×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Brauchen wir Kultur?«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Brauchen wir Kultur?« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Brauchen wir Kultur?

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Die ausgewählten Texte aus den Bänden Abinger Harvest (1936) und Two Cheers for Democracy (1951) sind eindringliche Plädoyers für Demokratie und Menschlichkeit. Forster schreibt mit einer bewundernswerten Sanftheit und im felsenfesten Glauben an die Bedeutung persönlicher Beziehungen über das Ideal der Verbundenheit untereinander. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen Antisemitismus und Rassismus gesellschaftliche Diskurse, nicht zuletzt zwei Weltkriege. In Forsters Augen ist die Kunst das einzige menschliche Produkt mit einer immanenten inneren Ordnung, das Halt in den Wirren der Zivilisation bieten kann. Forster plädiert für die Zuwendung zu den Künsten gerade in Zeiten von Kriegen und nationalistischen Tendenzen. Die Essays von E. M. Forster haben nicht an Aktualität verloren.


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013029

Leseprobe

Das Spiel des Lebens

O Leben, was bist Du? Selten gibt das Leben eine Antwort auf diese Frage. Doch dieses Schweigen ist kaum von Belang, denn Schulmeister und andere Männer mit besten Absichten sind hinreichend befähigt, für das Leben zu sprechen. Das Leben, so teilen sie uns mit, sei ein Spiel. Welches Spiel? Mensch-ärgere-dich-nicht? Nein, denn das Leben ist beizeiten ärgerlich, aber sicherlich ein Spiel, das … nun … gewiss kein Glücksspiel. Nicht Bakkarat, sondern Schach oder gelegentlich Bridge. Oder noch besser: Fußball. Es gebe ein klares Ziel, gesunde und frische Luft und »Esprit de Corps«; das Schicksal spiele den Schiedsrichter, der Ball die Hoffnung; auf zum Spielfeld, alle, jeder und jede! So reden uns die Männer mit besten Absichten zu. Wenn die Rede vom Leben ist, verlieren sie jegliche Scheu, denn es sei eine Frage der Moral. Sie referieren gerne darüber, wie man sich verhalten sollte, nicht was uns tatsächlich bevorsteht, weshalb sie unzählige Wälzer über korrektes Benehmen und rein gar nichts über die beunruhigenden Erscheinungen verfasst haben, die sich vor uns aus dem Boden erheben oder vom Himmel fallen. Wenn sie sagen, dass das Leben ein Spiel sei, bedeutet das bloß, dass gewisse Spiele bestimmte, in ihren Augen wünschenswerte Charaktereigenschaften fördern, zum Beispiel Herzhaftigkeit.

Nichtsdestotrotz sind sie dabei vielleicht auf das richtige Bild gestoßen. So merkwürdig es sein mag, in bestimmten Momenten eines Spiels sticht plötzlich etwas Wirkliches hervor und blitzt auf wie ein Stern im Nachthimmel. Die vereinfachte kleine Welt, die anhand von Regeln und der Konvention eines Anfangs und eines Endes geformt wurde, scheint gelegentlich der tatsächlichen Welt zu entsprechen. Ähnliches geschieht mit Kunstwerken, doch sie üben eine andere Wirkung auf uns aus. Sie bescheren uns Freude und geben uns das Gefühl, selbst Künstler und Künstlerinnen zu sein. Im Gegensatz dazu ist die Wirklichkeit eines Spiels beunruhigend. Ein Sieg fühlt sich stets seicht an, doch die Niederlage ist tiefgründig und deutet schreckliche Unergründlichkeiten an. Glücksspiele, bei denen nicht einmal versucht wird, den freien Willen der Spielenden miteinzubeziehen, müssen von diesen Betrachtungen ausgeschlossen werden; ihre Ironie ist zu mechanisch, um die des Lebens widerzuspiegeln. Zwar mag auch das Leben bloße Glückssache sein, doch wir haben die Doktrin der Leistung und des Ertrags entwickelt, um seine Zwecklosigkeit zu verhüllen, und jedes Spiel, welches das Leben widerspiegeln soll, muss es ihm in dieser Hinsicht gleichtun. Wenden wir uns daher Spielen zu, die Fähigkeiten erfordern, vorerst Schach.

Ich spiele das Evans-Gambit 1 .

Dieses wurde von einem Marineoffizier erfunden und ist für seinen Spielfluss bekannt. Ein reißender Strom entspringt aus dem Südwesten und schwappt über den Bauern des schwarzen Läufers. Die gesamte Oberfläche des Brettes beginnt zu strudeln, doch über kurz oder lang schwemmt eine vertraute Leiche an die Oberfläche: meine. Oje, was ist denn bloß geschehen? Das Gleiche wie immer: ein überhasteter Angriff gefolgt von Zurückhaltung. Warum habe ich nur den Bauern meines Turmes nicht bewegt? Weil ich mich wie gehabt von oberflächlichen Gefühlen habe verleiten lassen. Nein, nicht wie gehabt. Das Problem ist wohl eher, dass das Evans-Gambit nicht meinem Stil entspricht. In Zukunft spiele ich die italienische Partie.

Die italienische Partie hat nichts Flüssiges an sich, sie stinkt regelrecht nach erdigem Boden. Auf beiden Seiten erstreckt sich eine trostlose Linie aus Springern und Läufern, dazwischen ein Feld, auf dem sich die Bauern gegenseitig widderhaft die Köpfe stoßen (daher auch der ursprüngliche Name »giuoco piano«). Die erdigen Kräfte werden von solchen Stößen kaum berührt, doch dann fallen sie abwechselnd und mit einem dumpfen Geräusch um. Man sollte dabei Figuren austauschen, doch wenn sich die Konturen der neuen Landschaft abzeichnen, welche vertraute Leiche liegt dort im Staub? Meine. Oje, was ist denn bloß geschehen? Das Gleiche wie immer: Mein Charakter macht sich geltend, in den Tiefen der See, im Schoß der Hügel, überall. Schach, bei dem Glück beinahe keine Rolle spielt, ist ein Gewächshaus, in dem die Früchte des Charakters stärker reifen als im Leben. Im Leben können wir das Unbekannte für unser Scheitern verantwortlich machen, mit der Hand vage an den Horizont deuten oder die Faust gen Himmel schütteln. Doch wenn wir beim Evans-Gambit sowie in der italienischen Partie und bei der Wahl einer Krawatte und einem Streit im Büro und in einer Liebesbeziehung denselben Fehler begehen, dann ist dieser Fehler gewiss nur an einem Ding festzumachen: dem Charakter. Für den wir, daran erinnern uns die gut beabsichtigten Männer, vollkommen und für alle Ewigkeit selbst verantwortlich sind.

Da das Leben beides enthält – sowohl was außerhalb unserer Kontrolle liegt und was wir kontrollieren sollten – und Glücksspiele das eine und Schach das andere einseitig gewichten, stellt sich wiederum die Frage, welches Spiel das Leben angemessen widerspiegelt.

Pikett.

Wer der Meinung ist, es sei Bridge oder Fußball, sollte bedenken, dass diese aufgrund der Mitspieler und Mitspielerinnen sowie der beiden Seiten ein unberechenbares Element enthalten. Doch diese Komplexität ist nicht identisch mit der Komplexität des Lebens, und wenn das Leben eine Bridge-Partie sein soll, dann nur, wenn man dies glauben möchte; intellektuell kann die Ähnlichkeit nicht erschlossen werden. Doch nehmen wir Pikett. Erstens ist es offensichtlich und unsäglich ungerecht. Das Schicksal wird ausgeteilt, selbst wenn beim Ablegen der Karten eine gewisse Fähigkeit zum Zuge kommen kann, und weder die Regeln noch die Punkterechnung versuchen, diese Ungerechtigkeit auch nur in geringstem Maße auszugleichen oder der benachteiligten Person eine neue Chance zu geben. Das Spiel scheint völlig dieses eine Element zu verkörpern. Ein Desaster beschwört das nächste herauf. Die Spitze der Grausamkeit ist der »Rubikon«, bei dem die Knochen des Verlierers oder der Verliererin zusammengesammelt und vom Gegner oder der Gegnerin wie Zweige auf ein Freudenfeuer geworfen werden. Und trotz alldem waltet in diesem barbarischen Spiel der freie Wille. Es ist möglich, das Schicksal zu beschleunigen oder zu zügeln. Es wird beständig gespielt, subtil und kraftvoll, obschon Niederlage und Sieg von einer höheren Gewalt entschieden wurden. Von wahrem Interesse ist das Spielen und nicht das Ergebnis, und in dieser Hinsicht gleicht es dem Leben – dem Spiel, an dem alle Lebenden und möglicherweise auch alle Verstorbenen teilnehmen. Das Schicksal scheint den Menschen vorgegeben zu sein, jedoch können sie strampeln und ihr Schicksal entweder hinnehmen oder gegen es aufbegehren. Es gibt nichts Spannenderes im Universum als dieses Strampeln. O Leben, Du bist Pikett, ein grimmiger Zeitvertreib. Und trotzdem ginge es schlimmer, könntest Du doch Golf sein.

Was ist Anonymität?

Wissen Sie gerne, von wem ein Buch geschrieben wurde?

Diese Frage ist tiefsinniger, als sie scheinen mag. Nehmen wir als Beispiel ein Gedicht: Bereitet es mehr oder weniger Freude, wenn man den Autor oder die Autorin kennt? Zum Beispiel die Ballade »Sir Patrick Spens« 2 . Niemand weiß, wer sie geschrieben hat. Sie erreicht uns als eisiger Hauch aus dem nördlichen Nichts. Man kann sie mit der »Ballade vom alten Seemann« 3 vergleichen, denn auch diese enthält eine tragische Reise und einen eisigen Hauch, aber sie wurde von einem gewissen Samuel Taylor Coleridge unterzeichnet, und über diesen Coleridge wissen wir so einiges: Er unterzeichnete auch andere Gedichte und war andern, die wie er Gedichte schrieben, bekannt; er türmte aus Cambridge; er trat der Armee als Dragoner unter dem Namen Comberbache bei, fiel aber so oft von seinem Pferd, dass es ihm auf Dauer entzogen werden musste und er stattdessen als Sanitäter beschäftigt wurde; er heiratete Southeys Schwester und hielt Vorträge; er wurde dick, fromm und unehrlich, nahm Opium und starb. Wenn man dies weiß, spricht man vom »Alten Seemann« als »einem Gedicht von Coleridge«; »Sir Patrick Spens« bleibt aber »ein Gedicht«. Wie, wenn überhaupt, beeinflusst dieser Unterschied das Verständnis des Textes? Spielt es im Falle von Romanen und Dramen eine Rolle, ob man weiß, wer sie geschrieben hat? Hinterlässt ein Zeitungsartikel einen bleibenderen Eindruck, wenn wir wissen, wer ihn verfasst hat? Auf diese – eher nebelhafte – Weise nehmen diese Betrachtungen ihren Anfang.

Bücher bestehen aus Wörtern, und Wörter haben zwei Funktionen: Sie vermitteln Informationen oder erzeugen eine Stimmung. Häufig tun sie beides, da die beiden Funktionen sich nicht ausschließen, aber zum Zweck dieser Untersuchung werden sie auseinandergehalten. Als nächstes Beispiel dient ein Text aus dem öffentlichen Leben. An Straßenbahnstationen stößt man gelegentlich auf das Wort »Haltestelle«. Als Wort auf einem metallenen Schild am Rande der Gleise besagt es, dass dort bald eine Bahn halten wird. Es ist ein Beispiel reiner Information. Das Wort erzeugt keine Stimmung – wenigstens nicht für mich. Ich stehe unter dem Schild und warte und warte. Wenn eine Bahn eintrifft, ist die Information korrekt; wenn nicht, ist sie inkorrekt. Aber in beiden Fällen vermittelt das Schild eine Information und ist daher ein hervorragendes Beispiel dieser Funktion von Wörtern.

Man vergleiche dies nun mit einem weiteren Beispiel aus dem öffentlichen Leben, einer Warnung, auf die man in den gefährlicheren Städten Englands stößt: »Vorsicht: Taschendiebe!« Auch in diesem Fall werden Informationen vermittelt. Gleich einer Straßenbahn könnten jederzeit Kriminelle eintreffen, und so wappnen wir uns entsprechend. Aber es geschieht auch noch etwas anderes: Es entsteht eine Stimmung. Kann man diese Wörter lesen, ohne ein mulmiges Gefühl zu kriegen? Die Menschen um einen herum wirken so ehrlich und nett, aber das sind sie nicht – einige von ihnen sind Taschendiebe! Sie bedrängen einen älteren Herrn, der sich umsieht und … schon ist seine Uhr weg. Sie schleichen sich von hinten an eine alte Dame und schneiden ihr mit einer scharfen Schere lautlos den Kragen ihrer wunderschönen Robbenfelljacke ab. Und dort eilt ein glückliches Kindlein zum Süßwarengeschäft, aber warum bricht es so plötzlich in Tränen aus? Taschendiebe haben ihm den Pfennig aus der Hand gerissen. All dies, und vielleicht noch mehr, mag einem vorschweben, wenn man besagte Warnung liest. Man beginnt, seine Mitmenschen zu verdächtigen – und merkt, dass man wiederum von ihnen verdächtigt wird. Sie ruft beunruhigende Wahrheiten ins Bewusstsein: die allgemeine Unberechenbarkeit des Lebens, die menschliche Schwachheit, die Gewaltbereitschaft der Armen und die törichte Gutgläubigkeit der Reichen, die stets erwarten, beliebt zu sein, ohne etwas dafür tun zu müssen. Sie ist gewissermaßen ein Memento Mori inmitten des Jahrmarkts der Eitelkeit. Als Warnung schüchtert sie uns ein, obwohl uns Angst nichts bringt; wir müssen lediglich auf unsere geliebten Taschen aufpassen, wobei uns Angst keine Hilfe ist. Abgesehen vom Vermitteln einer Information hat sie eine Stimmung erzeugt – und in dieser Hinsicht ist die Warnung Literatur. »Vorsicht: Taschendiebe!« ist gewiss nicht hohe – und nur unbewusst – Literatur, aber diese Wörter üben zwei Funktionen aus, während das Wort »Haltestelle« nur eine ausübt, und das ist ein bedeutender Unterschied, mit dem wir den ersten Schritt dieser Betrachtungen abschließen.

Für den nächsten trage man alles Gedruckte der Welt auf einem Haufen zusammen: Gedichtbände, Schulbücher, Theaterstücke, Zeitungen, Werbung, Straßenschilder – einfach alles. Nun sortiere man diesen Haufen und bilde eine Reihe: an einem Ende Texte, die nur Informationen vermitteln, am andern diejenigen, welche nur eine Stimmung erzeugen, und dazwischen Texte, die beides tun. Es entsteht also ein Spektrum, auf dem man schrittweise von einer Funktion zur anderen gelangt. Am Extrem der reinen Informationsvermittlung befindet sich das Schild »Haltestelle«, am andern die freie Dichtung. Freie Dichtung ist gänzlich nutzlos. Sie ist das komplette Gegenteil eines Straßenschildes, da sie in keiner Weise Informationen vermittelt. Was ist der Nutzen von »Mein Geist, von Schlaf versiegelt« oder »Ob auf Idas beschatteter Stirn« oder »So schweifen wir nimmermehr« oder »Im Westen liegt ein Bruchland«? 4 Sie sagen nichts darüber aus, wo die Bahn hält oder ob es überhaupt eine Bahn gibt. Kommt man von der freien Dichtung zur Ballade, bleiben einem Informationen weiterhin vorenthalten. Zwar beschreibt »Die Ballade vom alten Seemann« eine Expedition in die Antarktis, allerdings auf so ungenaue Weise, dass das Gedicht einer tatsächlichen Expedition kaum hilfreich wäre; die Informationen über Strömungen und Winde in Polargebieten stimmen einfach nicht. Auch »Sir Patrick Spens« handelt von einer realen Begebenheit im Jahr 1285, der Reise der Jungfrau von Norwegen 5 , aber die Anspielungen sind so unklar und konfus, dass man sich in der Geschichtsschreibung Haare raufend von ihr abwendet. Freie Dichtung ist gänzlich nutzlos; Dichtung im Allgemeinen ist fast gänzlich nutzlos.

Nimmt man einen weiteren Schritt, kommt man von der Dichtung zur Dramatik. Besonders in Theaterstücken, die angeblich von gewöhnlichen Menschen handeln, stellt man eine Veränderung fest. Nutzlosigkeit dominiert weiterhin, aber nun werden auch Informationen vermittelt, zum Beispiel enthält »Julius Cäsar« einige verlässliche Informationen über das antike Rom. Dieser Unterschied tritt im nächsten Schritt von der Dramatik zum Roman noch deutlicher hervor. Plötzlich wimmelt es vor Informationen. Wie viel man in »Tom Jones« über die ländlichen Regionen im Westen Englands lernen kann! Und in »Northanger Abbey« über die gleiche Gegend fünfzig Jahre später! Romane vermitteln auch einiges über Psychologie. Wie sorgfältig Henry James bestimmte Winkel des menschlichen Geistes erkundet hat! Wie zutreffend »Der Weg allen Fleisches« 6 das Leben in einer Landpfarrei analysiert! Die Instinkte Emily Brontës bringen Licht ins Dunkel der Leidenschaft. Und Proust – wie verblüffend sind seine Beschreibungen, nicht nur der französischen Gesellschaft, nicht nur des Innenlebens seiner Figuren, sondern der Eigenschaften seiner Leserschaft, sodass es einem beim Lesen beständig den Atem verschlägt und man sich denkt: »Aber wie hat er das über mich erfahren? Ich wusste es nicht einmal selbst, bis er es mir sagte, aber es stimmt!« Romane sind – ganz egal, was sie sonst noch alles sein mögen – teilweise Straßenschilder. Dies ist der Grund, warum viele Menschen Romane schätzen und sich guten Gewissens kritisch über sie äußern können, auch wenn ihnen Dichtung und selbst Dramatik nichts sagt.

Jenseits des Romans kommt man zu Werken, deren erklärtes Ziel die Vermittlung von Informationen ist: gelehrte Werke aus der Historik, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Wissenschaft usw. Nutzlosigkeit spielt nun eine untergeordnete Rolle, doch mag sie sich in bestimmten Fällen behaupten, zum Beispiel in »Verfall und Untergang des Römischen Reiches« oder »Die Steine von Venedig« 7 . Dann kommen Werke, die Informationen über aktuelle Geschehnisse vermitteln oder vorgeben, dies zu tun: nämlich Zeitungen. (Zeitungen sind so bedeutsam und eigenartig, dass ich weiter unten zu ihnen zurückkehren werde und sie an dieser Stelle nur hinsichtlich ihrer Position im Spektrum des Gedruckten nenne.) Dann kommen Werbung, Zeitpläne, Preislisten in Taxis und öffentliche Hinweise: die Warnung vor Taschendieben, die beiläufig eine Stimmung erzeugt, obwohl sie in erster Linie Informationen vermitteln soll, und dann die reine Informationsvermittlung des Wortes »Haltestelle«. Der Weg von der freien Dichtung zum Schild an einer Bahnstation ist lang, aber lückenlos. Wörter gehören zur gleichen Familie und verändern sich nicht, wenn sie in einem Buch oder auf einem Metallschild gedruckt werden. Sie unterscheiden sich aber anhand ihrer Funktion. Es gibt zwei Funktionen, und die Kombinationsmöglichkeiten dieser Funktionen sind unendlich. Wenn in einem irdischen Hause viele Wohnungen sind, dann im Hause der Wörter.

Hat man dieses Spektrum des gedruckten Wortes vor Augen, stellt sich wieder die Frage: Wissen Sie gerne, von wem ein Buch geschrieben wurde? Sollte ein Name darunterstehen? Nun wird es spannend. Offensichtlich sollte man wissen, wer einen Text geschrieben hat, der Informationen vermittelt. Denn Informationen sollten wahr sein; das ist der einzige Grund, warum es sie gibt. Wir müssen wissen, wer sie uns vorsetzt, damit diese Person zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn sie gelogen hat. Nachdem ich vergebens stundenlang unter dem Schild »Haltestelle« gewartet habe, ist es mein gutes Recht zu verlangen, dass es entfernt wird, aber dazu muss ich wissen, wer es aufgehängt hat. Macht man eine Aussage, setzt man seinen Namen darunter; das besagt der gesunde Menschenverstand. Nähert man sich aber der anderen Funktion von Wörtern an – der Erzeugung einer Stimmung –, verliert die Frage, wer etwas geschrieben hat, an Bedeutung. Es spielt keine Rolle, wer »Mein Geist, von Schlaf versiegelt« geschrieben hat, denn das Gedicht an sich spielt auch keine Rolle. Weist man es Ella Wheeler Wilcox zu, fährt die Bahn wie gewohnt. Es spielt kaum eine Rolle, wer »Julius Cäsar« oder »Tom Jones« geschrieben hat. Sie enthalten Informationen über das antike Rom und England im achtzehnten Jahrhundert, und in dieser Hinsicht beurteilen wir die Verlässlichkeit der Informationen anhand ihrer Quelle, aber abgesehen davon bürgt der Name Charles Garvice 8 für genauso viel wie die Namen Shakespeare oder Fielding. Man kommt also zu folgenden Einsichten: erstens, dass ein Text, der Informationen vermittelt, nicht anonym sein sollte; zweitens, dass ein Text, der keine Informationen vermittelt, anonym sein darf.

Nun kann man noch tiefer auf diese Frage eingehen.

Was an einem Wort ist nicht Information? Ich habe dieses Element »Stimmung« genannt, aber es muss strenger definiert werden. Es findet sich nicht in einem bestimmten Wort, sondern in der Anordnung von Worten – anders gesagt, im Stil. Es beruht auf der Fähigkeit von Worten, uns zu erregen und unser Herz höher schlagen zu lassen. Es beruht aber auch auf etwas anderem, das sich ebenso unmöglich erklären lässt wie das Rätsel des Universums. Dieses »Andere« an Worten kann nicht definiert werden. Es bezieht sich auf die Fähigkeit von Worten, nicht nur eine Stimmung zu erzeugen, sondern eine ganze Welt zu erschaffen, die zeitweilig wirklicher und greifbarer scheint als das Alltagsleben mit seinen Taschendieben und Straßenbahnen. Uns ist vor der Lektüre von »Der alte Seemann« bekannt, dass keine Geister die antarktische See heimsuchen und dass das Erschießen eines Albatros einen Mann nicht zu einem Kriminellen, sondern einem Jäger macht, und sogar zu einem Naturforscher, wenn er den Albatros danach noch ausstopft. All dies ist bekannt. Liest man »Der alte Seemann« – oder ruft sich das Gedicht genaustens in Erinnerung –, überlässt das Bekannte seinen Platz dem Unbekannten. Man betritt eine Welt mit eigenen Spielregeln, die sich selbst trägt, in sich geschlossen ist und ihren eigenen Wahrheitsanspruch definiert. Informationen sind wahr, wenn sie stimmen; ein Gedicht ist wahr, wenn es sich zu einem Ganzen zusammenfügt. Informationen beziehen sich auf etwas anderes als sich selbst; ein Gedicht bezieht sich ausschließlich auf sich selbst. Informationen sind relativ, Gedichte absolut. Worte schaffen Welten jenseits von Raum und Zeit und dennoch weisen sie gewisse Züge beider auf: Sie sind ewig und unzerstörbar, gleichzeitig ist ihr Walten nicht stärker als das einer Blume; sie sind adamanten und doch nur, wie es einmal gesagt wurde, der Schatten eines Schattens; sie lassen sich am besten negativ definieren: Ihre Welt ist nicht diese Welt; ihre Gesetze sind nicht die der Wissenschaft oder Logik; ihre Sinnstiftung beruht nicht auf gesundem Menschenverstand. Sie hebeln herkömmliche Urteilskraft aus.

Nun kommt der springende Punkt. Rückt beim Lesen von »Der alte Seemann« nicht nur alles, was man über Astronomie und Geografie und gängige Moralvorstellungen gelernt hat, in den Hintergrund, sondern auch der Autor? Verpufft Samuel Taylor Coleridge – Dozent, Opiumesser und Dragoner – nicht zusammen mit dem Rest der Welt der Informationen? Man erinnert sich an ihn vor und nach der Lektüre des Gedichts, aber während des Lesens gibt es nichts außer des Gedichts. Während man »Der alte Seemann« liest, verändert sich also das Gedicht: Es wird anonym wie »Sir Patrick Spens«. Das bringt mich zu meiner Hauptaussage: Literatur strebt nach dem Zustand der Anonymität, und insofern Worte etwas erschaffen, lenkt ein Name nur von ihrer wahren Bedeutung ab. Dies bedeutet nicht, dass Literatur anonym sein »sollte«, denn die Literatur ist voller Leben und »sollte« gar nichts. Sie »will« anonym sein, das ist der Punkt. Sie strebt beständig nach diesem Zustand und verkündet sozusagen: »Ich bin es, was zählt, nicht wer mich erschaffen hat«. So tun es auch Bäume und Blumen und trotz der Mahnworte der Kirche und der Wissenschaft bestehen auch die Menschen darauf, dass sie sind, was zählt, und nicht Gott. Es liegt in der Natur der Schöpfung, dass der Schöpfer dabei vergessen geht. Sich an ihn zu erinnern, bedeutet, die eigene Jugend zu vergessen. Die Literatur will sich nicht erinnern. Sie ist lebensfroh, aber nicht im vagen und schmeichelnden Sinn dieses Ausdrucks; sie klammert sich an das Leben und ist stets darauf bedacht, die Spuren zur Werkstatt zu verwischen.

An dieser Stelle könnte man entgegnen, dass Literatur Persönlichkeit ausdrücke und dass sie einer individuellen Sichtweise entspringe, weshalb man mit gutem Recht wissen dürfe, wer einen Text geschrieben habe. Er gehöre einer Person und diese verdiene Anerkennung.

Ein wichtiger Einwand, aber auch ein neumodischer, denn weder beim Schreiben noch beim Lesen genoss Persönlichkeit in der Vergangenheit den hohen Stellenwert, der ihr heute beigemessen wird. Homer war sie nicht wichtig, und auch nicht den verschiedenen Menschen, die Homer waren. Den Autoren der »Griechischen Anthologie« 9 , die ein Gedicht schrieben und es dann beständig in fast gänzlich identischen Worten umschrieben, war sie nicht wichtig. Für sie zählte das Gedicht, nicht der Dichter; sie waren überzeugt, dass sie durch dieses fortlaufende Umschreiben die perfekte und natürliche Ausdrucksform des Gedichts finden würden. Den Balladensängern des Mittelalters, die ihre Namen nie einem Werk beifügten, wie auch den Architekten der Kathedralen, war sie nicht wichtig. Weder beim Schreiben noch dem Übersetzen der Bibel spielte sie eine Rolle. Das Buch Mose besteht aus mindestens drei verschiedenen Quellen – dem Jahwist, dem Elohist und der Priesterschrift –, die in Jerusalem von einem Komitee auf Geheißen King Josias zusammengefügt und dann von einem Komitee auf Geheißen James I. in London ins Englische übersetzt wurden. Trotzdem gilt das Buch Mose als Literatur. Damals wusste man schon, dass die Worte eines Menschen seine Persönlichkeit ausdrückten, aber im Gegensatz zu uns machte man keinen Kult daraus. Bestimmt lag man damit richtig und bestimmt geht man mit dem Pochen auf Persönlichkeit in der zeitgenössischen Kritik zu weit.

Es geht zu weit, weil dabei nicht darüber nachgedacht wird, was Persönlichkeit bedeutet. Ebenso wie ein Wort zwei Funktionen hat – Information und Stimmung –, besteht jeder Mensch aus zwei Persönlichkeiten: eine an der Oberfläche, eine in der Tiefe. Die Oberflächenpersönlichkeit trägt einen Namen, zum Beispiel S. T. Coleridge oder William Shakespeare oder Mrs. Humphrey Ward 10 . Sie ist bewusst und wachsam, geht zum Abendessen in ein Restaurant, beantwortet Briefe usw., und sie unterscheidet sich deutlich und auf amüsante Weise von anderen Persönlichkeiten. Die Tiefenpersönlichkeit ist eine sonderbare Sache. In vieler Hinsicht ist sie vollkommen närrisch, aber ohne sie entsteht keine Literatur, denn nur wenn man gelegentlich einen Eimer in sie herunterlässt, wird man in der Lage sein, ein erstklassiges Werk zu schaffen. Sie hat etwas Allgemeines. Obwohl sie sich in den Tiefen eines S. T. Coleridges befindet, kann man sie nicht bei seinem Namen nennen. Sie teilt etwas mit allen anderen Tiefenpersönlichkeiten. In der Mystik nennt man dieses Gemeinsame Gott und glaubt, dass man sich hier, in den unerforschten Winkeln unseres Wesens, dem Göttlichen annähert. So oder so ist sie die Kraft, aus der Anonymität entsteht. Aus den Tiefen schwingt sie sich in Höhen, in denen Fragen über ihren spezifischen Ursprung keinen Belang haben. Da alle Menschen sie teilen, haben die von ihr inspirierten Werke etwas gemeinsam, nämlich Schönheit. Gedichte werden fraglos von Personen geschrieben, aber diese sind sich ihrer selbst beim Schreiben nicht bewusst, ebenso wie man sie beim Lesen vergisst. Große Literatur ist wundervoll, weil man sich beim Lesen der Person annähert, die sie geschrieben hat, und so den schöpferischen Drang auch in sich selbst weckt; man verliert sich in der Schönheit, in der sich der Schöpfer oder die Schöpferin verloren hatte, und gewinnt dadurch mehr, als man je verlor. Es bringt uns zu einem Unterschlupf, in dem der Geist sich heimisch fühlt, und es ruft in Erinnerung, dass am Anfang nicht ein Mensch war, sondern das Wort.

Ein Blick auf ein paar Schriftsteller, die nicht erstklassig genannt werden können – Charles Lamb 11 und R. L. Stevenson 12  –, veranschaulicht diesen Gedanken. Sie sind begnadete, sensible, verspielte, tolerante und lustige Gesellen, aber sie schreiben ausschließlich mit ihren Oberflächenpersönlichkeiten und lassen niemals einen Eimer in die Unterwelt herab. Lamb versuchte es gar nicht erst: »Eieieieieimer«, hätte er gesagt, »das übersteieieieieigt mich«, und ist deswegen als Schriftsteller umso gefälliger. Stevenson hingegen tat wirklich sein Bestes, doch entweder blieb der Eimer stecken oder war nach dem Aufziehen gefüllt mit dem R.L.S., der ihn heruntergelassen hatte – gefüllt mit den Angewohnheiten, der Unsicherheit, der Sentimentalität und der Beschaulichkeit, die er vermeiden wollte. Jeder Satz ist mit vollständigem Namen unterzeichnet, und dies gilt auch für Lamb. Sie jagen ihre Leserschaft von Seite zu Seite und wahre Freude bleibt aus. Sie sind Briefeschreiber, nicht Künstler, und es ist kein Zufall, dass beide charmante Korrespondenz produzierten. Briefe kommen von der Oberfläche: Sie beschäftigen sich mit dem Tagesgeschehen oder mit Plänen, und natürlich unterzeichnet man sie mit seinem Namen. Literatur versucht, dies zu vermeiden. Der Beweis dafür ist, dass man häufig hört: »Das ist wieder typisch Lamb!« oder: »Typisch Stevenson!«, aber niemals: »Das ist wieder typisch Shakespeare!« oder: »Typisch Dante!« Man ist sich nur der Welten bewusst, die sie geschaffen haben, und nimmt gewissermaßen an ihrer Schöpfung teil. Coleridge bewegt sich in bescheideneren Gefilden, doch auch er lässt seine Leserschaft an seiner Schöpfung teilhaben. Diese vergisst zeitweise seinen, aber auch ihre eigenen Namen; zeitweiliges Vergessen, diese momentane und gemeinsame Anonymität, ist der klare Beweis für ein hervorragendes Werk. Die gegenwärtig vorherrschende Meinung, dass Literatur Persönlichkeit ausdrücken solle, ist mir viel zu penetrant, und ich wünsche mir die Rückkehr früherer Formen der Kritik, in der ein Gedicht nicht als ein Ausdruck, sondern eine Entdeckungsreise galt, und manchmal sogar als eine göttliche Eingebung.

Die Persönlichkeit wird allerdings wichtig, sobald ein Buch zu Ende gelesen wurde und man mit der Analyse beginnt. Wenn der Glanz des Erschaffenen verblasst und das Rauschen in den Blättern des göttlichen Baumes verstummt ist, wenn man nicht mehr an der Schöpfung teilhat, dann verändert sich der Charakter eines Buches. Dann kann man bestimmte Fragen stellen, zum Beispiel: Wer hat es geschrieben? Wo lebte diese Person? War sie verheiratet? Was war ihre Lieblingsblume? Dann liest man das Buch nicht mehr, sondern analysiert es und ordnet es dem Verlangen nach Informationen unter. »Analysieren« klingt andächtig. »Ich analysiere Dante« klingt nach viel mehr als: »Ich lese Dante«. In der Tat ist es viel weniger. Analyse ist lediglich ernst gemeinter Tratsch. Dank ihm lernt man alles über ein Buch, außer das Wesentliche, wobei ein Wall rund um dieses errichtet wird, den man nur auf den Schwingen des inspirierten Geistes überwinden kann. In der Wissenschaft, Historik usw. ist die Analyse notwendig und angebracht, denn diese Disziplinen gehören der Welt der Informationen an, aber im schöpferischen Feld der Literatur … birgt die Analyse eine übermäßige Gefahr und sollte nie von unreifen Menschen versucht werden. Das moderne Bildungssystem fördert die ungezügelte Analyse der Literatur und konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Biografie – Biografie der Oberflächenpersönlichkeit – und Werk. Das ist nur ein Grund, warum Analyse ein solcher Fluch ist. Über den Akt des Lesens kann man keine Fragen stellen, weil, in den Worten Paul Claudels »la paix succède à la pensée« 13 . Man kann keine Prüfung über »Der Alte Seemann« halten, weil das Gedicht das Herz berührt und geschrieben wurde, um das Herz zu berühren – täte es dies nicht, wäre es gar nicht erst entstanden. Fragen stellen sich erst, wenn das Wesentliche des Gedichts aus dem Blickfeld gerät und man stattdessen wissbegierig und methodisch vorgeht.

Zum Abschluss noch eine Bemerkung über Zeitungen, denn sie bringen ein interessantes und mit dem Thema verwandtes Problem zur Sprache. Ich habe schon angemerkt, dass eine Zeitung Informationen über Aktualitäten vermittelt oder dies zumindest vorgibt. Ihr Wahrheitsanspruch basiert nicht auf sich selbst, wie das bei einem Gedicht der Fall ist, sondern auf den Fakten, die sie vermitteln, ebenso wie das Schild an der Bahnstation. Die Morgenausgabe landet auf dem Frühstückstisch, gänzlich überladen mit Wahrheiten über die Welt. Wahrheit, Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Das Bankett stillt den Appetit aber nicht und am Nachmittag kauft man eine Abendausgabe, die, wie der Name es schon sagt, am Mittag veröffentlicht wurde, und macht sich erneut ein Festmahl daraus. Am Ende der Woche kauft man eine Wochenzeitung oder eine Sonntagsausgabe, die offensichtlich am Samstag gedruckt wurde, und am Ende des Monats eine Monatszeitung. So bleibt man über die Geschehnisse informiert, wie es sich für praktisch denkende Menschen gehört.

Aber wer sorgt dafür, dass man informiert bleibt? Wer legt die Informationen vor, anhand derer man seine Urteile bildet und die letzten Endes auch den eigenen Charakter beeinflussen? Verblüffend ist, dass man es selten weiß. Zeitungsartikel sind größtenteils anonym. Es werden Aussagen gemacht, ohne einen Namen zu geben. Man stelle sich vor, eine Zeitung berichtete über den Tod des Kaisers von Guatemala. Zuerst fühlt man sich leicht bestürzt. Aus einem überheblichen Anstandsgefühl bedauert man das Ereignis, obwohl der Kaiser keine Rolle im eigenen Leben spielte, und die Ladys sagen sich gegenseitig: »Die arme Kaiserin tut mir schrecklich leid«. Aber schon erfährt man, dass der Kaiser nicht tot sein kann, da Guatemala eine Republik ist, und die Kaiserin keine Witwe, weil es sie nicht gibt. Wenn der Name des verantwortlichen Dummkopfs bekannt wäre, könnte man alles, was er zukünftig schreiben wird, ignorieren. Wenn ein Beitrag ohne Namen veröffentlich wird, was häufiger der Fall ist, oder aus der Feder »unseres Sonderkorrespondenten« stammt, kann man sich nicht vor weiteren Falschinformationen schützen. Der Mensch, der über Guatemala schrieb, wird sich als Nächstes vielleicht den Zusammenbruch des Frankens vornehmen und seine Leserschaft darüber hinters Licht führen.

Es scheint widersprüchlich, dass ein Artikel einen bleibenderen Eindruck hinterlässt, wenn er anonym veröffentlicht wurde; eine bestimmte Schwäche der menschlichen Psychologie sorgt dafür. Anonyme Aussagen haben eine universelle Aura, wie oben besprochen. Die absolute Wahrheit, die gesammelte Weisheit des Universums, scheint sich nicht der zitternden Stimme eines einzelnen Menschen zu bedienen. Heutzutage nutzen Zeitungen diesen Umstand aus. Das Ganze ist eine üble Karikatur der Literatur. Zeitungen haben sich am göttlichen Streben nach Anonymität vergriffen; sie erheben für Informationen Anspruch auf etwas, das ausschließlich dem kreativen Schaffen angehört. Sie werden es so lange weitertreiben und die psychologische Schwäche ausnutzen, wie wir es erdulden. »Die erhabene Aufgabe der Presse«. Die arme Presse! Als ob sie in der Lage wäre, eine Aufgabe zu haben! Es liegt an uns, etwas zu unternehmen. Es ist nicht möglich, einen Menschen mithilfe von Zeitungen oder Propaganda jeglicher Art zu heilen; man kann höchstens die Symptome seiner Erkrankung verändern. Einzig die Entwirrung des Verstands verspricht Heilung. Zeitungen legen die Öffentlichkeit nicht in erster Linie mit ihren Lügen herein, sondern indem sie diese bestimmte menschliche Schwäche ausnutzen. Sie verwechseln beständig die beiden Funktionen von Wörtern und erwecken den Anschein, dass die Sätze, »Kaiser von Guatemala gestorben« und »Mein Geist, von Schlaf versiegelt« in die gleiche Kategorie gehörten. Sie reißen Privilegien an sich, die ausschließlich dem Nutzlosen angehören, und sie werden dies so lange tun, wie wir es zulassen.

Hiermit enden diese Betrachtungen. »Sollten Texte anonym sein?« Diese auf den ersten Blick einfache und eigenständige Frage konnte nur beantwortet werden, indem zuerst das Wesen der Wörter bedacht und zwischen ihren beiden Funktionen unterschieden wurde. Beruft man sich auf den gesunden Menschenverstand, stellt man dabei bald fest, dass Informationen nicht anonym sein sollten. Zeitungen, deren Artikel größtenteils anonym veröffentlicht werden, haben dadurch ihren unerwünschten Einfluss gewonnen. Kreatives Schaffen entpuppte sich als eine komplizierte Frage. Literatur strebt nach Anonymität, so meine These. Kreatives Schaffen entspringt der Tiefe – in der Mystik würde man von Gott sprechen. Eine Unterschrift, ein Name, gehören der Welt der Oberflächenpersönlichkeit an, der Welt der Informationen. Sie sind die Etiketten, nicht das Wesen, des Lebens. Beim Schreiben vergisst man den eigenen Namen; beim Lesen eines Textes vergisst man ebenfalls den Namen der Person, die ihn geschrieben hat, sowie den eigenen. Nach Abschluss der Lektüre stellt man sich Fragen und analysiert ein Buch und die Person, die dahintersteht; wir zerren beide in das Reich der Informationen. Auf diese Weise lernt man unzählige Dinge, aber das Wertvollste kommt abhanden. Abgelenkt von all den Fragen und Antworten, dem reißenden Strom an Tratsch und Prüfungen, vergisst man den Grund, aus dem etwas geschaffen wurde. Dies ist kein Aufruf zur Ehrfurcht, diese ist für Literatur tödlich. Dies ist ein Plädoyer für etwas Essenzielleres: Vorstellungskraft. »Die Vorstellungskraft ist der unsterbliche Gott, der Fleisch werden soll zur Erlösung von irdischem Leiden« (Percy Shelley). Die Fantasie ist der einzige Zugang zu den von Worten erschaffenen Welten. Ob diese Worte anonym sind oder nicht, spielt keine Rolle mehr, sobald man von der Vorstellungskraft erlöst wird, denn nun nähert man sich dem Zustand an, in dem die Worte geschrieben wurden, und in diesen Tiefen gibt es keine Namen, keine Persönlichkeit im allgemeinen Sinn, keine Ehe und kein Geben des Namens in der Ehe. Was genau dort unten ist, das benötigt einen anderen Ansatz, aber man wünscht sich, dass die Religion und Wissenschaft ihn zukünftig erfolgreicher verfolgen wird als bisher.

Brauchen wir Kultur?

1

Kultur ist ein gebieterisches Wort, doch ich kenne kein besseres, um die verschiedenen schönen und spannenden Dinge zu benennen, die in der Vergangenheit von Menschenhand geschaffen und an uns weitergegeben wurden und die einige von uns an die Nachwelt weitergeben möchten. Viele Menschen verpönen diese Dinge. Sie beharren darauf, dass dieses Kulturzeugs zu viel Platz und Zeit einnehme und man es daher besser verschrotte. Und sie beharren etwas weniger vehement darauf, dass wir in einer neuen, von der Wissenschaft bereinigten Welt lebten, in der man aus der Tradition keinen Profit schlagen könne. Die Wissenschaft werde auch den Menschen unermüdlich bereinigen, und zwar in immer knapperen Abständen. Der Rundfunk und das Kino haben das Bühnenschauspiel weggewischt, und schon bald mag etwas Neues die Filmindustrie und die Rundfunkgesellschaften wegwischen. Bleibt in einer solch gesäuberten Welt noch Platz für die Brandenburgischen Konzerte oder eine zurückgezogene Lektüre Dantes oder die Mosaike in der Hagia Sophia oder auch Fotografien dieser? Eher werden wir uns tagsüber in die Arbeit und in unserer Freizeit in das stürzen, was den geringsten Aufwand erfordert.

Eine fürchterliche Prognose, deren Eintreten ich mit aller Kraft – und unbesorgt, dass ich dabei nicht unvoreingenommen sein kann – verhindern möchte. Es ist schlichtweg unmöglich, bei Fragen des Glaubens unvoreingenommen zu sein – Religionen haben dies erwiesen –, und mein Glaube an das Kulturzeugs ist so stark, dass mich nichts von der Überzeugung abbringen kann, dass es auch anderen Menschen etwas bedeuten müsse und dass es uns überall im Weg liegen solle. Glaube schürt auch Häme: Ich freue mich stets, wenn die Kultur ihren Feinden eins auswischt. Beispielsweise bereitete mir eine Aussage Richard Terrys, dem Organisten der Westminster-Kathedrale, höllische Freude. In einer Rede vor jungen Musikern in Blackpool hielt er fest, dass sie vor einer Wahl stünden: Sie könnten entweder Männer oder Schnulzensänger werden, jedoch nicht beides. Ein Sturm im Wasserglas brach aus. Mr. Jack Payne und Mr. Henry Hall, ihres Zeichens Leiter von Tanzensembles, waren zutiefst erzürnt, und die weniger umsichtigen Mitglieder ihrer Truppe sprachen mit der Presse. Ein Schnulzensänger warf ein, dass er und seine Freunde Sir Richard ohne Weiteres in den Boden stampfen könnten, weshalb kein Zweifel an ihrer Mannhaftigkeit bestehen könne. Ein anderer bemerkte, dass er und seine Freunde mehr Geld verdienten als Sir Richard und seine Freunde, weshalb kein Zweifel an ihrer Musikalität bestehen könne. Die Selbstherrlichkeit und Eingebildetheit dieser Unterhaltungsfritzen zeichneten sich mit erstaunlicher Klarheit ab. Sie schienen in einem ewigen Tanztee zu leben, den sie für das Universum hielten, und sie konnten es nicht ausstehen, geneckt zu werden. Ich höre mir gelegentlich gerne eine Schnulze oder auch das Gedröhne einer Wurlitzerorgel an, und Sir Richard Terrys Spezialgebiet, das Madrigal, langweilt mich. Trotzdem handelt es sich bei der Musik, für die er und seinesgleichen stehen, um wertvolles Zeugs, für das wir einstehen sollten und das es sich gelegentlich erlauben darf, anderen eins auszuwischen. Denn in der Regel befindet sich die Kultur, die man heute mit erschreckender Feindseligkeit behandelt, auf dem Rückzug.

Natürlich hatten die meisten Menschen noch nie etwas für die Klassiker übrig, ob in der Musik oder sonst wo, allerdings nahmen sie sie mit Gleichgültigkeit, anzüglichem Humor oder Gutmütigkeit entgegen und machten sich nicht die Mühe, sie zu verurteilen. »Nicht mein Geschmack, zu zahm«, sagte man, oder »Klingt wie eine kranke Katze, miaauu«, oder »Puh, ihm muss es dreckig gegangen sein, dass er blaue Äpfel gesehen hat« – ehemals typische Reaktionen auf Racine beziehungsweise Stravinsky oder Cézanne. Weiter als »Nicht mein Ding« ging es nicht. Doch nun verpufft die Gutmütigkeit, das Gelächter verwandelt sich in ein höhnisches Grinsen und die typische Reaktion lautet: »Was erlaubt sich diese sogenannte Kunst? Wenn es nach mir ginge …« Mrs. Leavis hat diese Feindlichkeit in ihrer Studie des englischen Romans zutreffend analysiert. Sie zeigt auf, dass Verkaufsschlager zwar bereits seit zweihundert Jahren geschrieben wurden, aber sich erst seit Kurzem ihrer Kraft bewusst geworden sind, und dass kommerziell erfolgreiche Autoren und Autorinnen der Gegenwart neuerdings ihren literarisch gesinnten Brüdern und Schwestern feindlich gesinnt sind – eine Einstellung, die von der Presse und auch den billigen Bibliotheken weitgehend unterstützt wird. Mrs. Leavis’ Perspektive führt leicht zu Selbstgefälligkeit, doch ich ziehe Überheblichkeit der Kriecherei vor. Es ereignete sich einst ein sonderlicher Fall, der in mehreren Spalten der »Times« ausgetragen wurde. Ein beliebter Komödiant war während einer Ausstrahlung der B.B.C. abgeschnitten worden, wonach sich die sonst so starrsinnige Rundfunkgesellschaft regelrecht katzbuckelte und entschuldigte und die gräuliche Missetat in peinlichster Manier zu erklären versuchte. Später erschien die Antwort des Komödianten, der sich beschwichtigt zeigte und sogar dazu bereit erklärte, auch in Zukunft wieder im Radio zu erscheinen. Ich frage mich, welches Tamtam ein Philosoph oder eine Dichterin veranstaltet hätten, wenn man sie im Radio abgeschnitten hätte, und auch, wie viele Spalten des Bedauerns man ihnen in der Tagespresse gewährt hätte.

Solche Vorfälle, so banal sie scheinen mögen, weisen darauf hin, dass die Vergangenheit und die Werke, die der Vergangenheit entspringen, wenig Achtung gebieten und bald über Bord geworfen werden. In diesen unruhigen Zeiten ist es unsere Pflicht, dieses alte Zeugs zu großen Teilen ans Ufer zu retten, und mit altem Zeugs beziehe ich mich nicht nur auf Bücher, Gemälde und Musik, sondern auch auf die Fähigkeit, sich an ihnen zu erfreuen und sie zu verstehen. Wenn diese Fähigkeit verloren geht, werden die Bücher und alles andere in Museen verschwinden und sterben oder nur als absurde Karikaturen überleben. In »Babbitt« beschreibt Sinclair Lewis eine Gesellschaft ohne Tradition, die sich folglich sowohl im Beruf als auch in der Freizeit nur mit Müll beschäftigen kann. Man hatte zwar von der Vergangenheit gehört, war aber nicht in der Lage, sich an ihr zu erfreuen oder sie zu verstehen. Ein düsterer Moment während einer Séance, bei der Dantes Geist heraufbeschworen wird, verbildlicht dies. Die versammelte Gruppe kennt Dante als einen Mann, der sich die Finger verbrannte, und so erscheint er als solcher und kehrt nach einer kurzen Plauderei und mit einem zufriedenen Grinsen zu seinen Flammen zurück. Er wurde zu einer wahren Witzfigur, und scheinbar wird ihm im sowjetischen Russland ein ähnliches, wenngleich weniger extremes Schicksal zuteil. Zwar wurde er dort ans Ufer gerettet, aber auch als Sadist abgestempelt. Soll heißen, die Fähigkeit, ihn zu verstehen, ging am anderen Ufer vergessen. In der Tat besagen die Worte, die laut Dante an den Toren der Hölle stehen, dass diese von Gottes Kraft, Weisheit und Liebe geschaffen wurden (Fecemi la divina Potestate / La somma Sapienza e il primo Amore), und weder im Mittleren Westen Amerikas noch in der Sowjetunion noch hier werden wir dem beipflichten können. Doch wir sollten versuchen, es zu verstehen, und wir sollten versuchen, unseren Verstand seinem anzugleichen, selbst wenn wir unseren dazu dehnen und strecken müssen. Die Aussagen der Vergangenheit bilden oft unwirtliches Gelände, doch mithilfe geübter Vorstellungskraft kann man sich zu ihrem Kern durchschlagen. Dante erscheint mir als Fallbeispiel. Geben die Menschen ihn auf, ist es ein klares Anzeichen dafür, dass sie Kultur über Bord werfen, da ihnen der Seegang zu stark wird, und sie sich lieber ohne Dante, ohne Shakespeare und ohne alles ans andere Ufer retten.

Das Leben am anderen Ufer stelle ich mir durchaus nicht als Albtraum vor. Es wird Arbeit und Unterhaltung für alle geben, doch zwischen Arbeit und Unterhaltung wird man unterscheiden: Die Arbeit wird mechanisch sein, die Unterhaltung belanglos. Gibt man Tradition und Kultur auf, verliert man die Fähigkeit, Arbeit und Unterhaltung zu verbinden und aus dem Leben ein harmonisches Ganzes zu machen. Die Vergangenheit hat dieses Ziel selbst nie erreicht, doch sie kann uns helfen, es zu erreichen – aus diesem Grund ist sie nützlich. Schnulzensänger, Verkaufsschlager, Wurlitzerorgeln, Radiokomödianten, Filmsternchen und Mickey-Mäuse können uns dabei nicht behilflich sein; ihr Gewicht liegt ausschließlich auf einer Waagschale und verstärkt das Ungleichgewicht. Solange sie sich nicht überschätzen, richten sie keinen Schaden an. Doch wenn sie sich brüsten und die besten Plätze für sich beanspruchen und sie auch noch zugesprochen bekommen, dann läuft etwas aus dem Ruder. Das Leben am anderen Ufer mag nicht das eines Albtraumes sein, doch einige von uns mögen den Schlaf, der keine Träume schürt, bevorzugen.

2

Kultivierte Menschen sind wie Tintenkleckse im Meer. Sie vermischen sich guten Mutes mit anderen Klecksen; vergangen sind die Tage, in denen kultivierte Menschen sich nur mit ihresgleichen abgaben und es ihnen in der Gegenwart jedes Menschen, dessen Innenleben sich von dem ihrigen unterschied, vor Furcht die Sprache oder den Atem verschlug. Zum guten Glück funktioniert Kultur nicht mehr als gesellschaftliches Mittel, das man als Barriere gegen den Pulk oder Leiter zum Adel einsetzen kann. Dies ist eine der wenigen Verbesserungen, die sich in England seit dem letzten Krieg eingestellt haben, und sie wurde treffend von Mrs. Woolf in ihrer Biografie von Roger Fry beschrieben, in der sie den Verfall der Kultur als Gepflegtheit oder Mode sowie die Entwicklung des Elements der Unterhaltung nachzeichnet.

Wie dem auch sei, wir sind Kleckse im Meer. Nur wenige Menschen teilen unsere Freuden. Stecken wir doch unsere Köpfe zusammen (wir sind ja eine bescheidene Gruppe) und betrachten unser besonderes Problem, unseren besonderen Segen, unseren besonderen Jammer. Wen dies nicht interessiert, kann weghören. Zusammen flüstern wir also in einer Ecke der Welt, die mit anderen und lauteren Geräuschen erfüllt ist.

Treten Sie näher. Wir müssen uns in erster Linie die Frage stellen, ob sich das, worüber wir verfügen, weiterzugeben lohnt. Grob zusammengefasst verfügen wir über ein bescheidenes Wissen über Bücher, Gemälde, Melodien, Runen und auch ein wenig über deren Verständnis. Neben Gasheizungen und unter elektrischen Lampen sitzend haben wir eine etwa dreitausendjährige Tradition geerbt. Diese Tradition erfreute sich zeitweilig der Beliebtheit, überlebte aber hauptsächlich durch die Gönnerschaft des Adels. In der Vergangenheit kam die Oberschicht für die Kultur auf. Diese wusste indes nicht immer, wofür sie eigentlich bezahlte, dennoch bezahlten sie aus ähnlichen Gründen, wie sie zur Kirche gingen: Es ziemte sich und es war eine Art Snobismus, und so erhielt die Kunst hier eine Mahlzeit, dort eine Pfründe und die kreative Arbeit bestand fort. Die Weltanschauung der Menschen an der Spitze unserer Gesellschaft ist in verschiedener Hinsicht weniger verklärt und aufrichtiger als diejenige der Oberschichten der Vergangenheit, und sie weigern sich, für etwas zu bezahlen, das sie nicht begehren. Die Geräusche aus der Wohnung über uns lassen mich schließen, dass die Nachbarn sich weder Bücher, Gemälde, Melodien, Runen als auch jegliches anderes solches Zeugs wünschen, das wir ihnen nahelegen würden. Sollten wir sie damit belästigen? Sollten wir uns, während sie ihren eigenen Leben nacheifern, tantenhaft vor ihnen aufbauen, als hätten wir die Arme voller Päckchen und sagen: »All das wurde mir ausdrücklich für Sie gegeben … Sophokles, Velázquez, Henry James … ich befürchte, sie sind nicht allzu leicht, aber mit der Zeit werden Sie sie liebgewinnen, und wenn Sie sie mir nicht abnehmen, wer dann … bitte … ich bitte Sie … sie sind wirklich wichtig, sie sind Kultur.«

Wir können davon ausgehen, keine bejahende Antwort zu erhalten, aber, ob wir zurückgewiesen werden oder nicht, was sollen wir unternehmen? Das ist unser Problem, über das wir uns hier zuflüstern, während die Nachbarn sich über den Handelspreis von Batterien oder die schnellste Verbindung zwischen Balham und Ealing streiten. Sie kümmern sich nicht um das Zeugs, das wir anzubieten haben. Das Interesse an Kunst und Literatur, das John Ruskin und William Morris festzustellen glaubten, ist versiegt. Die Nachbarn werden uns die Päckchen nicht abnehmen, es sei denn, wir verlocken sie geschickt dazu, denn sie sind Durchschnittsbürger und Durchschnittsbürgerinnen unserer Zeit und treten als solche den Werken der Vergangenheit entweder gleichgültig gegenüber (die Position der Industrie und der Gewerkschaften) oder beäugen sie misstrauisch (die kommunistische Position) und weisen sie zurück, bis sie in Moskau desinfiziert worden sind. Hier in England, wo die Privatwirtschaft noch die Oberhand hat, herrscht Gleichgültigkeit vor. Ich kenne einige Leute aus der Arbeiterklasse, die sich an Kultur erfreuen, aber ich befürchte, dass ich sie damit langweile und so ihre Bekanntschaft aufs Spiel setze. Was soll man also machen?

Es ist verlockend, gar nichts zu tun; Kultur nicht zu empfehlen; davon auszugehen, dass es zukünftig keine mehr geben wird oder sie eine Form annehmen wird, die wir nicht verstehen können; einfach weiterhin tantenhaft herumzustehen und an den Päckchen festzuhalten und aufzuhören, herumzuzappeln. Diese Einstellung ist würdevoll und hat den zusätzlichen Vorteil, dass ich sie mit meinem Respekt für meine Nachbarn, die über mir streiten, vereinbaren kann. Wer bin ich denn, dass ich sie belangen könnte? Als Auslaufmodell gefallen mir andere Auslaufmodelle und bin dazu bereit, in ihrer Gesellschaft aus dem Blickfeld zu schwinden, der Hinterbliebene eines Lebens, das niemanden mehr interessiert. Stimmen Sie mir zu? Setzen wir uns zu Boden und lasst uns erzählen ohne Missmut traurige Geschichten über den Tod von Königen, wir, die letzten ihrer Nachkommen. Lasst uns den Wein trinken, den sonst niemand kosten möchte, obschon er aus den Rebbergen Griechenlands, aus den Gärten Persiens stammt. Lasst uns das Glas zerschmettern, denn niemand schenkt ihm jegliche Bewunderung, niemand sorgt sich mehr über die Qualität der Formen. Ohne Gram und ohne Eingebildetheit lasst uns Abschied nehmen. Die Zeit hat uns bloß ein Bein gestellt, weder Schmach noch Stolz gebührt uns.

Die Schwierigkeit ist, dass die erhabenen Freuden nicht Weine oder Gläser sind. Sie gleichen eher einer Religion, und es ist unmöglich, sich an ihnen zu erfreuen, ohne sie mit anderen teilen zu wollen. Jemand, der ein Kunstwerk erlebt, wird auf seine eigene Weise zu einem Künstler; er kann nicht ruhen, ohne anderen mitzuteilen, was ihm zuteilwurde. Dieser Impuls kann verschiedene Formen annehmen, zum Beispiel Didaktik oder auch Kritik, doch beides ist ein Abglanz des glühenden Feuers, dessen Auslöschung das Ende der Verkündung der frohen Botschaft bedeutet. Daher ist es unmöglich, allein mit seinen Büchern und Drucken herumzusitzen, oder nur mit Gleichgesinnten, und sich nicht an Außenstehende zu wenden. Selbstverständlich wäre Dogmatismus ein Fehler, und sogar der Toleranz und taktvoller Zurückhaltung haftet zu viel des Missionierungsgeistes an, um eine befriedigende Alternative zu bieten. Das Evangelium der Kultur erfordert, dass man sein eigenes kleines Licht leuchten lässt, um die Neugier anderer zu wecken, sodass sie fragen, warum uns Sophokles, Velázquez und Henry James solch unmäßige Freude bereiten. Man muss auf dieser Freude bestehen. Wenn man die »Klassiker« als trist und säuerlich anpreist, wird sie niemand kosten wollen. Aber wenn kultivierte Menschen wie der verstorbene Roger Fry 14 offensichtlich Spaß haben, werden andere versucht sein, daran teilzuhaben und herauszufinden, warum es ihnen solche Freude bereitet.

Weiter werden wir – die sich in einer Ecke unserer unscheinbaren Wohnung zuflüstern, während oben die Nachbarn, die über lautere Stimmen verfügen als wir, über die Verbindung zwischen Balham und Ealing streiten – mit der Betrachtung unseres Problems nicht kommen. Bedenken Sie übrigens, dass es sich bei uns nicht um Künstler oder Künstlerinnen handelt, die einen anderen Ansatz wählen könnten und gewiss dringendere Aufgaben haben. Unsere Hauptaufgabe ist es, uns zu erfreuen und nicht den Mut zu verlieren, und Kultur zu verbreiten, nicht etwa, weil wir unsere Mitmenschen lieben, sondern weil wir bestimmte Dinge für einzigartig und unersetzbar halten und diese uns regelrecht dazu drängen, in ihrem Auftrag in der Welt zu handeln. Es ist ein Evangelium, und zwar kein vollkommen gütiges; es ist die Inbrunst, anderen mitzuteilen, was man selbst erfahren hat. Kunstwerke besitzen diese sonderbar fordernde Eigenschaft: der Seelenzustand, in dem sie geschaffen wurden, haftet ihnen an und lässt alle, die ihre Kraft gespürt haben, selbst im Kleinen zu Künstlern und Künstlerinnen werden.

Autor