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Bridgerton - Mitternachtsdiamanten

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Hyacinth Bridgerton erlebt das Abenteuer ihres Lebens

Hyacinth Bridgerton ist zwar hübsch und reich, aber auch blitzgescheit und unverblümt, weshalb viele Gentlemen einen Bogen um sie machen. Doch dann begegnet sie Lady Danburys Enkel Gareth St. Clair: wortgewandt und brillant, ist er ihr ebenbürtig. Er bittet sie, das Tagebuch seiner italienischen Großmutter zu übersetzen. Eines Tages jedoch küsst er Hyacinth. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie sprachlos. Sie sollte ihm das Tagebuch vor die Füße werfen! Aber stattdessen beginnt für sie und Gareth ein wagemutiges Abenteuer: Die Aufzeichnungen enthalten einen Hinweis auf versteckte Diamanten, von denen seine Zukunft abhängt ...

»Bietet viele romantische Lesestunden im Stile von Jane Austen.« Münsterland Zeitung über »Bridgerton– Der Duke und ich«

»Das siebte und zweitletzte Buch der Bridgerton-Reihe fesselt mehr denn je.« Tize


  • Erscheinungstag: 25.01.2022
  • Aus der Serie: Bridgerton
  • Bandnummer: 7
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000380
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Steve Axelrod, aus hundert verschiedenen Gründen.
(Aber besonders für den Kaviar!)
Und auch für Paul,
obwohl er zu glauben scheint,
dass ich zu den Leuten gehöre,
die gern etwas von ihrem Kaviar abgeben.

PROLOG

1815, zehn Jahre bevor unsere Geschichte so richtig losgeht …

In der Beziehung zu seinem Vater verließ Gareth St. Clair sich auf vier Grundsätze. Mit ihrer Hilfe erhielt er sich seine gute Laune und seine generelle geistige Gesundheit.

Erstens: Sie redeten nur dann miteinander, wenn es unumgänglich notwendig wurde.

Zweitens: Diese unumgänglich notwendigen Gespräche wurden so kurz wie möglich gehalten.

Drittens: Falls mehr als nur ein kurzes Grußwort gesprochen werden sollte, war es ratsam, eine dritte Person hinzuzuziehen.

Und schließlich viertens: Um Punkt eins, zwei und drei zu gewährleisten, musste Gareth seine Mitschüler möglichst oft dazu bringen, dass sie ihn über die Ferien zu sich nach Hause einluden.

Damit er die Zeit nicht bei sich zu Hause verbringen musste.

Genauer gesagt: nicht bei seinem Vater.

Wenn Gareth über diese Grundsätze nachdachte – was nicht oft geschah, da er seine Vermeidungsstrategien inzwischen wie im Schlaf beherrschte –, fand er, dass sie sich für ihn eigentlich recht gut bewährt hatten.

Und für seinen Vater auch, denn Richard St. Clair hatte seinen jüngeren Sohn ungefähr so gern, wie dieser ihn mochte. Weswegen Gareth sehr überrascht war, als er von der Schule nach Hause beordert wurde.

Und auch noch so energisch.

Das Schreiben seines Vaters ließ wenig Raum für Interpretation. Gareth hatte sich umgehend auf Clair Hall einzufinden.

Er fand das Ganze ziemlich ärgerlich. Seine Zeit in Eton neigte sich dem Ende zu, vor ihm lagen die letzten zwei Monate, und er genoss das Schulleben in vollen Zügen. Eton war eine aufregende Mischung aus Spiel, Sport, Unterricht und hin und wieder einem verstohlenen nächtlichen Ausflug ins Wirtshaus, wo man dem Wein und dem Weibe frönte.

Sein Leben war genau so, wie es sich ein junger Mann von achtzehn Jahren vorstellte. Und bisher war er davon ausgegangen, dass sich an diesem seligen Zustand auch im folgenden Jahr nichts ändern würde, solange er seinem Vater nur aus dem Weg ging. Im Herbst sollte er nach Cambridge gehen, wie seine besten Freunde auch, wo er sich seinen Studien mit demselben Elan zu widmen gedachte wie seinem gesellschaftlichen Leben.

Er blickte sich in der Eingangshalle von Clair Hall um und stieß einen langen Seufzer aus. Eigentlich wollte er seiner Ungeduld Ausdruck verleihen, verriet damit jedoch nur seine Nervosität. Was um alles in der Welt konnte der Baron – wie er seinen Vater in Gedanken stets nannte – von ihm wollen? Sein Vater hatte schon vor Langem verkündet, dass er es mit seinem Zweitältesten aufgegeben habe und nur für dessen Ausbildung aufkomme, weil man es von ihm erwartete.

Womit Lord St. Clair sagen wollte, dass es einen recht seltsamen Eindruck auf seine Freunde und Nachbarn gemacht hätte, wenn er Gareth nicht auf die richtige Schule geschickt hätte.

Wenn Gareth und sein Vater sich doch einmal begegneten, klagte der Baron meist die ganze Zeit darüber, was für eine Enttäuschung der Junge für ihn sei.

Was in Gareth vor allem den Wunsch weckte, seinen Vater noch weiter zu reizen. Schließlich wollte er die Befürchtungen, die sein Vater hegte, auch erfüllen.

Gareth klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Wie ein Fremder im eigenen Haus kam er sich vor, während er darauf wartete, dass der Butler den Baron von seiner Ankunft verständigte. In den letzten neun Jahren hatte er so wenig Zeit auf Clair Hall verbracht, dass ihn kaum etwas mit seinem Zuhause verband. Für ihn war es nichts als ein altes Gemäuer, das im Moment seinem Vater gehörte und irgendwann an seinen großen Bruder George übergehen würde. Nichts vom Erbe der Familie St. Clair war für Gareth vorgesehen, er würde selbst für sich aufkommen müssen. Vermutlich würde er nach dem Studium in Cambridge zum Militär gehen, denn der einzige andere Beruf, der ihm offenstand, war der des Pfarrers, und dazu eignete er sich weiß Gott nicht.

Gareth’ Mutter war bei einem Unfall ums Leben gekommen, als er fünf Jahre alt war. Er konnte sich kaum noch an sie erinnern, wusste aber noch, wie sie ihm das Haar gezaust und über ihn gelacht hatte, weil er nie ernst sein konnte.

»Mein kleiner Kobold«, hatte sie ihn immer genannt und ihm dann zugeflüstert: »Daraus darfst du nicht herauswachsen. Was du auch tust, aus deiner Unbekümmertheit darfst du nicht herauswachsen.«

Das war er auch nicht. Weswegen ihn die Anglikanische Kirche wohl kaum mit offenen Armen in ihren Reihen empfangen würde.

»Master Gareth.«

Gareth sah auf, als er die Stimme des Butlers hörte. Guilfoyle sprach wie immer völlig ausdruckslos.

»Ihr Vater kann Sie nun empfangen«, erklärte Guilfoyle. »Er hält sich in seinem Arbeitszimmer auf.«

Gareth nickte dem ältlichen Diener zu und ging den Gang hinunter zum Arbeitszimmer seines Vaters, dem Raum, den er am wenigsten mochte. Dort hielt sein Vater seine Gardinenpredigten, erklärte ihm, dass aus ihm nichts Vernünftiges werden würde, bekannte kühl, dass er nie einen zweiten Sohn in die Welt hätte setzen sollen und dass Gareth der Familie nur auf der Tasche liege und überhaupt ein einziger Schandfleck sei.

Nein, dachte Gareth, als er an die Tür klopfte, in diesem Raum warteten keine glücklichen Erinnerungen.

»Herein!«

Gareth stieß die schwere Eichentür auf und trat ein. Sein Vater saß am Schreibtisch und machte sich Notizen. Er sah gut aus, fand Gareth. Allerdings sah er immer gut aus. Es wäre leichter gewesen, wenn der Baron mit wachsendem Alter zu einer Karikatur seiner selbst geworden wäre, aber nein, Lord St. Clair war gesund und stark und wirkte eher wie Mitte dreißig denn wie Mitte fünfzig.

Er sah aus wie jemand, den ein junger Mann wie Gareth respektieren müsste.

Und das machte die Zurückweisung nur umso grausamer.

Geduldig wartete Gareth darauf, dass sein Vater aufsah. Als dieser sich nicht stören ließ, räusperte sich der junge Mann.

Keine Reaktion.

Gareth hüstelte.

Nichts.

Gareth begann mit den Zähnen zu knirschen. Das war typisch für seinen Vater – seinen Sohn durch Nichtbeachtung darauf hinzuweisen, wie unwichtig er ihn fand.

Gareth spielte mit dem Gedanken, etwas zu sagen. »Sir« zum Beispiel. Oder »Mylord«. Er überlegte sogar, das Wort »Vater« auszusprechen, doch am Ende lehnte er sich nur lässig an den Türrahmen und begann zu pfeifen.

Sofort schaute sein Vater auf. »Hör auf«, fuhr er ihn an.

Gareth hob eine Braue und hörte auf zu pfeifen.

»Und stell dich gerade hin. Mein Gott«, erklärte der Baron mürrisch, »wie oft habe ich dir schon gesagt, dass es ungezogen ist zu pfeifen?«

Gareth wartete einen Moment und fragte dann: »Erwartest du darauf eine Antwort, oder war die Frage rein rhetorisch?«

Sein Vater lief rot an.

Gareth schluckte. Er hätte das nicht sagen sollen. Ihm war völlig klar gewesen, dass der bewusst scherzhafte Ton den Baron erzürnen würde, nur manchmal brachte er es einfach nicht fertig, den Mund zu halten. Jahrelang hatte er sich darum bemüht, die Zuneigung seines Vaters zu gewinnen, und am Ende hatte er es einfach aufgegeben.

Und wenn er eine gewisse Befriedigung daraus zog, den Baron genauso unglücklich zu machen, wie dieser ihn unglücklich machte, konnte er es auch nicht ändern. Man musste auch die kleinen Freuden zu schätzen wissen.

»Dein Kommen überrascht mich«, sagte sein Vater.

Gareth blinzelte verwirrt. »Du hast mich doch darum gebeten«, meinte er. Er hatte seinem Vater noch nie die Stirn geboten. Zumindest nicht direkt. Er reizte ihn, er war unverschämt zu ihm, doch er hatte sich ihm nie richtig in den Weg gestellt.

Elender Feigling, der er war.

In seinen Träumen wehrte er sich. In seinen Träumen sagte er seinem Vater ganz genau, was er von ihm hielt, im wahren Leben hingegen beschränkte sich sein Widerstand auf Pfeifen und mürrische Blicke.

»In der Tat«, erwiderte sein Vater und lehnte sich ein wenig im Stuhl zurück. »Allerdings rechne ich nie damit, dass du meine Anweisungen korrekt befolgst. Du tust es so selten.«

Gareth schwieg.

Sein Vater stand auf und trat an ein Beistelltischchen, auf dem eine Karaffe Brandy stand. »Vermutlich fragst du dich, worum es geht«, sagte er.

Gareth nickte, doch da sein Vater ihn nicht ansah, fügte er hinzu: »Jawohl, Sir.«

Genießerisch nahm der Baron einen Schluck Brandy, ließ ihn sich auf der Zunge zergehen, ohne seinen Sohn zu beachten. Schließlich wandte er sich ihm zu und erklärte mit einem kalten, abschätzigen Blick: »Ich habe endlich einen Weg gefunden, wie du unserer Familie von Nutzen sein kannst.«

Gareth sah erstaunt auf. »Wirklich, Sir?«

Sein Vater nahm noch einen Schluck und stellte dann das Glas ab. »Wirklich.« Er drehte sich zu seinem Sohn um und sah ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht. »Du wirst heiraten.«

»Sir?«, fragte Gareth. Das Wort blieb ihm beinahe im Hals stecken.

»Diesen Sommer«, bestätigte Lord St. Clair.

Gareth griff nach dem nächstbesten Stuhlrücken, um nicht ins Wanken zu geraten. Liebe Güte, er war erst achtzehn! Viel zu jung zum Heiraten. Und was war mit Cambridge? Würde er dort als verheirateter Mann überhaupt aufgenommen werden? Und wo sollte er seine Frau lassen?

Und, gütiger Himmel, wen sollte er überhaupt heiraten?

»Eine hervorragende Partie«, fuhr der Baron fort. »Die Mitgift wird unsere Finanzen sanieren.«

»Unsere Finanzen, Sir?«, flüsterte Gareth.

Lord St. Clair fixierte seinen Sohn. »Wir sind bis über die Ohren verschuldet«, sagte er scharf. »Wenn es so weitergeht, verlieren wir binnen eines Jahres alles, was nicht zum Fideikommiss gehört.«

»Aber … wie das?«

»Eton ist nicht billig«, fuhr ihn der Baron an.

Das nicht, aber sicher auch nicht so teuer, um die Familie an den Bettelstab zu bringen, dachte Gareth verzweifelt. Es konnte doch nicht alles seine Schuld sein.

»Du magst eine Enttäuschung für mich sein«, fuhr sein Vater fort, »aber ich habe meine Pflicht dir gegenüber nicht vernachlässigt. Du bist zum Gentleman erzogen worden. Du hast ein Pferd bekommen, anständige Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Und nun wird es Zeit, dass du dich wie ein Mann verhältst.«

»Wen?«, flüsterte Gareth.

»Wie?«

»Wen soll ich heiraten?«, fragte er ein wenig lauter.

»Mary Winthrop«, versetzte sein Vater nüchtern.

Gareth wurde kreidebleich. »Mary …«

»Wrothams Tochter«, erläuterte sein Vater.

Als ob Gareth das nicht wüsste. »Aber Mary …«

»… wird eine ganz hervorragende Gattin abgeben«, sagte der Baron. »Sie ist fügsam. Du kannst sie jederzeit draußen auf dem Land lassen, wenn du dich mit deinen albernen Freunden in London amüsieren willst.«

»Aber, Vater, Mary …«

»Ich habe an deiner statt angenommen«, setzte ihn sein Vater in Kenntnis. »Es ist alles abgemacht. Die Verträge sind bereits unterzeichnet.«

Gareth rang nach Luft. Das konnte einfach nicht wahr sein. Ein Mann konnte bestimmt nicht zur Ehe gezwungen werden. Nicht in dieser Zeit.

»Wrotham wünscht, dass die Hochzeit im Juli stattfindet«, fügte sein Vater hinzu. »Ich habe ihm gesagt, von unserer Seite gebe es keine Einwände.«

»Aber … Mary …« Gareth keuchte. »Ich kann Mary nicht heiraten!«

Sein Vater hob eine seiner buschigen Brauen. »Du kannst es tun, und du wirst es tun.«

»Aber, Vater, sie … sie ist …«

»Einfältig?«, vollendete der Baron den Satz. Er lachte leise. »Was hat das schon zu bedeuten, wenn sie unter dir im Bett liegt? Und sonst brauchst du mit ihr nichts anzufangen.« Er trat ganz dicht an seinen Sohn heran. »Ich verlange von dir nur, dass du in der Kirche erscheinst. Haben wir uns verstanden?«

Gareth sagte gar nichts. Er tat auch sonst nicht viel. Schließlich war er schon froh, dass er überhaupt noch atmen konnte.

Mary Winthrop kannte er schon sein Leben lang. Sie war ein Jahr älter als er, und die Anwesen der Familien grenzten seit Generationen aneinander. Als Kinder waren sie Spielkameraden gewesen, doch bald schon hatte sich herausgestellt, dass Mary nicht ganz richtig im Kopf war. Wenn er zu Hause weilte, hatte Gareth sie immer beschützt. Er hatte mehr als einem Rabauken die Nase blutig geschlagen, wenn dieser das Mädchen beschimpfte oder versuchte, ihr liebes, bescheidenes Wesen auszunutzen.

Aber heiraten konnte er sie nicht. Sie war wie ein Kind. Bestimmt wäre es eine Sünde. Und selbst wenn nicht, könnte er es nicht ertragen. Wie könnte sie je verstehen, was zwischen ihnen als Mann und Frau geschehen sollte?

Mit ihr könnte er nie den ehelichen Akt vollziehen. Niemals.

Gareth starrte seinen Vater an, vollkommen sprachlos. Zum ersten Mal im Leben hatte er keine lässige Antwort parat, keine schnodderige Erwiderung.

Es gab einfach keine Worte, die einer derartigen Situation angemessen gewesen wären.

»Wie ich sehe, verstehen wir einander«, erklärte der Baron lächelnd, als sein Sohn beharrlich schwieg.

»Nein!«, platzte Gareth endlich heraus. »Nein! Ich kann nicht!«

Sein Vater kniff die Augen zusammen. »Du wirst am Traualtar stehen, und wenn ich dich dort festbinden muss.«

»Nein!« Er meinte, schier ersticken zu müssen, doch irgendwie brachte er die Worte hervor. »Vater, Mary ist … nun ja, sie ist wie ein Kind. Sie wird nie etwas anderes sein. Das weißt du doch. Ich kann sie nicht heiraten. Es wäre eine Sünde.«

Der Baron lachte und wandte sich ab, sodass die Spannung im Raum ein wenig nachließ. »Versuchst du mir etwa zu erzählen, dass du, ausgerechnet du, auf einmal religiös geworden bist?«

»Nein, aber …«

»Es gibt nichts mehr zu bereden«, unterbrach ihn sein Vater. »Wrotham war höchst generös, was die Mitgift angeht. Ihm bleibt ja auch weiß Gott nichts anderes übrig, wenn er seine Idiotin an den Mann bringen will.«

»Sprich nicht so von ihr«, flüsterte Gareth. Heiraten wollte er Mary Winthrop zwar nicht, aber er kannte und mochte sie schon so lang – sie hatte es einfach nicht verdient, dass man so von ihr sprach.

»Etwas Besseres wirst du im Leben nicht erreichen«, sagte Lord St. Clair. »Das ist das Beste. Wrothams Mitgift ist außerordentlich großzügig bemessen, und ich werde dafür sorgen, dass du eine Apanage bekommst, von der du bequem leben kannst.«

»Eine Apanage«, wiederholte Gareth ausdruckslos.

Sein Vater schnaubte verächtlich. »Ich glaube nicht, dass ich dir eine größere Summe Geldes anvertrauen könnte«, sagte er. »Und du?«

Unbehaglich schluckte Gareth. »Was ist mit der Schule?«, fragte er leise.

»Die kannst du trotzdem besuchen. Tatsächlich hast du das deiner zukünftigen Braut zu verdanken. Ohne ihre Mitgift hätte ich dazu nicht genügend Kleingeld.«

Gareth stand da und bemühte sich verzweifelt, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sein Vater wusste genau, wie viel ihm das Studium in Cambridge bedeutete. Es war der einzige Punkt, in dem sie übereinstimmten: Ein Gentleman brauchte die Ausbildung eines Gentlemans. Da spielte es keine Rolle, dass Gareth sich nach beiden Aspekten des Universitätslebens sehnte, dem wissenschaftlichen wie dem gesellschaftlichen, während es Lord St. Clair nur darum ging, den Schein zu wahren. Seit Jahren stand fest, dass Gareth nach Cambridge gehen und dort studieren sollte.

Doch offensichtlich hatte Lord St. Clair gewusst, dass er sich die Ausbildung seines jüngeren Sohnes gar nicht leisten konnte. Wann er ihn wohl davon in Kenntnis zu setzen beabsichtigt hatte? Während Gareth die Koffer packte?

»Es ist entschieden, Gareth«, erklärte sein Vater scharf. »Und du musst derjenige sein, der es tut. George ist mein Erbe, ich kann nicht zulassen, dass er unser Blut verunreinigt. Außerdem«, fuhr er mit geschürzten Lippen fort, »würde ich ihm etwas Derartiges niemals zumuten wollen.«

»Und mir schon?«, flüsterte Gareth. Hasste ihn sein Vater denn so sehr? Hielt er so wenig von ihm? Er sah zu seinem Vater auf, blickte in das Gesicht, das ihm so viel Unglück beschert hatte. Nie hatte er ein Lächeln geschenkt bekommen, ein ermutigendes Wort. Niemals …

»Warum?«, hörte Gareth sich fragen. Das Wort klang klagend, leidend, wie von einem verletzten Tier. »Warum?«, fragte er noch einmal.

Sein Vater antwortete nicht, stand nur da und krampfte die Hände um die Schreibtischplatte, bis die Knöchel weiß hervorstanden. In diesem Moment konnte Gareth nichts anderes tun, als wie gebannt auf die Hände seines Vaters zu starren, obwohl der Anblick durchaus nichts Ungewöhnliches war. »Ich bin dein Sohn«, flüsterte er. Er war immer noch nicht in der Lage, den Blick von den Händen zu wenden und seinem Vater ins Gesicht zu sehen. »Dein Sohn. Wie kannst du deinem eigenen Sohn so etwas antun?«

Und das war der Augenblick, in dem sein Vater, der Meister der verletzenden Bemerkung, dessen Zorn immer eher frostige Formen annahm als lodernde, vollkommen die Beherrschung verlor. Er riss die Hände hoch und begann zu brüllen.

»Mein Gott, hast du es denn immer noch nicht verstanden? Du bist nicht mein Sohn! Du warst nie mein Sohn! Du bist nichts als ein Bastard, ein räudiger Welpe, den sich deine Mutter von einem anderen Mann eingefangen hat, als ich nicht zu Hause war.«

Endlich brach die Wut weiß glühend aus ihm hervor, nachdem er sie etliche Jahre unterdrückt und verborgen hatte. Sie erfasste Gareth wie eine mächtige Woge, erdrückte ihn und würgte ihn, bis er kaum noch Luft bekam. »Nein«, sagte er und schüttelte verstört den Kopf. Natürlich hatte er auch schon daran gedacht, hatte es sich sogar erhofft, aber es konnte nicht wahr sein: Er sah seinem Vater ähnlich. Sie hatten die gleiche Nase, oder nicht? Und …

»Ich habe dich durchgefüttert«, sagte der Baron leise und hart. »Ich habe dir Kleider gekauft und dich der Welt als meinen Sohn präsentiert. Ich habe für deinen Unterhalt gesorgt. Ein anderer Mann hätte dich einfach hinausgeworfen. Es wird höchste Zeit, dass du dich dafür revanchierst.«

»Nein«, sagte Gareth noch einmal. »Das kann nicht sein. Ich sehe aus wie du. Ich …«

Lord St. Clair schwieg einen Augenblick. Dann erklärte er bitter: »Ein unglücklicher Zufall, lass dir das gesagt sein.«

»Aber …«

»Ich hätte dich bei deiner Geburt hinauswerfen können«, unterbrach Lord St. Clair ihn, »hätte deine Mutter wegschicken, euch beide auf die Straße setzen können. Ich habe es nicht getan.« Er trat dicht an Gareth heran und schob sein Gesicht ganz nah an das seines Sohnes. »Ich habe dich anerkannt, du giltst als mein rechtmäßiger Sohn.« Und dann fügte er leise, zornbebend hinzu: »Du bist mir etwas schuldig.«

»Nein«, wiederholte Gareth. Endlich fand seine Stimme die Festigkeit, die er für den Rest seines Lebens brauchen würde. »Nein. Das werde ich nicht tun.«

»Ich enterbe dich«, drohte der Baron. »Von mir bekommst du keinen einzigen Penny mehr. Du kannst deine Träume von Cambridge begraben, deine …«

»Nein«, sagte Gareth noch einmal, und diesmal klang es anders. Er fühlte sich auch anders. Etwas war zu Ende gegangen. Seine Kindheit. Die Tage der Unschuld. An ihre Stelle trat etwas Neues.

Gott allein wusste, was das sein mochte.

»Ich bin fertig mit dir«, zischte sein Vater – nein, nicht sein Vater, irgendjemand anders. »Fertig!«

»Von mir aus«, erklärte Gareth.

Und ging hinaus.

1. KAPITEL

Zehn Jahre sind ins Land gegangen.

Wir begegnen unserer Heldin, die, wie wir einräumen müssen, niemals als schüchternes, zurückhaltendes junges Mädchen galt. Ort der Handlung ist die alljährlich stattfindende musikalische Soiree im Hause Smythe-Smith, die Zeit ungefähr zehn Minuten bevor Herr Mozart anfängt, sich im Grabe umzudrehen.

»Wieso tun wir uns das nur an?«, fragte sich Hyacinth Bridgerton laut.

»Weil wir nette, freundliche Menschen sind«, erklärte ihre Schwägerin, die – der Himmel sei ihr gnädig – in der ersten Reihe saß.

»Man sollte meinen«, beharrte Hyacinth, während sie den leeren Sitzplatz neben Penelope mit ungefähr demselben Enthusiasmus betrachtete, den sie einem Seeigel entgegengebracht hätte, »dass uns letztes Jahr eine Lehre gewesen wäre. Oder das Jahr davor. Oder vielleicht sogar …«

»Hyacinth?«, unterbrach Penelope.

Hyacinth sah die junge Frau an und hob fragend eine Augenbraue.

»Setz dich.«

Hyacinth seufzte. Doch sie nahm Platz.

Die musikalische Soiree im Hause Smythe-Smith. Zum Glück fand sie nur einmal im Jahr statt. Hyacinth war der festen Überzeugung, dass ihre Ohren die ganzen folgenden zwölf Monate brauchten, um sich zu erholen.

Sie stieß einen weiteren Seufzer aus, noch lauter als der letzte. »Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich wirklich nett und freundlich bin.«

»Ich mir auch nicht so ganz«, stimmte Penelope zu, »aber ich habe beschlossen, trotzdem an dich zu glauben.«

»Das ist nett von dir«, erklärte Hyacinth.

»Finde ich auch.«

Hyacinth sah sie von der Seite an. »Natürlich blieb dir nicht viel anderes übrig.«

Penelope drehte sich zu ihr. »Und was soll das jetzt heißen?«

»Colin hat sich geweigert, dich zu begleiten, stimmt’s?«, sagte Hyacinth listig. Colin war Hyacinth’ Bruder und hatte Penelope vor einem Jahr geheiratet.

Penelope presste die Lippen fest zusammen.

»Recht zu behalten macht mich wirklich glücklich«, frohlockte Hyacinth. »Was ziemlich günstig ist, denn ich habe ja dauernd recht.«

Ihre Schwägerin sah sie strafend an. »Du weißt hoffentlich, dass du einfach unerträglich bist.«

»Aber natürlich.« Mit spitzbübischem Lächeln beugte sich Hyacinth zu Penelope. »Du magst mich trotzdem, gib es zu.«

»Ich gebe gar nichts zu, bevor der Abend vorüber ist.«

»Nachdem wir beide das Gehör verloren haben?«

»Nachdem wir gesehen haben, ob du dich zu benehmen weißt.«

Hyacinth lachte. »Du hast in unsere Familie eingeheiratet. Du musst mich lieben. Das ist eine eheliche Verpflichtung.«

»Komisch, ich kann mich gar nicht erinnern, dass dies im Eheversprechen vorgekommen wäre.«

»Wirklich komisch«, gab Hyacinth zurück. »Ich erinnere mich genau daran.«

Penelope sah sie an und lachte. »Ich weiß nicht, wie du es anstellst, Hyacinth«, meinte sie. »So nervtötend du auch bist, es gelingt dir immer, gleichzeitig jede Menge Charme zu verströmen.«

»Das ist meine größte Gabe«, sagte Hyacinth ernst.

»Also schön, ich spreche dir ein großes Lob aus, weil du mich heute Abend begleitet hast«, erklärte Penelope und tätschelte ihr die Hand.

»Natürlich«, erwiderte Hyacinth. »Ich mag mich ja ganz unerträglich benehmen, aber in Wirklichkeit bin ich die Freundlichkeit in Person.«

Das war auch bitter nötig, dachte sie, während sie die Geschehnisse auf der kleinen, behelfsmäßigen Bühne verfolgte. Ein neues Jahr, eine neue Smythe-Smith’sche musikalische Soiree. Eine neue Gelegenheit, sich zu informieren, auf wie viele Arten man ein wunderbares Musikstück ruinieren konnte. Jedes Jahr schwor Hyacinth sich, nicht mehr hinzugehen, und jedes Jahr landete sie dann doch wieder auf der Veranstaltung und lächelte den vier Mädchen auf der Bühne aufmunternd zu.

»Letztes Jahr konnte ich wenigstens ganz hinten sitzen«, sagte Hyacinth.

»Allerdings«, erwiderte Penelope und sah sie misstrauisch an. »Wie hast du das eigentlich fertiggebracht? Felicity, Eloise und ich haben alle vorne gesessen.«

Hyacinth zuckte mit den Schultern. »Ein rechtzeitig geplanter Rückzug in den Waschraum. Wenn ich es recht bedenke …«

»Wag es ja nicht, das noch einmal zu versuchen«, warnte Penelope sie. »Wenn du mich hier allein sitzen lässt …«

»Keine Sorge«, beruhigte Hyacinth sie mit einem Seufzen. »Heute Abend bleibe ich dir erhalten. Aber«, fügte sie hinzu, während sie mit dem Finger auf Penelope deutete, was ihre Mutter sicherlich als höchst undamenhaft zu rügen gewusst hätte, »ich erwarte, dass mir dieser Freundschaftsdienst hoch angerechnet wird.«

»Aus irgendeinem unerklärlichen Grund drängt sich mir der Verdacht auf«, begann Penelope, »dass du insgeheim mitzählst und dann, wenn ich am wenigsten damit rechne, angesprungen kommst und von mir einen Gefallen verlangst.«

Hyacinth sah sie an und blinzelte. »Wieso sollte ich dazu angesprungen kommen müssen?«

»Ah, schau«, lenkte Penelope ab, nachdem sie ihre Schwägerin angesehen hatte, als wäre diese von Sinnen, »da kommt Lady Danbury.«

»Mrs. Bridgerton«, sagte beziehungsweise bellte Lady Danbury. »Miss Bridgerton.«

»Guten Abend, Lady Danbury«, sagte Penelope zu der ältlichen Countess. »Wir haben Ihnen einen Platz reserviert, gleich in der ersten Reihe.«

Lady Danbury kniff die Augen zusammen und stieß Penelope mit ihrem Stock leicht in die Knöchel. »Sie denken also immer an die anderen, was?«

»Natürlich«, erwiderte Penelope. »Mir würde nicht im Traum einfallen …«

»Ha!«, erklärte Lady Danbury.

Hyacinth überlegte, dass dies das Lieblingswort Ihrer Ladyschaft war. Das und pah!

»Rutschen Sie zur Seite, Hyacinth«, befahl Lady Danbury. »Ich möchte zwischen Ihnen sitzen.«

Gehorsam setzte sich Hyacinth einen Sitz weiter nach links. »Wir haben gerade nach Gründen gesucht, warum wir heute Abend hier sind«, erklärte sie, während Lady Danbury sich auf ihrem Stuhl niederließ. »Und ich muss sagen, mir ist nichts eingefallen.«

»Für Sie kann ich natürlich nicht sprechen«, beschied Lady Danbury Hyacinth, »aber sie …«, sie nickte zu Penelope hinüber, »… ist aus demselben Grund hier wie ich.«

»Wegen der Musik?«, erkundigte sich Hyacinth, vielleicht eine Spur zu höflich.

Lady Danbury wandte sich an Hyacinth, und ihr faltiges Gesicht verzog sich beinahe zu einem Lächeln. »Ich habe Sie schon immer gern gemocht, Hyacinth Bridgerton«, erklärte sie.

»Ich Sie auch, Lady Danbury«, erwiderte Hyacinth.

»Vermutlich liegt es daran, dass Sie mich ab und zu besuchen kommen und mir vorlesen.«

»Jede Woche«, erinnerte Hyacinth sie.

»Ab und zu, jede Woche … pah!« Lady Danbury tat es mit einer lässigen Handbewegung ab. »Das ist doch alles einerlei, solange man sich nicht täglich bemüht.«

Hyacinth sagte vorsichtshalber gar nichts. Lady Danbury würde schon einen Weg finden, ihr die Worte so im Mund herumzudrehen, dass es am Ende wie ein Versprechen klang, die Countess tagtäglich zu besuchen.

»Und außerdem«, fügte Lady Danbury naserümpfend hinzu, »war es sehr unfreundlich von Ihnen, letzte Woche genau dann aufzuhören, als Priscilla vom Felsen hing.«

»Was lest ihr denn im Augenblick?«, erkundigte sich Penelope daraufhin.

»Miss Butterworth und der verrückte Baron«, erwiderte Hyacinth. »Und sie hat gar nicht vom Felsen gehangen. Noch nicht.«

»Haben Sie etwa weitergelesen?«, fragte Lady Danbury empört.

»Nein«, sagte Hyacinth und rollte mit den Augen. »Aber es ist doch ziemlich offensichtlich. Bis jetzt hing Miss Butterworth schon an einem Gebäude und an einem Baum.«

»Und sie lebt immer noch?«, fragte Penelope.

»Sie hatte sich nicht aufgehängt, sondern hing nur so herunter«, erläuterte Hyacinth. »Leider.«

»Dennoch«, unterbrach Lady Danbury sie, »war es höchst unfreundlich, mich ebenfalls hängen zu lassen.«

»Ich habe da aufgehört, wo auch die Autorin ihr Kapitel beendete«, meinte Hyacinth ohne Reue, »und außerdem, ist Geduld nicht eine Tugend?«

»Keineswegs«, erklärte Lady Danbury kategorisch. »Wenn Sie das glauben, sind Sie nicht die Frau, für die ich Sie gehalten habe!«

Niemand verstand, warum Hyacinth Lady Danbury jeden Dienstag aufsuchte, um ihr vorzulesen, aber die junge Frau genoss die Nachmittage bei der Countess. Lady Danbury war missmutig und schonungslos ehrlich, trotzdem liebte Hyacinth sie von Herzen.

»Ihr zwei seid die reinste Landplage«, versetzte Penelope.

»Mein Ziel im Leben ist es«, verkündete Lady Danbury, »so viele Leute wie möglich zu quälen und zu peinigen, deswegen betrachte ich dies als Kompliment, Mrs. Bridgerton.«

»Warum nur«, staunte Penelope, »sagen Sie immer dann Mrs. Bridgerton zu mir, wenn Sie sich als große Philosophin gebärden?«

»So klingt es besser«, erklärte Lady Danbury und unterstrich ihre Bemerkung, indem sie mit dem Stock aufstampfte.

Hyacinth grinste. Wenn sie alt war, wollte sie genauso sein wie Lady Danbury. Um die Wahrheit zu sagen, zog sie die alte Countess vielen Leuten ihres eigenen Alters bei Weitem vor. Nach nunmehr drei Saisons auf dem Heiratsmarkt fand Hyacinth es ein wenig ermüdend, Tag für Tag nur denselben Menschen zu begegnen. Was früher einmal aufregend gewesen war – die Bälle, die Gesellschaften, die Verehrer –, nun ja, sie genoss sie immer noch, das musste sie zugeben. Hyacinth gehörte ganz gewiss nicht zu jenen jungen Damen, die sich dauernd über all den Luxus und die Privilegien beklagten, die zu erdulden sie gezwungen waren.

Trotzdem, es war nicht mehr dasselbe. Mittlerweile hielt sie nicht mehr den Atem an, wenn sie einen Ballsaal betrat. Und ein Tanz besaß nicht länger die Macht, sie mit seiner Magie zu verzaubern: Inzwischen war ein Tanz nur noch ein Tanz.

Die Magie war verschwunden.

Wenn sie bei ihrer Mutter diesbezüglich eine Bemerkung fallen ließ, bekam sie leider immer nur zur Antwort, sie solle sich doch einen Ehemann suchen. Das, so erläuterte ihre Mutter in einiger Ausführlichkeit, würde alles ändern.

In der Tat.

Hyacinth’ Mutter hatte es längst aufgegeben, sich um Diskretion und Feinfühligkeit zu bemühen, wenn es um den unverheirateten Status ihrer vierten und jüngsten Tochter ging. Mittlerweile war die Sache zu ihrem persönlichen Kreuzzug geworden, dachte Hyacinth grimmig.

Die Heilige Jungfrau von Orléans war nichts im Vergleich dazu. Ihre Mutter war die Heilige Mutter von Mayfair, und weder Plage und Pestilenz noch perfide Liebhaber würden sie von ihrem Ziel abbringen können, ihre acht Kinder glücklich unter die Haube zu bringen. Es waren lediglich zwei übrig, Gregory und Hyacinth. Allerdings war Gregory erst vierundzwanzig, und für einen Gentleman dieses Alters war es völlig akzeptabel, noch ledig zu sein, was Hyacinth als sehr ungerecht empfand.

Denn mit ihren zweiundzwanzig Jahren lag der Fall bei ihr anders. Ihre Mutter war allein deswegen noch nicht zusammengebrochen, weil auch ihre zweite Tochter Eloise bis zum ehrwürdigen Alter von achtundzwanzig gewartet hatte, ehe sie den Bund fürs Leben schloss. Im Vergleich dazu stand Hyacinth praktisch noch im Laufstall.

Zurzeit konnte man Hyacinth nicht als spätes Mädchen bezeichnen, aber selbst sie musste zugeben, dass sie sich in diese Richtung entwickelte. Seit ihrem Debüt vor drei Jahren hatte sie durchaus ein paar Heiratsanträge erhalten, allerdings nicht so viele, wie man bei ihrem Äußeren – sie war zwar nicht die hübscheste Frau Londons, aber doch hübscher als die meisten – und ihrem Vermögen – ihre Mitgift war nicht die größte von ganz London, aber doch groß genug, um einen Mitgiftjäger in Versuchung zu führen – hätte erwarten können.

Und ihre gesellschaftliche Stellung war natürlich makellos. Ihr Bruder war Viscount Bridgerton, genau wie ihr Vater vor ihm, und selbst wenn es sich dabei nicht um den erhabensten Titel des Landes handelte, war die Familie doch immens beliebt und einflussreich. Und als wäre das nicht genug, war ihre Schwester Daphne auch noch die Duchess of Hastings und ihre Schwester Francesca die Countess of Kilmartin.

Ein Mann, der danach trachtete, sich mit den mächtigsten Familien Englands zu verbinden, wäre mit Hyacinth Bridgerton nicht schlecht beraten.

Wenn man jedoch darüber nachdachte, wann sie diese Heiratsanträge erhalten hatte – was Hyacinth getan hatte, auch wenn sie es nicht zugab –, kam man zu einem ziemlich niederschmetternden Ergebnis.

In der ersten Saison waren es drei Heiratsanträge gewesen.

In der zweiten zwei.

Letztes Jahr nur einer.

Und dieses Jahr noch kein einziger.

Was den Schluss nahelegte, dass ihre Beliebtheit im Abnehmen begriffen war. Es sei denn, jemand war so dumm, diesen Schluss tatsächlich zu ziehen. In diesem Fall wäre Hyacinth gezwungen, energisch das Gegenteil zu behaupten, trotz aller anders lautenden Beweise und Fakten.

Und vermutlich hätte sie den daraus resultierenden Disput gewonnen. Es gab selten jemanden, der in der Lage war, Hyacinth Bridgerton zu überlisten, zu übertölpeln oder zu übertönen.

Was, wie sie in einem seltenen Moment der Selbsterkenntnis eingeräumt hatte, durchaus ein Grund sein könnte, warum die Zahl der Heiratsanträge so stetig abnahm.

Aber egal, dachte sie, während sie den Smythe-Smith-Mädchen zusah, die vorn im Saal auf dem Podium wild durcheinanderliefen. Es war ja nicht so, als hätte sie einen der Heiratsanträge annehmen sollen. Drei waren von Mitgiftjägern gekommen, zwei von veritablen Tölpeln und der letzte von einem tödlichen Langweiler.

Lieber unverheiratet als an jemanden gebunden, der einen zu Tränen langweilte. Selbst ihre Mutter, die unverbesserliche Ehestifterin, konnte dagegen nicht viel einwenden.

Und was die derzeitige antragslose Saison anging – nun, wenn die Gentlemen Britanniens eine intelligente und zielstrebige junge Frau nicht zu schätzen wussten, dann war das deren Problem und nicht ihres.

Lady Danbury stieß ihren Stock auf den Boden, wobei sie Hyacinth’ rechten Fuß nur knapp verfehlte. »He«, sagte sie, »hat einer von Ihnen meinen Enkel gesehen?«

»Welchen Enkel?«, erkundigte sich Hyacinth.

»Welchen Enkel?«, wiederholte Lady Danbury ungeduldig. »Na welchen wohl? Den einzigen, den ich leiden kann, natürlich.«

Hyacinth machte kein Hehl aus ihrem Erstaunen. »Mr. St. Clair kommt heute Abend?«

»Ich weiß, ich weiß«, bestätigte Lady Danbury mit einem wenig damenhaften Kichern. »Ich kann es selbst kaum glauben. Ich warte immer noch darauf, dass ein himmlischer Lichtstrahl durch die Decke bricht.«

Penelope krauste die Nase. »Ich glaube, das könnte Gotteslästerung sein, aber ich bin mir nicht sicher.«

»Ist es nicht«, entgegnete Hyacinth, ohne ihr einen Blick zu gönnen. »Und warum kommt er?«

Lady Danbury lächelte träge. Wie eine Schlange. »Warum interessiert Sie das so?«

»Klatschgeschichten interessieren mich immer«, erwiderte Hyacinth freimütig. »Egal worum es geht. Das sollten Sie inzwischen wissen.«

»Also schön«, versetzte Lady Danbury ein wenig brummig, weil ihr Pfeil sein Ziel verfehlt hatte. »Er kommt, weil ich ihn erpresst habe.«

Hyacinth und Penelope zogen beide überrascht die Augenbrauen hoch.

»Na gut«, gestand Lady Danbury zu, »vielleicht nicht direkt erpresst, außer mit einer großen Dosis schlechtem Gewissen.«

»Klar«, erwiderte Penelope, während Hyacinth sagte: »Das erklärt die Sache natürlich.«

Lady Danbury seufzte. »Möglicherweise habe ich gesagt, dass ich mich nicht ganz wohlfühle.«

Hyacinth sah sie zweifelnd an. »Möglicherweise?«

»Also gut, ich habe es gesagt«, räumte Lady Danbury ein.

»Offensichtlich waren Sie sehr überzeugend, wenn Sie ihn dazu gebracht haben, heute Abend zu kommen«, erklärte Hyacinth bewundernd. Man musste Hochachtung haben vor Lady Danbury und ihrem Sinn fürs Dramatische, vor allem nachdem sie die Leute in ihrer Umgebung damit so prächtig manipulieren konnte. Dies war eine Gabe, die Hyacinth ebenfalls gern kultivierte.

»Ich glaube nicht, dass ich ihn je auf einer musikalischen Soiree zu Gesicht bekommen habe«, bemerkte Penelope.

»Ha«, brummte Lady Danbury. »Vermutlich laufen da für seinen Geschmack zu wenig lose Frauenzimmer herum.«

Von jemand anderem wäre dies eine schockierende Aussage gewesen. Doch sie kam aus dem Mund von Lady Danbury, und Hyacinth – wie eigentlich auch der Rest des ton – hatte sich längst an ihre eigenwilligen Formulierungen gewöhnt.

Außerdem musste man auch in Betracht ziehen, welchem Mann diese Bemerkung galt.

Lady Danburys Enkel war niemand anders als der berüchtigte Gareth St. Clair. Obwohl er vermutlich nicht die alleinige Schuld an seinem verruchten Ruf trägt, dachte Hyacinth. Es gab jede Menge Männer, die sich ganz genauso schamlos benahmen, und auch nicht wenige, die ebenfalls attraktiv waren wie die Sünde, aber nur Gareth St. Clair wusste beide Eigenschaften derartig erfolgreich miteinander zu kombinieren.

Und deswegen war sein Ruf einfach schauderhaft.

Zwar befand er sich durchaus im heiratsfähigen Alter, doch hatte er noch nie, wirklich nie im Leben einer jungen Dame bei ihr zu Hause seine Aufwartung gemacht. Dessen war Hyacinth sich vollkommen sicher – hätte es auch nur den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass er jemandem den Hof machte, wäre die Gerüchteküche förmlich übergekocht. Außerdem hätte sie es von Lady Danbury erfahren, da diese Dame dem Klatsch fast noch mehr verfallen war als Hyacinth selbst.

Natürlich war da noch die Sache mit seinem Vater, Lord St. Clair. Vater und Sohn waren zerstritten, das war allseits bekannt, auch wenn niemand den Grund wusste. Hyacinth fand, es spreche für Gareth, dass er seine Familienstreitigkeiten nicht in aller Öffentlichkeit austrug. Bestärkt wurde sie in dieser Auffassung durch eine Begegnung mit Lord St. Clair, der sich als rechter Rüpel erwies. Daraus schloss sie, dass seinen Sohn keine Schuld an dem Zerwürfnis traf, was auch geschehen sein mochte.

Doch die ganze Angelegenheit verlieh dem ohnehin schon anziehenden Mann eine geheimnisvolle Aura, welche für die Damen des ton in Hyacinth’ Augen eine ziemliche Herausforderung darstellte. Niemand schien so recht zu wissen, wie man ihn einschätzen sollte. Einerseits hielten die Mütter ihre Töchter fern von ihm, denn mit Gareth St. Clair in Verbindung gebracht zu werden tat dem Ruf eines jungen Mädchens alles andere als gut. Andererseits war er durch den tragisch frühen Tod seines älteren Bruders vor einem Jahr der Erbe der Baronie geworden. Wodurch er noch romantischer – und begehrenswerter – wurde. Letzten Monat hatte Hyacinth beobachtet, wie ein junges Mädchen in Ohnmacht gefallen war – oder auch nur so getan hatte –, als er den Ball der Bevelstokes mit seiner Anwesenheit beehrt hatte.

Es war ein erschreckender Anblick gewesen.

Hyacinth hatte sich wahrhaftig bemüht, dem albernen jungen Ding begreiflich zu machen, dass er nur deswegen gekommen war, weil seine Großmutter ihn dazu gezwungen hatte und sein Vater nicht in der Stadt weilte. Schließlich war allgemein bekannt, dass er sich sonst nur mit Opernsängerinnen und Schauspielerinnen abgab und gewiss nicht mit den Damen, denen er auf dem Ball der Bevelstokes begegnen mochte. Die junge Frau ließ sich in ihrem Gefühlsausbruch allerdings nicht beirren und sank schließlich in verdächtig eleganter Manier auf dem nächstbesten Sofa nieder.

Hyacinth hatte sofort ein Riechfläschchen aufgetrieben und es ihr unter die Nase gehalten. Wirklich, man konnte den Leuten nicht alles durchgehen lassen!

Doch während sie dastand und das alberne Mädchen mit den übel riechenden Dämpfen wiederbelebte, fing sie von ihm einen vage belustigten Blick auf, und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er sie amüsant fand.

Ungefähr so, wie sie kleine Kinder und große Hunde für putzig hielt.

Es versteht sich von selbst, dass sie diese Aufmerksamkeit, so flüchtig sie auch gewesen war, nicht als Kompliment aufgefasst hatte.

»Ha!«

Hyacinth wandte sich Lady Danbury zu, die den Saal noch immer nach ihrem Enkel absuchte. »Ich glaube nicht, dass er schon da ist«, meinte Hyacinth und fügte halblaut hinzu: »Noch ist niemand in Ohnmacht gefallen.«

»Wie? Was?«

»Ich sagte, ich glaube nicht, dass er schon da ist.«

Lady Danbury musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Das hatte ich verstanden.«

»Mehr habe ich nicht gesagt«, schwindelte Hyacinth.

»Lügnerin.«

Hyacinth sah Penelope an. »Sie behandelt mich wirklich furchtbar, findest du nicht auch?«

Penelope zuckte mit den Schultern. »Irgendwer muss es ja tun.«

Lady Danbury grinste über das ganze Gesicht. Sie wandte sich an Penelope und sagte: »Also, da muss ich aber fragen …« Sie sah auf die Bühne, reckte den Hals und blinzelte. »Ist das am Cello dasselbe Mädchen wie letztes Jahr?«

Penelope nickte bedauernd.

Hyacinth sah sie an. »Worum geht es?«

»Wenn Sie das nicht wissen«, erklärte Lady Danbury erhaben, »haben Sie nicht richtig aufgepasst, und dafür sollten Sie sich schämen.«

Hyacinth blieb der Mund offen stehen. »Also wirklich«, erklärte sie, da sie sonst nur hätte schweigen können, und diese Alternative hatte ihr noch nie behagt. Nichts war ärgerlicher, als von einem Scherz ausgeschlossen zu sein. Außer vielleicht für etwas gescholten zu werden, das man nicht verstand. Sie wandte sich zur Bühne und betrachtete die Cellospielerin genauer. Da sie an ihr nichts Außergewöhnliches entdecken konnte, drehte sie sich wieder zu ihren Begleiterinnen um und wollte etwas sagen. Doch die beiden Damen waren bereits in ein Gespräch vertieft, in das sie nicht einbezogen war.

Das hasste sie.

»Pah!« Hyacinth lehnte sich im Stuhl zurück und tat es noch einmal. »Pah!«

»Sie klingen ja wie meine Großmutter«, ertönte plötzlich eine belustigte Stimme von schräg über ihr.

Hyacinth sah auf. Da stand er, Gareth St. Clair, und selbstverständlich tauchte er im Moment ihres größten Unbehagens auf. Und natürlich – wie konnte es auch anders sein? – stand der einzig freie Stuhl neben ihr.

»Das kann man wohl sagen«, erklärte Lady Danbury, sah ihren Enkel an und stampfte bekräftigend mit dem Stock auf. »Sie läuft dir allmählich den Rang ab in meiner Gunst. Demnächst ist sie mein ganzer Stolz.«

»Sagen Sie mir, Miss Bridgerton«, fragte Mr. St. Clair, während sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen, »erschafft meine werte Großmutter Sie etwa nach ihrem Bilde neu?«

Darauf fiel Hyacinth keine Antwort ein, was sie über alle Maßen irritierte.

»Rutschen Sie mal, Hyacinth«, bellte Lady Danbury. »Ich muss neben Gareth sitzen.«

Hyacinth wollte etwas sagen, doch Lady Danbury kam ihr zuvor. »Jemand muss schließlich dafür sorgen, dass er sich benimmt.«

Hyacinth stieß die Luft aus und rückte einen Stuhl weiter.

»Setz dich zu mir, mein Junge«, erklärte Lady Danbury und klopfte offensichtlich entzückt auf den Stuhl neben ihr. »Setz dich, und genieße den Abend.«

Er sah sie lange an und erklärte schließlich: »Dafür bist du mir etwas schuldig, Großmutter.«

»Ha!«, erwiderte sie. »Ohne mich wärst du gar nicht auf der Welt!«

»Dagegen lässt sich schlecht etwas einwenden«, murmelte Hyacinth.

Mr. St. Clair wandte sich ihr zu, aber vermutlich nur, weil er so seiner Großmutter ausweichen konnte. Hyacinth lächelte ihn ausdruckslos an, hocherfreut, dass sie sich so gut im Griff hatte.

Er hatte sie immer schon an einen Löwen erinnert: stark, mächtig und voll ruheloser Energie. Sein Haar war goldbraun, jene ungewöhnliche Farbschattierung zwischen dunkelblond und hellbraun, und er trug es entgegen jeder Mode verwegen halblang, im Nacken zum Zopf gebunden. Er war groß, aber nicht zu groß, und besaß die Anmut und Kraft eines Athleten. Sein Gesicht war gerade unregelmäßig genug, um attraktiv statt schön zu sein.

Und seine Augen waren blau. Richtig blau. Unbehaglich blau.

Unbehaglich blau? Sie schüttelte den Kopf. Das war wohl so ziemlich der dümmste Gedanke, der ihr je gekommen war. Ihre Augen waren ebenfalls blau, und daran konnte sie gewiss nichts Unbehagliches finden.

»Und was führt Sie hierher, Miss Bridgerton?«, fragte er. »Ich wusste gar nicht, dass Ihnen die Musik so am Herzen liegt.«

»Wenn sie die Musik zu schätzen wüsste«, erklärte Lady Danbury, »hätte sie sich mittlerweile bis nach Frankreich geflüchtet.«

»Sie kann es einfach nicht ertragen, wenn man sie nicht am Gespräch beteiligt, finden Sie nicht auch?«, meinte er. »Au!«

»Der Stock?«, erkundigte sich Hyacinth honigsüß.

»Sie ist eine Gefahr für die Allgemeinheit«, brummte er.

Hyacinth beobachtete interessiert, wie er, ohne den Kopf zu wenden, den Stock packte und seiner Großmutter entriss. »Hier«, sagte er und reichte ihr den Stock, »behalten Sie ihn bitte im Auge, ja? Solange sie hier sitzt, wird sie ihn nicht brauchen.«

Hyacinth blieb der Mund offen stehen. Nicht einmal sie wagte es, sich an Lady Danburys Stock zu vergreifen.

»Ich sehe, dass es mir endlich gelungen ist, Sie zu beeindrucken«, erklärte er und lehnte sich mit hochzufriedener Miene im Stuhl zurück.

»Ja«, gab Hyacinth zu, bevor sie es sich verkneifen konnte. »Ich meine, nein. Also, seien Sie doch nicht albern. Sie haben mich nicht unbeeindruckt gelassen.«

»Wie überaus erfreulich«, murmelte er.

»Eigentlich wollte ich sagen«, erklärte sie zähneknirschend, »dass ich mir darüber weder so noch so Gedanken gemacht habe.«

Er legte sich die Hand aufs Herz. »Getroffen«, sagte er scherzhaft. »Mitten ins Herz.«

Hyacinth biss die Zähne zusammen. Nicht zu wissen, ob sich jemand über sie lustig machte, war das Einzige, was noch schlimmer war, als wenn sich jemand über sie lustig machte. Sonst durchschaute sie immer jeden. Nur bei Gareth St. Clair war sie sich nie sicher. Sie blickte zu Penelope, um nachzusehen, ob sie zuhörte – nicht dass sie gewusst hätte, was dies für einen Unterschied machen sollte –, doch ihre Schwägerin war vollauf damit beschäftigt, Lady Danbury zu besänftigen, die sich immer noch wegen des Verlustes ihres Stocks grämte.

Hyacinth rutschte auf dem Sitz herum. Sie fühlte sich bedrängt. Links von ihr saß Lord Somershall – niemals der Schlankste in einer Menschenansammlung – und beanspruchte mehr Platz, als ihm zustand. Worauf sie gezwungen war, ein wenig nach rechts zu rücken, was sie dummerweise Gareth St. Clair näher brachte, der glühende Hitze auszustrahlen schien.

Liebe Güte, hatte der Mann ein ganzes Bataillon Wärmflaschen über sich getürmt, bevor er ausgegangen war?

So diskret wie möglich hob Hyacinth das Programm und fächelte sich Luft zu.

»Stimmt etwas nicht, Miss Bridgerton?«, erkundigte er sich mit schief gelegtem Kopf und betrachtete sie amüsiert.

»Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Ich finde es hier im Saal nur etwas warm, Sie nicht auch?«

Er betrachtete sie eine Spur länger, als ihr angenehm war, und wandte sich dann an Lady Danbury. »Ist dir heiß, Großmutter?«, fragte er fürsorglich.

»Gar nicht«, lautete die energische Antwort.

Mit einem kaum merklichen Achselzucken drehte er sich wieder um. »Es muss an Ihnen liegen«, murmelte er.

»Muss es wohl«, stieß sie hervor und blickte entschlossen zur Bühne. Vielleicht war noch Zeit, sich in den Waschraum der Damen davonzustehlen. Penelope würde sie daraufhin vierteilen lassen wollen, aber konnte man wirklich sagen, sie ließe ihre Schwägerin im Stich, wenn zwei Leute zwischen ihnen saßen? Außerdem könnte sie sich bestimmt mit Lord Somershall herausreden. Er bewegte sich schon wieder auf seinem Stuhl und streifte Hyacinth, und sie war sich keineswegs sicher, dass es ein Versehen war.

Hyacinth schob sich noch ein Stück nach rechts. Nur einen Zoll – wenn nicht weniger. Sich gegen Gareth St. Clair zu drücken war wirklich das Letzte, was sie sich wünschte. Nun ja, das Vorletzte. Lord Somershalls beleibte Gestalt war entschieden unangenehmer.

»Stimmt etwas nicht, Miss Bridgerton?«, erkundigte sich St. Clair.

Sie schüttelte abwehrend den Kopf und stützte schon die Hände auf die Sitzfläche, um aufzustehen. Unmöglich, dass sie …

Da begann jemand zu klatschen.

Nachdrücklich.

Beinahe hätte Hyacinth laut gestöhnt. Es war eine Smythe-Smith, um den Anwesenden zu bedeuten, dass das Konzert nun anfangen werde. Sie hatte ihre Gelegenheit verpasst. Höflich konnte sie sich nicht mehr herauswinden.

Doch zumindest konnte sie Trost in der Tatsache finden, dass sie nicht die einzige gequälte Seele im Raum war. Gerade als die Damen Smythe-Smith die Bögen erhoben, um damit ihre Instrumente zu attackieren, hörte sie Mr. St. Clair leise murmeln: »Himmel hilf!«

2. KAPITEL

Eine halbe Stunde später und nicht allzu weit entfernt heult ein kleiner Hund gequält auf. Leider kann man ihn in all dem Lärm nicht hören …

Auf der ganzen Welt gab es nur eine einzige Person, der zuliebe Gareth höflich dasitzen und wahrhaft schlechte Musik über sich ergehen lassen würde, und diese Person war zufällig seine Großmutter, Lady Danbury.

»Nie wieder«, flüsterte er ihr zu, während etwas über ihn hereinbrach, was möglicherweise einmal Mozart gewesen war. Und dies nach etwas, das vage Ähnlichkeiten mit Haydn aufwies, und davor etwas, das von Händel gewesen sein mochte.

»Sitz ein bisschen gerader«, flüsterte sie zurück.

»Wir hätten doch Plätze weiter hinten nehmen können«, brummte er.

»Und den ganzen Spaß verpassen?«

Wie jemand einen Smythe-Smith’schen Musikabend als Spaß bezeichnen konnte, überstieg seine Vorstellungskräfte, seine Großmutter aber empfand eine schon morbide Vorliebe für das alljährlich stattfindende Schauspiel.

Wie üblich saßen auf dem kleinen Podium vier Smythe-Smith-Mädchen, zwei mit Geigen, eine mit einem Cello und das vierte am Pianoforte, und veranstalteten einen so unsäglichen Lärm, dass es beinahe schon wieder beeindruckend war.

Beinahe.

»Du hast Glück, dass ich dich so gernhabe«, erklärte er.

»Ha«, erwiderte sie, flüsternd zwar, aber deswegen nicht weniger trotzig. »Du hast Glück, dass ich dich gernhabe.«

Und dann – Gott sei Dank – war es vorüber, und die Mädchen knicksten und verneigten sich. Drei wirkten hochzufrieden mit sich, nur das vierte – das Mädchen am Cello – sah aus, als hätte es sich am liebsten aus dem Fenster gestürzt.

Gareth drehte sich zu ihr um, als er seine Großmutter seufzen hörte. Sie schüttelte den Kopf und wirkte ungewöhnlich mitfühlend.

Die Smythe-Smith-Mädchen waren berüchtigt in London, und irgendwie brachten sie es immer wieder fertig, dass jede Vorstellung schlechter ausfiel als die im Jahr davor. Gerade wenn man glaubte, man könne Mozart nicht noch schlimmer malträtieren, erschien eine neue Garnitur Smythe-Smiths auf der kleinen Bühne und bewies, dass es sehr wohl möglich war.

Allerdings waren es nette junge Dinger, hörte er zumindest immer wieder, und seine Großmutter hatte in einem ihrer seltenen Anfälle rückhaltloser Freundlichkeit darauf bestanden, jemand müsse in der ersten Reihe sitzen und klatschen, denn, wie sie es ausgedrückt hatte: »Drei von ihnen können meist eine Flöte nicht von einem Elefanten unterscheiden, aber eine gibt es immer, die vor Elend am liebsten im Erdboden versinken möchte.«

Und Großmutter Danbury, die sich nicht scheute, einem Duke zu erklären, er besitze nicht mehr Verstand als eine Stechmücke, fand es anscheinend lebenswichtig, dem einen Smythe-Smith-Mädchen in jeder Generation Beifall zu klatschen, dessen Ohren nicht aus Blech gemacht waren.

Zum Schlussapplaus erhoben sie sich alle, wobei Gareth den Verdacht hegte, seine Großmutter suchte nur eine Möglichkeit, ihres Stockes habhaft zu werden, den Hyacinth Bridgerton ihr auch widerstandslos aushändigte.

»Verräterin«, murmelte er ihr zu.

»Es sind schließlich Ihre Zehen«, erwiderte sie.

Er grinste widerstrebend. Jemand wie Hyacinth Bridgerton war ihm noch nie begegnet. Sie war irgendwie amüsant und irgendwie enervierend, aber für ihren Witz und wachen Verstand musste man sie einfach bewundern.

In der Londoner Gesellschaft hatte Hyacinth Bridgerton einen interessanten und einzigartigen Ruf. Sie war das jüngste der Bridgerton-Kinder, die in alphabetischer Reihenfolge getauft waren, von A bis H. Theoretisch und in den Augen derer, die auf solche Dinge Wert legten, galt sie als ziemlich gute Partie. Nicht der Hauch eines Skandals hatte sie je gestreift, und ihre Familie und ihre Verbindungen waren makellos. Auf ihre gesunde, wenig exotische Art sah sie auch ziemlich hübsch aus: Sie besaß dichtes kastanienbraunes Haar und blaue Augen, die vor Klugheit sprühten. Und, vielleicht das Wichtigste, wie Gareth zynisch überlegte: Man munkelte, dass Lord Bridgerton, ihr ältester Bruder, letztes Jahr ihre Mitgift erhöht hatte, nachdem Hyacinth ihre dritte Saison absolviert hatte, ohne einen akzeptablen Heiratsantrag zu erhalten.

Als er sich dann aber nach ihr erkundigt hatte – natürlich nicht etwa, weil er an ihr Interesse gehabt hätte, sondern weil er mehr über die junge Dame erfahren wollte, die sich so oft und so gern in Gesellschaft seiner Großmutter aufzuhalten schien –, waren seine Freunde zusammengezuckt.

»Hyacinth Bridgerton?«, hatte einer wiederholt. »Doch sicher nicht, um sie zu heiraten? Du musst verrückt sein.«

Ein anderer hatte sie Furcht einflößend genannt.

Niemand schien sie nicht zu mögen – sie besaß einen gewissen Charme, der sie überall beliebt machte –, allerdings bestand Einigkeit darüber, dass sie am besten in kleinen Dosen zu genießen war. »Männer mögen keine Frauen, die klüger sind als sie«, hatte einer seiner scharfsinnigeren Freunde gemeint, »und Hyacinth Bridgerton gehört nicht zu denen, die sich dumm stellen.«

Sie war eine jüngere Ausgabe seiner Großmutter, hatte Gareth mehr als einmal gedacht. Und selbst wenn er niemanden auf der Welt mehr liebte als Großmutter Danbury, so war er durchaus der Ansicht, dass eine Version von ihr vollkommen genügte.

»Bist du etwa nicht froh, dass du gekommen bist?«, erkundigte sich die alte Dame gerade bei ihm, wobei sie den Applaus mühelos übertönte.

Selbst wenn das Publikum nirgends so laut klatschte wie am Ende einer Smythe-Smith-Vorstellung. Alle waren heilfroh, dass es überstanden war.

»Nie wieder«, erklärte Gareth bestimmt.

»Natürlich nicht«, erwiderte seine Großmutter mit genau dem Maß an Herablassung, das bewies, dass sie nichts dergleichen meinte.

Er blickte ihr fest in die Augen. »Nächstes Jahr musst du dir einen anderen suchen, der dich begleitet.«

»Ich würde nicht im Traum daran denken, dich noch einmal zu bitten«, erklärte Lady Danbury.

»Du lügst.«

»So etwas kannst du doch nicht zu deiner geliebten Großmutter sagen!« Sie beugte sich vor. »Wie hast du es denn erraten?«

Er sah auf den Stock, der in ihrer Hand ruhte. »Du hast noch kein einziges Mal mit dem Stock herumgewedelt, seit du Miss Bridgerton mit einem Trick dazu gebracht hast, ihn dir wiederzugeben«, sagte er.

»Unsinn«, erwiderte sie. »Miss Bridgerton ist viel zu klug, bei ihr verfangen keine Tricks, stimmt’s, Hyacinth?«

Hyacinth beugte sich vor, damit sie die Countess sehen konnte. »Wie bitte, was haben Sie gesagt?«

»Sagen Sie einfach Ja«, erklärte Großmutter Danbury. »Dann ärgert er sich.«

»In diesem Fall natürlich – ja«, erwiderte sie lächelnd.

»Und«, fuhr seine Großmutter fort, als hätte dieser alberne Wortwechsel gar nicht stattgefunden, »lass dir gesagt sein, dass ich mit meinem Stock immer höchste Vorsicht walten lasse.«

Gareth sah sie nur an. »Es ist ein Wunder, dass meine Füße noch heil sind.«

»Es ist ein Wunder, dass deine Ohren noch heil sind, mein Junge«, antwortete sie voll erhabener Würde.

»Ich nehme ihn dir wieder weg«, warnte er sie.

»Kommt nicht infrage«, erklärte sie feixend. »Ich gehe mir jetzt nämlich mit Penelope ein Glas Limonade holen. Du kannst Hyacinth Gesellschaft leisten.«

Er sah ihr nach und wandte sich dann Hyacinth zu, die sich interessiert im Saal umblickte.

»Nach wem suchen Sie denn?«, erkundigte er sich.

»Ach, nach niemand Bestimmtem. Ich sehe mich nur um.«

Neugierig betrachtete er sie. »Was gibt es hier denn Interessantes zu sehen?«

»Nun, ich weiß eben gern Bescheid, was um mich herum so vor sich geht«, erklärte sie achselzuckend.

»Geht denn etwas vor?«, fragte er.

»Nein.« Aufmerksam beäugte sie zwei Gäste, die sich in der gegenüberliegenden Ecke des Raums eine erhitzte Diskussion lieferten. »Aber man weiß ja nie.«

Beinahe hätte er den Kopf über sie geschüttelt. Sie war wirklich eine äußerst merkwürdige Frau. Dann sah er zur Bühne. »Sind wir in Sicherheit?«

Endlich schaute sie ihn an. Ihr Blick war ungewöhnlich direkt. »Meinen Sie damit, ob es vorbei ist?«

»Ja.«

Sie runzelte die Stirn, und in diesem Augenblick nahm Gareth die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase wahr. »Ich glaube schon«, sagte sie. »Wenn ich mich recht erinnere, haben sie bisher immer ohne Pause durchgespielt.«

»Gott sei Dank«, versetzte er erleichtert. »Wieso tun sie es nur?«

»Sie meinen die Smythe-Smiths?«

»Ja.«

Sie schwieg einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht. Eigentlich sollte man meinen …«

Was es auch war, was sie hatte sagen wollen, sie hatte es sich anders überlegt. »Ach, egal«, schloss sie.

»Sagen Sie es mir doch«, drängte er, von seiner eigenen Neugier überrascht.

»Es war nicht weiter wichtig«, entgegnete sie. »Nur dass man meinen sollte, jemand hätte es ihnen inzwischen gesagt. Aber …« Sie sah sich im Saal um. »Das Publikum ist kleiner geworden. Es kommen nur noch die Gutherzigen.«

»Zu denen Sie sich zählen, Miss Bridgerton?«

Mit ihren leuchtend blauen Augen sah sie ihn an. »Ich würde mich wohl nicht mit diesen Worten beschreiben, aber ja, ich glaube schon, dass ich das bin. Ihre Großmutter auch, obwohl sie es bis zum letzten Atemzug abstreiten würde.«

Darüber musste Gareth lachen, vor allem, da er in diesem Augenblick beobachtete, wie seine Großmutter dem Duke of Ashbourne den Stock ins Bein stieß. »Ja, das würde sie allerdings.«

Seit dem Tod seines Bruders George war seine Großmutter mütterlicherseits der einzige Mensch auf dieser Welt, den er wahrhaft liebte. Nachdem sein Vater ihn damals hinausgeworfen hatte, hatte er sich aufgemacht nach Danbury House in Surrey und seiner Großmutter erzählt, was geschehen war. Die Sache mit dem mütterlichen Seitensprung hatte er natürlich ausgelassen.

Auch wenn Gareth immer angenommen hatte, dass seine Großmutter sich vor Freude nicht zu fassen gewusst hätte, wenn sie erführe, dass er gar kein echter St. Clair war. Sie hatte ihren Schwiegersohn nie gemocht und sprach von ihm nur als »diesem eingebildeten Esel«. Doch die Wahrheit würde seine Mutter, Lady Danburys jüngste Tochter, als Ehebrecherin dastehen lassen, und er wollte sie nicht auf diese Art entehren.

Und sein Vater – merkwürdig, dass er ihn nach all den Jahren immer noch so nannte – hatte ihn nie öffentlich angeprangert. Zuerst hatte es Gareth nicht verwundert. Lord St. Clair war ein stolzer Mann, er würde sich der Öffentlichkeit nicht gern als gehörnter Ehemann präsentieren. Außerdem hoffte er vermutlich immer noch, dass er Gareth bändigen und ihm seinen Willen aufzwingen könnte, ja, dass er ihn vielleicht sogar dazu bringen könnte, Mary Winthrop tatsächlich zu heiraten und somit die finanziellen Verhältnisse der Familie in Ordnung zu bringen.

Doch im Alter von siebenundzwanzig hatte sich George eine auszehrende Krankheit zugezogen, und mit dreißig war er gestorben.

Ohne einen Sohn zu hinterlassen.

Wodurch Gareth der Erbe der St. Clairs wurde. Was ihn in eine höllische Zwickmühle brachte. Die letzten elf Monate hatte er kaum etwas anderes getan als abgewartet. Früher oder später würde sein Vater allen erzählen, die es hören wollten, dass Gareth nicht sein richtiger Sohn war. Der Baron, dessen drittliebste Betätigung – nach der Jagd und der Hundezucht – darin bestand, den Familienstammbaum bis auf die Plantagenets zurückzuführen, würde es gewiss nicht dulden, wenn sein Titel an einen Wechselbalg ungewisser Herkunft ging.

Allerdings könnte der Baron ihn aber höchstens dadurch von der Erbfolge ausschließen, dass er ihn samt Zeugen vor den Ausschuss für Immunitäten und Sonderrechte des Oberhauses zerrte, da war Gareth sich ziemlich sicher. Es würde eine ziemlich schmutzige und unangenehme Affäre werden, nützen würde es seinem Vater aber vermutlich nichts. Als sein jüngerer Sohn geboren wurde, war der Baron mit Gareth’ Mutter verheiratet gewesen, daher war Gareth vor dem Gesetz ehelich, unabhängig vom wahren Vater.

Doch es würde einen riesigen Skandal verursachen und Gareth in den Augen der Gesellschaft höchstwahrscheinlich ruinieren. Natürlich gab es jede Menge Leute, bei denen die Abstammung nicht mit ihrem Nachnamen übereinstimmte, der ton redete indes nicht gern darüber. Zumindest nicht laut.

Bis heute hatte sein Vater jedenfalls nichts gesagt.

Mittlerweile fragte sich Gareth, ob der Baron nur deswegen schwieg, um ihn zu quälen.

Gareth blickte zu seiner Großmutter hinüber, die gerade ein Glas Limonade von Penelope Bridgerton entgegennahm. Allem Anschein nach hatte sie die junge Frau durch irgendeine List dazu gebracht, sie von vorn bis hinten zu bedienen. Lady Danbury wurde meist als brummig beschrieben, und das von Leuten, die sie gernhatten. Sie besaß das Herz einer Löwin, war furchtlos in Wort und Tat und jederzeit bereit, auch die erhabenste Persönlichkeit zu verspotten – hin und wieder sogar sich selbst. Doch so scharfzüngig sie auch war, denen, die sie liebte, war sie treu ergeben, und Gareth wusste, dass er auf dieser Liste ganz oben rangierte.

Als er damals bei ihr erschienen war und ihr erzählt hatte, dass sein Vater ihn hinausgeworfen hatte, war sie außer sich vor Zorn gewesen. Trotzdem hatte sie nie ihre Macht als Countess ausgenutzt, um Lord St. Clair dazu zu zwingen, seinen Sohn wieder aufzunehmen.

»Ha!«, hatte seine Großmutter gesagt. »Ich behalte dich lieber bei mir!«

Und das hatte sie getan. Sie hatte Gareth’ Aufenthalt in Cambridge bezahlt und ihm bei seinem Abschluss – zwar nicht mit Auszeichnung, aber doch recht ordentlich – eröffnet, dass seine Mutter ihm eine kleine Erbschaft vermacht hatte. Gareth war nicht bewusst gewesen, dass sie über eigenes Geld verfügt hatte. Lady Danbury hatte nur den Mund verzogen und gesagt: »Glaubst du wirklich, dass ich diesem Narren die komplette Kontrolle über ihr Geld überlassen hätte? Ich habe den Ehevertrag geschrieben, weißt du.«

Gareth bezweifelte es nicht.

Von seinem Erbe bezog er ein bescheidenes Einkommen, das ihn in die Lage versetzte, für sich selbst zu sorgen. Zwar nicht üppig – seine Wohnung war beispielsweise sehr klein –, aber er konnte damit doch so gut haushalten, dass er sich nicht wie ein vollkommener Verschwender vorkam. Zu seiner eigenen Überraschung war ihm das weitaus wichtiger, als er je gedacht hätte.

Vermutlich war es ganz gut, dass er dieses ungewohnte Verantwortungsgefühl empfand, denn wenn dereinst der Titel auf ihn überging, würde er gleichzeitig einen Haufen Schulden erben. Der Baron hatte zwar offensichtlich gelogen, als er Gareth damit gedroht hatte, die Familie würde bankrottgehen, wenn er Mary Winthrop nicht heiratete, dennoch stand es um die Finanzen der Familie St. Clair wahrlich nicht zum Besten. Anscheinend ging Lord St. Clair bei der Vermögensverwaltung noch ungeschickter vor als bei seinem Versuch, Gareth zur Ehe zu zwingen. Hauptsächlich schien er damit beschäftigt, die Güter systematisch in den Ruin zu treiben.

Dies brachte Gareth auch auf die Idee, dass der Baron vielleicht gar nicht plante, ihn zu verraten. Die größte Rache wäre sehr wahrscheinlich die, seinen falschen Sohn unter einer Schuldenlast zu begraben.

Und Gareth wusste, wusste es mit jeder Faser, dass der Baron ihm nichts Gutes wünschte. Zwar ließ Gareth sich auf den meisten Veranstaltungen des ton ohnehin nicht blicken, aber gesellschaftlich betrachtet war London eine eher kleine Stadt, und so konnte er seinem Vater nicht immer aus dem Weg gehen. Bei diesen Gelegenheiten machte Lord St. Clair nie ein Hehl aus seiner Feindseligkeit.

Was Gareth anging, so war er auch nicht viel besser darin, seine Gefühle zu verbergen. Immer schien er in seine alten Verhaltensweisen zurückzufallen und den Baron mit voller Absicht zu reizen und zu provozieren. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte Gareth zu laut gelacht und dann viel zu eng mit einer bekanntermaßen abenteuerlustigen Witwe getanzt.

Lord St. Clair war puterrot geworden und hatte dann gezischt, dass er von jemandem wie ihm gar nichts anderes erwartet habe. Gareth war sich nicht ganz sicher gewesen, wie sein Vater das gemeint hatte, zumal der Baron an diesem Abend reichlich getrunken hatte. Doch eines war ihm dadurch klar geworden: Irgendwann einmal würde das Damoklesschwert fallen. Und zwar dann, wenn Gareth am wenigsten damit rechnete – oder, da er inzwischen so misstrauisch geworden war, vielleicht genau dann, wenn er damit rechnete. Aber sobald Gareth versuchen würde, etwas in seinem Leben zu verändern, wenn er sich weiterentwickelte, Höheres anstrebte …

Dann würde der Baron handeln. Dessen war Gareth sich sicher.

Und dann würde seine ganze Welt in sich zusammenfallen.

»Mr. St. Clair?«

Gareth blinzelte und wandte sich zu Hyacinth Bridgerton um, die er, wie er ein wenig verlegen feststellte, über seinen Überlegungen völlig vergessen hatte. »Bitte verzeihen Sie«, murmelte er und schenkte ihr das träge, entspannte Lächeln, das niemals seine Wirkung verfehlte, wenn er eine Frau besänftigen wollte. »Ich war in Gedanken.«

Da er ihren zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er hinzu: »Manchmal denke auch ich nach.«

Sie lächelte – widerstrebend zwar, doch er verbuchte es als Erfolg. Wenn es ihm irgendwann einmal nicht mehr gelänge, einer Frau ein Lächeln zu entlocken, würde er einpacken und auf die Äußeren Hebriden ziehen müssen.

»Normalerweise«, begann er, da ein wenig höfliche Konversation angebracht schien, »würde ich Sie nun fragen, wie Ihnen die Musik gefallen hat, in Anbetracht der Umstände kommt mir das allerdings ein wenig grausam vor.«

Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum, was er interessant fand, da die meisten jungen Damen von klein auf darauf gedrillt wurden, ganz still zu sitzen. Gareth stellte fest, dass sie ihm durch diese rastlose Energie nur umso besser gefiel – er selbst neigte dazu, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, ohne es selbst zu bemerken.

Er beobachtete ihr Gesicht, wartete auf eine Antwort, doch sie sah nur leicht unbehaglich drein. Schließlich beugte sie sich vor und flüsterte: »Mr. St. Clair?«

Auch er beugte sich vor und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Miss Bridgerton?«

»Würde es Ihnen viel ausmachen, wenn wir ein bisschen im Saal auf und ab gingen?« Dann wies sie beinahe unmerklich mit dem Kopf zur Schulter. Lord Somershall wälzte seine ausladenden Formen auf dem Sitz herum und war Hyacinth schon bedrohlich nahe gekommen.

»Aber nein«, erwiderte Gareth ritterlich, erhob sich und bot ihr den Arm. »Schließlich muss ich Lord Somershall retten«, erklärte er, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren.

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