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Das Befinden auf dem Lande. Verortung einer Lebensart

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»Das Dorf ist überall!« – Ein philosophisch-politischer Essay darüber, warum unsere Landlust reaktionär ist

Die Städte wachsen, aber immer mehr Menschen zieht es auch raus in die Provinz. Auch Björn Vedder ist zurück in eine ländliche Gemeinde gezogen. Mittlerweile aber lautet seine gewagte These: Die Provinz macht gemein.

Denn hinter den ach so beschaulichen Fassaden verbirgt sich oft eine andere Realität: eine krude Mischung aus Vermögens- und Familienwerten, Statuskonsum, Anpassungsdruck und sozialer Kontrolle. Eine kleine Verhaltensabweichung genügt, und man wird von der Mehrheit gejagt, gehänselt, geächtet, beschämt. Gemeinschaft birgt Gemeinheit. Warum nur wollen dann alle »raus«?

Anhand eigener Erfahrungen und mit viel schwarzem Humor demontiert Björn Vedder den Mythos vom besseren Leben in ländlichen Gegenden und entlarvt eine grundlegende Geisteshaltung, die für ihn nicht mehr nur in der Provinz zu finden ist, sondern als provinzieller Geist unsere Gesellschaft ergreift.

»Die Landlust, die hier in die Köpfe der Menschen gepflanzt wurde, ist keine Sehnsucht nach einem konkreten Leben auf dem Lande, sondern die Hingabe an eine pittoreske Vorstellung davon, geboren aus dem Unwillen, die Entzauberung der Welt zu ertragen.«

Björn Vedder, »Das Befinden auf dem Lande«


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Seitenanzahl: 160
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004821

Leseprobe

Motto

»… dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.«

– Friedrich Hölderlin, »In lieblicher Bläue«

Einleitung

Alle ziehen aufs Land, in die große Stadt nie wieder
Silbernes Besteck – Goldener Retriever
Alle mähen Rasen, putzen ihre Fenster
Jeder ist jetzt Zahnarzt – keiner ist mehr Gangster

– Materia, Kids (2 Finger an den Kopf)

Einleitung

Die Sonne glitzert auf dem See. Segelyachten krängen im Wind. Eine Möwe schreit, und ein Storch hockt auf dem Maibaum. »Leben, wo andere Urlaub machen« hatte der Vermieter unter das Foto geschrieben, und wir sind darauf reingefallen. Wir wohnten mitten in München, Maxvorstadt, zwischen Hauptbahnhof und Schwabing und fanden es eigentlich super. Meine Frau arbeitete an der Uni, die war fünf Minuten mit dem Rad entfernt, ich war Journalist und schrieb vor allem Kritiken – Oper, Konzert, Theater. Wir waren keine zwei Abende die Woche daheim und tagsüber in unseren Büros. Aber das änderte sich, als wir unser erstes Kind bekamen, abends zu Hause blieben und mehr in einer Wohnung sein mussten, die gar nicht darauf ausgelegt war, dass sich eine Familie dort den ganzen Tag aufhält.[1] Anfangs sind wir noch, wie früher, in Cafés und Bars gegangen, um unserem stickigen Apartment zu entkommen. Aber sobald die Kleine anfing zu krabbeln, ging das auch nicht mehr. Als nach knapp zwei Jahren dann unser zweites Kind unterwegs war und es meiner Frau immer schwerer fiel, jeden Tag in den vierten Stock eines Altbaus hochzusteigen, glaubten wir, endlich raus aus der Stadt zu müssen.

Wir hätten an den Stadtrand ziehen können, nach Stockdorf, Gauting oder Gräfelfing, wo die Vorstadt auf die Utopie trifft, wie die Pet Shop Boys singen.[2] Doch wir hatten einen anderen Traum als den vom Reihenhaus an der Autobahn. Zurück zur Natur, raus aufs Land! Also folgten wir unserem Traum, nahmen das Angebot des nicht allzu gierigen Vermieters an und zogen von München an den Ammersee. Von der Dreizimmerwohnung ohne Balkon in das großzügige Haus mit Garten, von der Innenstadt in die Natur, von der Stadt aufs Land.

Mit unserer Sehnsucht nach Beschaulichkeit waren wir schon 2018 nicht allein. Die Städte wachsen, aber immer mehr Menschen ziehen auch raus und suchen sich in der Provinz ein neues Zuhause. Und die Landlust blüht auch in der Stadt. Das zeigt der Erfolg von Magazinen wie Landlust oder Schrot und Korn, die jeden Monat eine Leserschaft von zwei Millionen finden, von Instagram-Kanälen wie dem von Judith Rakers, die aus dem Studio der Tagesschau (und ihrem Hamburger Penthouse) auf einen Bauernhof gezogen ist, um dort Homefarming zu betreiben, und eigentlich jedes Tischgespräch unter Erwachsenen jenseits der dreißig, bei dem immer mal die Frage auftaucht, ob man nicht (irgendwann) raus aus der Stadt und aufs Land ziehen sollte – oder zurück auf das Land.[3] Denn viele, die zur »Hälfte des Lebens«, wie Hölderlin den vierzigsten Geburtstag so schön nennt, auf das Land ziehen, kommen von da.[4] Ich auch. Aufgewachsen auf einem Dorf im Höxterschen, durchschritt ich ein tiefes Tal der Tränen, bis ich nach München kam, und bin doch wieder auf das Land zurückgezogen. Von einem Dorf zum anderen.

Warum habe ich das gemacht? Was heißt es, auf dem Land oder in der Provinz zu wohnen? Und was heißt es eigentlich, provinziell zu sein? Das sind Fragen, die ich mir in diesem Essay stelle. Ich halte es dabei mit dem amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau, der sich 1845 eine Blockhütte in den Wäldern von Concord, Massachusetts, baute, um ein alternatives Leben zu führen, und in dem Buch, das er darüber geschrieben hat (Walden oder Leben in den Wäldern, 1854), verlangt, dass ein Schriftsteller »einen einfachen, aufrichtigen Bericht über sein eigenes Leben [gibt] und nicht einen solchen über das Leben anderer Leute«.[5]

Bei mir heißt das, dass zwei Dörfer und zwei Lebenssituationen im Mittelpunkt stehen: meine Kindheit und Jugend im Höxterschen und das Leben als erwachsener Familienvater am Ammersee. Als Kind lebte ich in einem Dorf im »gebirgichten Westfalen«, wie Annette von Droste-Hülshoff schreibt, in das das verdammte Licht der Aufklärung nie gedrungen ist und in dem ich die Menschen deshalb traf, wie Gott sie geschaffen hat.[6] Jetzt lebe ich in einem ehemaligen Fischerdorf am Ammersee, das zivilisationsmüde Besserverdiener aus München heraus an den See lockt, damit sie dort (in mehr oder minder großer Eintracht mit den Einheimischen) ihren Traum vom schöneren Wohnen auf dem Lande realisieren. Glaube, Heimat, Vaterland auf der einen Seite, eine weiß-blaue Mischung aus Familien- und Vermögenswerten auf der anderen. 1983 und 2023. Trotzdem ähnelt sich erschreckend vieles. Der provinzielle Geist trägt vierzig Jahre später und fünfhundert Kilometer weiter im Süden ein anderes Gewand, darunter ist er jedoch derselbe geblieben. Ich bin aufgrund meiner Erfahrungen zu der Überzeugung gekommen, dass das Landleben die Niedertracht nährt, die Verspottung der vermeintlich Schwächeren begünstigt und ihrer öffentlichen Beschämung Vorschub leistet, weil es ein Leben in der Gemeinschaft ist. Und die Gemeinschaft macht gemein. »Die Hölle, das sind die anderen.« Dieser berühmte Satz von Jean-Paul Sartre ist kaum irgendwo so zutreffend wie auf dem Land, dem dunklen Reich der Unterdrückung und Gefangenschaft, der gemütlichen Gemeinheit.

Ich glaube, dass dieser Befund nicht nur das Landleben betrifft. Denn der provinzielle Geist regiert nicht nur das Dorf. Er hat auch in die Städte Einzug gehalten, in die Parteien, Thinktanks und Gremien. Die rezente Landlust entspringt einer breiteren Provinzialisierung des Geistes und übergreifenden Sehnsucht nach Gemeinschaft. Das ist als Reaktion auf vierzig Jahre Neoliberalismus durchaus verständlich, weil diese Organisation der Gesellschaft nach dem Recht des Stärkeren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Solidarität weitestgehend zerstört hat. Aber das Leben in einer wertebasierten Gemeinschaft, in dem alle dasselbe wollen sollen, ist auch nicht schön, und warum das so ist, das lässt sich am Leben auf dem Lande wie in einer Nussschale beobachten.

Das »gebirgichte Westfalen« und der Ammersee, das sind nur die Ausgangspunkte meiner Überlegungen oder das, worauf ich immer wieder zurückkomme, denn reflektieren, sagt Kant, heißt sich zurückbeugen auf den Inhalt der eigenen Erfahrung. Die Schleifen, die ich dabei ziehe, berühren auch die Erfahrungen anderer, wie sie diese in philosophischen und literarischen Texten niedergelegt haben. Ich habe zum Beispiel mit einer Journalistin gesprochen, die die banalen Mythen vom schöneren Leben auf dem Lande für das Fernsehen fabriziert, oder mit jungen Landfrauen aus Brandenburg, die mir einen sehr differenzierten Bericht darüber gegeben haben, warum es auf dem Land so schön, mitunter aber auch so traurig ist, tristesse provinciale. Und ich frage mich natürlich, wo die aktuelle Landlust, der auch ich zum Opfer gefallen bin, überhaupt herkommt. Denn wenngleich sie nie ganz weg war – und im Grunde so alt ist wie der Gegensatz von Stadt und Land –, gehorcht auch sie den Moden und folgt gesellschaftlichen Entwicklungen.

Raus aus der Stadt, rechts

Als ich Student war, zogen nur die Rechten aufs Land oder die Hippies. Der Kalte Krieg war gerade zu Ende gegangen. Die Liberalen wähnten sich als Sieger der Geschichte. Europa wuchs zusammen, und die Provinz wurde rechts, vor allem die ostdeutsche. Das erfuhr ich am eigenen Leib, als ich 1993 von ein paar Glatzen an einem Badesee bei Dresden zusammengeschlagen und im Krankenhaus vom behandelnden Arzt dann ausgelacht wurde, ich sei selbst schuld, wenn ich mich mit seinen Jungs anlege.

Während sich die weite Welt öffnete und vereinte, radikalisierten sich die Provinzler. In Brüssel wehte die europäische Fahne, in Hoyerswerda brannte das Asylantenheim. Davor standen zwei Provinzdeppen, wir alle kennen das Foto noch, und grinsten blöd. Der in der vollgepissten Hose reckte den Arm zum Hitlergruß. Die Provinz war das Land der hässlichen Deutschen: abgehängt, strukturschwach und verloren. Rechte Traurigkeit. Niemand wollte da wohnen. Aber manche kamen halt nicht weg.

Andere wollten jedoch genau da hin, nämlich die Rechten aus dem Westen. Denn sie konnten dort ungestört ihre Gedanken verbreiten und die Jugend verderben. Vor allem aber versprach das Landleben für die Rechten das gute Leben, und sie haben (mithilfe der Medien) einiges dafür getan, dass diese Überzeugung in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Ein früher Protagonist dieser rechten Landflucht war Botho Strauß, der meistgespielte Dramatiker der alten BRD und ein vielfach preisgekrönter Schriftsteller. Das deutsche Feuilleton liebte ihn, und die Berliner Schaubühne, das Theater der Achtundsechziger, feierte mit seinen Stücken die größten Erfolge.

1993 aber, in dem Jahr, als ich vor der Campingplatzdisko in Oberwartha von ein paar Faschos eins auf die Fresse bekam, weil ich aussah wie eine Zecke, gab Strauß seinen West-Berliner Wohnsitz auf, baute sich ein Haus in der Uckermark und publizierte im Magazin Der Spiegel einen folgenreichen Essay, der zur konservativen Revolution aufrief und zum Leben auf dem Lande. Denn auf dem Land zu leben und rechts zu sein, gehörte für Strauß zusammen. Sein Aufsatz heißt »Anschwellender Bocksgesang« und zeigt, welcher Geist in der rechten Landlust weht: Es ist der Geist der Sezession, der Abspaltung von der modernen Gesellschaft. Ganz offen wünscht Strauß den Bürgerkrieg herbei: »Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich. Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen könnte, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat. […] Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.«[7]

Diesen Krieg will Strauß anfachen, nicht mit Waffen, wie es die Reichsbürger aus der Thüringer Provinz dreißig Jahre später versuchen sollten, aber mit »militanten Akten der Gegenaufklärung« und einer Remystifizierung des Lebens und der Geschichte. Strauß ist ein geistiger Brandstifter. Die Blutopfer sollen andere bringen. Für seinen Bürgerkrieg mit der Feder zog er sich in einen »Schutzraum« auf dem Land zurück, einen Bauhaus-Bunker im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Denn nur hier, abseits der liberalen Kultur der Städte und der aufgeklärten Institutionen der Kritik, konnte er ungestört »rechts sein, nicht aus billiger Überzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen«. Seine »Durchdrungenheit« von Volk, Geschichte und Krieg trieb ihn hinaus aus der Stadt und raus aufs Land, tief hinein in die Erdmoränen und dort, zwischen Grünspecht und Biber, zu einem »Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will«.[8]

Vom konkreten Leben auf dem Lande erfahren wir wenig, auch in dem Buch, das Strauß darüber veröffentlichte (Die Fehler des Kopisten, 1997), ist im Grunde nur vom Müßiggang eines alten Mannes die Rede, der Einkehr bei sich selbst hält. Strauß macht lange Spaziergänge durch das Naturschutzgebiet, hält Feldherrenreden auf der Heide, liest daheim hinter dem Ofen (voller Abscheu gegen die Lebenden) die Bücher der Toten und »sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte«, die »Tiefenerinnerung« und die »religiöse oder protopolitische Initiation«.

Große Reden im Walde schwingen, auf dem Acker toben und schimpfen – in der Literatur sind das erste Anzeichen einer psychischen Erkrankung.[9] Aber so fängt sie eben an, die konservative Landlust im Nachwendedeutschland: Mythos, Geist und das Rauschen der Wälder. Bocksgesänge. Der große Pan soll nicht sterben, sondern in einem geheimen Deutschland wiederauferstehen – in Cordhosen, im Osten, auf dem Lande.

Für mich riecht das alles immer noch nach Pisse, aber Strauß gelang es, seine Kriegserklärung an die liberale Gesellschaft mit einem dunklen Furnier aus romantischer Waldeseinsamkeit und mythischem Deutschtum zu verkleiden. Dies brachte ihm nicht nur den Nimbus des konservativen Revolutionärs ein, sondern lockt auch regelmäßig Journalisten nach Chorin. Es ist bisher kein Jahr vergangen, an dem nicht der ein oder andere (tatsächlich sind es fast immer Männer) zu Strauß rausgefahren wäre, um sich von ihm auf der Panflöte etwas vorblasen zu lassen und in das alte Lied vom goldenen Leben auf dem Lande einzustimmen.

»Beatus ille, qui procul negotiis,

ut prisca gens mortalium,

paterna rura bobus exercet suis«,

dichtete schon der Römer Horaz, was auf Deutsch so viel heißt wie:

Glücklich ist der, der fern von Geschäften,

wie das Menschengeschlecht der Vorzeit,

das väterliche Feld mit seinen Stieren pflügt.[10]

Die Landlust, die hier in die Köpfe der Menschen gepflanzt wurde, ist keine Sehnsucht nach einem konkreten Leben auf dem Lande, sondern die Hingabe an eine pittoreske Vorstellung davon, geboren aus dem Unwillen, die Entzauberung der Welt zu ertragen. Eine Tiefschwätzerei, die die anstrengende Selbstbestimmung scheut und stattdessen bei den Ursprungsmächten des Bodens und der tradierten Gemeinschaft Zuflucht sucht und die, da es diese Ursprungsmächte nicht mehr gibt, sich anheischig macht, sie auf dem Lande neu entspringen zu lassen. Der Religionssoziologe Paul Tillich hat eine ähnlich romantische Geisteshaltung 1933 bei den Nazis festgestellt und sie als die paradoxe Forderung beschrieben, vom »Sohn her die Mutter zu erschaffen und den Vater aus dem Nichts zu rufen«.[11] Selbstredend ist die rechte Romantik von heute jedoch viel zahmer als die faschistische Romantik von früher, die mit einem Wort Joseph Goebbels’ gesprochen eine »stählerne Romantik« war, industriell und technisch, rassistisch und rabiat biologistisch: eine Avantgarde der technisierten Welt, der die rechten Romantiker von heute gerade entfliehen wollen, um draußen auf dem Land, in einem Naturschutzgebiet, die Welt neu zu verzaubern.[12]

Diese rechte Romantisierung des Landlebens reicht bis weit in die Nachkriegsgesellschaft zurück, zu Autoren wie Ernst Jünger, der sich aus den Stahlgewittern der beiden Weltkriege in den deutschen Wald flüchtete, um dort ein Partisanenlager für die rechte Resistance anzulegen. Sie findet aber auch ganz praktische Anwendung bei Menschen wie dem Publizisten- und Verleger-Paar Götz Kubitschek und Ellen Kositza, die auf einem »das Rittergut« genannten Bauernhof im sachsen-anhaltischen Schnellroda die Vorzüge des Familienlebens auf dem Lande predigen und die Rückkehr des Deutschen Reiches vorbereiten.

Fast jede große deutsche Zeitung hat schon eine Homestory mit den beiden gemacht, und das Fernsehen war natürlich auch schon da. Wenn dann die Journalist*innen kommen, geht Kubitschek mit ihnen in den Stall und melkt die Ziegen (Bocksgesänge), während Kositza erzählt, wie sie den Apfelsaft selbst presst, den Käse labt und das Brot backt – »die ersten Ökologen waren rechts« – und dass sie den Kindern das Nähen und Kochen beibringt. Ein biodeutsches Familienidyll. Abends singen dann alle Lieder zur Gitarre und beten gemeinsam mit dem Gesinde vor dem Kreuz.[13]

Das Motto des Hauses ist indes nicht die Ein-, sondern die Zwietracht: Kositza sagt es gerne lateinisch: »Etiam si omnes, ego non«: Auch wenn alle anderen (es so machen) – ich nicht.

Die Achtundsechziger sagten, es gebe »kein richtiges Leben im falschen«.[14] Die Rechten erklären uns seit dreißig Jahren, dass wir aus diesem falschen Leben aussteigen können, wenn wir auf das Land ziehen. Denn das Landleben ist das gute Leben, und das gute Leben ist das rechte Leben.

Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass alle, die aufs Land ziehen oder auf dem Land bleiben, automatisch rechts sind, und ich will auch der Landlust, wie sie in den Magazinen und Social-Media-Kanälen verbreitet wird, keinen faschistischen Unterton unterstellen. Aber es gibt doch auffallende Parallelen zwischen dem dörflichen Gemeinsinn und der rechtskonservativen Gesinnung, dem provinziellen und dem rechten Geist, und ich finde es immerhin bemerkenswert, dass sich die neue Landlust zu ganz erheblichen Teilen aus rechter Propaganda speist. Dabei frage ich mich: Wie kann ein offensichtlich so dumm-reaktionäres Geschwätz so wirkungsvoll sein? Meine Vermutung ist, dass die Zivilisationsmüdigkeit vieler Menschen dieser schlammbraunen Mischung aus Rousseauismus (Zurück zur Natur!) und Revisionismus (Heim ins Reich!) einen fruchtbaren Boden bereitet. Ich habe diese Müdigkeit auch selbst gespürt, als wir uns überlegt haben, aufs Land zu ziehen. Am Ammersee haben uns nicht nur die Großzügigkeit des Hauses (im Vergleich zur gleich teuren Stadtwohnung), die Nähe des Sees (der bei der Besichtigung in der schönsten Wintersonne glitzerte) und das Grün des Gartens fasziniert, sondern auch die Vorstellung, dem hektischen Treiben und der ewig anstrengenden Selbstbehauptung in der Stadt zu entfliehen und auf dem Land zur Ruhe zu kommen. Simplizität und Übersichtlichkeit: Erdbeeren im Garten anpflanzen und die eigene Mitte wiederfinden. Den unendlichen Unterscheidungen den Rücken kehren und den Kindern beim Matschen zusehen. Mit einem Bier in Pantoffeln vor dem Haus sitzen und alle Relativierungen mit der Sonne runtertrinken. Im Abseits stehen, hat Theodor Storm das in einem Gedicht genannt, das schon über hundert Jahre alt ist. Denn die Müdigkeit, die wir spürten, und die Sehnsucht, die wir stillen wollten, sind so alt wie das moderne Leben, das mit der Trennung der sich industrialisierenden Städte von den zurückfallenden Dörfern beginnt.[15]

»Ein halbverfallen niedrig Haus

Steht einsam hier und sonnbeschienen;

Der Kätner lehnt zur Tür hinaus,

Behaglich blinzelnd nach den Bienen;

Sein Junge auf dem Stein davor

Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.

Kaum zittert durch die Mittagsruh

Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;

Dem Alten fällt die Wimper zu,

Er träumt von seinen Honigernten.

– Kein Klang der aufgeregten Zeit

Drang noch in diese Einsamkeit.«[16]

Im Grunde hatten wir die Hoffnung, mit einem Umzug zu einer schöneren, besseren und vielleicht nur verschütteten Version unserer selbst zurückzukehren. Diese Hoffnung wurde freilich nicht nur von der rechten Landlust genährt, die vielleicht eine deutsche Spezialität ist, sondern auch von der langen Tradition empfindsamer Naturbeschreibungen, einer linken Landlust, die es natürlich auch gibt, und einer medialen Inszenierung des Landlebens als beschaulicher Insel in einer immer unübersichtlicheren und ungemütlicheren Welt.

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