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Code Kill – Ein tödliches Spiel

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Hendrik Kleins Thriller sorgt für Nervenkitzel bis zur letzten Seite

Maximilian Ryf ist Manager des neuen Hotels »Seewind Manor«, das auf der kleinen Insel Greifswalder Oie vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns liegt. Zur Eröffnungsfeier wurden fünf Gäste geladen. Schon bei der Ankunft auf der Insel tobt ein ungewöhnlich schwerer Sturm, der es den Gästen und Angestellten unmöglich macht, die sicheren Hotelmauern zu verlassen. Nach kurzer Zeit reihen sich merkwürdige Ereignisse aneinander. Max leidet mehr und mehr unter starken Kopfschmerzen, die Gäste haben das beklemmende Gefühl, beobachtet und manipuliert zu werden. Als eine Mitarbeiterin brutal ermordet in ihrer Angestelltenunterkunft aufgefunden wird, bricht endgültig Panik aus. Auf ihrer Tür wurde eine klare Botschaft hinterlassen: Nummer 1. Aufzeichnungen der Sicherheitskameras zeigen, dass sich eine Gestalt mit einer Harlekinmaske in dem Hotel aufhält. Wer schafft es zu fliehen und für wen heißt esGAME OVER?!


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908738
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Hendrik Klein

CODE KILL

Ein tödliches Spiel

Thriller

HarperCollins

Dieses Buch widme ich meiner lieben Freundin Tanja.

Du fehlst.

Kapitel 1

Panik!

Wo bin ich?, dachte der Mann.

Er hatte ein weißes Patientenhemd an und lief barfuß durch einen Gang, von dessen Decke grelles Neonlicht strahlte. In seiner Vene steckte noch eine Nadel, die er sich ruckartig herauszog. Sie fiel mit einem hellen Geräusch zu Boden, und Blut sickerte aus der kleinen Wunde. Der Flur machte einen Knick nach rechts.

»Da!«, rief jemand und zielte mit einem Gewehr auf ihn.

Der Mann mit dem weißen Hemd fuhr herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Links und rechts waren weiße Türen, alle verschlossen. Mit Gewalt rüttelte er an den Klinken, jedoch ließen sich die Türen nicht öffnen. Plötzlich ertönte ein Knall, und Putz platzte dicht neben ihm von der Wand.

»Was wollt ihr von mir? Lasst mich in Ruhe!«, schrie er und rannte um sein Leben.

Es gab keine Fenster. Er wusste nicht, was für ein Gebäude das war. Wo zum Teufel bin ich hier nur?

Nach ein paar Metern erreichte er eine gläserne Durchgangstür, hinter der ein Treppenhaus zu erkennen war. Diese Tür war zum Glück nicht verschlossen. Er riss sie mit einem Ruck auf und stolperte hindurch. Hektisch blickte er durch das Treppenhaus nach unten und sah mehrere Schatten, die auf dem Weg nach oben waren. Er vernahm Stimmen, die einen Namen riefen.

War das mein Name? – Ich kenne meinen Namen nicht!

Er betrachtete die Wunde in seiner Armbeuge und hastete mit großen Schritten nach oben. Ein Stockwerk darüber war die Tür zum Flur verriegelt, also lief er notgedrungen noch weiter nach oben. Die nächste Tür stand offen, und der Mann rutschte mit nackten Füßen ein kurzes Stück über den Kunststoffboden. Sein Kopf schmerzte, er fühlte sich schwindelig.

Nicht anhalten! Du musst hier raus!

Der Flur hier glich exakt dem Flur, aus dem er gerade geflohen war. Vor wenigen Minuten hatte er einem Arzt – war das überhaupt ein Arzt gewesen? – die Nase gebrochen, nachdem dieser sich über ihn gebeugt und nicht bemerkt hatte, dass er wach war. Anschließend hatte er sich von Kabeln und Sonden losgerissen und war davongesprintet.

»Halt! Stehen bleiben!«, befahl da eine Stimme von hinten.

Wieder ein Schuss, wieder abplatzender Putz, der schmerzhaft auf seine Arme und Beine traf.

Der Mann erreichte im letzten Moment eine weitere Tür, die nicht verschlossen war. Er zog sie auf, schlug sie hinter sich zu und blockierte sie mit einem Stuhl, der in seiner Nähe stand. Zittrig ertastete er einen Lichtschalter, und die Neonlichter flammten nach und nach auf.

Er erstarrte, weil er nicht glauben konnte, was er sah.

Um einen großen Apparat in der Mitte des Raumes waren sechs Betten im Kreis aufgebaut. In jedem Bett lag ein Patient, wenn man sie denn so bezeichnen wollte. Frauen und Männer. Alle trugen Patientenhemden wie er. Alle waren komatös, und in ihren Venen steckten Nadeln. Eine dunkle Flüssigkeit tropfte langsam in eine Kanüle und wurde in ihre Körper geleitet. An dem Apparat in der Mitte des Kreises piepten Bildschirme, Messdaten wurden digital angezeigt. Außerdem trugen sie alle eine Art Brille. Kabel und Sonden führten von diesen Brillen zu verschiedensten Stellen der Köpfe der Patienten.

Keine Zeit! Ich muss weiter!

Der Mann konnte Schritte auf dem Gang hören und stürmte wieder los. Er stolperte gegen ein Bett und stieß sich böse das Knie. Der Patient, der in diesem Bett lag, riss plötzlich die Brille zur Seite, öffnete die Augen und griff nach dem Kragen des Mannes. Er stöhnte und röchelte dabei, fiel schließlich zurück und war wieder bewusstlos.

Der Mann spürte, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte. Schüsse brachen durch die Tür, und jemand rammte von außen etwas dagegen. Die improvisierte Blockade würde nicht mehr lange halten.

»Nein, nein, nein!«, krächzte der Mann und sah sich panisch um.

Plötzlich flackerten Erinnerungen in seinem Kopf auf, und seine Netzhaut brannte wie Feuer. Er hielt sich beide Hände vor das Gesicht und schlug sich auf den Kopf. Er sah eine Frau (seine Frau?) und Kinder (seine Kinder?). Ein Haus, einen Teich, einen Hund. Dann wichen diese Bilder neuen: Er saß in einem Auto. Wohin war er unterwegs? Plötzlich ein Knall! Jemand war ihm in die Seite gefahren. Die nächste Szene: Ein Arzt stand neben dem Wagen und beugte sich zu ihm herein.

»Es wird nun alles gut«, hatte der Arzt behauptet.

Nächster Gedankensprung: Er war jetzt in einem hellen Raum. Er wehrte sich gegen etwas …

Und urplötzlich waren die Erinnerungen weg.

»Was passiert hier mit mir?«, brüllte er.

Das Brennen hinter seinen Augen ließ nach, und er konnte wieder klarer sehen.

Die blockierte Tür wurde bereits halb aus den Angeln gerissen, und jemand schoss auf ihn. Eine Kugel traf ihn am Oberschenkel, ein paar flogen vorbei. Ein Projektil traf eine Patientin, die neben dem Mann lag, der vorhin kurzzeitig aufgewacht war. Die Geräte hinter der Frau piepten auf einmal aufgeregt, und ein Monitor zeigte eine Nulllinie an.

»Fuck!«, schrie er und hielt sich das verwundete Bein. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch, und er konnte nur noch humpeln.

»Passt doch auf!«, rief eine Frau.

Er stolperte durch den Raum und erreichte ein Fenster zu einem Balkon.

Verschlossen!

Ohne zu zögern, sprang er trotzdem hindurch. Scherben zerschnitten ihm Hände und Gesicht, und er landete auf hartem Beton. Benommen richtete er sich auf und suchte nach Orientierung.

Als er über die Balkonbrüstung blickte, wurde ihm klar, dass es zu Ende war.

Er erkannte weit unter sich die dunklen Baumkronen eines Waldes. Der volle Mond stand hoch am Himmel, es war eine fast wolkenlose Nacht. Schnell zählte er die unter sich liegenden Balkone ab und erkannte, dass er sich im siebten Stock eines hohen Gebäudes befand. Um ihn herum war nichts, und den darunter liegenden Balkon konnte er nicht erreichen.

Zwei Männer tauchten auf und zielten mit ihren Waffen auf ihn. Blutverschmiert drehte er sich zu ihnen um. Er bewegte sich langsam rückwärts und stieß gegen die Balkonmauer. Hinter den Bewaffneten tauchten Männer und Frauen mit weißen Arztkitteln auf. Einer dieser Männer zwängte sich an den Bewaffneten vorbei.

»Ganz ruhig«, sagte er und hob beschwichtigend die Arme.

»Er könnte sterben! Ein Fehlschlag!«, wetterte eine Frau erzürnt.

»Nein, das wird er nicht. Wir haben viel zu viel investiert. Du weißt, wie teuer dieses Projekt … Hey! Warte!«

Der Mann im Patientenhemd war auf die schmale Mauer geklettert und wankte nun. Vor ihm zwei Gewehre, hinter ihm die tödliche Tiefe.

»Hören Sie zu, Sie sind verwirrt, das verstehe ich«, sagte der Arzt. »Aber bitte kommen Sie da runter. Wir können das klären. Wir helfen Ihnen.«

»Kommen Sie nicht näher! Wer sind Sie? Was mache ich in diesem Krankenhaus? Wer bin ich?«, schrie der Mann und verlor beinahe das Gleichgewicht.

»Sie denken vielleicht, Sie hätten einen Unfall gehabt oder Ähnliches. Stimmt aber nicht. Sie sind in keinem Krankenhaus. Ihr Name ist Joris.«

Joris? Der Name sagt mir nichts.

»Was passiert denn hier mit mir?«

»Sie lagen im Koma. In einem künstlichen Koma. Sie sind aufgewacht und davongelaufen.«

Das kann doch nicht sein. Wieso bin ich so verwirrt?

Er wollte gerade etwas erwidern, als blitzartig erneut Feuer hinter seinen Augen aufloderte. Erinnerungen kamen wie in einer Fotoabfolge zurück.

Die Frau. Es war seine Frau! Die Kinder. Es waren seine Kinder! Das Haus an dem kleinen Teich, der Hund, ein Golden Retriever. Das war sein Zuhause. Das nächste Bild. Schmerz, Schreie, Blut, überall Blut. Seine Frau: tot. Seine Kinder …

Was habe ich getan?

Der Unfall. Er trug nicht die Schuld! Jemand war ihm absichtlich ins Auto gefahren und danach geflohen.

Der Mann mit dem Patientenhemd blickte auf und sah die Leute vor sich an. »Ihr habt meine Familie getötet«, sagte er ganz ruhig, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Der Schmerz in seinem Herzen war unerträglich.

»Nein. So war es nicht. Ihrer Familie geht es gut«, sagte der Arzt und seufzte.

Er drehte sich zu den anderen um. »Notieren Sie die Uhrzeit. Es ist wichtig, dass wir eine genaue Fehleranalyse durchführen.«

Er wandte sich wieder dem Mann auf der Mauer zu. »Kommen Sie runter. Ihrer Familie geht es gut. Sehen Sie sich um! Wir brauchen Ihre Hilfe. Wir müssen herausfinden, was schiefgelaufen ist. Dann können wir …«

Zu spät.

Er ließ sich fallen. Er stürzte rückwärts hinab, sah den Balkon kleiner und kleiner werden. Er wusste, was er getan hatte. Er wusste, was sie getan hatten. Das durfte er nicht mehr zulassen. Gleich würde er aufprallen, und dann konnte er endl…

Kapitel 2

Regen.

Seit drei Tagen permanent Regen. Es war frustrierend und zugleich wirklich unpassend. Denn heute war endlich der Tag gekommen: Nach wochenlangen Verzögerungen und Nacharbeiten war das Hotel schließlich fertiggestellt worden. Sein Hotel.

Heute war der Tag, an dem das erste Mal Gäste in den nagelneuen Zimmern übernachten sollten. Und ausgerechnet heute hatte er verschlafen.

Max grüßte den Busfahrer, der sich daraufhin sein Hemd mit Kaffee vollkleckerte und das mit einem lautstarken »Scheiße« quittierte, und nahm im hinteren Drittel des Busses Platz. Seine Kopfschmerzen waren im Laufe des Morgens stärker geworden, und er warf sich eine kleine weiße Tablette in den Mund. Aus dem Netz im Sitz vor ihm zog er seine Flasche, auf deren Boden sich noch ein letzter Schluck Wasser befand, der durch das Geschaukel hin und her schwappte. Max drehte den Deckel ab und trank den Rest aus. Beiläufig nahm er sein Handy aus der Hosentasche und blickte zum wiederholten Male auf die Uhr.

Sieben Uhr siebzehn.

Es könnte auch mitten in der Nacht sein. Die tief hängende Wolkendecke verdunkelte die Welt so sehr, dass man sich schnell vertun konnte. Die Sonne war nicht ansatzweise auszumachen. Irgendwo im Osten musste sie sein.

Max glaubte zu fühlen, wie das Medikament half und sein Kopfschmerz wieder verschwand. Er entspannte sich etwas. Der Sitz war bequem und der Bus ziemlich neu. Es roch nach frischer Polsterung und Chemie. Nachdem er vor drei Monaten nach Mecklenburg-Vorpommern gezogen war, hatte Max sein Auto verkauft und benutzte nur noch öffentliche Verkehrsmittel. Er brauchte keinen eigenen Wagen. Seine Wohnung war nur fünf Minuten von der Bushaltestelle entfernt, und in seiner Straße befand sich ein großer Supermarkt. Er konnte den Einkaufswagen bis vor seine Tür schieben. Und sollte er doch mal ein Stück weiter wegmüssen, konnte er sein gutes Fahrrad benutzen. Alles andere war wunderbar mit dem Bus zu erreichen. Das war sein bescheidener Beitrag, um den Klimawandel aufzuhalten.

Eine junge Frau beobachtete ihn und lächelte verlegen, als er dies bemerkte. Sie saß auf der rechten Seite, vier Reihen vor ihm. Max lächelte zurück und wurde etwas rot. Bis heute ließ es ihn nicht kalt, wenn jemand ihn anschaute, obwohl er mittlerweile daran gewöhnt war, dass das ab und an vorkam. Es waren seine Augen, die Menschen dazu brachten, ihn anzustarren. Sie waren giftgrün. Auf Fotos, besonders wenn sie mit Blitzlicht aufgenommen waren, stach sein Gesicht deswegen besonders hervor. Das helle Grün war so aufdringlich, dass es den Anschein erweckte, zu leuchten. Ansonsten war Max eher ein durchschnittlicher Typ. Einen Meter fünfundsiebzig groß, drahtiges, sportliches Aussehen, verwuscheltes dunkles Haar, das sich auch mit Gel kaum bändigen ließ und unnatürlich zu allen Seiten wuchs.

Max ertappte sich dabei, dass er wieder zu der Frau hinübersah. Erneut trafen sich ihre Blicke. Er stellte sich jetzt die Frage, wer eigentlich damit angefangen hatte, herüberzusehen. Plötzlich stand sie auf und ging den Gang hinunter auf ihn zu.

»Ist neben Ihnen noch frei?«, fragte sie freundlich.

Sie hatte glutrotes Haar, blaue Augen und Sommersprossen in ihrem Gesicht. Sie war ein gutes Stück kleiner als Max. Er blickte verwirrt auf den freien Platz neben sich und dann zurück zu der jungen Frau.

»Lassen Sie sich Zeit, darüber nachzudenken. Kein Problem. Ich warte hier solange und hoffe, dass wir jetzt keinen Unfall bauen und ich vorne durch die Scheibe fliege.« Sie schmunzelte und strich sich die Haare hinter die Ohren.

»Tut mir leid«, sagte Max und schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich bin noch etwas müde. Natürlich ist hier frei. Setzen Sie sich.«

Sie nahm Platz und erstarrte kurz, während sie die Netztasche am Sitz vor ihren Knien musterte. Darin steckte eine offensichtlich leere Packung Penicillin-Tabletten. Die junge Frau wirkte richtig erschrocken, fing sich aber schnell wieder. »Sind Sie krank?«, fragte sie und deutete auf die Verpackung.

»Das sind nicht meine. Die lagen dort schon, bevor ich mich hingesetzt habe.«

»Gut, ich kann es aktuell wirklich nicht gebrauchen, krank zu werden«, sagte sie nervös lächelnd und strich sich abermals ihre Haare hinter die Ohren. »Sorry, dass ich Sie angestarrt habe«, begann sie dann. »Ich hoffe, es war Ihnen nicht unangenehm. Hier sind nicht viele in meinem Alter, und ich dachte, ein wenig Unterhaltung schadet nicht.«

Sie ließen den Blick durch den Bus streifen. Bis auf den beleibten Fahrer und sie waren noch sieben weitere Menschen an Bord. Vier auf der linken Seite des Busses, alles Frauen von mindestens achtzig Jahren, dann drei auf der rechten Seite, alles Männer um die fünfzig Jahre alt. Die Herren trugen Anzüge, saßen ganz vorne und würden an der nächsten Haltestelle aussteigen. Max hatte sie schon öfter mit dieser Linie fahren sehen. Sie arbeiteten bei einer Bank und kamen aus einem Ort, der ein paar Kilometer von Max’ Wohnung entfernt lag. Von den Damen hatte er auch zwei wiedererkannt. Vermutlich waren sie auf dem Weg zur Kirche oder zum Friedhof. Die rothaarige junge Frau, die nun neben ihm saß, hatte er allerdings noch nie gesehen. Dies ließ nur einen Schluss zu.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich habe ebenso herübergesehen. Ich heiße Maximilian Ryf. Kurz Max.«

»Clair de Lous. Kurz Clair. Wir können uns gerne duzen«, sagte sie grinsend, und sie reichte ihm die Hand, was Max sofort erwiderte.

»Darf ich fragen, wo du hinfährst? Oder anders gefragt: Fährst du zum Seewind Manor?«, wollte er wissen.

Seewind Manor war das Hotel, das heute den ersten Tag einer langen Ära als Gästehaus erleben sollte. Das wünschte er sich für sein Hotel. Na ja, fast sein Hotel jedenfalls. Max hatte als Hotelleiter den Bau viele Monate lang begleitet. Tausende Entscheidungen hatte er treffen müssen, weil sich unvorhergesehene Probleme während der Bauphase aufgetan hatten. Und Max’ Arbeitgeber, das Unternehmen namens HotelDiamant, beauftragte ihn damit, diese Entscheidungen zu treffen. Das war ein enormer Vertrauensvorschuss, da Max zum ersten Mal ein Hotel leitete, nachdem er sein Studium im Hotelmanagement abgeschlossen hatte.

Er war direkt angeworben worden. HotelDiamant hatte seinen Sitz in Stuttgart und dachte nicht im Traum daran, für jedes Detail in dieser abgelegenen Gegend nach dem Rechten zu sehen. Also war Max es, der Tag (und Nacht) bei der Baustelle anrücken durfte, wenn wieder einmal der Architekt etwas völlig falsch geplant hatte, die falschen Materialien geliefert wurden oder der vorgegebene Kostenrahmen nicht eingehalten werden konnte.

Max tat das allerdings gerne. Er hatte seinen Traumjob gefunden: ein Hotel auf einer Insel in der südlichen Ostsee zu leiten. Die Insel gehörte noch zu Mecklenburg-Vorpommern und trug den wunderschönen Namen Greifswalder Oie. Max nannte sie einfach Turminsel, da der ausgediente Leuchtturm am Ende der Insel andächtig in den Himmel ragte und dem Gesamtbild das gewisse Etwas verlieh. Eigentlich hatte die Turminsel bis auf Tannen, Laubbäume, einen kleinen See und Spazierwege nicht viel zu bieten.

Und gleichzeitig war genau dies der Grund dafür, dass HotelDiamant die Insel gepachtet und ein Hotel darauf gesetzt hatte. Absolute Ruhe, seichtes Wasser, schöne Angelgründe, Bootstouren und frische Luft boten wohlhabenden gestressten Gästen den perfekten luxuriösen Raum für eine Auszeit.

Die Insel lag etwa neun Kilometer vor dem Örtchen Peenemünde im Meer. Sie war ausschließlich mit einer Fähre zu erreichen, die morgens und abends vom Festland aus die Turminsel ansteuerte. Mit nur zehn Zimmern und kleinen Räumlichkeiten für die vier Mitarbeitenden war Seewind Manor ein recht kleines Hotel. Dafür kostete eine Übernachtung in den normalen Zimmern – und erst recht in den zwei Suiten – ein kleines Vermögen.

Für die ersten Gäste, die sich über die Webseite beworben hatten, waren ab heute vier der acht normalen Zimmer reserviert – jedes dieser Zimmer war mit einem großen Bett ausgestattet, sodass man es als Einzel- oder auch Doppelzimmer mieten konnte. Max selbst hatte die Idee für das Gewinnspiel gehabt. Hunderte Stammgäste der HotelDiamant hatten an der Verlosung teilgenommen, und das mediale Interesse war enorm gewesen. Eine bessere Werbung konnte Max sich nicht wünschen.

»Genau. Seewind Manor. Ich bin eine der Glücklichen, die zwei Nächte kostenlos bleiben darf. Außerdem bin ich Reporterin bei Mecklenburg Aktuell und schreibe einen Artikel über das geheimnisvolle Hotel, das seinen exklusiven Gästen Ruhe und Anonymität schenkt. Unsere Zeitung hat die Ausschreibung gewonnen. Bist du auch auf dem Weg dorthin?«

Max schmunzelte und nickte. »Ja, und ich bin ebenfalls beruflich unterwegs. Ich bin der Hotelmanager.«

»Oh, das trifft sich ja gut!«, sagte sie begeistert. »Der Manager begleitet mich persönlich zu seinem Hotel, und ich kann gleich mein erstes Interview führen.«

»Na ja. Leider habe ich verschlafen. Ich weiß, ein absoluter Fehlstart, schon klar. Ich sollte im Hotel die Gäste empfangen und nicht parallel mit Bus und Fähre anreisen.«

»Ich finde es sympathisch. Das ist sicher kein schlechtes Omen.«

»Ich hoffe, du hast recht«, sagte er verlegen.

Sie blickte ihn mit ihren blauen Augen an, und Max betrachtete verlegen die Sommersprossen auf ihrer Nase.

Sie griff in ihre Tasche, zog einen Notizblock hervor und fragte: »Also, wie kommt man dazu, in so jungen Jahren ein Hotel zu führen?«

Max hörte auf, ihre Sommersprossen zu zählen, und zuckte mit den Schultern. »Ich wurde direkt nach einem Seminar angeworben, bei dem ich offensichtlich einen guten Eindruck hinterlassen habe. Eine Dame, die als Gastdozentin vor Ort war, kam am Ende der Veranstaltung auf mich zu und fragte, ob ich Interesse hätte. Natürlich musste ich nicht lange überlegen, denn meine Zeit an der Uni war fast vorüber. Hotelmanager sind rar, der Fachkräftemangel macht’s möglich. Ich schloss mein Studium ab und nahm den Job an. Keine spannende Sache also. Außerdem hat das Hotel nur zehn Zimmer und ist somit ein eher kleines Projekt. Für den Start meiner Karriere, um Erfahrung zu sammeln, eine gute Wahl. Außerdem gefällt mir die Ruhe da draußen. Somit fiel mir die Entscheidung nicht schwer.«

»Willst du auch irgendwann mal ein eigenes Hotel besitzen?«, fragte sie und machte sich Notizen.

»Irgendwann vielleicht. Genau genommen war dies mein eigentlicher Plan. Aber der Vorteil bei Seewind Manor ist, dass ich Erfahrung sammeln kann, bevor ich mich selbst in ein finanzielles Risiko stürze. Das ist sinnvoll. Ich würde hier maximal meinen Job verlieren, wenn dieses Projekt scheitert. – Aber bitte schreib das nicht so in deinem Artikel«, meinte er lachend.

»Keine Angst. Ich formuliere es um«, entgegnete sie. »Und deine Familie? Ehefrau, Kinder, Eltern, Geschwister? Wohnen sie in der Nähe?«

Bevor Max antworten konnte, wurde ihm leicht übel, und er musste sich konzentrieren, um sich nicht zu übergeben.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Clair besorgt.

»Ja, ja. Geht schon. Ich habe mir, glaube ich, doch etwas eingefangen. Hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt passieren können. Keine Frau, keine Kinder, keine Geschwister in der Nähe, kein Kontakt zu den Eltern.«

Der kurze Schwindelanfall ging so schnell, wie er gekommen war, und sein Magen beruhigte sich wieder. Er musterte sein Gegenüber und war mehr und mehr von ihr angetan. Clair trug einen weißen Rock, der knapp über ihren Knien endete. Dazu einen gelben Blazer und gelbe Schuhe ohne Absatz. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, was ihm unangenehm war, und hoffte, sie bemerkte es nicht.

Der Bus bremste ab und fuhr rechts ran. Die Türen öffneten sich, und die älteren Frauen sowie die Banker stiegen aus. Ein Paar, um die sechzig Jahre alt, stieg zu und grüßte freundlich. Hinter ihnen folgte eine junge Frau. Ihr schwarzes Haar war an den Seiten kurz rasiert und in der Mitte zu einem strammen Zopf gebunden, der ihr lang zwischen die Schulterblätter fiel. In der Nase hatte sie einen kleinen Ring. Zu pinken Boots trug sie eine schwarze Jeans mit Flicken und eine schwarze Lederjacke mit Nieten.

»Weitere Gäste, vermute ich mal«, flüsterte Clair.

Sie musste recht haben, da sie allesamt Taschen und Koffer dabeihatten. Außerdem wusste Max, dass ein älteres Paar, zwei junge Frauen und ein Mann Mitte vierzig, der offensichtlich später anreisen würde, die Verlosung für sich entschieden hatten.

»Sieht so aus.«

»Bist du nervös?«, wollte Clair wissen.

»Nervös? Wieso sollte ich das sein?«

»Na ja, falls etwas schiefgeht? Schließlich hast du schon verpennt«, merkte sie neckisch an.

»Danke fürs Aufbauen! Wir haben fünf Gäste. Das Hotel ist für absolute Ruhe und Entspannung konzipiert worden. Ich werde vor Langeweile vermutlich nicht in den Schlaf finden.«

Sie lachte. »Bestimmt hast du recht.«

Kapitel 3

Der Bus kroch die L264 im Schneckentempo hoch, da der Fahrer die Straße kaum noch sehen konnte. Regen peitschte gegen die Scheiben, und die Scheibenwischer stoben auf maximalem Anschlag hin und her.

»Da haben wir uns ja einen schönen Tag ausgesucht«, sagte Clair und blickte schmollend nach draußen.

Den Notizblock hatte sie weggepackt, nachdem Max sich den Mund fusselig geredet und sie zwei Seiten vollgeschrieben hatte.

»Heute und morgen soll das Wetter noch schlecht sein. Danach klart es wieder auf. Hoffe ich zumindest«, entgegnete er.

»Wohnst du eigentlich in dem Hotel? Oder fährst du immer nach Hause?«, wollte Clair wissen.

»Die meiste Zeit verbringe ich dort. Ich habe zwar auch eine Wohnung, aber vorerst will ich in Seewind Manor bleiben. Mal sehen, wie sich die ganze Sache einspielt. Uns fehlen noch eine Küchenhilfe und ein Gärtner – hier und da werde ich also mit anpacken müssen. Wenn die Gäste keinen allzu großen Ärger machen, kann ich vielleicht mal nach Hause fahren«, flachste er.

»Keine Angst, ich bin handzahm und anspruchslos«, behauptete Clair und zwinkerte.

»Erstens kann ich dir das nicht glauben und zweitens: Wer sagt denn, dass die anderen Gäste harmlos sind?«

»Hallo?«, sagte sie gespielt empört. »Warum sollte ich denn bitte nicht handzahm sein?«

Max sah verlegen weg und antwortete lieber nicht darauf. Sein Magen knurrte auf einmal, und er wünschte, er hätte etwas mehr gefrühstückt. Essen am Morgen war einfach nicht sein Ding. Schon gar nicht, wenn er es eilig hatte. Wenn es nach ihm ginge, könnte er komplett auf ein Frühstück verzichten, da sein Hungergefühl erst später einsetzte. Nur sein Magen wollte offensichtlich nicht, dass er auf ein Frühstück verzichtete. Er knurrte und rumorte.

»Hunger?«, fragte Clair lächelnd.

»Keinen echten Hunger, nur zu wenig gefrühstückt. Ich bräuchte einfach ein Päckchen Nüsse oder so etwas in der Art, damit das Grummeln aufhört.«

»Bitte keine Nüsse, dagegen bin ich hochallergisch.«

»Wirklich? An der Bar haben wir immer welche stehen. Da musst du aufpassen. Ist das denn gefährlich?«, wollte Max wissen. »Ich meine, Spuren von Nüssen kommen ja überall vor. In Schokoriegeln, in Speisen im Restaurant, Flips, Soßen und so was halt.«

»Ich werde es mir merken, das mit der Bar. Ja, es ist gefährlich. Ich habe immer ein Notfallmedikament bei mir.«

Sie deutete auf ihr Handgelenk, an dem eine kleine Kette mit einem Anhänger daran baumelte. »Darin ist ein Gegenmittel, das ich umgehend einnehmen muss. Ansonsten schwellen mein Gesicht, mein Hals und eigentlich so ziemlich alles andere an. Wenn es ganz schlimm ist, ersticke ich.«

»Ist dir schon mal so etwas passiert? Also ein Erstickungsanfall?«

»Einmal, ja. Tatsächlich in einem Restaurant. Ich studiere die Speisekarten immer ganz genau. Bei einem Gericht waren Spuren von Nüssen enthalten. Nur stand es nicht auf der Karte, und die Bedienung wusste es nicht besser. Ein Notarzt hat mir das Leben gerettet, nachdem ich in dem Laden zusammengebrochen war. Seither gehe ich ohne Gegengift nicht aus dem Haus.«

Der Bus stoppte und fuhr dann langsam wieder an, um eine Brücke zu überqueren. Der Fahrer hielt schließlich rechts und schaltete den Motor aus. »Ladys und Gentlemen, wir sind angekommen. Ich hoffe, Sie haben einen Regenschirm parat.«

Max und Clair sahen sich an, zuckten mit der Schulter und standen auf.

»Ein paar Tropfen bringen uns schon nicht um«, meinte sie.

Die Fähre wartete bereits. Sie war klein und blau angestrichen. Es gab nur einen überdachten und geschlossenen Aufenthaltsbereich, in dem maximal dreißig Personen Platz finden konnten. Sie trug den einfallsreichen Namen Kleine blaue Fähre und fuhr, wenn Max sich richtig erinnerte, insgesamt vier Inseln an. Die Turminsel war als Erste an der Reihe. Eine der anderen drei war ebenfalls bewohnt. Ein Mann mittleren Alters, den Max ein paarmal gesehen hatte, ohne das Bedürfnis zu verspüren, ihn anzusprechen, hatte sich dort ein Holzhaus gebaut. Zumindest hatte das der Fährkapitän mal erzählt. Die anderen beiden Inseln wurden nur angefahren, weil dort Angler Fische aus dem Meer holten und Meeresbiologen Instrumente und Messstationen kontrollierten.

Max und Clair hasteten, mit einer Hand die Jacke über den Kopf gezogen, in der anderen Hand das Gepäck, über den matschigen Weg. Direkt vor ihnen lief das ältere Ehepaar und erreichte bereits die Fähre. Der Kapitän hatte die Trittrampe ausgefahren und grinste ihnen entgegen.

Plötzlich entdeckte Max etwas kleines Silbernes auf dem Weg. Es glitzerte auffällig, und beinahe wäre er draufgetreten. Er bückte sich danach und hob es auf. Es war ein Ohrring, der die Form eines länglichen Blattes besaß. Er war schwer, hatte einen blauen Stein in der Mitte und musste vermutlich eine Menge Geld gekostet haben. Von seinem Gegenpart fehlte allerdings jede Spur. Max lief weiter, holte Clair ein, die nun bemerkte, dass er stehen geblieben war, und auf ihn wartete.

»Na, bisschen feuchter Wind draußen, was?«, fragte der Kapitän, ohne eine Antwort zu erwarten.

Beide liefen an ihm vorbei und ächzten laut, als sie endlich den Innenbereich erreicht hatten. Dicht hinter ihnen kam die junge Frau mit den pinken Boots ebenfalls an Bord. Max half der älteren Dame mit ihrem Koffer, woraufhin sie sich lächelnd bedankte.

»Gehört zufällig jemandem dieser Ohrring?«, fragte Max in die Runde, doch niemand antwortete. Alle standen sie da wie begossene Pudel und schüttelten sich. Im Innern war es schön warm. Der Kapitän zog die Trittrampe ein und schloss die Stahltür zum überdachten Raum. Die plötzliche Stille, da der Sturm ausgeschlossen war, fühlte sich merkwürdig, aber auch angenehm an. Bis auf die fünf und den Bootsführer war niemand hier.

»Willkommen, zusammen. Ich bin der Kapitän und heiße Hannes. Ich fahre euch zur Insel Greifswalder Oie, und wie ihr seht, habt ihr freie Platzwahl.«

Ganz klischeehaft trug Hannes einen weißen Vollbart und sah aus wie Käpt’n Iglo: dunkelblauer Anzug, blaue Kapitänsmütze und freundliche graue Augen. Er deutete auf die freien gepolsterten Sitze, die in mehreren Dreierreihen hintereinander aufgereiht waren.

»Hi, Hannes«, begann Max und wandte sich dann seinerseits an die anderen Passagiere. »Guten Morgen, alle miteinander. Mein Name ist Maximilian Ryf, und ich bin der Hotelmanager von Seewind Manor. Eigentlich sollte ich schon längst dort sein, jedoch wurde ich aufgehalten, weswegen ich nun die Ehre habe, parallel mit Ihnen anzukommen«, log er. Clair grinste und zwinkerte ihm zu. »Hannes hier ist der beste Bootsführer, den man bekommen kann. Allerdings duzt er direkt jeden, und ich muss mich deswegen für ihn entschuldigen«, sagte Max zum Spaß. »Ich heiße Sie recht herzlich willkommen und freue mich, Sie als allererste Gäste unseres Hotels begrüßen zu dürfen. Auch im Namen der HotelDiamant wünsche ich Ihnen einen wunderschönen und erholsamen Aufenthalt, auch wenn das Wetter aktuell nicht sonderlich einladend ist.«

Ein paar Hände klatschten einen kurzen Beifall. Regen prasselte gegen die breiten Seitenscheiben der Fähre, und die unruhige See ließ das Schiff leicht schaukeln. Es war allerdings überraschenderweise so schnittig konstruiert, dass man das Gewackel kaum wahrnahm.

Max fuhr fort: »Die Überfahrt wird etwa fünfzehn Minuten dauern, vielleicht heute etwas länger. Haben Sie bitte keine Sorge. Dieses Schiff könnte uns auch sicher einmal um die Welt schippern. Ihre Koffer können Sie einfach in die Gepäckfächer abladen, und dann legen wir auch gleich ab. In den Kühlschränken«, er deutete zu den zwei weißen Kästen, die sich an einer Seitenwand befanden, »sind Getränke und Obst. Daneben stehen eine Kanne Kaffee, Milch, Zucker und Tassen. Bitte bedienen Sie sich.«

Max sah Käpt’n Iglo an, der lächelnd nickte.

»Genau. Ich werde in aller Ruhe größere Wellen umkurven, und die Haie haben heute vermutlich keine Lust, erneut diesen Dampfer anzugreifen«, sagte er, und Max schlug sich innerlich mit der flachen Hand auf die Stirn.

In den Augen des älteren Paares konnte er sehen, dass sie sich etwas unbehaglich fühlten. Die junge Frau mit den dunklen Haaren ließ gelangweilt ein Kaugummi platzen und blickte aus dem hinteren Fenster. Clair lächelte höflich.

»Ach ja, hier. Diesen Ohrring habe ich draußen vor der Fähre gefunden«, sagte Max an Hannes gerichtet und hielt ihm den silbernen Blattohrstecker hin. »Weißt du, wem er gehören könnte? Vielleicht einem der Gäste, die die letzten Tage mit dir gefahren sind?«

Hannes war kurz sichtlich perplex. Er, den sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, blickte Max’ Hand an. Er wirkte irgendwie fahrig, dann zuckte er mit den Schultern, nahm den Ohrring entgegen und begutachtete diesen.

»Ich habe keine Ahnung. Es hat sich niemand gemeldet. Ich lege ihn in die Fundkiste. Vielleicht meldet sich ja doch noch eine Dame. Zumindest sieht er sehr wertvoll aus.« Er verließ den Aufenthaltsraum und ging nach vorne in das Führerhaus. Der Motor startete röchelnd, und die Schiffsschrauben fingen an, sich zu drehen, sodass die Fähre leicht vibrierte.

»Hallo, Herr Ryf. Mein Name ist Elisabeth Roth, und das ist mein Lebenspartner Richard Pfeifer«, sagte die ältere Dame und gab ihm aufgeregt die Hand. »Sie dachten sicher, Richard und ich wären verheiratet. Wir sind erst seit sieben Monaten ein Paar.«

Max lachte kurz auf. Er hätte die beiden tatsächlich für ein altes Ehepaar gehalten, da sie wie ein eingespieltes Team wirkten.

»Ihn Ehemann zu nennen, wäre wohl noch etwas zu früh. Auch wenn die Zeit in unserem Alter etwas schneller verrinnt«, sagte sie zwinkernd.

Sie hatte graue Strähnchen in ihrem blonden Haar, das sie offensichtlich nicht färbte, sah aber gepflegt aus und kleidete sich stilvoll. Sie trug einen cremefarbenen Mantel, darunter einen weißen Pullover und einen farblich passenden Rock. An ihrem Hals hing eine silberne Kette mit einem Kruzifix als Anhänger. Ihr Haar war mit einem Tuch umwickelt, das sie vor der Stirn verknotet hatte, und die cremefarbene Tasche mit Schulterriemen rundete das Outfit perfekt ab. Max fragte sich, ob sie in der Modebranche arbeitete.

Richard war ebenfalls elegant angezogen, trug Chinohose, Boots und einen braunen Mantel. Doch er wirkte eher so, als hätte Elisabeth ihn eingekleidet.

»Hallo Frau Roth. Schön, Sie kennenzulernen«, begrüßte Max sie.

Auch Richard gab ihm die Hand und knurrte ein »Hallo«. Offensichtlich war sie die Rednerin von beiden.

»Wir sind so aufgeregt, dass wir diesen Aufenthalt gewonnen haben. Wir haben schon öfter bei der HotelDiamant gebucht. Es war jedes Mal eine Freude.«

»Das freut mich wirklich sehr. Meine Mitarbeiter und ich werden alles dafür tun, dass Sie sich auch dieses Mal wohlfühlen, Frau Roth.«

Die Dame strahlte über das ganze Gesicht, und Max nahm ein Minzbonbon und den fruchtigen Duft ihres Parfums wahr.

»Nennen Sie mich ruhig Elisabeth. Meinen alten Knochen hier dürfen Sie auch Richard nennen.« Sie stieß ihrem Lebensgefährten einen Ellenbogen in die Rippen, und er knurrte zustimmend.

»Sehr gerne. Nennt mich einfach Max.«

Sie nickte strahlend, gab anschließend auch jedem anderen Gast die Hand und ließ sich bei jedem etwas zu viel Zeit. Vermutlich wollte sie nur höflich sein.

»Ich würde vorschlagen, dass wir uns hinsetzen und …«, begann Max gerade, als er unterbrochen wurde.

»Hey«, rief die junge Frau mit den dunklen Haaren. »Was ist das denn?«

Sie blickte durch die Tür, durch die sie gerade alle hereingekommen waren. In deren Mitte war ein großes Bullauge eingelassen, und man konnte das Festland noch halbwegs durch den Regen erkennen. Max ging an dem älteren Paar vorbei und schaute ebenfalls durch die Scheibe. Der Steg war gut zu sehen, und Max erkannte nichts Ungewöhnliches.

»Was gibt es denn …«, setzte Max seine Frage an.

»Nichts. Ich habe mich wohl vertan.«

Sie blickte für einen weiteren Moment nach draußen und wandte sich dann ab. Jedoch konnte er deutlich erkennen, dass sie irritiert wirkte. Sie stopfte ihren Koffer in ein Ablagefach, warf sich in die letzte Reihe auf einen freien Platz und setzte sich Kopfhörer auf die Ohren. Schmatzend biss sie weiter auf einem Kaugummi herum. Auch das Ehepaar und Clair hatten Platz genommen. Der Kapitän schaltete Musik ein, und so dudelte durch die Boxen an der Decke ein Song der Beatles.

»Sie sind Helena Lindholm, richtig?«, fragte Max die junge Frau mit der flippigen Frisur. Sie war vielleicht zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt.

»Auf diesen Namen höre ich nur ungern. Nenn mich Amy.«

»Amy? Darf ich fragen …«

»Weil er mir gefällt. Meine Katze hieß damals Amy. Als sie starb, nannte ich mich halt so.«

Max spürte, dass er sie besser in Ruhe lassen sollte. Warum Amy als Gast in einem noblen Hotel mitten im Nirgendwo einchecken wollte, war ihm ein Rätsel. Sie wirkte nicht so, als wäre sie gerne hier. Er blickte ein letztes Mal durch das Bullauge der Tür und blieb überrascht stehen. Für einen kurzen Moment hatte er gemeint zu sehen, dass eine Welle am Steg unnatürlich brach.

Merkwürdig, dachte er.

Die Strömung war hier stark und die See sehr rau. Als er genauer hinsah, war aber im Meer nichts Unnatürliches mehr zu sehen. Clair sah besorgt zu ihm herüber und hob fragend die Augenbrauen. Max lächelte und schüttelte den Kopf. Er konnte in diesem Moment auch nicht erklären, was genau er dort eigentlich gesehen hatte.

Kapitel 4

Die Fähre brauchte siebzehn Minuten, bis die Insel in Sicht kam. Clair war wohl im Laufe der Überfahrt etwas schlecht geworden, denn sie wirkte blass um die Nase. Max setzte sich zu ihr und fragte sich im selben Moment, ob das richtig war. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, obwohl er sie erst seit wenigen Stunden kannte. Aber Clair war offensichtlich froh, dass er bei ihr war, da sie ihn anstrahlte, nachdem er sich gesetzt hatte.

»Wie geht’s dir?«, wollte er wissen.

»Ich komme schon klar. Hauptsache, wir sind gleich da.« Sie wirkte dennoch ziemlich gequält.

Hannes fuhr jetzt etwas langsamer, wendete um neunzig Grad und schipperte seitwärts an den Steg der Insel heran. Die Insassen blickten alle gespannt durch die Seitenfenster auf die kleine Insel. Sie war nicht viel größer als zehn Fußballfelder. An der östlichen Seite stand das Hotel. Es lag etwas erhöht. Unzählige kleine Strahler beleuchteten die Fassade, die beige verputzt war. Das Gebäude hatte insgesamt fünf Etagen: Keller, Erdgeschoss, erster und zweiter Stock sowie einen Dachboden. Das Dach war mit schwarzen Ziegeln gedeckt, der Haupteingang war aus rundlichem Sandstein gemauert und noch intensiver als die Fassade von warmem Licht angestrahlt. Alles wirkte nagelneu, gemütlich, einladend und elegant. Selbst bei Regen sah das Hotel wunderschön aus. Wenn das Wetter klar war und die Sonne unterging, würde die gesamte Schönheit dieses Gebäudes erst richtig zur Geltung kommen, fand Max.

Unterhalb des Seewind Manor befand sich ein Steg. Hier war ein kleines Motorboot festgebunden, das die Aufschrift des Hotelnamens trug und von einer roten Plane bedeckt war. Vom Steg ausgehend führte ein Fußweg aus Kies in mehreren Windungen hinauf zum Hotel. Diesen Weg säumten alle paar Meter kleine Laternen, links und rechts ragten hohe Kiefern und Sträucher in die Luft.

»Okay, wir sind da«, sagte Max, stand auf und öffnete nun eine Tür an der Seite des Schiffes.

Draußen standen zwei Frauen, die Regenschirme und einen großen Rollwagen für das Gepäck dabeihatten. Die Gäste verließen die Fähre, schnappten sich jeder einen Schirm und legten ihre Koffer auf den Wagen. Der Niederschlag hatte etwas nachgelassen und war in einen leichteren Sprühregen übergegangen. Alle, bis auf Käpt’n Iglo, standen auf dem Steg und warteten. Max öffnete seinen Schirm, der, wie die anderen, die Aufschrift Seewind Manor trug.

»Die Überfahrt haben wir geschafft. Ich möchte euch gerne meine Mitarbeiterinnen vorstellen.«

Er deutete nach links auf die Frau neben sich. Sie war korpulent, bestimmt zwei Köpfe kleiner als Max, hatte blonde Haare und eine ganz warmherzige Ausstrahlung.

»Zu meiner Linken steht Emilia Lockwald. Sie arbeitet am Empfang und ist, wie natürlich sowieso jeder von uns, eure Ansprechpartnerin, wenn Fragen auftauchen. Bei ihr könnt ihr gleich einchecken.«

»Hallo, zusammen«, sagte Emilia und lächelte herzlich in die Runde.

Max deutete nach rechts und fuhr fort: »Zu meiner Rechten seht ihr Nala Jobarteh. Sie arbeitet im Service und wird sich darum kümmern, dass eure Zimmer immer in einem perfekten Zustand sind. Zusammen mit unserem Koch wird sie uns kulinarische Köstlichkeiten zaubern. Eigentlich haben wir noch eine weitere Kollegin im Service, aber die ist aktuell in Elternzeit. Dafür werden Emilia und ich natürlich auch mit anpacken. Aber lasst uns schnell ins Warme gehen, damit wir nicht alle nass und krank werden!«

Nala war Schwarz, hatte wunderschöne Locken und dunkle Augen, in denen man sich schnell verlieren konnte. Sie war direkt von der HotelDiamant geschickt worden, um die Arbeit an der Hotelbasis kennenzulernen. Sie war eine unglaublich kluge junge Frau, hatte in Yale studiert und als eine der Besten abgeschlossen. Gebürtig kam Nala aus Kenia, ihre Muttersprache war Kiswahili. Sie hatte in wenigen Monaten mühelos perfektes Deutsch gelernt und sprach fast akzentfrei. Sie würde eines Tages sicherlich in eine hohe Managementposition wechseln, nachdem sie die Grundlagenarbeit in diesem Hotel hinter sich gebracht hatte.

Alle lächelten dankbar (bis auf Amy, die weiterhin gelangweilt war) und machten sich auf den Weg. Zum Hotel waren es nur fünfzig Meter. Der Gepäckwagen war mit einem Elektromotor ausgestattet und wurde von Nala gezogen. Nach wenigen Momenten erreichten sie bereits den Eingang des Hotels. Die Schiebetür wich automatisch zur Seite, und alle huschten in die Lobby.

Es roch hier nagelneu, und es sah auch so aus. Rechtsseitig war vor einem flackernden Kamin eine kleine Sitzgruppe aufgestellt. Dunkelrote Ledersessel waren daneben um einen gläsernen Tisch angeordnet. Sie standen auf einem weißen weichen Teppich und wirkten einladend. Daneben lag die Bar: massives, dunkles Eichenholz, eine polierte Auflage, Dutzende Flaschen und Gläser in den dahinter hängenden Regalen, drei Zapfhähne für Bier und Cider sowie rote gepolsterte Sitzhocker mit bequemen Rückenlehnen. Linksseitig führte eine Flügeltür zum Speisesaal. Die wenigen Tische darin waren bereits gedeckt, und es roch nach Rührei, frischen Brötchen und leckerem Kaffee.

Geradeaus befand sich der Empfang – eine lange, auf Hochglanz polierte Rezeption. Seitlich davon lag der Fahrstuhl, und eine Tür führte zum Treppenhaus. Außerdem gab es noch eine Gästetoilette, deren Fußboden aus hellem Marmor und deren Wände aus Fliesen in Betonoptik bestanden.

Emilia lief schnell zur Rezeption herum und winkte die Gäste zu sich, damit sie einchecken konnten. Das ältere Paar hatte es direkt ans Feuer gezogen. Widerwillig, aber natürlich elegant höflich, rissen sie sich wieder von den flackernden Flammen los, um den lästigen Check-in zu absolvieren.

Max nahm Nala zur Seite und fragte: »Wo ist Gast Nummer fünf? Er war nicht auf der Fähre. Wie hieß er? Marc Webber?«

Eigentlich sollten an diesem Morgen fünf Gäste einchecken, und die nächste Überfahrt war erst um achtzehn Uhr wieder möglich. Es sei denn, es gab einen Notfall, dann konnte man die Fähre jederzeit anfordern.

»Ja, Marc Webber. Ich weiß nicht, wo er ist.«

Plötzlich ein Knall.

Alle drehten sich erschrocken um und blickten zum Feuer. Ein Holzscheit hatte laut geknackt, und Funken schlugen den Kaminsims hinauf. Der Teppich bestand aus nicht brennbarem Kunststoff und lag weit genug entfernt. Emilia lenkte die Aufmerksamkeit der Gäste wieder auf sich.

Nala fuhr fort. »Er ist Engländer. Vermutlich hat sich sein Flug verspätet oder er hängt am Flughafen fest. Ich rufe dort an und frage mal nach.«

»In Ordnung«, sagte Max. »Er wird sich wohl melden. Dann muss die Fähre halt noch mal losfahren. Das wird Hannes nicht gefallen, aber er wird dafür gut bezahlt. Bringst du die Koffer gleich rauf? Und hast du gefrühstückt?«

»Max, ich bin kein Baby mehr. Du musst nicht immer auf uns alle aufpassen.«

Er lachte kurz und blickte zu den Gästen, die offensichtlich alle von Emilia eingecheckt worden waren. Jeder Gast hatte dafür seinen Daumen für ein paar Sekunden auf einen Scanner gelegt. Die Türen in diesem Hotel hatten keine Schlüsselkarten, sondern ließen sich per Fingerabdruck des jeweiligen Gastes öffnen. Emilia teilte ihnen gerade die Essenszeiten mit und erklärte, dass der Koch außerdem bis Mitternacht bereitstünde, um auf Wunsch leckere Steaks, geräucherten Lachs, Beef-Burger, Seefrüchte aller Art, deftige Hausmannskost oder leichte Salate und andere Delikatessen zu zaubern.

»Ich bringe das Gepäck rauf, führe die Gäste einmal herum, und dann werden sie frühstücken gehen«, sagte Nala.

»In Ordnung. Saunalandschaft und Pools sind bereit?«

»Natürlich«, entgegnete sie. »Bleib locker, Max. Das werden zwei entspannte Tage.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte er und blickte auf die Uhr.

Zehn Uhr acht.

Die nächste Stunde sollte für sehr lange Zeit seine letzte entspannte werden.

Kapitel 5

Was für ein langweiliger Ort, dachte Amy und ließ ihr rotes Kaugummi platzen.

Nachdem ihnen die beeindruckende Sauna, der Fitnessraum, die Poollandschaft und andere Ecken des Hotels gezeigt wurden, liefen die restlichen Gäste in den Frühstücksraum. Amy hatte jedoch keinen Hunger und zog sich zurück, ohne sich die Unterkunft noch genauer zeigen zu lassen. Ein Zimmer im zweiten Stock war ihr zugewiesen worden. Sie drückte ihren Daumen auf ein Display neben der Tür, und ein Klicken sowie ein grünes Licht verrieten ihr, dass sie die Tür öffnen konnte. Sie fand sich in einem kleinen Flur wieder, und über ihrem Kopf ging ein warmes Licht an. Der Boden war mit Parkett ausgelegt, die Garderobe wirkte pompös und teuer. Ihr schwarzer Koffer stand schon davor und wartete darauf, ausgepackt zu werden. Daran dachte Amy jedoch nicht. Sie würde aus dem Koffer heraus leben und nicht, wie ein Snob, alles sauber ausräumen.

Eine Tür führte links zum Bad. Zu ihrer Überraschung glitt die feine Holztür automatisch zur Seite auf und verschwand in der nebenliegenden Wand, als sie sich ihr näherte. Dahinter lag ein nagelneues Badezimmer: dunkle, breite Bodenfliesen in Betonoptik, weiße, teils geflieste Wände, ein breiter Spiegel, der indirekt beleuchtet wurde, ein teures Waschbecken, das in die Anrichte unter dem Spiegel eingearbeitet war, ein hochwertiger gläserner Wasserhahn, der sich per Hand- oder Sprachbefehl wärmer und kälter stellen ließ, eine große Duschkabine mit Sprühdüsen an allen Seiten der Wand, Regendusche und einem automatischen Fensterreiniger. Die Klobrille wurde permanent vorgewärmt, und auch der Fußboden war schön warm.

»So ein Schwachsinn«, sagte sie und verdrehte die Augen.

Ein Dixi-Klo auf einem Festival wäre ihr lieber. Sie schloss die Eingangstür ihres Zimmers und betrat das Hauptzimmer. Es war in zwei Bereiche unterteilt. Sie stand nun im Wohnbereich und hatte ein großes Ecksofa vor sich, das zu einem riesengroßen Fernseher hin ausgerichtet war. Dahinter stand ein eleganter Tisch, an dem man sein Essen zu sich nehmen konnte, wenn man nicht im Essbereich des Hotels speisen wollte. Aktuell war ein überdimensionaler Obstkorb mit Früchten darauf platziert. Ein halber Raumtrenner aus edlem Holz grenzte den Wohn- vom Schlafbereich ab. Amy fand dahinter ein Bett vor, in dem sicher fünf Menschen gleichzeitig mit ausgestreckten Armen liegen konnten. Das Lächerlichste war aber die ovale Badewanne, die vor dem Fußende des Bettes mitten im Raum stand. Sie sah makellos und schneeweiß aus. Wenn sie es richtig erkannte, leuchtete sie sogar ein wenig. Dutzende Knöpfe an der Seite ließen das Wasser sprudeln, die Farbe ändern, man konnte damit den Service rufen, die Temperatur regulieren, Schaum hinzugeben, Milch hinzugeben, Schlamm hinzugeben, den zweiten Sechzig-Zoll-Fernseher in diesem Raum bedienen, die fahrbare Minibar, die in der Nähe stand, zur Wanne rollen lassen und bestimmt noch einiges mehr. 

»Unfassbar«, sagte sie.

Hätte sie sich doch nur das Zimmer einmal gründlich zeigen lassen. Nala hatte es ihr angeboten, doch sie hatte abgelehnt – warum auch sollte ihr jemand zeigen, wie ein Hotelaufenthalt funktionierte …

Amy warf sich aufs Bett und blickte aus den Panoramafenstern hinter der Badewanne. Eine Terrassentür führte auf den Balkon, der mit futuristischen Möbelstücken, einem Geländer aus Glas und bunten Pflanzen in voluminösen Töpfen bestückt war. Dahinter konnte sie das Meer erkennen. Würde es nicht regnen, könnte sie sicherlich bis zum Horizont blicken. Allerdings fielen schon wieder Tropfen in der Größe von Patronenhülsen. Weit draußen auf dem Meer blitzte es, und Wind peitschte die See auf. Es war fast nachtdunkel. Sie merkte, wie müde sie war, und ihre Augen fielen ihr zu.

Plötzlich vibrierte das Handy. Sie hatte fünfunddreißig Minuten lang geschlafen.

»Ja?«, lallte sie schlaftrunken in den Hörer.

»Hi Amy«, sagte die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

»Melli. Hallo. Ohne Scheiß, was mache ich hier?«

»Dich erholen. Du warst kurz vor einem Nervenzusammenbruch.«

»Das hier ist nichts für mich. Hier sind nur Loser und alte Leute. Das Zimmer sieht aus wie aus einem scheiß Film mit reichen Leuten. Hier gibt es nichts für mich. Wasserski und Jet-Ski kann ich bei dem Wetter vergessen.«

»Ach Kleines, dann schreib doch in Ruhe dein nächstes Buch. Das wäre perfekt, finde ich als deine Agentin. Du brauchst diese Auszeit. Ich kümmere mich um dich, auch wenn es dir nicht passt. Schließlich habe ich alle Kontakte spielen lassen, damit du in diesem Hotel als Erste einchecken konntest. Und dass ich dafür extra meinen Ex kontaktiert habe, soll bitte nicht umsonst gewesen sein. Zeig dich also ein bisschen dankbar.«

»Melli, komm schon! Das ist nicht fair. Jeder hat mal …«

»Schätzchen, ich muss Schluss machen. Ruh dich aus, trink dem Barkeeper den Wein weg, bums ’nen Typen oder treib Sport. Und schreib. Das ist das Wichtigste, hörst du? Wir brauchen dringend mal wieder ein Erfolgserlebnis.«

Es klickte, und das Gespräch war beendet.

»Fuck, ey!«, fluchte Amy und warf ihr Handy auf eines der vielen Kissen.

Sie überlegte kurz, ob sie sich einfach vom Balkon stürzen sollte, nur um Mellis dämlichen Blick aus dem Jenseits zu betrachten, entschied sich dann aber für eine heiße Dusche, denn ihr war kalt. Also zog sie sich aus, warf ihre Klamotten auf den Schreibtisch und ging ins Bad zurück. Zwanzig Minuten verbrachte sie unter dem heißen Wasserstrahl, ließ sich von allen Seiten durch die Wand- und Deckendüsen ansprühen, bis ihre Haut fast rot geworden war. Sie trocknete sich ab, schlüpfte in einen Bademantel, der an der Tür hing, und schlenderte zurück zum Bett, um sich hineinfallen zu lassen. Mit ausgebreiteten Armen starrte sie zur Zimmerdecke und tastete mit einer Hand nach ihrem Handy.

Aber sie fand es nicht und richtete sich wieder auf. Auf dem Kissen lag es nicht. Sie schaute zu dem Kleiderstapel auf dem Tisch und entdeckte ihr Handy dort. Hatte sie es nicht auf eines der Kopfkissen geworfen? Sie zuckte mit den Schultern, stand auf und schnappte sich das kleine Gerät. Plötzlich klopfte es an der Tür. Sie beschloss jedoch, nicht aufzumachen. Zwei Tage musste sie hier durchhalten. Sie hatte es Melli versprochen, obwohl sie eigentlich nicht gern zu etwas gedrängt wurde. Einmal ein Fehltritt, und schon …

Ein zweites Klopfen.

»Ich brauche nichts! Danke!«, rief sie und hoffte, dass sie den Besucher so vertreiben konnte.

Sie überlegte, zu schreiben. Ja, das war eine gute Idee. Viel zu lange hatte sie sich mit dem neuen Buch Zeit gelassen. Sie sollte endlich die nächsten Zeilen aufs Papier zaubern. Melli war eine wunderbare Agentin. Aber auch sie verdiente nur Geld, wenn ihre Autorinnen lieferten. Und Amy hatte lange nicht mehr geliefert. Hier hatte sie tatsächlich die Ruhe, die sie brauchte. Vielleicht sollte …

Wieder Klopfen.

»Okay. Amy, bleib ruhig. Keine körperliche Gewalt anwenden.« Sie stand auf, durchquerte den Wohnbereich und riss die Tür auf. »Was ist denn …«, fragte sie, aber hielt im Satz inne.

Vor der Tür stand niemand. Sie starrte den Flur rauf und runter. Weicher, warmer Teppichboden in dunkelroter Farbe, gedimmtes Licht an den Wänden und Kunstgemälde, die farblich abgestimmt waren – sonst war hier nichts zu sehen. Gegenüber lag die Tür eines anderen Gästezimmers, doch die war geschlossen. Neben dem Fahrstuhl gab es zwei weitere Türen, die ebenfalls verschlossen waren und vermutlich zu anderen Wohnbereichen führten. Die Suite war außer Sicht, denn sie befand sich ganz am Ende des Flures, der zwanzig Meter neben Amys Zimmer einen Knick nach rechts machte. Wenn Amy richtig aufgepasst hatte, als sie herumgeführt worden waren, besaß jedes Stockwerk vier einfache Zimmer und eine große Suite. Letztere und zwei normale Zimmer waren auf dieser Etage aktuell nicht bewohnt. Nur ihr eigenes und das gegenüberliegende Zimmer beherbergten Gäste.

Sie hörte weder vom Fahrstuhl noch von der Tür zum Treppenhaus Geräusche, also musste der Klopfer noch hier sein. Amy ging leise den Flur hinauf, bis dieser rechts abknickte. Von da aus sah sie die Türen zu der Suite, und dahinter endete der Gang.

Hier war niemand.

Amy ging zurück und klopfte an der Tür gegenüber. Es dauerte einen Moment, dann machte der alte Mann die Tür auf.

»Ja, bitte?«, fragte er. Er wirkte immer noch so grummelig, wie Amy es auf dem Boot schon erlebt hatte. Wenn sie sich richtig erinnerte, hieß er Richard Pfeifer. Zumindest hatte seine Lebenspartnerin das dem süßen Hotelmanager erzählt.

»Sorry, haben Sie bei mir geklopft?«, fragte Amy rotzig und verschränkte die Arme vor ihrer Brust, da sie sich an seinen Blicken störte. Der Alte musterte sie nämlich von Kopf bis Fuß und schaute besonders lang ihren Nasenring an. Amy spürte, dass er sie in die Kategorie Irre einordnete.

»Nein, wir haben nicht geklopft.«

Amy sah ihn noch einen Moment lang an, drehte sich um, verschwand in ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Sie lief weiter in Richtung Wohnzimmer und blieb abrupt stehen.

Ein Rauschen.

Wasser?

»Was zum …«

Sie drehte sich um und ging auf die Tür zum Bad zu, die wieder leise zur Seite aufglitt. Das Licht im Bad flammte auf, und Amy sah, dass der Wasserhahn lief.

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