×

Ihre Vorbestellung zum Buch »CHER. Die Autobiografie, Teil eins«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »CHER. Die Autobiografie, Teil eins« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

CHER. Die Autobiografie, Teil eins

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

NEW-YORK-TIMES-N°1-BESTSELLER

Das außergewöhnliche Leben von CHER kann nur von einer Person erzählt werden ... Von Cher selbst

ES GIBT NUR EINE CHER... und seit sieben Jahrzehnten zeigt sie uns, warum. Ihr Leben ist zu groß für ein einziges Buch. Mit ihrer Stimme, ihrer Schauspielerei, ihrem Stil, ihrem Witz und ihrer unbändigen Art hält sie die Welt in Atem. Jetzt erzählt Cher ihre Geschichte zum ersten Mal selbst – mit der ihr eigenen Stimme, die so scharfsinnig wie witzig, so kraftvoll wie einfühlsam ist.

Cher. Die Autobiografie. Teil eins berichtet von Chers Herkunft. Sie geht zurück in die Kindheit ihrer Mutter Georgia und zeigt, wie deren Entscheidungen ihre Persönlichkeit prägten. Auf der Jagd nach Ruhm, Liebe und Stabilität für ihre Kinder, mit dem Look eines Filmstars und einer umwerfenden Stimme, heiratete Georgia mehrmals und zog immer wieder um. Umgeben von Künstlern, Schauspielerinnen und ihrer glamourösen Welt, war Chers Kindheit alles andere als normal. Als ihre Mutter ihr sagte, sie solle sich keine Sorgen wegen ihrer Schulprobleme machen, aus ihr würde jemand werden, wenn sie groß sei, glaubte ihr Cher und übte Autogramme für ihren zukünftigen Ruhm.

Ihr Drang, vorwärtszukommen, sei es auf dem Dreirad, im Zug oder hinter dem Steuer eines Autos auf den Straßen von Los Angeles, führte sie in die Arme von Sonny Bono. Das Duo wurde berühmter, als es sich je hätte träumen lassen. Cher. Die Autobiografie. Teil eins erzählt von ihrem Aufstieg: von der Backgroundsängerin im Studio von Phil Spector über ihren Durchbruch mit Sonny bis zum Lounge-Act in Las Vegas, aus dem die Fernsehshow geboren wurde, die sie in Amerikas Wohnzimmer brachte, sie zur Modeikone und Sonny & Cher unvergesslich werden ließ. Doch der Ruhm veränderte ihre Beziehung, Cher entwickelte sich von der blauäugigen Teenagerin zur erwachsenen Frau. Sie begann, für sich einzutreten, sich Sonnys Kontrolle zu entziehen, und erkannte, dass die Dinge nicht so waren, wie sie schienen.

Sie riskierte viel, sorgte für Schlagzeilen, verliebte sich – zuerst in David Geffen, der ihr die Augen öffnete und sich dann um ihre Familie kümmerte, später in Gregg Allman. Immer kämpfte Cher darum, ihren eigenen Weg zu gehen. Cher. Die Autobiografie. Teil eins führt uns bis an die Schwelle einer neuen Etappe: Chers bemerkenswerter Schauspiel- und Solomusikkarriere, ihrem Vermächtnis für die Ewigkeit.


CHER – DIE ERSTE UND EINZIGE AUTOBIOGRAFIE DER IKONE DER POPKULTUR


  • Erscheinungstag: 15.02.2025
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009208

Leseprobe

TEIL EINS

Cher

die Autobiografie

Aus dem amerikanischen Englisch von Marlene Fleißig, Oliver Lingner, Franka Reinhart, Violeta Topalova

HarperCollins

dieses Buch widme ich:

mom~georgia

gee~georganne

chaz

Elijah

Hinweis der Autorin

Dieses Buch basiert auf meinen (manchmal unvollständigen) Erinnerungen.

Ich nenne meinen Sohn Chaz hier Chas, da er während der Jahre, um die es in diesem Buch geht, so hieß. Chaz ist mit dieser Verwendung einverstanden. Im nächsten Teil und ab dem entsprechenden Zeitpunkt werde ich über meinen Sohn als Chaz schreiben.

Vorwort

Los Angeles, Sommer 1956

Mit offenem Mund starrte ich auf den Fernseher, mein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich rutschte mir aus der Hand und landete auf dem Teller in meinem Schoß. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper.

Ich war nach der Schule allein zu Hause, saß im Schneidersitz (auch heute noch meine Lieblingsposition) vor dem Fernseher auf dem Boden und schaute mir meine Lieblingssendung, American Bandstand, an. »Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie Ray Charles«, verkündete Moderator Dick Clark, als die Kamera auf einen gutaussehenden jungen Pianisten mit Sonnenbrille schwenkte.

Sobald Ray Charles zu »Georgia, Georgia …« ansetzte, fing ich an zu weinen. Ich konnte es nicht fassen, dass er ein Lied über meine Mutter sang. Tränen tropften auf mein Sandwich, noch nie zuvor war ich so ergriffen gewesen. Ray Charles’ Stimme und die Melodie drückten genau das aus, was ich fühlte.

Ich brauchte Wochen, um darüber hinwegzukommen. In gewisser Weise bin ich es bis heute nicht. Doch dann brachte jemand, dessen Lieder ich zum ersten Mal im Radio gehört hatte, meine Welt komplett ins Wanken, und ich war nie mehr dieselbe. In der The Ed Sullivan Show trat ein beliebter junger Sänger namens Elvis Presley auf, und meine Mutter und ich gehörten zu den sechzig Millionen Amerikanern, die seinen historischen Auftritt im September 1956 verfolgten.

Obwohl Elvis an diesem Sonntagabend recht unspektakulär gekleidet war, sah er doch anders aus und bewegte sich auch anders als jeder andere Künstler, den ich kannte. Seine erste Nummer war »Don’t Be Cruel«, und als er später »Love Me Tender« anstimmte, war es, als würde er es nur für mich singen. Am liebsten wäre ich in den Fernseher gestiegen, um Elvis zu sein.

Als ich ein Jahr später hörte, dass er im Pan-Pacific Auditorium in Los Angeles auftreten würde, schlug mein elfjähriges Herz höher. Ich eilte nach Hause und bettelte: »Mama, Mama! Elvis kommt ins Pan-Pacific! Können wir hingehen? Bitte!« Ich musste einfach zu diesem Konzert. Insgeheim hoffte ich, dass er mich unter allen in der Menge entdecken und auserwählen würde – wobei das damals vermutlich alle Mädchen dachten.

Zum Glück war meine einunddreißigjährige Mutter genauso Elvis-verrückt wie ich – was meine Freunde ziemlich beeindruckte, da ihre Mütter ihn nicht guthießen, sie fanden ihn zu anzüglich. Bis heute weiß ich nicht, wie meine Mutter das Geld auftrieb, aber Georgia kriegte es irgendwie hin. Wir beide putzten uns also heraus und machten uns auf den Weg in die Stadt, eher wie Schwestern, nicht wie Mutter und Tochter. Die Spannung stieg, als wir uns dem Viertel Fairfax näherten, und plötzlich fanden wir uns inmitten von neuntausend aufgeregten Mädchen wieder.

Auf einer Welle aus reinem Adrenalin wurden wir ins Auditorium gespült. Zwischen unseren Klappsitzen und der Bühne lag der halbe Saal, aber ich war zufrieden. Als ich mir die Zuschauerinnen um mich herum anschaute, die alle erwartungsvoll den Blick auf die noch unbeleuchtete Bühne richteten, schlug mein Herz wie wild in meiner flachen Kinderbrust – ein Gefühl, das mir in meinem späteren Leben nur allzu vertraut werden sollte.

Die Bühne lag im Dunkeln, dann gingen die Scheinwerfer an, und auf einmal war Elvis da – es war pure Magie. Die Menge brach in lautes Jubeln aus und ein Blitzlichtgewitter ging los. Hätte ich doch nur unsere kleine Kodak-Brownie-Kamera mitgebracht! Elvis stand da in seinem berühmten goldenen Anzug, der im Scheinwerferlicht in changierenden Farben glitzerte.

Er sah einfach umwerfend aus mit seinem Lächeln und dem glänzenden, vollen Haar, das genauso schwarz war wie meins. Um uns herum sprangen alle auf und kreischten so hysterisch, dass wir kaum etwas von »Heartbreak Hotel« hörten. Aber sehen, das konnten wir: Wie er sich bewegte, mit den Hüften kreiste und seine Beine zittern ließ. Den Fans reichte es nicht aus, einfach nur möglichst laut zu kreischen, sie erklommen nun auch ihre Sitze für eine bessere Sicht, sodass wir nur noch Elvis’ Kopf und Schultern sahen.

Ich stand inmitten der kreischenden Menge wie in einer riesigen, tanzenden Flutwelle, die von der Hysterie Richtung Bühne getrieben wurde. Warum alle so durchdrehten, war mir nicht ganz klar, ich war einfach zu jung (aber wäre ich drei Jahre älter und meine Mutter drei Jahre jünger gewesen, wären wir sicher beide in Ohnmacht gefallen). Ich wusste nur, dass das die aufregendste Erfahrung meines Lebens war, weil mir in diesem Moment zum ersten Mal bewusstwurde, dass ich eines Tages auch auf dieser Bühne im Scheinwerferlicht stehen wollte.

Meine Mutter neben mir war hin und weg, wir waren beide wie hypnotisiert. Sie hatte ein wunderschönes Outfit an und sah so umwerfend aus, dass ich mir sicher war, Elvis hätte unter all den Fans hier im Saal – mich eingeschlossen – auf jeden Fall sie erwählt.

Ich formte einen Trichter mit den Händen, ging ganz nah an ihr Ohr heran und rief: »Mom, können wir auch auf die Sitze klettern und schreien?«

»Ja«, sagte sie grinsend wie ein Teenager und zog sich die High Heels aus. »Auf geht’s!« Gesagt, getan, auf Zehenspitzen versuchten wir von den Sitzen aus, einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Selig vor Glück überlegte ich, ob ich Elvis vielleicht heiraten könnte, wenn ich erwachsen wäre. Dann könnte er jeden Tag für mich singen. In meiner Fantasie war ich die zukünftige Mrs. Presley und ließ meiner Mutter in den nächsten Wochen, in denen ich auf rosa Zuckerwattewolken schwebte, keine Ruhe mit Elvis.

1

georgia on my mind

Irgendwo ganz hinten in einer Schublade versteckte meine Mutter ein Schwarzweißfoto von mir, das sie mich nie ansehen ließ. Sie brachte es einfach nicht über sich, es mir zu zeigen, und die bloße Erwähnung des Bildes reichte, dass sie in Tränen ausbrach. Bis zu dem Tag ihres Todes verlor dieser Moment im Jahr 1947, in dem das Foto entstand, nicht seinen Schrecken. Georgia, später Georgia Holt, konnte die Erinnerung daran nicht ertragen.

Ich wusste über das winzige Zelluloid-Bild lediglich, dass es mich als Baby zeigte, wie ich mich unglücklich ans Gitter meines Kinderbettchens im katholischen Kinderheim in Scranton, Pennsylvania, klammerte. Meine Mutter hatte das Bild unter Tränen durch ein kleines Sichtfenster aufgenommen. Damals war sie zwanzig Jahre alt und hieß noch Jackie Jean. Sie stammte aus dem ländlichen Arkansas und war Sängerin, auch wenn sie hauptsächlich von ihrem Trinkgeld als Kellnerin in einem Diner lebte, das die ganze Nacht geöffnet blieb.

Meine Mutter besuchte mich einmal die Woche in dem Heim, in das mein Vater mich gesteckt hatte, bevor er abgehauen war, um mal wieder jemanden übers Ohr zu hauen. Unfassbar, dass er sie in Scranton alleine ließ – mit einem Kind, ohne Geld und Perspektive – und dann nie wieder zurückkehrte. Die Nonnen in dem Heim nahmen zwei Arten von Heimatlosen und Straßenkindern auf. Erstens Teenagerinnen, die »vom Pfad der Tugend abgekommen« waren. Zweitens Kinder, die es vor einem »schlechten Umfeld« zu schützen galt. Ich fiel wohl unter diese zweite Kategorie. Dafür knöpften die Schwestern meiner Mutter vier Dollar fünfzig pro Woche ab, und mit dem Trinkgeld vom Diner kam sie gerade so über die Runden.

Wenn ich so über meine Familiengeschichte nachdenke, kommt sie mir wie der Anfang eines Dickens-Romans vor. Doch sie ist wahr. Die Geschichte meiner Verwandtschaft aus dem Süden, die nichts besaß und sich nach der Großen Depression ein Leben aufbauen wollte, ist traurig und seltsam. Schön war es nicht und auch nie einfach. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben für den Großteil meiner Familie, und das über Generationen hinweg. Ich habe die Resilienz also im Blut.

Ein anderes von meiner Mutter jahrelang gehütetes Foto zeigt ihre Großeltern mütterlicherseits samt Kindern auf der Veranda ihrer merkwürdigen Holzhütte in der hintersten Provinz von Missouri, daneben der Jagdhund. Am Zustand der Hütte und am Blick meines Großvaters erkennt man, wie hart ihr Leben war. Nicht eine Person auf dem Foto lächelte, am wenigsten mein Urgroßvater Isaac Gulley, ein Eisenbahner mit buschigem Bart. Einmal drehte er dem geliebten Kätzchen meiner Großmutter den Hals um, nachdem es an die Milch gegangen war. Sie waren so arm, dass sie nichts abgeben konnten, nicht einmal an ein Kätzchen. Meine Großmutter verzieh ihm das nie; sie hatte die Katze sehr geliebt, ihr sogar Tricks beigebracht wie ihren Puppenwagen zu schieben.

Ich wünschte, ich wüsste mehr über meine Urgroßmutter Margaret, die ihr Haar in langen Zöpfen trug und im Wald Heilkräuter sammelte. Welche Kräuter und Wurzeln aus den Wäldern natürliche Heilmittel waren, wusste sie von ihrer Mutter und durch die Überlieferungen der dortigen Native Americans, die, wie ich gelernt habe, die Bezeichnung Original People bevorzugen. Sie kannte auch ein paar ihrer Stammestänze und brachte sie ihren Kindern bei. Außerdem verfügte sie, nicht ungewöhnlich in meiner Familie, über übersinnliche Fähigkeiten und konnte im Traum Dinge voraussehen. 1923 hatte sie einmal einen lebhaften Albtraum, in dem ihr Mann Isaac zu Boden ging und in Millionen winzige Stücke zersprang. Es fühlte sich so echt an, dass sie am nächsten Tag ihre Kinder zusammenrief, um ihnen davon zu erzählen. Am Abend war Isaac tot. Er hatte seinen Lebensunterhalt damit verdient, Baumstümpfe für die Eisenbahn zu sprengen, und an jenem Tag verschätzte er sich und wurde bei der Explosion in Stücke gerissen.

Als mittellose Witwe tat sich Margaret schwer, ihre Familie durchzubringen, und als sie ihren kleinen Hof verlor, konnte sie nur noch die beiden jüngsten Kinder versorgen und schickte die anderen zu Verwandten, die sie nicht kannten. Meine zarte, schüchterne Großmutter Lynda, die sehr klein war für ihre zehn Jahre, musste also zu Menschen ziehen, die sie hasste. Um für ihren Unterhalt aufzukommen, schickte man sie zur Arbeit in eine Pension, wo sie unter anderem bei der örtlichen Bäckerei Brot besorgen musste. Und hier lernte sie auch den Bäckereigehilfen Roy Crouch kennen, der später mein Großvater werden sollte. Er war einer gewaltvollen Kindheit in Oklahoma entflohen, um im Betrieb seiner älteren Schwester Zella mitzuhelfen. Es war damals auf dem Land nicht üblich, viel aufzuschreiben, man gab Geschichten mündlich von Generation zu Generation weiter. In meiner Familie war das nicht anders, sodass keiner mehr so genau sagen kann, wie alt Roy und Margaret waren, als sie sich kennenlernten. Roy war wohl sechzehn, Lynda zwölf, aber genau weiß das keiner mehr.

Roy, der das zweitjüngste von neun Geschwistern war, verstand sich nicht besonders mit seiner Mutter, Laura Belle Greene. In unseren Familiengeschichten hieß es immer, sie sei eine beeindruckende Erscheinung gewesen, fast ein Meter achtzig groß und mit Cherokee-Blut. Sie war recht temperamentvoll und schlug ihren vorlauten Sohn mit einer Pferdepeitsche. Ich hätte sie trotzdem gerne gekannt, da sie eine bemerkenswerte Frau gewesen sein muss und die Liebe zur Musik an ihre Kinder – und letztendlich auch an mich – weitergab. Einmal schlug sie Roy besonders heftig, woraufhin ihn seine großen Schwestern Clara und Zella, die ihn über alles liebten, in ein Brunnenhaus trugen und seine Wunden versorgten. Roy wollte nur weg von alledem und träumte vom Vagabundenleben eines Jesse James oder Pretty Boy Floyd. Aber dann lernte er Lynda kennen und verliebte sich in das zwölfjährige naive Bauernmädchen. Nachdem sie einmal nachts zusammen schwimmen gegangen waren, wurde Lynda schwanger und bekam 1926 im Alter von dreizehn meine Mutter Jackie Jean. Lynda war zu jung, um mit einem Baby zurechtzukommen, und Roy hatte die Schnauze voll von ihrem Gejammer und wandte sich anderen Frauen und dem während der Prohibition als »Moonshine« bekannten illegalen Whiskey zu. Manchmal schlug er Lynda, wenn er betrunken war. Er führte die Gewalt fort, die er als Kind erlebt hatte.

Später hieß es, dass er über dreißig Mal wegen Gewalt und Trunkenheit verhaftet worden war. So wie ich ihn als Kind bei seinen Sommerbesuchen erlebt hatte, konnte ich mir das nur allzu gut vorstellen. Schließlich attackierte er den Dorfsheriff, der ihn wegen Alkoholschmuggels verhaften wollte. Roy schnappte sich Lynda und das Kind und floh, um das Vagabundenleben zu führen, von dem er immer geträumt hatte. Sie fanden keine richtige Arbeit, deshalb mussten er und Lynda Baumwolle pflücken. Die früheste Kindheitserinnerung meiner Mutter ist, wie ihre Mutter sie beim Pflücken auf einem Jutesack über den holprigen Boden zieht. Alle paar Stunden unterbrach meine Großmutter Lynda ihre Arbeit, um sie zu stillen. Jackie Jean lutschte gerne Daumen, und man gab ihr einen kleinen weißen Baumwollball als Schnuller. Für einen ganzen Arbeitstag in der brennenden Sonne verdienten sie genug für eine Gallone Melasse, die sie zu Keksen oder trockenem Brot aßen – etwas anderes gab es nicht, außer gelegentlich ein Wildkaninchen. Satt wurden sie nur, wenn sie heimlich in Zellas Bäckerei um eine Mahlzeit anklopften.

Nur die Hilfsgüter der Regierung verhinderten, dass sie verhungerten: Bohnen, Kondensmilch, Mehl und Schmalz, für die Lynda stundenlang anstehen musste. Es war die Zeit der Großen Depression, des schlimmsten finanziellen Zusammenbruchs in der Geschichte der USA, in dessen Folge Zehntausende an Mangelernährung und Krankheiten starben. Jackie Jean war ein schwächliches Kind, bekam rheumatisches Fieber und immer wieder Halsentzündungen, die ihre Großmutter Margaret mit Kräuterwickeln behandelte. Als sie schwer an Röteln erkrankte, konnten sich ihre Eltern keinen Arzt leisten und brachten sie bei der Heilsarmee unter, bis sie sich einigermaßen erholt hatte.

Trotz alledem wuchs meine Mutter zu einem hübschen Mädchen heran, mit einer Singstimme, so kraftvoll wie die einer erwachsenen Frau. Der Apfel fiel bei mir wohl nicht weit vom Stamm. Jackie Jeans Gesang versetzte ihre Zuhörer in Erstaunen, und Roy ging das Herz über vor Stolz auf seine Tochter, die er liebevoll »Jack« nannte. Lynda, die selbst noch ein Kind war, konnte sich nie ganz in die Mutterrolle einfinden, also sparte Jackie Jean ihre gesamte Liebe für den Vater auf, der fürsorglich und lustig war – solange er nicht trank. Er nahm seine Tochter überallhin mit, sogar in die während der Prohibition illegalen »Mondscheinkneipen«, und hob sie auf den Tresen, damit sie sang, während er trank.

Das erste Mal ließ er im Shamrock Saloon in St. Louis, wo Sägemehl auf dem Boden lag und Spuckschalen herumstanden, seinen Hut für sie herumgehen und nahm zu seiner Überraschung sechzehn Cent ein. Damit kaufte er Schnaps und überließ das Wechselgeld seiner Tochter. Sie erstand damit ein Päckchen Tee, einen Block Eis und Zucker für ihre Mutter, da sie wusste, wie sehr diese den süßen Tee vermisste, den ihr ihre eigene Mutter immer gemacht hatte. Mit den letzten Groschen gönnte sich Jackie Jean ein paar Süßigkeiten.

Als Roy erkannte, dass seine fünfjährige Tochter mit der Stimme einer Blues-Sängerin ihm Profit einbringen konnte, erklärte er sie zur Hauptverdienerin. An guten Abenden ließen die Zuhörer so viele Fünf-Cent-Stücke springen, dass es Jackie Jean mit ihren geldgefüllten Taschen fast die Hosen auszog. Lynda war zwar dankbar, dass ihre Tochter Geld verdiente, aber auch neidisch auf die Aufmerksamkeit. Irgendwann hielt sie Roys Gleichgültigkeit und seine Weigerung, sie zu heiraten, nicht mehr aus und ging fort. Sie verschwand einfach und ließ meine Mutter zurück.

Roy suchte überall nach ihr und gab eine Vermisstenanzeige auf. Doch Lynda war nirgends zu finden und Roy ließ Jackie Jean bei seiner Schwester Lodema und ihrem Mann Wesley. Der Onkel missbrauchte meine Mutter und ließ sie Stillschweigen darüber bewahren. Also erzählte sie ihrem Vater nichts, und als sie sich schließlich ihrer Tante Lodema anvertraute, wusch die ihr den Mund mit Karbolseife aus. Verzweifelt flehte sie Jesus um Hilfe an, und vielleicht erhörte er sie. Sie bekam Windpocken und musste in der Küche bleiben – außerhalb der Reichweite des Onkels.

Sie flüchtete sich in ihren Gesang und übte jeden Tag unter Roys Anleitung. Wenn sie zusammen »Danny Boy« sangen, fühlte sie sich sicher. »Wenn ich sang, konnte ich den ganzen Kummer und den Schmerz hinter mir lassen«, sagte sie. Ich weiß genau, was sie damit meinte, war doch auch für mich die Musik mein Leben lang mein Zufluchtsort.

Sie ließen St. Louis hinter sich und zogen weiter in den Süden, in den ärmsten Teil von Oklahoma City. Jackie Jean trat beim Radiosender WKY mit Nummern wie »Minnie the Moocher« und dem »St. Louis Blues« auf. »Eines Tages, Jack, da wirst du ganz groß rauskommen«, versprach ihr der Vater unaufhörlich. »Nicht mal Judy Garland singt so gut wie du.« Sie sang auch, immer wenn sie in der Stadt waren, Duette mit Bob Wills, dem Frontmann einer beliebten Country-Swing-Band. Einmal sagte dieser zu Roy: »Die Kleine wird dich reich machen.« Jetzt hatte er noch höhere Erwartungen. 1933 wurde außerdem das Alkoholverbot aufgehoben und er schleifte seine Tochter weiter in jede verrauchte Spelunke in der Stadt. Egal, wie hungrig oder müde sie war, sie musste auf der Theke stehen und singen, bis sie genug Geld für Essen und Alkohol zusammenhatten. Immer barfuß, Schuhe hatte sie keine. Den Gestank dieser Bars sollte meine Mutter nie vergessen. Als ich klein war, erzählte sie mir immer wieder Geschichten von damals, damit ich wusste, wie gut ich es hatte. Sie sagte immer, ihre Kindheit sei genau wie die in dem Film Paper Moon gewesen, nur dass ihr Vater keine Bibeln verkaufte, sondern ihre Stimme.

Roy suchte weiter nach Lynda, und als er sie schließlich aufgespürt hatte, schwängerte er sie erneut und überredete sie, zurückzukommen. Sie hatten kein Geld für die Miete und ernährten sich von altem Brot, das sie in wässrige Brühe tunkten. Vor der Zwangsräumung blieben sie nur verschont, weil die Vermieterin Mitleid mit Lynda hatte, die, kurz bevor ihr Sohn Mickey zur Welt kam, fast an einer Nierenentzündung starb. Arm wie nie brauchte mein Großvater einen Traum und setzte alle Hoffnungen auf Jackie Jean. Bob Wills befand, dass ihr Talent in Oklahoma verschwendet sei. Also wollte Roy mit ihr nach Hollywood, wo sie, da war er sich sicher, die nächste Shirley Temple werden würde, ein Kinderstar, der tausend Dollar pro Woche verdiente.

Im Winter 1934 machte sich meine acht Jahre alte Mutter mit ihrem Vater auf, die über zweitausend Kilometer in den Westen zu trampen. Abgebrannt und hungrig schliefen sie, wo es ging, und kauften sich mit der Stimme meiner Mutter in billige Hotels ein. Mittlerweile war sie nicht mehr barfuß unterwegs, ihre dünnen Beinchen steckten in abgetragenen Cowboystiefeln, doch manchmal lag der Schnee so hoch, dass er über den Rand in ihre Schuhe quoll. Ein Pärchen nahm sie mit und kaufte meiner Mutter ihren ersten Mantel, weil sie nicht mitansehen konnten, wie sie an der Autobahn stand und zitterte. Ein Fernbusfahrer ließ sie gratis durch ganz New Mexico mitfahren und zahlte ihnen dann eine Nacht im Motel.

Auf der Reise ließ Roy meine Mutter arbeiten, sie verkaufte Weihnachtskarten auf der Straße und sammelte die leeren Flaschen in Kinos gegen freien Eintritt ein. Im warmen Kinosaal tauchte Jackie in die Filmwelten von Vier Schwestern (Little Women) mit Katherine Hepburn oder Laurel und Hardys Die Wüstensöhne (Sons of the Desert) ein. Eines Tages wollte sie selbst ein Filmstar sein, Hollywood war alles, woran sie noch denken konnte. Die Absteige in den Slums von San Pedro im Süden von L. A. holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück, das sagenumwobene Hollywood war ganz anders als im Film. Schlimmer noch, sie waren das Gespött der Leute, wurden wegen ihres Akzents und der schäbigen Kleidung als »Oklahoma-Pomeranzen« bezeichneten. Doch das Leben und ihre Familie hatten sie bereits gelehrt, dass sie sich immer wieder aufrappeln musste. Sie mochte arm sein wie eine Kirchenmaus, aber sie hielt sich wie eine Königin.

Roy, der auf einem Bauernhof aufgewachsen war, hatte keinen blassen Schimmer, wie er seine Tochter bekannt machen konnte. Da sie nicht, wie er gehofft hatte, plötzlich über Nacht berühmt wurde, nahm er einen Job als Bäcker bei der Kult-Cafeteria-Kette Clifton’s an. Bei seiner ersten Begegnung mit Jackie Jean schenkte Roys Chef ihr zwei Dollar, damit sie sich ordentliche Schuhe kaufen konnte, das Geld, behauptete er, habe er unterm Tisch gefunden. Obwohl sie aussah wie eine verlauste Obdachlose, gewann meine Mutter jeden Amateur-Gesangswettbewerb und trat regelmäßig im Radio mit Jimmy Wakely and His Saddle Pals auf. Sie hätte sogar ein Stipendium bei der Jugendtruppe der Meglin Kiddies haben können, wo auch Judy Garland gewesen war. Aber sie musste diese einmalige Chance sausen lassen, weil sie sich keine Steppschuhe leisten konnte.

Während ihr Vater auf der Arbeit war, verbrachte sie den Tag im Fünf-Cent-Kino, immer auf der Hut, dass sich niemand im Dunkeln an sie heranmachte. Nachts war es zu gefährlich, sie allein zu lassen, also schlief sie in der Bäckerei auf dem Tisch, wo sonst der Teig zubereitet wurde. Roy hatte schließlich genug gespart, um Lynda und den kleinen Mickey aus Oklahoma nachzuholen. Doch zu ihrem Entsetzten musste Lynda feststellen, dass Roy schon wieder eine Teenagerin geschwängert hatte. Als Jackie Jean davon erfuhr, machte sie sich eine lange Zeit Sorgen um ihr Halbgeschwisterchen. Roy fürchtete Lynda wieder zu verlieren und suchte Trost bei seinem alten Freund – dem Bourbon. Sucht ist ein großes Thema in meiner Familie und hat mir immer wieder Leid gebracht. Nachdem er gezwungen war, seinen Hollywood-Traum aufzugeben, ging mein Großvater mit seiner Frau und seinem Sohn zurück in den Osten. Jackie Jean aber hängte er ein Namensschild um und setzte sie in den Zug nach Arkansas zu seiner Schwester Zella. Wenngleich meine Mutter ihren Vater und ihren Bruder furchtbar vermisste, verbrachte sie doch die schönsten sechs Monate ihrer Kindheit im gemütlichen Zuhause ihrer Tante.

Auch ich fand Zella toll. Sie war groß, würdevoll, lebhaft und beliebt – eine Naturgewalt, und sie liebte Jackie Jean wie eine Tochter. Sie richtete das Kind, das nichts besaß, her, steckte sie in hübsche Kleider und band ihr Schleifen ins Haar. In dieser Zeit gewann Jackie Jean einen landesweiten Amateur-Blues-Wettbewerb in ihrer Altersklasse. Zella hätte sie gerne adoptiert und eines Tages aufs College geschickt, aber als das Mädchen erfuhr, dass Lynda Roy für immer verlassen und Mickey nicht mitgenommen hatte, sorgte sie sich so sehr um den kleinen Bruder, dass sie zurückging, um ihn zu beschützen.

Sie fand sie in den Slums von Oklahoma City. Roy wollte Lynda noch immer zurück. Er fand heraus, wo sie arbeitete, und bedrängte sie, die Kinder zu besuchen. Sie war zu verängstigt, um ihm von ihrer Hochzeit mit einem Sizilianer zu berichten, und willigte ein. Entsetzt darüber, wie ihre Kinder lebten, kehrte sie ein paar Tage später mit Geld und Kleidung zurück, doch Roy zwang sie, mit ihm ins Bett zu gehen. Nachdem der Sizilianer davon erfuhr, schlug er Roy mehrere Zähne aus und sagte Lynda, er würde ihre Kinder adoptieren. Bald darauf erhielt Roy den Gerichtsbeschluss, der ihm mitteilte, dass er das Sorgerecht verloren hatte – das brach ihm endgültig das Genick.

Meine Mutters Erinnerung an die vermutlich schlimmste Nacht ihres Lebens war immer etwas lückenhaft. Erst als ich sie Jahre später zur Therapie schickte, kamen die Details ans Licht. Jackie Jean versuchte in der schäbigen Bleibe, die vor Ungeziefer nur so wimmelte, wachzubleiben, weil sie fürchtete, dass Männer einbrechen und ihnen etwas tun würden. Den Blick aus dem Fenster gerichtet schwor sie sich: So werde ich später nicht leben. Schließlich musste sie doch eingeschlafen sein, denn irgendwann wurde sie von einem Zischen wach. Schlaftrunken glaubte sie für einen Moment, es müssten Schlangen sein, aber dann sah sie jemanden durch den Raum huschen. Sie spürte die Gefahr und stellte sich schlafend, bis die Person verschwunden war. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr – das Zischen waren keine Schlangen gewesen, sondern Gas. Sie schoss hoch, schnappte sich Mickey und floh zu einem Nachbarn, der die Polizei rief. Erst später verstand meine Mutter, dass es sich bei dem Schatten, der da um drei Uhr nachts durch ihr Zimmer geschlichen war, um ihren eigenen Vater gehandelt hatte. Sie hatte seinen Gang wiedererkannt und seinen unverwechselbaren Geruch nach frischer Hefe. Roy war von seiner Schicht zurückgekehrt, hatte das Gas aufgedreht und war gegangen. Meine Mutter hörte seine Schritte auf der Treppe verhallen. Am schlimmsten war für sie, dass Roy vollkommen nüchtern gewesen war. Lange hat sie sich nicht eingestehen können, dass der Elternteil, von dem sie gedacht hatte, er würde sie und ihren Bruder lieben, sie zu töten versucht hatte.

Jackie Jean und Mickey zogen mit ihrer Mutter und ihrem sizilianischen Stiefvater in eine Stadt im Los Angeles County namens Gardena. Dort gab es meilenweit nichts als identische Häuser mit kleinen Gärtchen. Roy blieb in Oklahoma und hatte keinen Kontakt zu seinen Kindern, die er hatte töten wollen, obwohl Jackie Jean ihn noch immer vermisste. Zum Glück hatte sie ihren Stiefvater, der sie liebevoll »Bohnenstange« nannte. Er war der einzige freundliche Mann in ihrem Leben. Doch wieder wurde Lynda eifersüchtig, weil die beiden sich so nahestanden. Als meine Mutter dreizehn war – und damit im selben Alter wie ihre Mutter, als sie sie bekam – schickte Lynda sie zurück zu Roy. Den Sizilianer verließ sie für seinen Neffen und nahm Mickey mit.

Ernsthaft, meine Familie … So was kann sich keiner ausdenken.

Jackie Jean wollte nicht wieder in das chaotische Leben ihres Vaters hineingezogen werden und fand schließlich in den Kleinanzeigen Arbeit als Dienstmädchen im Viertel Hancock Park. Sie zog in das riesige Haus ihrer Arbeitgeber und musste richtig schuften. Aber sie beschwerte sich nie, schließlich hatte sie noch nie an einem besseren Ort gewohnt. Es gab kein Ungeziefer, die Laken waren sauber, und jeden Abend stand ein warmes Essen auf dem Tisch. Wenn sie ihre Arbeit erledigt hatte, durfte sie tagsüber zur Highschool gehen und konnte nachts lernen.

Meine Mutter las viel, hatte gute Noten und trieb sich den Oklahoma-Slang aus, indem sie sich laut vorlas. Sie fürchtete sich davor, was die reichen Mädchen in der Schule von ihrem Leben halten würden, und gab mit ihrem Gesang an, damit sie sie mochten. Außerdem spielte sie mit ihrem Image als nerdigem Bücherwurm, der zu sehr mit der Herausgabe des Jahrbuches beschäftigt war, um etwas zu unternehmen oder Geld auszugeben, das sie nicht hatte. Durch die Unterstützung ihrer Lehrer wurde sie letztendlich dieser »jemand«, den sich ihr Vater immer gewünscht hatte. Doch es zerriss ihr das Herz, dass dies in ihrer engsten Familie niemanden interessierte. Jeden Abend rollte sie sich weinend auf dem Badezimmerboden zusammen und erstickte ihr Schluchzen mit einem Handtuch, zeitweise hatte sie sogar Selbstmordgedanken. Doch etwas hielt sie davon ab, die eiserne Entschlossenheit zu überleben wurde in ihrer Familie von Frau zu Frau weitergegeben. Sie hatte so viel gelernt, um ein College-Stipendium zu bekommen, und war am Boden zerstört, als Roy sie in einem Brief anflehte, heimzukommen. Er war in Oklahoma City auf dem Bordstein gestürzt und von Kopf bis Fuß eingegipst. Die fünfzehnjährige Jackie Jean hängte also in einer seltsamen Mischung aus Mitleid, Liebe und Pflichtgefühl ihre Träume von der höheren Bildung an den Nagel und ging, um sich um ihren Vater zu kümmern.

Doch sie war fest entschlossen, in die Stadt zurückzukehren, die sie als ihre Heimat betrachtete: »Ich wusste, dass ich mich wieder aufrappeln und nach Los Angeles zurückkehren musste.«

Wie hätte sie ahnen können, wohin ihre Entschlossenheit uns beide führen würde.

2

i’m so lonesome i could cry

Die achtzehnjährige Jackie Jean war eine tickende Zeitbombe. Mit ihrem Wahnsinnskörper und dem wallenden kastanienbraunen Haar sah sie in ihren geschmackvollen Outfits, die überhaupt nicht secondhand wirkten, wie ein Filmstar aus. Doch innerlich war sie noch immer das leicht zu beeinflussende Mädchen vom Lande.

Sie war Baptistin und Roy hatte ihr eingeschärft, keinen Sex vor der Ehe zu haben. »Lass niemals zu, dass ein Mann dich anfasst, bis du mit ihm verheiratet bist!«, warnte er sie immer wieder, seine eigene Vergangenheit ausblendend. Mit diesen Worten im Ohr setzte sich Jackie Jean in den Kopf, sie würde vom Knutschen schwanger werden. Und dass sie als Kind missbraucht worden war, trug dazu bei, dass sie mit dem Sex auf »den Richtigen« warten wollte. Mein süßholzraspelnder armenischer Vater Johnnie Sarkisian war von Anfang an »der Falsche«. Als er sie 1944 bei einer Tanzveranstaltung der Harry James Bigband in Fresno, Kalifornien, zu einem Jitterbug aufforderte, schlug ihre Intuition Alarm. Johnnie, der verwöhnte jüngste Sprössling einer großen armenischen Familie, war nur ein Jahr älter als meine Mutter, trug aber protzige Klamotten und Schmuck, die ihn reifer wirken ließen. Eigentlich war er nicht ihr Typ, zu klein für ihren Geschmack, aber als sie miteinander tanzten, verhakte sich ihre Bluse in einem seiner Hemdknöpfe und sie war buchstäblich gefangen. Und als er sie losgemacht hatte, stellte sie fest, dass er nicht nur ein guter Tänzer war, sondern auch irgendwie charmant.

Damals, als sie miteinander ausgingen, herrschten mit dem Krieg in Europa besondere Zeiten. Alles fühlte sich intensiver, spontaner an. Johnnie war zwar in die US-Küstenwache einberufen worden (später wurde er aus medizinischen Gründen entlassen), doch weder er noch meine Mutter erlebten den Zweiten Weltkrieg direkt. Eine Freundin meiner Mutter, Ann, datete Johnnies besten Freund Johnny Kevorkian. Einmal wollten sie reiten gehen und überredeten meine Mutter, mitzukommen. Als der Sattel verrutschte, fiel sie fast vom Pferd. Johnnie, Spezialist für große Gesten, war ihr Retter. Als Nächstes brachte er ihr Autofahren bei und versprach ihr sein Buick-Cabrio. Die beiden trafen sich jetzt regelmäßig, aber ohne Trauschein wollte Jackie Jean nicht mit ihm schlafen.

Jackie Jean kellnerte und sang damals in einem Club. Eines Abends zog ein Kunde, der Johnnies Schwäche fürs Glücksspiel kannte, ein Bündel Scheine hervor und forderte ihn heraus: »Hör auf, um sie herumzuscharwenzeln wie eine liebeskranke Kuh, heirate sie.« Ob er den Mumm habe, mit ihr nach Reno, Nevada, zu fahren, wo man sich ganz einfach trauen lassen konnte. Angespornt von zwei Freunden, die eine ähnliche Idee hatten, machten sich die vier in der Nacht auf den Weg. Meine Mutter war vollkommen eingenommen davon, wie charmant und stabil mein Vater wirkte. Sein Alter und seine Erfahrung beeindruckten sie, er kam ihr wie ein starker, ruhiger und entschlossener Mann vor. Ehe sie sich’s versah, war sie nach einer überstürzten Doppelhochzeit Mrs. Sarkisian. Sie war gerade neunzehn geworden, traute sich noch nichts, und es kam ihr nicht in den Sinn, nein zu sagen. Wobei sie damals schon dachte: Was mache ich hier eigentlich? und so unglücklich war, dass sie kaum die Tränen zurückhalten konnte. Keine vierundzwanzig Stunden nach der Hochzeit, sie war noch immer Jungfrau, verließ sie Johnnie und floh zurück nach Fresno, wo eine Freundin ihr versprach, ihr bei der Annullierung der Ehe zu helfen. Mein Vater wollte davon nichts hören: »Wie willst du denn wissen, dass du nicht verheiratet sein willst?«, protestierte er. »Du hast es doch noch nicht einmal versucht. Gib mir drei Monate.«

Meine gutgläubige Mutter saß in der Falle, damals konnten Frauen kaum gesellschaftliche Unterstützung erwarten. Da sie keinen Ausweg sah, ging sie zu Johnnie zurück, wenngleich sie ihn nach eigener Aussage weder liebte noch ihm traute. »Er schaffte es immer, mich zu überreden, zu überlisten und zu übervorteilen. Ich war ihm unterlegen, und er wickelte mich immer ein, damit wir es machten.« Und damit meinte sie natürlich Sex.

Die Frauen in meiner Familie sind nicht gut darin, sich ihre Männer auszusuchen, Jackie Jean war da keine Ausnahme, hatte aber mit Lynda als einzigem Vorbild wohl kaum eine Chance. Hinter der tadellosen Fassade meines Vaters verbarg sich ein Heroinabhängiger mit einem Hang zum Diebstahl, der sich mit festen Arbeitsverhältnissen schwertat. Am Anfang ahnte meine Mutter davon jedoch nichts. Die Frischverheirateten lebten ein chaotisches Nomadenleben, zehrten vom Lohn meiner Mutter und wohnten bei der armenischen Verwandtschaft, bis deren Geduld – oder Mittel – ausgingen. Seine Familie nahm es ihm übel, dass er entgegen der Tradition eine Nicht-Armenierin geheiratet hatte. Aber da er auch ihr »kleiner Prinz« war, verziehen sie ihm schließlich. Nur seine Großmutter war nicht umzustimmen. »Hohvannes«, sagte sie zu ihm, »die ist zu lang für dich!« Nur meine Tante Roxy empfing Jackie Jean mit offenen Armen. Sie hielt, anders als der Rest der Familie, überhaupt nicht an den Traditionen fest. Roxy wollte ein American Girl sein und alles machen, was meine Mutter auch machte. Die beiden verstanden sich blendend, doch das reichte nicht, dass meine Mutter es mit meinem Vater aushielt. Also ging sie fort, nachdem die drei unglücklichen Monate vorbei waren, und suchte Trost bei ihrer inzwischen zweiunddreißig Jahre alten Mutter. Doch Lynda hatte nicht etwa Mitleid, sondern wollte nur wissen, ob sie schwanger war. Sie war es, und Lynda, die sich als Kellnerin über Wasser hielt und keine Lust auf »eine Göre« hatte, verlangte, dass sie abtrieb.

Meine Mutter wusste nicht, wohin sie sonst gehen sollte. Also stimmte sie widerstrebend zu und landete bei einem netten Arzt in Long Beach. Er war einer der wenigen, die den illegalen Eingriff durchführten und das Risiko einer Gefängnisstrafe in Kauf nahmen (fast wie heutzutage in den USA). Meine Mutter war schreckensstarr. Jahre später erzählte sie mir: »Ich erinnere mich noch daran, dass ich auf diesem altmodischen Chromstuhl gewartet habe. Und obwohl der Stuhl kühl war, brach mir der Schweiß aus. Ich hatte solche Angst. Als es dann hieß, ich sei jetzt dran, legte ich mich auf den Tisch. Und da wusste ich, dass ich das nicht machen kann. Also bin ich abgehauen. Kannst du dir vorstellen, wie haarscharf ich daran war, dich nicht zu bekommen?« Sie war an einem Tiefpunkt in ihrem jungen Leben angelangt, in dem es nur zwei Wege gab, die beide steinig waren. Verwirrt und verängstigt hatte sie sich erst für den einen entschieden, war dann aber umgekehrt. So überlebte ich, und ich habe nie hinterfragt, dass sie kurz davor war, mich nicht zu bekommen. Es war ihr Körper, ihr Leben und ihre Entscheidung. Gott sei Dank ist sie damals gegangen, ansonsten könnte ich heute diese Zeilen nicht schreiben.

Lynda war fuchsteufelswild, dass Jackie Jean sich umentschieden hatte, und drohte: »Glaub nicht, dass du bei mir wohnen kannst, wenn du das nicht durchziehst.« Meine verstörte Mutter floh also aus der Klinik, die mich fast das Leben gekostet hätte, und kehrte zu Johnnie zurück. Sie war so wütend auf ihre Mutter, dass sie über Monate nicht miteinander sprachen. Als sich die Schwangerschaft langsam abzeichnete und es nicht mehr als schicklich galt, dass sie auftrat, musste sie das Singen aufgeben. Da kein Geld mehr reinkam, zog mein Vater mit ihr ins verschlafene El Centro in der Nähe der mexikanischen Grenze, wo er ein Fuhrunternehmen leiten wollte, das zu kaufen er seinen Vater überredet hatte. Die Fahrer versorgten die Märkte von Los Angeles mit frischen Produkten. Eine Weile hatten sie ein gutes Leben. Johnnie fand ein Haus für sie und verhielt sich anfänglich verantwortungsvoller. Doch dann ging er jeden Abend Pokern und kam oft erst am Morgen heim.

Meine Mutter war erschöpft und fühlte sich gefangen. Ihre Wehen kamen einen Monat zu früh, und sie wurde in das einzige Krankenhaus von El Centro gebracht, wo es eine kleine Geburtenstation gab. Schmerzmittel gab es keine, und die Geburt dauerte lange. Sie war vollkommen erschöpft, als ich am Montag, den 20. Mai 1946 gegen halb acht Uhr morgens zur Welt kam. Ich bin gerade noch Stier, nicht Zwilling, also wohnen drei Seelen in meiner Brust. Mich zog es wohl sofort weg aus dem Krankenhaus, aber als Frühchen mit kaum drei Kilo Körpergewicht musste ich noch eine Weile auf der Säuglingsstation bleiben.

Meine Großmutter Lynda hatte nicht mit meiner Mutter geredet, seit diese aus der Abtreibungsklinik geflohen war. In der Nacht vor meiner Geburt jedoch hatte sie eine Vorhersehung, weckte ihren neuesten Ehemann auf und sagte: »Steh auf. Wir müssen los, Jackie Jean kriegt jetzt ihr kleines Mädchen.« In einem plötzlichen Anflug mütterlicher Schuld zwang sie ihn, die Nacht durchzufahren bis El Centro, um mich willkommen zu heißen.

Während meine Mutter sich im Krankenhaus erholte, fragte eine Schwester sie: »Und wie soll das Kind denn heißen?« Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht, aber als die Schwester nicht lockerließ, sagte sie: »Also Lana Turner ist meine Lieblingsschauspielerin und ihre Tochter heißt Cheryl. Meine Mutter heißt Lynda, wie wäre es mit Cherilyn?« Jahrelang glaubte ich, mein Name sei Cherilyn, bis ich mich Jahre später offiziell in Cher umbenennen wollte. Doch auf der dafür angeforderten Geburtsurkunde hieß ich Cheryl. »Weißt du überhaupt, wie ich wirklich heiße, Mom?«, fragte ich meine Mutter.

»Zeig her!«, rief sie und schnappte sich das Dokument. Angesichts der Beweislast zuckte sie die Achseln. »Ich war doch nur ein Teenager und hatte schlimme Schmerzen. Sieh mir das mal nach.«

Zur Feier meiner Geburt kaufte Johnnie meiner Mutter eine mit Edelsteinen und Diamanten besetzte rotgoldene Uhr und stattete sie mit einer Wiege und einem Kinderwagen aus. Sie war ganz glücklich in ihrem Mama-Kokon und ging total in ihrer Rolle auf, saß in der Küche und bestickte sogar den kleinen Kimono, den ich im Krankenhaus getragen hatte. Den habe ich heute noch, meine Mutter hat ihn als Geburtstagsgeschenk für mich rahmen lassen. Sie lebten in einem bescheidenen Heim, aber es fehlte an nichts und meine Mutter war glücklich. Dann, ich war gerade sechs Monate alt, kam Johnnie eines Tages nach Hause und eröffnete ihr, dass er die Firma seines Vaters beim Kartenspielen verzockt hatte. Alles war weg. Meine Mutter konnte es kaum glauben.

Innerhalb weniger Tage mussten sie raus aus der Wohnung, ihre Uhr versetzen und in eine hässliche Quonsetbaracke ziehen, eine halbkreisförmige Wellblechhütte, wie sie nach dem Krieg oftmals als behelfsmäßige Unterkünfte genutzt wurden. Mit Temperaturen, die in der Wüste fast fünfzig Grad Celsius erreichten, war es, wie in einem Backofen zu leben. Als meine Mutter drohte, wieder fortzugehen, organisierte Johnnie Geld und präsentierte ihr einen Plan. Sie würden nach New York zu seiner Schwester gehen, die ihm, so hoffte er, sein nächstes Projekt finanzieren würde. Das klang zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber meine Mutter wollte so verzweifelt raus aus dem »Blechsarg«, dass sie keine andere Wahl hatte.

Sie machten sich also im Fernbus auf die über viertausend Kilometer lange Reise, auf der sie neun Bundesstaaten durchquerten und mehrfach umsteigen mussten. Unterwegs gestand Johnnie, dass er ein Auto gestohlen und nach Mexiko verkauft hatte, um die Tickets bezahlen zu können. Fast hätte man ihn dabei erwischt, und es lag ein Haftbefehl gegen ihn vor. Vielleicht spürte ich damals, wie gestresst meine Mutter war, jedenfalls weinte ich die gesamte Reise über und ließ mich nicht beruhigen. »Ich war keine gute Mutter«, gab sie später zu. »Ich war die ganze Zeit am Durchdrehen, weil ich in diesem Schlamassel steckte.«

Johnnies Schwester Liz lebte in einer kleinen Wohnung in New York und hatte weder die Mittel, in die Geschäfte ihres Bruders zu investieren, noch genug Platz, um uns alle aufzunehmen. Es war eiskalt, meine Mutter trug Johnnies Mantel und hielt mich fest an sich gepresst, um mich zu wärmen. Johnnie war regelrecht paranoid, wenn sie einen Polizisten sahen, und behauptete, dass es zu riskant für ihn sei, sich einen Job zu suchen. Als ihnen das Geld ausging, nahm Jackie Jean die Dinge in die Hand. Sie bewarb sich als Garderobenfräulein im Nachtclub Copacabana auf der East Sixtieth Street, wo sie dem gangstermäßigen Chef erst einmal ihre Beine zeigen musste. Was er sah, als sie schüchtern ihr Kleid anhob, muss ihn so beeindruckt haben, dass er sie zum Zigaretten-Mädchen beförderte, damit seine Kunden im brasilianischen Club und Restaurant diese Beine ebenfalls würden bewundern können. Der Club, der in den Fünfzigern und Sechzigern berühmt für seine Shows mit Dean Martin, Jerry Lewis und Sammy Davis Jr. werden sollte und später in Barry Manilows gleichnamigem Song verewigt wurde, war gut besucht und meine Mutter verdiente nicht schlecht. Ab und an bekam sie sogar heimlich Trinkgeld zugesteckt. Aber sobald sie ihren ersten Lohn bekommen hatte, verkündete Johnnie, sie würden die Stadt verlassen, da die New Yorker Polizei ihm auf den Fersen sei.

Er versicherte meiner Mutter, dass er im hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von New York gelegenen Scranton, Pennsylvania, einen Job finden würde, und versprach, uns nach Kalifornien zurückzubringen. Nach einer weiteren langen Busreise suchte er uns ein billiges Hotel, von den angeblichen Jobs weit und breit keine Spur. Für meine Mutter war es der absolute Horror. Als sie nur noch ein paar Cent übrig hatten, was gerade so reichte, um zwei Flaschen Milch für mich zu kaufen, rastete sie aus. »Tu was, Johnnie!«, rief sie. »Wir haben jetzt ein Kind, das von uns abhängig ist!« Jahre später beschützte sie mich und meine Schwester wie eine Löwin, aber damals hatte sie noch keine Ahnung, wie stark sie war.

Mein Vater wollte zurück nach New York trampen, um sich bei seiner Schwester Geld zu leihen, meine Mutter sollte sich derweil eine Stelle als Kellnerin suchen. »Aber was ist mit dem Baby?«, fragte sie entsetzt.

Mein katholisch erzogener Vater hatte auch darauf eine Antwort: »Es gibt hier bestimmt eine kirchliche Organisation, wo wir sie lassen können, bis wir genug Geld haben, um sie zurückzuholen.« Süßholzraspler der er war, heulte er dann einem Priester etwas vor, der ihm einen Kontakt zu den Nonnen in einem Heim für Kinder und unverheiratete Mütter vermittelte. »Es ist ja nur für ein paar Wochen«, versprach er Jackie Jean. »Dann komme ich dich und die kleine Cherilyn holen und wir fahren alle nach Hause.«

Zuerst blieb meine Mutter ruhig, sie konzentrierte sich auf den Plan. Alles würde gut werden, in zwei Wochen hätte sie ihren Mann und ihr Kind zurück. Aber sobald mein Vater fort war, wurde ihr plötzlich bewusst, wie die Dinge wirklich lagen. Sie kannte keine Menschenseele in dieser weitläufigen Bergarbeiterstadt, hatte kaum einen Cent in der Tasche und ihr Baby war in dieser merkwürdigen Institution untergebracht. Als Johnnie ging, zog sie in ein acht Quadratmeter großes Zimmer, eher Schuhschachtel als Wohnung. Sie fing in einem Diner an, der die ganze Nacht geöffnet war, und ackerte dort sieben Tagen die Woche von neunzehn bis sieben Uhr. Ich kann mir das als Mutter kaum vorstellen. Das Heim, in dem sie mich unterbrachte, war eins von vielen überall in den USA, die von Armut betroffene Waisen und andere Kinder aufnahmen, bis ihre Familien sie wieder versorgen konnten. Jackie Jean fand die Vorstellung furchtbar, mich bei diesen ernst dreinblickenden Schwestern in ihren schwarzen Roben zurückzulassen, selbst wenn es nur vorübergehend war. Und ihr Unbehagen wuchs nur, als sie merkte, dass die Nonnen sie von Anfang an ablehnten, weil sie Baptistin war. Hilflos und in Tränen aufgelöst musste sie mich zurücklassen, mein Heulen noch in den Ohren.

Wenn sie bei Tagesanbruch nach der Schicht in ihr Zimmerchen zurückkehrte, kroch sie ins Bett und weinte sich in den Schlaf. Sie war ganz allein, hatte keine Freunde, kein Baby, ihr Ehemann war fort und sie wusste nicht, wie lange sie das noch aushalten würde. Also durchsuchte sie die Zeitungsanzeigen nach besser bezahlter Arbeit. Ein Lichtblick war die Zeit, als sie in der Manila Bar & Grill als Kellnerin und Sängerin arbeitete. Der Besitzer war freundlich, sie bekam reichlich Trinkgeld und konnte mich zweimal die Woche besuchen. Jackie Jean schöpfte Hoffnung, bis sie zu ihrem Entsetzen feststellen musste, dass sie wieder schwanger war – von meinem Vater, dem einzigen Mann, mit dem sie je geschlafen hatte.

Erneut geriet ihr Leben total aus den Fugen. Meine Mutter war nicht nur eine gute Sängerin, sondern wusste auch ihr Aussehen einzusetzen. Im Restaurant gab es einen älteren verheirateten Stammgast namens Dave, der großzügig Trinkgeld gab – vor allem, wenn sie sein Lieblingslied »My Man« sang, und den bat sie jetzt um Hilfe.

»Aber was ist denn mit deinem Mann?«, fragte er. Als sie daraufhin in Tränen ausbrach, versprach er widerstrebend, zu tun, was er konnte. »Du verlangst ganz schön viel von einem Mann, der dich nicht mal geküsst hat.« Aber er tat trotzdem eine Frau auf, die für hundert Dollar Abtreibungen durchführte, und organisierte jemanden, der meine Mutter zu der geheimen Adresse brachte und abholte. Nach dem Eingriff hatte meine Mutter solche Schmerzen, dass sie nicht heimkonnte, sondern zu einer Krankenschwester nach Hause gebracht wurde. Drei Wochen lang hütete sie das Bett. Als Dave meiner Mutter einen Krankenbesuch abstattete, fragte sie ihn, was sie im Falle ihres Todes getan hätten. Und sie erschrak über seine Antwort.

»Ach Mädchen, ich will nicht lügen. Dann hätten wir deine Leiche in den Fluss geworfen, sonst wären wir alle im Gefängnis gelandet.« Für mich hätte das Adoption bedeutet, oder für immer bei den Nonnen zu bleiben. Daves Antwort kommt einem jetzt heftig vor, aber damals wurden diejenigen, die Abtreibungen durchführten, strafrechtlich verfolgt. Die Polizei trat deswegen genauso routinemäßig die Türen von Kliniken oder von Privatleuten ein wie sie Bordelle und Spielhöllen hochnahm. Wer dabei erwischt wurde, einer Frau zu helfen, musste sich (wie gesagt, nicht viel anders als heute) auf Gefängnisstrafen von im Schnitt drei bis fünf Jahren einstellen und verlor, sofern vorhanden, seine medizinische Zulassung. Die Frauen sah man im Allgemeinen als Opfer an und nötigte sie, zu gestehen. Aber das Stigma, das so einem Prozess anhaftete, konnte sie ruinieren. Es war für alle Beteiligten ein enormes Risiko.

Als meine Mutter nach drei Wochen wieder auf den Beinen war, eilte sie sofort zum Kinderheim, um für meinen Unterhalt zu zahlen und mich für einen Tag mitzunehmen. Doch zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass die Nonnen das nicht erlaubten. Sie durfte mich nicht einmal auf den Arm nehmen, sah mich nur durch ein kleines Guckfenster in der Tür. »Und da standest du in deinem kleinen Bettchen und hast dich an den Seiten festgehalten und geweint. Ich habe auch geweint. Ich habe mich so hilflos gefühlt.«

Ihr Protest stieß auf taube Ohren, bei der Mutter Oberin hatte sie sowieso verloren, weil sie an einem Ort arbeitete, wo Alkohol ausgeschenkt wurde. Sie glaubte meiner Mutter nicht einmal, dass sie verheiratet war, und fragte immer wieder: »Warum ist Ihr Mann nicht hier? Sorgt er sich nicht um sein Kind?« Jackie Jean wusste noch nicht so richtig, wie die Dinge liefen, und fürchtete, dass das Heim, wenn sie für sich eintrat, mich für immer behalten würde. Sie hatte keine Möglichkeit, Johnnie zu kontaktieren, und niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Sie setzt darauf, dass mein Vater mich sofort dort rausholen würde, wenn er aus New York zurück wäre. Doch mein Versager-Vater kam nicht zurück, kein Sterbenswörtchen von ihm. Er verschwand einfach. Jackie Jean fragte sich, womit sie ihn verdient hatte, und tröstete sich damit, dass ich immerhin entstanden war. Das war alles, wozu er gut gewesen war.

»So viele Nächte saß ich weinend in meinem winzigen Zimmer und habe mich gefragt, was ich tun soll und wo zum Teufel Johnnie steckt. Ich habe ihn echt gehasst.« Sie konnte nur jede Woche zum Kinderheim gehen und darum bitten, dass sie mich sehen durfte. Es zerriss ihr das Herz, mein Gesichtchen nur durch das Fenster anschauen zu können. Einmal lieh sie sich eine Kamera und schoss das Foto, das sie hütete wie einen Schatz. Anfang 1947 erklärte die Mutter Oberin, Jackie Jean Sarkisian sei als Mutter ungeeignet, sie solle mich besser zur Adoption freigeben. Das wollte sie natürlich nicht, aber als alleinerziehende Mutter ohne Geld war es fast unmöglich, die Obrigkeit infrage zu stellen.

Ihr fiel ein, dass Dave im Stadtrat saß, und wieder bat sie ihn um Hilfe. Zögerlich willigte er ein und sagte: »Ich kann es nicht mit der gesamten katholischen Kirche aufnehmen, aber mir wird schon etwas einfallen.« Als er sie an ihrem nächsten freien Tag zum Essen einlud, fürchtete sie, dass er etwas als Gegenleistung erwartete. Aber sie wäre auch einen Pakt mit dem Teufel eingegangen, um mich zu retten.

Dave besorgte ihr eine Zugfahrkarte. Dann marschierte er ins Kinderheim und sagte der Mutter Oberin: »Sie sind rechtlich nicht befugt, Cherilyn Sarkisian weiter hierzubehalten.« Sie war davon so eingeschüchtert, dass sie mich sofort herausgab. Meine Mutter konnte oder wollte sich nie daran erinnern, wie lange ich bei den Nonnen gelebt hatte. Aber es müssen mehrere Monate gewesen sein, denn als sie mich weggab, konnte ich kaum krabbeln und zurück zu Hause schon laufen.

Die Nonnen ließen meine Mutter ihr gesamtes Leben nicht los. Geschichten wie meine gibt es Hunderte. Von Kindern, die von der Kirche einbehalten oder gegen den Willen ihrer verängstigten, als sündig und unverantwortlich verurteilten jungen Mütter, zur Adoption freigegeben wurden. Seit Anbeginn der Zeit dürfen sich Frauen so etwas anhören. Mittlerweile habe ich auch viele tolle und liebevolle Nonnen kennengelernt, aber ich tue mich immer noch schwer damit, denen zu vergeben, die meiner Mutter ihr Kind wegnehmen wollten und fast unser Leben zerstört hätten.

Fast fünfzig Jahre später konnte ich endlich meine Gefühle in einem Song für meine Mutter mit dem Titel »Sisters Of Mercy« ausdrücken. Es ist eines der wenigen Lieder, das ich selbst geschrieben, gesungen und produziert habe. Es entstand 1994 auf einem Songwriting-Symposium in einem französischen Schloss. Ich wachte auf und schrieb den Song in einem Rutsch. Die erste Zeile lautet: »Your faith ist not faithful. Your grace has no grace. Your mercy shows no mercy. Is there no way out of this place?«, also: »Euer Glaube ist nicht glaubenstreu, eure Gnade ist gnadenlos, euer Erbarmen kennt kein Erbarmen. Gibt es denn keinen anderen Ausweg?« Und ich hielt mich auch weiter nicht zurück: »There’s a baby sobbing softly, in a crib that’s now a cage. She’s done nothing to deserve this, but it sanctifies their rage.« (»Da weint ein Baby in der Krippe, in der es wie im Käfig ruht. Sie liegt hier unverschuldet, doch das heiligt ihre Wut.«) Und im Refrain heißt es dann: »Sisters of Mercy, daughters of hell.« (»Barmherzige Schwestern, Töchter der Hölle.«) Als ich das Lied meiner Mutter das erste Mal vorspielte, konnte sie gar nicht aufhören zu schluchzen. Aber ich glaube, sie empfand es auch als Bestätigung und ihr Schmerz wurde etwas gelindert.

Einige Vertreter der katholischen Kirche fühlten sich angegriffen und nannten das Lied »höchst aufwieglerisch«. Ich verstehe ihre Reaktion, schließlich ist es ein heftiger Song. Aber ich habe ihn für meine Mutter geschrieben und konnte ihr damit etwas von der Last nehmen. »Sisters Of Mercy« sollte nicht die gesamte katholische Kirche verunglimpfen, sondern war eine berechtigte und tief empfundene Reaktion darauf, wie Menschen ihre Macht missbrauchten und meiner Mutter schadeten.

Nie konnte sie das einzige Foto von mir, das mich in dieser strafenden Institution zeigte, mit jemandem teilen. Es blieb ganz hinten in der Schublade. Jedes Mal, wenn sie darüber sprach, brach sie zusammen. Und doch war dieses eine Bild unter den Millionen Fotos, die über die Jahre von mir gemacht wurden, das einzige, welches ich unbedingt sehen wollte – und nie zu Gesicht bekam.

3

a dream is a wish your heart makes

Eins ist klar, meine Kindheit war alles andere als normal. Aber erst später verstand ich, woher meine Angst vor dem Verlassenwerden kam. Vielleicht bin ich deswegen immer zuerst gegangen. Wenn man sich meine Vergangenheit so anschaut, ist das wohl nicht weiter verwunderlich. Die Angst vor dem Verlassenwerden hängt zweifelsohne damit zusammen, dass ich als Baby von meiner Mutter getrennt war, und meine innere Dramaqueen gehört heute fest zu meiner komplizierten Persönlichkeit.

Nachdem meine Mutter mich aus den Fängen der Nonnen befreit hatte, fuhr sie mit dem Zug nach Twin Falls in Idaho, wo Opa Roy und Onkel Mickey im Elend lebten. Sie nahm ihren zwölf Jahre alten Bruder kurzerhand mit nach L. A. und ließ ihn dort eine Weile bei Lynda, während sie sich ihren Lebensunterhalt als Kellnerin verdiente. Damals war ich gerade ein Jahr alt und kann mich an diese Zeit nicht erinnern. Aber man hatte mir erzählt, dass Freundinnen meiner Großmutter, Edith und Mackie, auf mich aufpassten, während meine Mutter schuften ging. Erst in meinen Dreißigern erfuhr ich die Wahrheit. Ich hatte ein Konzert im Caesars Palace in Las Vegas, und meine Großmutter kam in den Backstagebereich, wo ich mich gerade schminkte, um mir Mackie, ihre damalige Nachbarin, vorzustellen. Ich hatte schon viel von ihr gehört und wusste, dass sie früher auf mich aufgepasst hatte. Doch sie hatte mir etwas mitgebracht: einen alten hölzernen Kinderhochstuhl, mit einem abgegriffenen Bambi-Abziehbild. »Das war deiner, als du bei uns gewohnt hast«, sagte Mackie, die mir unbedingt den Stuhl schenken wollte.

»Bei euch gewohnt?«, fragte ich und brachte kaum ein Wort heraus. Ich dachte mir nur: Krass, immer wieder kommt was Neues raus. Mir war klar, wenn ich jetzt redete, würde ich nur weinen müssen. Also sagte ich in meinem Schockzustand nichts und trug mir weiter Make-up auf. Gleich würde ich auf die Bühne gehen und vor einer ausverkauften Halle auftreten müssen, und mittlerweile hatte ich gelernt, meine Gefühle abzuspalten – ein Trick, der mich seitdem durch meine Karriere brachte. (Es ist mir wirklich oft begegnet, dass mir kurz vor einem Auftritt etwas passierte, was mich aufgewühlt hat. Seltsam, man funktioniert dann wie auf Autopilot.) Erst sehr viel später konnte ich meine Großmutter in die Enge treiben, als sie mir eröffnete, dass meine Zeit im Kinderheim nicht das einzige Mal gewesen war, dass man mich der Obhut von eigentlich Fremden überlassen hatte. Als ich etwa zwei Jahre alt war, wohnte ich nicht nur zeitweise bei Mackie, sondern auch bei einer jungen Mutter namens Edith. Ich dachte mir: Hört das denn verdammt nochmal nie auf mit dem Verlassenwerden?

»Wie lange war ich denn bei diesen Frauen?«, fragte ich ganz benommen.

»Ach, eine ganze Weile«, sagte Lynda. Da sie selbst nie eine normale Kindheit gehabt hatte, brachte sie das nicht aus der Fassung. Sie erzählte mir davon ganz beiläufig, als würde sie mir nicht gerade eröffnen, dass meine eigene Familie mich schon wieder abgeladen hatte, weil sie nicht für mich sorgen wollte oder konnte. Kein Wunder, dass ich so unsicher war und mein Leben lang mit Trennungsangst zu kämpfen hatte. Die Gefühle, die an die Oberfläche waberten, nachdem ich mit diesen neuen Informationen konfrontiert worden war, haben mich noch lange gequält. Ich begann, mich an merkwürdige Dinge zu erinnern, Puzzlestücke, die mir das Gefühl gaben, keine Verbindung zu Teilen meiner Vergangenheit zu haben. Alleine konnte ich diese Stücke nicht zusammensetzen, dafür brauchte ich Hilfe. »Ich verstehe das nicht«, sagte ich zu meiner Großmutter. »Wo war denn meine Mutter die ganze Zeit?«

Lynda zögerte. »Sie war eben jung und viel unterwegs. Und dann hat sie diesen Typen in Reno kennengelernt, der war reich …«

Ich unterbrach sie sofort. Natürlich hatte Lynda, die ganz versessen darauf war, meiner Mutter einen reichen Ehemann zu finden, sie dazu ermutigt, zu einem reichen Typen zu ziehen, selbst wenn das bedeutete, mich zurückzulassen. In Scranton hatte meine Mutter so um mich gekämpft, aber kaum machte meine Großmutter Druck, verließ sie mich wieder. Geht’s noch?

Was genau passiert war, fand ich erst nach und nach heraus, die Chronologie ist immer noch ungewiss. Nach meiner Rettung vor den Nonnen parkte man mich bei Mackie und Edith, Mickey wurde irgendwo anders hingebracht. Derweil fuhren meine Mutter und Großmutter nach Nevada, um sich von ihren jeweiligen Ehemännern scheiden zu lassen. Der Scheidungsprozess in Reno war damals sehr einfach, man sprach auch von der »Reno Cure«. Allerdings musste man dort sechs Wochen leben, damit die Scheidung gültig wurde.

Es gab damals einen Schönheitswettbewerb in Reno, und Lynda drängte meine Mutter, teilzunehmen, wobei sie sich keine großen Chancen ausrechneten. Meine Mutter konnte es also kaum fassen, als sie zur »Model Miss« gekrönt wurde, Geld gewann und die Zeitung tagelang ihr Bild druckte. Auf einem der Fotos zwinkert sie jemandem zu, auf meine Frage hin, wem das gegolten habe, antwortete sie, meiner Großmutter.

Autor