie einverstanden sind, unsere Arbeit nicht zu stören, dürfen Sie jeden Tag herkommen, um Ihren Aufgaben nachzugehen.«

Bauer erlaubte sich ein kleines zufriedenes Lächeln. Das Personal des Anwesens könne sich als nützlich erweisen, hatte er Metz am Vorabend eingeflüstert, falls die Chefin ihr aufbrausendes Temperament in den Griff bekäme.

»Herkommen?«, fragte sie. »Die meisten von uns wohnen hier.«

»Jetzt nicht mehr. Wo Sie unterkommen, ist Ihre Sache. Im Dorf, nehme ich an. Es wird eine Ausgangssperre von einundzwanzig Uhr bis sechs Uhr geben. Ansonsten können Sie ungehindert kommen und gehen und Ihre Arbeit verrichten. Melden Sie sich einfach beim Wachposten am Haupttor und bei dem, der das jeweilige Gebäude bewacht.«

Trubetzkaja überlegte kurz und sagte dann: »Wir werden nichts tun, um Ihnen zu helfen.«

»Sie tun, was Sie immer tun. Wenn Sie das als Hilfe für uns erachten, dann lassen Sie es eben bleiben. Sie haben Reinigungspersonal, nehme ich an?«

»Natürlich …«

»Dann sollen sie putzen. Diese alten Männer, was machen die?«

»Gartenarbeit und Instandhaltung«, sagte sie.

»Dann sollen sie gärtnern und Sachen reparieren«, sagte Metz. »Solange Sie nichts Anderweitiges hören, bleiben Sie uns aus dem Weg. Und seien Sie gewarnt: Der kleinste Akt des Widerstands oder der Sabotage wird aufs Schwerste geahndet.«

»Werden Sie uns auch aus dem Weg bleiben?«

»Wie meinen Sie das?«

»Laut Ihrem Kollegen hier«, sagte sie und deutete auf Major Weidemann, »haben Sie Vergewaltiger in Ihren Reihen.«

Metz atmete so scharf ein, dass seine Nasenflügel bebten. Kühl sagte er: »Er hat sich geirrt. Intimitäten zwischen Wehrmachtsangehörigen und slawischen Frauen sind verboten.«

Molineux räusperte sich vernehmlich, zog die Blicke der Umstehenden auf sich. Er machte schnell eine entschuldigende Geste und hüstelte.

»Außer in Ihren Bordellen, offensichtlich«, sagte sie.

»Davon weiß ich nichts«, entgegnete Metz.

»Und Regeln werden gebrochen, nicht wahr?«

»Nicht von Männern unter meinem Kommando.«

»Oh? Wo rekrutieren Sie denn solche strahlenden Vorbilder?«

»Es ist keine Frage der Rekrutierung, gute Frau, sondern eine der Führung. Führung«, wiederholte er, ja, schwelgte in dem Wort. »Nun, seien Sie so nett und informieren Sie Ihre Leute. Anschließend begleiten Sie uns bei einem Besichtigungsrundgang.«

Sie schien sich darüber aufzuregen, und Bauer befürchtete schon, dass sie sich weigern würde, aber dann erklärte sie ihren Leuten, dass sie die »faschistischen Besatzer« ignorieren und sich bis zur Rückkehr der Roten Armee weiter um Jasnaja Poljana kümmern sollten. Es werde nicht lange dauern, sagte sie. »Aber passt auf, was ihr sagt«, sagte sie und deutete auf Bauer, der erschrocken zusammenzuckte. »Der mit der großen Nase ist wie dein Esel, Tichon Wassiljewitsch – er kann kein Russisch, versteht es aber ein bisschen.« Ihre Landsleute bogen sich daraufhin vor Lachen, besonders derjenige, der Tichon Wassiljewitsch hieß, ein großer alter Mann mit einem dichten weißen Rauschebart und einer Stirn, die gefurcht war wie die eines Widders.

Metz verlangte zu wissen, was gesagt worden war, und Bauer erklärte ihm, es sei nichts gewesen. Die Heiterkeit legte sich. Eine Krähe krächzte, und wie als Antwort darauf wies Trubetzkaja ihre Leute an, die Arbeit aufzunehmen. Einige verteilten sich auf Wegen und schmalen Pfaden zwischen den Bäumen, andere gingen ins Haupthaus, dessen Äußeres Bauer nun zum ersten Mal bei Tageslicht in Augenschein nahm. Weiß getünchtes Mauerwerk, grünes Metalldach, hölzerne Veranda.

»Als Erstes führen Sie uns dorthin«, sagte Metz zu Trubetzkaja und hielt ihr die Broschüre mit der Karte des Anwesens hin, deutete darauf auf ein Gebäude.

»Das Wolkonski-Haus«, sagte sie.

»Bis wir einen besseren Namen gefunden haben, ja.«

Sie sagte nichts dazu, bedeutete ihnen nur, ihr zu folgen, und ging dann so schnell los, dass sie sich beeilen mussten, um mit ihr Schritt zu halten. Etwa hundert Meter gingen sie auf der Straße, die Bauer als die Hauptzufahrt kannte, hinter ihr her, bevor sie nach rechts in einen Weg einbogen, der durch einen schmalen Obstgarten führte. Kurz darauf erreichten sie das Wolkonski-Haus, ein längliches, größtenteils eingeschossiges Gebäude, das wie das Tolstoi-Haus weiß gestrichen war und das gleiche grüne Metalldach hatte. Aus den beiden oberen Fenstern im mittleren, zweistöckigen Teil ließen zwei Sanitäter an Seilen eine Rotkreuzflagge herunter.

Metz deutete auf das Gebäude. »Meine Herren, unser Krankenhaus.«

In der gebohnerten Eingangshalle hallte es, und wie im Vestibül des Tolstoi-Hauses standen auch hier aufgestapelte Möbel an der Wand. »Haben wir Sie überrumpelt?«, fragte er ihre Führerin.

Sie zuckte mit den Schultern. »Alles Wichtige haben wir bereits herausgeschafft.«

Metz kicherte leise. »Dann steht hier also nichts mehr, das einen besonderen Wert hätte?«

»Eigentlich nicht, nein.«

»Sind die Sachen des großen Mannes nicht alle heilig?«

»Er war ein gewöhnlicher Mensch und ein, wie Sie sagen, großer Mann. Aber kein Gott.«

»Wenn ich also einfach so meine Pistole zöge«, sagte er und zückte seine P38, »und auf den hübschen Schrank dort zielte, würde es Sie nicht kümmern?«

»Ich würde mir lediglich über Ihre geistige Gesundheit Gedanken machen.«

Bauer schaute zu Siegfried Weidemann hinüber, um zu erkunden, was der Stellvertreter des Kommandierenden Offiziers von Metz’ Gebaren hielt. Weidemann ließ sich nichts anmerken, hob vielleicht ein wenig seine eulenhaften Augenbrauen, ansonsten war seine Miene neutral.

»Aber ich vergaß«, sagte Metz, immer noch die Pistole in der Hand und den Schrank im Blick, »dass ihr Bolschewiken ja kalte Materialisten seid. Für euch ist das nur Holz und Leim, kein Gegenstand der Verehrung.«

»Der Schrank ist Eigentum der sowjetischen Regierung, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn nicht beschädigen würden.«

»Ha!«, rief Metz, als hätte sie ihm in einem wesentlichen Punkt recht gegeben. Er schob seine Waffe wieder ins Holster und ging, weiter grinsend, durch die Eingangshalle. Direkt vor ihnen befand sich eine große Doppeltür und dahinter ein hoher Raum, von dem Bauer annahm, dass es einmal ein Ballsaal gewesen sein musste. Nun würde er als Aufnahmeraum für die Verwundeten dienen, wie Metz verkündete. Eine Verbindungstür führte in einen kleineren, aber immer noch geräumigen Raum, der über Nacht zum Operationssaal umfunktioniert worden war, mit einem langen Aufbocktisch entlang einer Wand, auf dem Instrumente, Behälter mir Verbandszeug, Verbandgips, Flaschen mit Kochsalzlösung und Blutplasma, Stethoskope, ein Blutdruckmessgerät und zwei Petroleumkocher ausgelegt waren. Des Weiteren gab es vier Sägebockpaare, auf denen man die Tragbahren ablegen würde; zwei der Paare waren mit OP-Leuchten bestückt, daneben standen Sauerstoff- und Ätherflaschen. Bauer staunte über die breiten Türöffnungen und den gebohnerten Dielenboden, den cremefarbenen Wandverputz und die großen Fenster.

»Optimal«, murmelte Metz, »optimal.«

»Eine deutliche Verbesserung gegenüber den Bruchbuden, in denen wir bisher arbeiten mussten«, pflichtete Molineux ihm bei.

Es war, als ob das Wolkonski-Haus ursprünglich speziell als Krankenhaus konzipiert und erbaut worden wäre. In seiner Mittelachse verlief ein Korridor, der in große Räume führte, ideale Krankenstationen. Im ersten dieser Räume standen bereits zwei Reihen mit Feldbetten, während in einem Raum auf der anderen Seite des Korridors zwei Sanitäter das Röntgengerät aufstellten.

»Katerina Dmitriewna«, sagte Molineux, wie ein gewissenhafter Tourist die Broschüre des Anwesens in der Hand, »wofür wurde das Haus früher genutzt?«

»Tolstois Mutter lebte hier als Kind mit ihrem Vater, Graf Wolkonski. Es ist das älteste der Gutsgebäude.«

Bauer kam ein Bild oder vielmehr eine Impression aus Krieg und Frieden in den Sinn – ein alter Graf und seine Tochter im Landhaus.

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