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BOX – Nimm dich in Acht vor dieser KI

Als Buch hier erhältlich:

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Wenn Recht nicht gleich Gerechtigkeit ist

Die Juristin Veda glaubt nicht, dass ihr Ex-Freund Danilo Selbstmord begangen hat. Durch seinen Bruder gelangt sie an Informationen, die Danilo vor seinem Tod gesammelt hatte, und stößt auf eine Reihe mysteriöser Kriminalfälle. Ratlos, wie diese miteinander zusammenhängen, macht sie sich mit ihrem besten Freund und Rechtsanwalt Philipp sowie der Kommissarin Talli auf die Suche. Die drei kommen einer Korruption auf die Spur, die bis in die höchsten Ränge der Hamburger Justiz reicht. Unvermittelt stehen sie einem zu allem entschlossenen Gegner und dessen mächtiger Erfindung gegenüber …

Auch hier glänzt Alexa Linell wieder mit der Kombination von Spannung und einem sehr aktuellen Thema, das uns alle beschäftigt und vielleicht sogar etwas Angst einjagt. Sie ist also genau auf der richtigen Spur.

»Alexa Linells Thriller sind nicht nur verdammt spannend, sondern basieren auch auf umfangreichen Recherchen. Wer wie ich Fiction mit Fakten liebt, der kommt hier voll auf seine Kosten.« Peter Grandl


  • Erscheinungstag: 19.11.2024
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365007785

Leseprobe

PROLOG

Durch den schwarzen Stoff bekommt er kaum Luft. Bei jedem Einatmen saugt er das nach giftiger Farbe stinkende Gewebe über seinem Kopf an und stößt es mit dem Ausatmen wieder ab.

Zu viele Zigaretten in letzter Zeit.

Danilo riecht den kalten Rauch und die halbe Flasche Wein. Irgendwann musste es so kommen. Bei einem potenziellen Zeugen war er in die Falle getappt. Ein einsamer Ort, spätabends in der Dunkelheit. Er hätte es wissen müssen – vielleicht.

Der Kabelbinder schneidet schmerzhaft in seine Handgelenke. Der Blechboden, auf dem er sitzt, ist kalt und hart.

Ruckartig hält der Transporter. Eine Hand packt seine Schulter, damit er nicht umfällt.

Die Schiebetür geht auf, noch jemand kommt herein.

Einer von ihnen drückt Danilos Oberkörper grob vornüber, schiebt seinen Pulloverärmel am linken Arm hoch und zieht ein elastisches Band um den Oberarm fest. Sie verdrehen ihm den linken Arm, soweit es Schultergelenk und Fesseln erlauben.

»Argh«, kann Danilo in seiner zusammengekauerten Position nur stammeln. Kalte Feuchtigkeit in der Armbeuge, ein Streichen, dann ein Stich. Eine Spritze? Nehmen sie ihm Blut ab? Das Band wird gelöst. Ein leichter Druck. Jemand greift seine Schulter, richtet ihn wieder auf.

»Los, raus«, befiehlt der bullige Typ mit dem Stoppelhaarschnitt und zerrt ihn auf die Füße. Seine Stimme ist rauer und tiefer als die des anderen Mannes, der ihm den Sack über den Kopf gezogen hat. Wo ist der? Ist er gefahren? Seine Frisur, seine Bewegungen erinnern Danilo an asiatische Fantasyfilme.

Durch den Stoff kann er haushohe, eckige Umrisse ausmachen. Lampen als helle Punkte. Geschäftiges Summen in der Ferne. Es riecht nach Abgasen und ein bisschen muffig. Ein leichter Wind trägt metallisches Quietschen heran. Ein Schiffshorn. Der Hafen?

Es wird wieder dunkler, leiser.

Der bullige Typ schiebt ihn voran. Ihre Schritte hallen von weit weg wider.

Sie gehen auf eine Lichtinsel zu.

»Wir brauchen Gewissheit, Danilo. Dir passiert nichts«, sagt die Stimme, von der er sich jahrelang hat einlullen lassen. Der er bedingungslos gefolgt ist. Bis es nicht mehr ging. »Wo versteckst du sie?«

Danilo kneift die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Früher hätte er eine clevere Antwort gehabt. Nicht wahr, aber überzeugend. Kann er das noch?

Jemand drückt ihn auf einen Stuhl. Löst den Kabelbinder um seine Handgelenke und die Kordel um seinen Hals. Danach wird der schwarze Sack nach oben abgezogen. Es wird hell. Bevor sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt haben, schließt der Kerl die Tür von außen.

Vor ihm ein Tisch. Metallbeine und Plastikplatte.

Um ihn herum nackte Wände, am Übergang zur Decke eine umlaufende Beleuchtung.

»Entspann dich. Es wird nicht wehtun«, sagt die Stimme.

Danilo bricht der kalte Schweiß aus. Wird nicht wehtun?

Um ihn herum summt es leise, und die Luft vibriert, als würde er neben einem Umspannwerk stehen. Einerseits fühlt er sich, als schwimme er in einer zähen Flüssigkeit, und andererseits, als könnten Wände und Decke im nächsten Moment verschwinden und die Unendlichkeit freigeben.

Er steht auf, sieht nach rechts zur Metalltür. Mit drei Schritten ist er dort. Er streckt die Hand nach dem Griff aus. Aber seine Finger greifen ins Nichts.

Oh, Gott! Rückwärts stolpert er gegen den Tisch. Die Tür ist nur ein Bild. Bitte nicht!

»Setz dich, Danilo. Es wird schnell gehen. Wehr dich nicht. Du weißt, dass es zwecklos ist.«

Er hat ihm vertraut. Mehr als seiner eigenen Familie.

»Wo sind die Daten versteckt?«, hallt es in seinem Kopf wider. Hat er die Frage gehört oder gedacht?

Nicht denken. Du darfst jetzt nicht mehr denken.

Einatmen, ausatmen. Einatmen, aus…

Die Wände lösen sich auf, verformen sich. Er verliert den Boden unter den Füßen, obwohl er fest darauf steht. Ihm wird schwindelig, übel.

Plötzlich stürmen Geländer und Treppen auf ihn zu, als wollten sie ihn erschlagen. Er dreht den Kopf zur Seite, hält sich schützend die Arme vor das Gesicht. Die Gegenstände stoppen, schwanken, fügen sich neu zusammen, und auf einmal steht er im Treppenhaus vor seiner Hamburger Wohnung.

Sein Herz schlägt so laut und schnell, dass er Angst bekommt.

»Geht es Ihnen nicht gut, Herr Resni? Brauchen Sie Hilfe?«

Er blickt nach rechts. Frau Wellbrock, die Nachbarin von gegenüber, sieht besorgt zu ihm auf. Sie trägt hässliche braune Schuhe mit Blockabsatz und einen langen unförmigen Rock. Die Wimperntusche unter ihren wässrigen, faltigen Augen ist verlaufen. Manchmal hat er den Eindruck, dass sie ihn überwacht. Doch wahrscheinlich ist ihr nur langweilig.

Alles wie immer.

Aber er ist nicht hier, hat sich keinen Zentimeter bewegt.

»Geht schon, danke«, rutscht ihm heraus.

Nicht! Du darfst nichts sagen, nicht reagieren. Der Gedanke beginnt mit der Frage und die Bewegung mit dem Gedanken. Nicht denken.

»Na, dann«, murmelt Frau Wellbrock, schlurft in ihre Wohnung und schließt die Tür hinter sich.

»Geh in deine Wohnung.«

Nein!

Einatmen, ausatmen. Ein, aus, ein, a…

Die Wohnungstür rauscht ihm entgegen, löst sich auf, setzt sich hinter ihm wieder zusammen. Er steht im Wohnungsflur.

Seine Eltern drehen sich zu ihm um. »Da bist du ja endlich. Los, sag uns, wo sie sind. Und hör endlich mit dem Blödsinn auf«, schimpft sein Vater.

»Haben wir dich so erzogen?«, beschwert sich seine Mutter.

Ihr habt hier nichts zu suchen!

Sein Blick wandert Richtung Arbeitszimmer. Nicht! Sofort sieht er zur Küche – zu spät. Sein Arbeitszimmer schnellt auf ihn zu und lässt ihn für einen Moment schwanken, obwohl er weiß, dass es nur Bilder sind.

Ein Schweißtropfen rinnt sein Rückgrat hinab. Seine Nackenmuskeln verkrampfen sich, und ein dumpfer Schmerz pocht hinter seinem rechten Auge.

»Wo hast du sie versteckt? Wie konntest du das tun? Weißt du eigentlich, wie viel Geld wir in deine Ausbildung gesteckt haben?« Sein Vater wird immer lauter. »Und du trittst das alles mit Füßen. Auf dem Weg nach ganz oben. Staatsanwalt, Oberstaatsanwalt, Generalstaatsanwalt. Das stand dir offen. Du beschämst uns.« Er packt seine Schultern. »Wo ist es?«, brüllt er Danilo an.

Es drückt und kribbelt, als wäre sein Griff real. Weg, bloß weg von dieser brennenden Wut. Sein Blick landet auf dem Schreibtisch, seinem Laptop. Verdammt! Augen zu!

Sein Vater regt sich weiter auf. Seine Mutter stimmt mit ein. Danilo hält die Augen fest geschlossen. Es ist nicht real, sie sind nicht hier, es geht irgendwann vorüber. Stattdessen kehrt sein Arbeitszimmer zurück. In seinen Kopf. Hinter seine geschlossenen Lider. War das in der Spritze? Sind sie schon so weit? O Gott! Was haben wir getan?

Seine Eltern sehen sich suchend um. Mit der Hand fährt sein Vater über den Inhalt im Regal. Danilo atmet gleichmäßig. Als er bei den roten Ordnern ankommt, beschleunigt sich sein Herzschlag dennoch. Sein Vater zögert, dann tippt er mit den Fingern auf die Ordner. Verdammt!

»Wo ist der Rest?«, fragt seine Mutter.

Danilos rechter Arm will sich heben. Er presst ihn an den Körper. Trotzdem hebt er sich. Danilo sieht ihm ungläubig dabei zu. Mit geschlossenen Augen. Es tut nicht weh. Es geschieht einfach. Er wehrt sich. Nimm das Bonbon! Unter den Achseln saugt sich sein Pullover mit Schweiß voll. Er befiehlt seiner echten Hand mit aller Kraft, in die Hosentasche zu greifen. Holt das Bonbon heraus. Mit den Zähnen zieht er den Inhalt aus dem knisternden Papier. Sein Herz schlägt schneller.

»Das ist nicht sein Ernst«, hört er den treusten Schüler sagen.

»Typisch«, sagt die Stimme.

Er lutscht ein Bonbon gegen die Nervosität, wie früher. Nur das, nichts weiter. Tränen laufen ihm über die Wangen.

Plötzlich kalter Schweiß, Herzrasen. Sein Arbeitszimmer zerfällt, es blitzt hinter seinen zusammengekniffenen Lidern. Die Krämpfe beginnen. Schmerzen überall. Er fällt auf die Knie, übergibt sich. Hört dumpfe Schritte und Stimmen, doch sein Bewusstsein verliert sich schon in der Ferne.

1. KAPITEL

»Ruhe in Frieden«, beendete die Bestatterin ihre kurze Trauerrede.

Hoffentlich findest du Frieden, Danilo. Veda fror, von innen heraus, deshalb zog sie ihren schwarzen Wollmantel eng um sich, so wie man Babys fest einwickelte, damit sie sich geborgen fühlten. Gelbes und braunes Laub trudelte im kühlen, feuchten Wind von der jungen Buche herab, um deren Stamm ein paar Kränze und Blumengestecke lagen. Sie waren beide verrückt nach Erdbeeren gewesen, am liebsten mit Sahne und Erdbeerminze, die sie in einem weißen Tontopf hegten und pflegten. Deswegen hatte sich Veda für das Gesteck aus Scheinbeeren entschieden. Fürs nächste Jahr nahm sie sich fest vor, eine Minzpflanze zu kaufen.

Links huschte ein Eichhörnchen einen Baum hinauf. Verharrte kurz mit dick gefüllten Backen und raste dann außer Sichtweite hoch bis in die Krone.

Ein gelber Labrador sprang dem Eichhörnchen hinterher, ließ sich aber von einem Pfiff aufhalten. Er sah Veda mit hängender Zunge vergnügt an, drehte sich um und hüpfte in vier großen Sätzen zu seinem Herrchen zurück.

Veda musste lächeln. Einen guten Platz hatte sich Danilo hier ausgesucht. Zu Beginn ihrer Beziehung waren sie gerne in Wäldern spazieren gegangen und hatten sich über Gott und die Welt unterhalten. Manchmal auch darüber, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten, um zu sehen, ob sie die Sehnsucht nach Familie, menschlicher Wärme und Geborgenheit teilten.

»Unmöglich, dass es hier keinen Zaun gibt. Und gleich nebenan einen Spazierweg«, giftete Danilos Mutter.

Die Trauergemeinde löste sich auf. Ging einzeln und in Grüppchen zurück zum Parkplatz.

»Veda?«, fragte Julia leise und legte eine Hand sanft auf ihre Schulter. Die Berührung holte Veda zurück ins Geschehen.

»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Sie schniefte, nahm ihre Brille ab, zog ein Papiertuch aus der Manteltasche und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Wenn du noch Zeit brauchst …«

»Nein, ist schon gut. Lass uns auch zum Auto gehen.« Veda lächelte traurig, während Julia aufmunternd ihre Schulter rieb, bevor sie die Hand wieder wegnahm. Zusammen gingen sie über den mit Laub bedeckten Sandweg zwischen den Bäumen entlang. Es fühlte sich gut an, eine Freundin dabeizuhaben, die Danilo auch gekannt hatte. Sie und Julia waren während des Studiums bei demselben Professor als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen beschäftigt gewesen. Oft hatten sie abends bei Tee und Keksen Klausuren der unteren Semester korrigiert, sich über ihre Eltern, ihre Professoren, arrogante Kommilitonen und den zu geringen Lohn aufgeregt. Wenn sie sich nicht gerade über Filme, Bücher und die Liebe unterhalten hatten.

Die Trauergemeinde vor ihnen war klein. Einige aus der alten Uni-Clique, zu denen Veda keinen Kontakt mehr hatte. Arno war freier Journalist geworden. Er hatte sich wie Veda das zweite Staatsexamen gespart. Manchmal beneidete sie ihn dafür, dass er den Umstieg in die Medienwelt geschafft hatte, mit dem viele Jurastudenten offen oder in Gedanken liebäugelten. Einige Zeit hatte sie auch darüber nachgedacht, Praktika bei Radio und Zeitung gemacht, sich an einer Journalistenschule beworben. Doch es war nichts draus geworden, und irgendwann hatte sie aufgegeben.

Einige alte Freunde von Danilo waren nach Hamburg gereist. Drei oder vier Personen, die Veda noch nie gesehen hatte, ehemalige Kollegen aus Berlin vielleicht. Und seine Eltern natürlich. Sie gingen weiter vorne, dazwischen Marco, auch ein alter Bekannter aus dem Jurastudium.

Veda schloss so dicht zu Julia auf, dass sich ihre Arme berührten. »Ist Marco Staatsanwalt geworden wie Danilo?«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Nein«, antworte Julia ebenso leise. »Er arbeitet für eine Großkanzlei in Hamburg und Berlin. Ist mittlerweile Partner, glaube ich.«

Vor ihm unterhielten sich Danilos Eltern mit der Bestatterin. Aufrecht, edel gekleidet und sehr empört.

»Ich verstehe nicht, warum er sich diese Art von Beerdigung ausgesucht hat«, hörte sie seine Mutter meckern. »Wir haben ein wunderschönes Familiengrab in Berlin. Aber er wählt einen Baum in Hamburg, ohne Predigt, ohne Trauerfeier.«

Veda seufzte. Sie erinnerte sich an die seltenen Male, die Danilo ihr mehr von seinem komplizierten Verhältnis zu seinen Eltern erzählt hatte. Er wollte nicht schlecht von ihnen sprechen, aber sie behandelten ihn herzlos und zu kritisch, setzten ihn unter Druck. Nichts konnte er ihnen recht machen. Damals hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, wie sie ihm helfen könnte. Zusammen so weit wie möglich vor ihnen wegzulaufen, war das Einzige gewesen, was ihr eingefallen war, aber dazu kam es nie.

»Ihr Sohn wandte sich schon vor längerer Zeit mit sehr genauen Vorstellungen an uns«, erklärte die Bestatterin, die bemerkenswert ruhig blieb. Sie hatte sicher Übung darin, die Gefühlsausbrüche der Trauernden nicht persönlich zu nehmen und sie zu beruhigen. Nur leider waren Danilos Eltern immer so kalt. Waren sie selbst genauso behandelt worden? Es spielte keine Rolle mehr. Sobald sie abfuhren, würde sie die beiden nie wiedersehen.

»Und Ralph, dieser Nichtsnutz, hat sich nicht einmal zur Beerdigung seines großen Bruders blicken lassen«, ärgerte sich der Vater.

»Wir werden in Kürze einen anständigen Trauergottesdienst und eine Gedenkveranstaltung organisieren. So etwas gehört sich«, bestimmte die Mutter, als sie sich gerade von der Bestatterin abwandte.

»Endlich ist er diese Damoklesschwerter los«, raunte Julia Veda ins Ohr.

»Sie gönnen ihm nicht einmal im Tod seinen Frieden«, flüsterte diese zurück.

Marco schloss zu Danilos Eltern auf.

»Wie nett, dass Sie gekommen sind.«

»Wenn Sie Hilfe brauchen, um Danilos Angelegenheiten zu regeln, sagen Sie mir Bescheid«, sagte Marco mit gesenkter und angemessen trauriger Stimme. »Wir behandeln solche Fälle in unserer Kanzlei immer sehr diskret und zügig.«

Was für ein Speichellecker. Wie früher.

»Das ist sehr freundlich«, antwortete der Vater. »Aber wir haben bereits von einem Notar Bescheid bekommen. Unser werter Sohn hat alles Ralph hinterlassen.«

»Ich wünsche dem Notar, dass Danilo ihm wenigstens gesagt hat, wo sich unser zweiter Sohn aufhält«, warf die Mutter ein.

»Sollten Sie dennoch Gesprächsbedarf haben, rufen Sie mich an. Jederzeit. Meine Nummer haben Sie ja.«

Veda und Julia konnten nur mit den Augen rollen. Ein Wunder, dass er Danilos und Ralphs Eltern nicht gleich zu ihrem Pflichtteil beraten und ihnen die Vertretung gegenüber ihrem abtrünnigen Sohn Ralph angeboten hatte.

Marco warf einen Blick über die Schulter und ließ sich zu ihnen zurückfallen. Julia grummelte genervt.

»Ich hätte niemals gedacht, dass sich ein Mann wie Danilo das Leben nimmt«, sagte er leise, sobald er auf gleicher Höhe war. »Wart ihr noch gut mit ihm befreundet?«

Gekonnt zupfte sich Marco den schwarzen Kaschmirschal über die Ohren. Seine krausen schwarzen Haare, sollte er sie immer noch wie früher tragen, hatten noch nicht die übliche Winterlänge erreicht.

Ein Moment aus der Vergangenheit mit einem lachenden Danilo bei strahlendem Sonnenschein, barfuß am Timmendorfer Strand tauchte in Vedas Erinnerung auf. Sie hatte es geliebt, mit den Fingern durch seine dunklen Locken zu fahren. Unwillkürlich zupfte sie an den schnurgeraden Fransen ihres Ponys, in denen sich Locken keine halbe Stunde hielten.

»Niemand hätte das gedacht«, antwortete Julia kurz angebunden. Sie hatte Marco schon im Studium nicht leiden können. Er hatte an den Professoren geklebt wie Naturkaugummi und unerbittlich seine Kommilitonen ausgefragt, um möglichst immer die besten Arbeiten abliefern zu können. Wahrscheinlich war er auch einer von diesen miesen Typen gewesen, die die Bücher in der Bibliothek versteckt hatten, in denen sie die Lösung für die Hausarbeiten vermuteten.

»Habt ihr euch in letzter Zeit mit Danilo getroffen? Wie hat er auf euch gewirkt?«

»Wir haben uns alle paar Monate mal zum Kaffee oder kurz in der Mittagspause getroffen. Unsere Büros lagen nicht weit auseinander. Nach seinem Umzug haben wir allerdings nur einmal telefoniert.« Julia beschleunigte ihren Schritt, und Veda tat es ihr mit einem unterdrückten Grinsen gleich.

Marco atmete bereits angestrengt, um mit ihnen mithalten zu können. Er sah sie auffordernd an.

Um ihn möglichst schnell wieder loszuwerden, antwortete auch Veda: »Wir hatten erst seit Kurzem wieder Kontakt. Zuletzt vor einem Monat.«

»Wisst ihr, woran er vor seinem Tod gearbeitet hat?«

Bei Julias Auto angekommen, öffneten sie die Türen und schickten sich an einzusteigen.

»Nein«, antwortete Veda. Julia schüttelte den Kopf.

»Tja, dann.«

»Gute Heimfahrt«, wünschte ihre Freundin der Höflichkeit halber und stieg ein.

»Ebenso«, murmelte Marco und trollte sich.

Veda setzte sich ebenfalls in den Wagen, schloss die Tür und atmete durch. »Nervensäge!«

»Manche Dinge ändern sich nicht. Ich wette, er hat es nie verwunden, dass Danilo immer der Bessere war.« Julia klapperte mit dem silbernen J-Anhänger an ihrem Schlüsselbund. »Hattet ihr euch wieder vertragen? Du und Danilo?«

Veda rieb ihre kalten Handflächen aneinander, starrte auf den Sand, den sie mit in den Fußraum geschleppt hatte, während sie sich an die schmerzhafte Trennung von Danilo erinnerte. »Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen«, antwortete sie. »Unsere Beziehung ist einfach nach und nach gestorben. Vor circa drei Monaten hat Danilo mich dann ganz überraschend in der Kanzlei angerufen und zum Mittagessen eingeladen. Es war seltsam.«

»Ihr hattet eine intensive Zeit.«

»Die Zeit an der Uni war intensiv. Unsere Beziehung war vor allem schwierig.« Veda sah aus dem Fenster. Danilos Eltern stiegen in ihren schwarzen SUV und fuhren vom Parkplatz.

»Soll ich dich zu Hause absetzen, oder musst du noch ins Büro?«, fragte Julia.

»Ich habe heute frei. Du kannst mich zu Hause absetzen. Fährst du direkt zurück nach Berlin?«, wollte Veda wissen.

»Ja, ich habe morgen einen Gerichtstermin. Kindschaftssache.«

Wie gut, dass sie das zweite juristische Staatsexamen nie gemacht hatte. Ihr Chef war zwar selbst im Familienrecht tätig, aber sie arbeitete ihm nur zu, konnte also mehr Abstand zu den Fällen und Mandanten halten und musste die oft emotional aufgeladenen Gerichtsverhandlungen nicht miterleben. Als sie Danilo damals eröffnet hatte, dass sie nach dem ersten Examen nicht weitermachen würde, war er aus allen Wolken gefallen. Letztlich war ihr mangelndes Interesse an einer steilen Juristenkarriere einer der Gründe gewesen, weshalb sie sich auseinandergelebt hatten.

In regelmäßigen Abständen ermutigte ihr Chef sie dazu, Volljuristin zu werden. Er würde sie sogar finanziell unterstützen. Aber Veda hatte keine Lust darauf, zu streiten und zu schachern. Es reichte ihr, die verbalen Kämpfe als Randfigur mitzubekommen. Auf die volle Breitseite konnte sie verzichten.

Julia ließ den Wagen an, und sie setzten sich in Bewegung.

Bis sie auf die nächstgrößere Straße fuhren, schwiegen sie und grübelten vor sich hin. Hatte sie Danilo so wenig gekannt? Niemals hätte Veda gedacht, dass er sich das Leben nehmen würde. Oder hatte es ihn in den letzten Jahren so zermürbt, da er im Grunde seines Herzens ein ganz anderes Leben hatte führen wollen? Ein freieres, bunteres, das seine Eltern nie akzeptiert hätten. Doch genau deshalb hatte er seinen Job gekündigt, war nach Hamburg gezogen. Oder hatte sie ihn falsch verstanden? Sie rieb sich die müden Augen. Die letzte Nacht war unruhig gewesen, voller schöner und schrecklicher Erinnerungen.

»Ich verstehe nicht, warum Danilo sich das Leben genommen hat«, sagte Julia nach einer Weile. »Laut seinen Eltern hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen.«

»Haben sie das gesagt?« Verblüfft drehte sich Veda im Sitz zu Julia um. In dem Brief könnten die Antworten auf ihre Fragen stehen.

»Ich habe gelauscht, als die Bestatterin Danilos Eltern freundlich aufgehalten hat. Am liebsten hätten sie sofort auf dem Absatz kehrtgemacht nach der Rede.«

»Was wohl in dem Brief steht?«, murmelte Veda.

»Zum Inhalt haben sie leider nichts gesagt.«

»Vielleicht könnten wir es besser nachvollziehen, wenn wir um seine Beweggründe wüssten«, sprach Veda ihre Gedanken aus. Die Lüftung im Auto wurde lauter und wärmte den Innenraum auf. Erleichtert entspannte Veda die Schultern.

»Als er aus Berlin wegzog und sein Loft vermietete, ging es ihm schlecht. Er brauchte dringend eine Pause. Wir dachten, er würde sich freistellen lassen, um sich in ein Kloster zurückzuziehen, auf dem Jakobsweg zu wandern oder auf Weltreise zu gehen. Stattdessen hat er bei der Staatsanwaltschaft gekündigt und ist hier angeblich einem Fall nachgegangen. Was hattest du für einen Eindruck von ihm?«

Erinnerungsfetzen an die Bahnfahrt von Danilos Wohnung in Winterhude zu sich nach Hause drängten in ihr Bewusstsein. Sie hatte aus dem Fenster gesehen wie in diesem Moment und darüber nachgedacht, wer Danilo gewesen war, wie er sich verändert hatte und wohin sein Weg ihn von nun an führen würde. Tränen stiegen auf, und der Hoisbütteler Bahnhof verschwamm vor ihren Augen. Dahinter bogen sie beim Getränkemarkt links ab. Veda blinzelte die Tränen weg, zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Julia warf ihr einen tröstenden Blick zu, als sie vor einer der Ampeln hielten, und legte ihr kurz die Hand auf den Arm.

»Er hatte zugenommen und viel geraucht«, antwortete Veda und warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu. »Aber er schien mir zuversichtlicher als bei unserem ersten Treffen. Weniger frustriert von sich selbst. Als wollte er endlich dafür kämpfen, so zu sein, wie er war, und nicht länger dem Ideal seiner Eltern, seiner Lehrer oder Kollegen zu entsprechen. Lebensmüde wirkte er jedenfalls nicht.«

»Hat er dir erzählt, woran er gearbeitet hat?«

»Nein, hauptsächlich habe ich geredet. Das konnte er gut, nicht wahr? Die Leute dazu bringen, ihr halbes Leben vor ihm auszubreiten, ohne dass es ihnen unangenehm war.«

»Das konnte er wirklich gut.« Nun schniefte auch Julia und wischte sich ein paar Tränen mit dem Jackenärmel weg.

In der Auffahrt zu Vedas Wohnung kam das Auto zum Stehen.

»Vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast.«

»Das habe ich gerne getan. Ich ruf dich nächste Woche an.«

Als Veda die Autotür öffnete, hielt Julia sie an der Schulter zurück.

»Wenn du etwas Neues zu Danilo oder seinem Abschiedsbrief hörst, ruf mich an. Ich mache das umgekehrt genauso.«

Veda nickte. »Geht klar. Komm gut nach Hause.«

Sie stieg aus und winkte ihrer Freundin hinterher, ehe sie durchs Tor schlüpfte. Sie nahm den Weg über das Granitpflaster und ging um die Doppelgarage des großen Einfamilienhauses herum hinauf in ihre Wohnung.

2. KAPITEL

Erschöpft schloss Veda die Tür hinter sich, trat sich zuerst den einen schwarzen Turnschuh, beim nächsten Schritt den zweiten von den Füßen und warf ihr Schlüsselbund in die große Holzschale auf dem Schuhschrank. Es landete dumpf zwischen den Fahrradlampen, Stiften, Schrauben, Handschuhen und was man sonst so spontan brauchte oder loswerden musste.

Auf dem Weg in die Küche ließ sie ihre Handtasche fallen und warf den schwarzen Wollmantel über einen Stuhl. Weghängen konnte sie ihn später.

Sie wusch sich die Hände und holte einen großen roten Becher aus dem Oberschrank. Während der Wasserkocher rauschte, maß sie den Chai Latte ab und widerstand dem Impuls, daran zu schnuppern. Beim letzten Mal hatte sie einen Niesanfall bekommen.

Mit dem dampfenden Zimtgetränk ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und nahm das dunkelgrüne Kuschelkissen mit dem Aufdruck »Ich atme, produktiver wird’s nicht mehr« in den Arm.

An dem Kissen hing ein kurzes, dunkelblondes Haar. Sie nahm es und ließ es auf den Boden fallen, wo normalerweise nur ihre eigenen braunen landeten. Das musste vom Fernsehabend vor zwei Wochen mit Philipp stammen. Er war auf dem Sofa eingeschlafen, nachdem er den ganzen Tag einen schwierigen Fall vor Gericht vertreten hatte.

Gedankenverloren griff sie nach dem Tee. »Heiß«, zischte sie, zog die Finger von der Tasse weg und wedelte damit in der Luft, bis der Schmerz nachließ.

Sie brauchte einen Freund zum Reden, aber ihr Handy steckte noch in der Handtasche. Irgendwo zwischen Flur und Küche. Keine Lust aufzustehen. Suchend ließ Veda den Blick schweifen und entdeckte das Festnetztelefon absturzgefährdet auf der Sofalehne. Sie schmunzelte glücklich, weil sie sitzen bleiben konnte, und griff nach dem Telefon. Die Akkus waren sogar noch halb voll. Mit dem linken Daumen suchte und wählte sie Philipps Nummer, während sie mit der rechten Hand den Becher am Henkel nahm und pustete.

Nach dem zweiten Klingeln nahm Philipp ab. Im Hintergrund rauschte es leise. Er saß also im Auto. »Hallöchen, meine liebste Ex-Lebensabschnittsgefährtin«, rief er vergnügt.

»Ich hasse es, wenn du mich so nennst, Rechtsverdreher. Woher kommt die gute Laune?«

»Hast du nicht die Börsen gecheckt? Die Anleger haben die Pandemie hinter sich gelassen und kaufen, was das Zeug hält.«

Veda rollte mit den Augen. Er hatte sie jahrelang genervt – in letzter Zeit fast genötigt –, neben ihrer regelmäßigen Festgeldanlage, die zuletzt kaum noch nennenswerte Zinsen abgeworfen hatte, auch in einen börsengehandelten Indexfond zu investieren. Sie hatte sogar einen Sparplan angelegt. »Du hast gesagt, dass ich mich die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre nicht um die Kursschwankungen an der Börse kümmern soll«, meckerte sie und hätte fast ihren Chai Latte verschüttet.

Vorsichtig probierte sie. Jetzt war er gut. Heiß, süß, milchig mit ordentlich Zimt. Der Geschmack hob ihre Laune.

»Richtig, aber das war doch nur der erste Schritt. Jetzt solltest du …«

»Nein.«

»Es sind täglich nur …«

»Nein!«

»Okay, okay.«

Veda seufzte innerlich und trank noch einen großen Schluck. Wenn Philipp einmal Blut geleckt hatte, ließ er nicht mehr locker – typisch Anwalt. Irgendwann musste sie sich wahrscheinlich doch mit Einzelaktien, Anleihen und Zertifikaten beschäftigen, damit er Ruhe gab. Aber nicht heute.

»Bist du gut nach Hause gekommen?« Sie hatten gestern über die bevorstehende Beerdigung gesprochen.

»Julia hat mich abgeholt und wieder heimgefahren. Es war schön, sie wiederzusehen.«

»Waren viele alte Bekannte da?«

Sie hatte Philipp nach ihrem Jurastudium und der Beziehung mit Danilo kennengelernt. Er kannte nur Julia und Arno, hauptsächlich aus Vedas Erzählungen.

»Wenige. Zum Glück nicht diejenigen, die seine Eltern gerne dort gehabt hätten. Einige aus der alten Uni-Clique waren da, aber zu den meisten habe ich keinen Kontakt mehr. Eigentlich schade. Ist jemand umgezogen, waren wir alle zur Stelle. Wir sind zusammen über den Hamburger Dom, durch Clubs und Discos gezogen. Haben bis morgens um vier Uhr getanzt, sind noch zu irgendwem in die Wohnung, haben dort Spiegeleier gebraten und auf übrig gebliebene Brötchen gelegt. Oder wir haben eine Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben und geteilt.«

»Die Pizza um vier Uhr morgens kommt mir bekannt vor, aber keiner von uns hätte sich um die Uhrzeit noch an den Herd gestellt. No way!«

»Deswegen gab es bei mir immer nur Chips und Gummibärchen.« Veda lächelte. »Natürlich haben wir uns auch gestritten und miteinander konkurriert. Aber Spaß hatten wir trotzdem. Bis sich Danilo und einige andere Überflieger einen unserer Dozenten als Mentor suchten. Von da an verschrieben sie sich völlig dem Jurastudium. Lernen, essen, schlafen – sonst nichts.«

»Klingt nach Sekte.«

»Dieser Mentor ist jetzt Generalstaatsanwalt hier in Hamburg, Danilo war Staatsanwalt, und Marco, der heute auch da war, ist Partner einer Großkanzlei. Sie sind groß rausgekommen. Ich dagegen bin ewige Referendarin geblieben.«

»Du hast das zweite Staatsexamen bewusst nicht gemacht«, erinnerte er sie, wie immer, wenn sie sich wie eine Versagerin fühlte. »Möchtest du als Staatsanwältin arbeiten?«

»Nein.«

»Möchtest du in einer Großkanzlei angestellt sein, in der an jedem deiner Stuhlbeine mindestens einer sägt, du für viele Jahre weder Feierabend noch Wochenende oder nennenswert Urlaub hast?«

»Du hast manchmal Feierabend.«

»Manchmal.«

»Und du machst zweimal im Jahr Urlaub in irgendeinem karibischen Luxusresort.«

»Ich bin kein Anfänger mehr.«

»Ach, ich weiß auch nicht. Du hast ja recht. Eigentlich habe ich es ganz gut. Ich bekomme jeden Monat mein Gehalt und habe feste Arbeitszeiten. Als selbstständige Anwältin weiß man nie, wie der nächste Monat wird. Man hat die Verantwortung für Angestellte und was man sonst noch so organisieren muss.«

»Siehst du. Und wer weiß, was morgen um die Ecke kommt. Oder wer. Außerdem hat der Job Danilo vielleicht das Leben gekostet.«

»Den hatte er doch vor Monaten gekündigt. Ich verstehe einfach nicht, warum er sich das Leben genommen hat. Bei unserem letzten Treffen wirkte er hoffungsvoll. Gestresst zwar, denn immerhin haben seine Eltern ihn sein Leben lang vor sich hergetrieben. Davon befreit man sich nicht von heute auf morgen. Aber er hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen, wollte neu anfangen, herausfinden, wer er wirklich ist und was ihn glücklich macht.« Sie überlegte einen Moment. »Ganz loslassen konnte er seinen Job trotzdem nicht. Laut Julia ging er hier in Hamburg einem Fall nach. Ich wüsste zu gerne, worum es dabei ging.« Sie trank ihren lauwarmen Tee aus.

»Ihr habt euch nach mehreren Jahren für ein kurzes Gespräch getroffen. Wie hättest du da beurteilen können, wie es in ihm aussieht.«

»Ich weiß …«, murmelte Veda.

»Bist du neidisch, dass er Julia von diesem Fall erzählt hat und dir nicht?«

»Quatsch! Ich bin nicht neidisch.« Oder doch? »Die Zeit mit Danilo ist schwierig gewesen. Von romantischen Gefühlen war bei unserem letzten Treffen nichts mehr zu spüren. Bei keinem von uns.«

Stimmte das? Oder wollte sie es sich nur nicht eingestehen? »Jedenfalls waren wir einander nicht mehr nah genug, um zu spüren, was im anderen vorgeht. Damit hast du recht.«

»Hm«, machte Philipp.

Veda hörte ein rhythmisches Klicken. Wahrscheinlich der Blinker. »Julia hat von Danilos Eltern aufgeschnappt, dass er einen Abschiedsbrief hinterlassen haben soll. Mehr aber leider nicht. Wenn ich es wüsste, könnte ich die Sache vielleicht besser verarbeiten.«

»Veda, ich habe gleich ein Mandantengespräch und muss dich abwürgen, aber ich kann heute Abend vorbeikommen. Wir schauen uns einen lustigen Film an und reden. Ich bringe Brötchen und Eier mit.«

Sie musste lachen. Wie gerne hätte sie heute Abend eine Schulter zum Anlehnen. Und Spiegeleier vor dem Schlafengehen. Ein Glas Rotwein vielleicht. Aber weil sie so aufgewühlt war, könnten sie zusammen im Bett landen, denn im Moment waren sie beide Single. Vor einiger Zeit hatte sie Philipp geliebt, doch nur als beste Freunde, die Sex hatten, wenn ihnen danach war, harmonierten sie miteinander. Am Ende hätte sie womöglich ein doppelt schlechtes Gewissen, sowohl Danilo als auch Philipp gegenüber.

»Nein, heute Abend lieber nicht.«

»Verstehe.«

»Schau vor dem Schlafengehen in dein Depot«, sagte er. »Nur um die grünen Zahlen zu genießen.«

»Komm nicht zu spät zu deinem Termin.«

Philipp lachte und verabschiedete sich.

Das Telefon zwitscherte, als Veda auflegte. Akku leer.

Sie legte es in das Durcheinander auf dem Wohnzimmertisch und griff nach dem dicken Fantasieroman. Doch sie konnte nicht in die Welt der Zauberer und Zwerge eintauchen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Danilo, zur Beerdigung, zu ihrem letzten Treffen zurück. Hatte sie etwas übersehen, überhört? Hatte er ihr versteckte Hinweise darauf gegeben, dass es ihm schlecht ging?

Eine Stunde und nur fünf Seiten später klappte sie das Buch entnervt zu und legte es zur Seite.

Philipp hatte recht, sie und Danilo hatten sich jahrelang nicht gesehen. Anfangs hatte sie gedacht, Danilo könnte ihr Mann fürs Leben werden – die große Liebe. Aber das war mehr als zehn Jahre her. Sie waren Studenten gewesen, Rohmasse, die sich erst noch zu komplizierten Individuen hatte ausformen müssen. Sie wusste nicht einmal, ob sich Danilo zwischenzeitlich, wenigstens vor seinen engsten Freunden und seinem Bruder, zu seiner Bisexualität bekannt hatte. Veda kannte sein Geheimnis auch nur deshalb, weil er einmal in einer Bar, nach etlichen Drinks, sehnsüchtig einem attraktiven Mann hinterhergesehen hatte. Danilo hatte ihr gegenüber zugegeben, dass er sich in seiner Jugend sowohl in Männer als auch in Frauen verliebt und es als Findungsphase abgetan hatte. In Vedas Augen war das eine Ausrede gewesen, denn seine Eltern hätten ihn verstoßen und sowohl im Berufsleben als auch im Freundeskreis wäre er mit seiner Neigung auf Widerstand und Unverständnis gestoßen. Er wollte nicht bisexuell sein. Aber ist das eine Entscheidung, die man treffen kann? Sie selbst hatte befürchtet, Danilo leichter verlieren zu können, an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen oder beide Geschlechterrollen erfüllen zu müssen, um die ideale Partnerin für ihn sein zu können. Letztlich hatte sie auf ihren Bruder Hendrik gehört, der fand, es sei einzig wichtig, dass sie einander liebten und vertrauten. War Danilo es am Ende leid gewesen, seine wahren Gefühle und Gedanken vor sich und anderen zu verstecken? Hatte er seinem Leben deshalb ein Ende gesetzt? Veda seufzte. Sie würde den Grund wahrscheinlich nie erfahren.

Auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitschriften. Vielleicht half ein Themenwechsel. Sie zog ein Magazin über Kriminalistik heraus. Eine alte Ausgabe, aber es waren noch diverse Artikel übrig, die sie lesen wollte. Die ersten Seiten rollten von selbst bis zur Hälfte auf, weil sie sie so oft umgeschlagen hatte. Lustlos blätterte sie sich durch das Heft und legte es weg, als ihr in einer Überschrift das Wort »Bodyfarm« ins Auge fiel. Lieber etwas über Land und Leute. Sie wühlte erneut in dem Zeitschriftenstapel, schob glattes Hochglanz- und raues Zeitungspapier zur Seite, hob es an und lugte darunter. Mit dem Artikel über Indien hatte sie vor zwei Tagen angefangen, aber nicht einmal das exotisch bunte wie auch gleichzeitig streng hierarchische Land konnte sie von Danilo und ihrem schlechten Gewissen ablenken.

Genervt warf sie das Magazin zurück auf den Haufen, stand auf und machte sich einen großen Salat.

Mit der Schüssel setzte sie sich auf ihre zweifarbige Couch, wieder einmal zufrieden damit, dass sie den braunen Farbton für die Sitzfläche gewählt hatte und nicht den beigefarbenen, den der Verkäufer so passend gefunden hatte.

Genüsslich aß sie Gabel um Gabel mit bunten Salatblättern, Tomaten-, Champignon- und Mozzarellastückchen, die nach Balsamicoessig, Olivenöl und einem Hauch Ahornsirup dufteten. Während des Essens schaute sie die Krimiserie weiter, welche sie vor zwei Wochen begonnen hatte. Zweite Staffel, dritte Folge. Diese war so spannend, dass sie erst wieder an Danilo denken musste, als sie das Geschirr in die Spülmaschine räumte.

Auf dem Weg zurück zur Couch fiel ihr Blick auf den Schreibtisch und den Laptop, der zwischen Taschentuchbox, Ordnern und Unterlagen, die sie dringend einsortieren musste, hervorlugte.

Nur mal schauen, dachte sie, setzte sich an den Schreibtisch, räumte ihn frei und fuhr den Laptop hoch. Während der Zeit im Corona-Homeoffice hatte sie ihren PC lieben und hassen gelernt. Leider war er viel langsamer als die PCs in der Firma. Seit sie wieder täglich ins Büro ging, klappte sie ihn nur noch selten auf.

Wie lauten meine Log-in-Daten für das Depot? Sie wühlte in den Unterlagen neben dem Laptop. Da waren sie. Sorgfältig tippte sie die Zeichenkombination ein – und siehe da, ihr bescheidenes Depot hatte in den letzten drei Monaten acht Prozent zugelegt. Nicht schlecht, lauter grüne Zahlen. Zufrieden loggte sie sich wieder aus. Wenn der PC schon mal lief, konnte sie auch gleich ihre E-Mails sichten. Im nächsten Moment wünschte sie, sie hätte ihr Postfach nicht geöffnet. Über dreißig ungelesene Nachrichten. Veda seufzte. Sie hatte ein paar Tage nicht nachgesehen.

Zuerst löschte sie die Spam-Mails, danach die Werbung. Die wichtigen Nachrichten überflog sie zuerst nur, eine Rechnung druckte sie aus. Die hätte sie fast vergessen – wie peinlich. Beim Absender resni@webdesign.com hielt sie abrupt inne. Im Betreff stand Danilo. Veda schluckte schwer und öffnete die Mail:

Der E-Mail hing eine digitale Visitenkarte an. Veda kannte Ralph nicht persönlich, aber Danilo hatte immer voller Stolz von ihm erzählt, weil sein Bruder den Eltern entkommen war, denen er nichts recht machen konnte. Manchmal schwangen auch Neid und Wut mit, weil Danilo diesen Schritt nie gewagt und sich einsam gefühlt hatte.

Bei ihrem letzten Treffen hatte Danilo erwähnt, dass er wieder öfter mit Ralph telefoniere und einen Besuch in Queenstown plane.

Was er ihr wohl weiterleiten wollte? Warum hatte Danilo Ralph ihre E-Mail-Adresse gegeben, ohne ihr davon zu erzählen?

Veda suchte im Internet nach der Zeitverschiebung für Queenstown. Plus zwölf Stunden – Sommerzeit. Auch das noch! Wahrscheinlich schien dort bei zwanzig Grad die Sonne, während kalter Herbstregen gegen ihr Wohnzimmerfenster klatschte.

Zehn Uhr abends hier, zehn Uhr morgens in Queenstown.

Sie musste morgen früh aufstehen und zur Arbeit. Ruf ihn morgen an. Sie öffnete den Anhang mit der Visitenkarte, umkreiste mit dem Cursor Ralphs Telefonnummer, lauschte dem Regen und der Lüftung des Laptops. Es roch nach einer Mischung aus warm gewordenem Plastik, Metall und Elektronik. Ach, was soll’s. Eilig huschte sie in den Flur und kramte ihr Handy aus der Handtasche. Was kostete ein Anruf nach Neuseeland? Vermutlich viel. Veda speicherte Ralphs Telefonnummer. Auf gut Glück öffnete sie ihre Messenger-App – und siehe da! –, die hatte er auch installiert. Darüber müsste ein Anruf kostenlos sein. Einen Versuch war es wert.

»Resni.« Seine Stimme klang angenehm tief und sympathisch, ähnelte der seines Bruders.

»Hier ist Veda. Veda Weller.«

»Wie schön, dass du anrufst. Dann hast du meine E-Mail also gelesen.« Er sprach ohne Akzent. Warum hatte sie einen erwartet? Vielleicht weil er schon mehr als zehn Jahre in Neuseeland lebte.

Die Verbindung war verzögert, aber funktionierte.

»Mein Beileid.«

»Danke.«

»Wolltest du nicht zur Beerdigung kommen?«, fragte Veda und beeilte sich, ihre Frage zu entschärfen: »Es ist ein sehr weiter Weg von Neuseeland bis nach Deutschland. Das ist mir klar.«

Ralph seufzte. »Ich hätte es irgendwie möglich gemacht. Aber über seinen Notar hat Danilo mich darum gebeten, im Falle seines Todes nur zur Beerdigung zu kommen, wenn unsere Eltern nicht mehr leben oder ich mich mit ihnen ausgesprochen habe. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mir die Entscheidung leicht gemacht hat.« Veda hörte, wie er schniefte und sich räusperte. Mit belegter Stimme fuhr er fort. »Erst durch den Notar habe ich von Danilos Tod erfahren, weil er mich als seinen Alleinerben eingesetzt hat. Ich hatte gehofft, es sei ein böser Scherz.«

»Mir ist es auch immer noch unbegreiflich. Hast du geahnt, dass es ihm so schlecht ging?«, platzte Veda heraus.

»Wir standen uns nicht mehr so nah wie früher, und aus der Ferne ist das schwer zu beurteilen.« Er machte eine Pause, schien sich zu sammeln. »Danilo wirkte angespannt, gestresst, aber nicht lebensmüde. Wir haben beide Schlimmes erlebt, aber nie aufgegeben. Er hatte viel vor und wollte uns bald besuchen, um seine Nichte und seinen Neffen kennenzulernen und …« Seine Stimme brach ab.

»Ja, davon hat er mir erzählt«, sagte sie, um einen tröstenden Ton für sie beide bemüht.

»Hat er dir von dem Fall erzählt, an dem er dran war?«, fragte Ralph und klang plötzlich nervös.

Veda runzelte die Stirn. Was war das für ein Fall, dass sich so viele dafür interessierten? Oder lag es lediglich daran, dass Danilo nicht verraten hatte, was genau dahintersteckte?

»Nein. Der war anscheinend sehr geheim.«

»Das war er.«

Sie richtete sich in ihrem Bürostuhl auf und starrte in den Raum hinein. Nur die kleine Schreibtischlampe brannte und warf lange Schatten. Vor dem Fenster regierte die Nacht.

»Ist das der Grund für deine E-Mail?«, wollte Veda wissen.

»Ja. Er hat mir diverse Dokumente als Back-up per Post geschickt. Falls er es nicht schaffe, den Fall aufzuklären, oder ihm etwas zustoßen sollte. Danilo hat sich geweigert, sie zu scannen und zu schicken. Erst dachte ich, er will mich ärgern, weil ich Webdesigner bin, aber er wollte es partout nicht digitalisieren. Oldschool sei es sicherer, meinte er, erklärte aber nicht warum.«

Veda war ganz Ohr. »Dann muss es etwas sehr Wichtiges gewesen sein.«

»Na ja, eigentlich nicht«, gab Ralph zweifelnd zurück. »Ich durfte mir die Unterlagen ansehen. Es handelt sich um verschiedene Kriminalfälle. In manchen wird noch ermittelt, manche sind abgeschlossen. Danilo hat Notizen, Zeitungsartikel, Onlineartikel, alles Mögliche gesammelt. Er wollte noch mehr schicken und den Rest bei seinem Besuch mitbringen.«

Vielleicht war Danilo doch verrückt geworden.

»Er hat ein großes Geheimnis aus seinen Ermittlungen gemacht, wollte mit mir über etwas sehr Wichtiges sprechen. Danach würde ich vielleicht nie wieder mit ihm reden wollen, aber das verstünde er.«

»Hört sich dramatisch an.«

»Ich habe ihn gefragt, ob es mit unseren Eltern zu tun hat, aber da lachte er und verneinte. Daraufhin wurde er wieder sehr ernst. Er hat mir erzählt, dass er sich vielleicht in Gefahr befindet und die Unterlagen sichern möchte. Dabei klang er vollkommen rational. Er war hinter etwas oder jemandem her, und das hat ihn anscheinend sehr belastet. Er hatte Angst – um sich und um andere.«

Sie hatte Danilo selten ängstlich erlebt. Wieder betrachtete sie die Schatten an der Decke, versuchte sich zu erinnern. Im Gegensatz zu ihr hatte er keine Prüfungsangst gehabt, fürchtete weder Tod noch Teufel und schon gar keine Richter oder Anwälte.

»Ich sollte die Unterlagen bei mir aufbewahren. Und falls er selbst es nicht könnte, sollte ich sie an ganz bestimmte Menschen weiterleiten. Bevor er mehr schicken oder herkommen konnte«, ihm brach kurz die Stimme, »war er tot.«

Veda wartete, bis Ralph sich wieder gefangen hatte.

»Entschuldigung«, er atmete tief durch. »Wir standen uns zwar nicht mehr so nahe, aber trotzdem war er mein großer Bruder. Ich vermisse ihn.«

Tränen stiegen Veda in die Augen. Wo war die Taschentuchbox, wenn man sie brauchte? Ach da, auf dem Esstischstuhl. Sie stand auf und nahm die Box mit zurück zum Schreibtisch.

»Du bist deinen Weg gegangen«, entgegnete sie und drückte die Pappbox an sich, als steckten die Erinnerungen an Danilo darin. Sie waren ihr kostbar, denn trotz aller Schwierigkeiten hatte sie die schönen Momente genossen. All die Erinnerungen waren ein Teil ihrer Vergangenheit, ihres Lebens und prägten sie.

Ralph lachte mit bitterem Unterton auf. »Aus deiner, meiner und der Sicht meiner Familie hier bin ich das.«

Seine Eltern sahen in ihm vermutlich einen abtrünnigen Versager. Umso glücklicher war Veda über ihr enges und gutes Verhältnis zu ihrem Vater, Oma Ella und ihrem großen Bruder Hendrik.

»Du gehörst zu denen, die seine Recherchen sehen dürfen, Veda.«

»Warum?« Sie war seine Ex-Freundin aus Studienzeiten. »Wäre die Polizei nicht naheliegender?«

»Danilo wollte auf keinen Fall, dass Polizei und Staatsanwaltschaft davon erfahren. Es musste jemand sein, dem er bedingungslos vertraute. Ich verstehe nicht, warum, denn so geheim und sensibel kommen mir die Informationen nicht vor, aber vielleicht wirst du schlau daraus. Würdest du sie dir ansehen?«

Nein, lieber nicht. Oder doch? Es hörte sich spannend an – und gefährlich.

»Die Unterlagen brauchen bestimmt lange von Neuseeland bis hierher«, sagte Veda und überlegte, wie sie höflich aus der Sache herauskam. Andererseits enthielten die Dokumente vielleicht einen Hinweis darauf, was mit Danilo geschehen war, warum er sich das Leben genommen hatte. Irgendwo im Hintergrund ihres Bewusstseins setzte Unruhe ein.

»Es geht hauptsächlich um Zeitungsartikel und Notizen. Ich habe alles eingescannt und kann sie dir verschlüsselt schicken.«

»Aber Danilo bestand doch darauf …«, begann Veda zögerlich.

»Er hat sogar seine Steuererklärung noch in Papierform abgegeben. Ich glaube, das war nur eine Marotte von ihm«, setzte Ralph nach.

Früher hatte Danilo sich nicht gegen den technischen Fortschritt gestellt. Er war derjenige gewesen, der ihr erklärte, was eine Dropbox ist, der immer das neuste Smartphone und Tablet, moderne Laptops und einen riesigen Fernseher an der Wand mit einem stylishen Soundsystem dazu besaß.

»Würdest du dir die Daten ansehen?«

Veda seufzte, stützte den Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und das Kinn auf die Handfläche.

»Ich kann ja mal reinschauen. Vielleicht klärt sich dann einiges.«

»Great! Das Kennwort zum Entsperren der Datei schicke ich dir per SMS.« Ralph räusperte sich. »Du glaubst auch nicht, dass er sich das Leben genommen hat, oder?«

»Nein.« Ihre innere Unruhe wuchs.

»Sag mir Bescheid, wenn ich von hier aus helfen kann. Und wenn du etwas Neues erfährst.«

»In Ordnung.« Veda konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

»Es ist schon spät bei euch …«

»Ja, ich melde mich.«

»Gute Nacht und vielen Dank.«

Veda verabschiedete sich ebenfalls und warf einen Blick auf die Uhr. Mitternacht – verdammt! Viel zu spät.

Sie schloss alle Programme, klappte den Laptop zu und warf ihr Handy auf dem Weg ins Bad wieder in die Handtasche im Flur.

Eine Tonfolge bestätigte den Eingang einer SMS.

Morgen.

Sie zog sich die Klamotten aus, warf sie über den nächstbesten Stuhl. Dann schlüpfte sie in ein übergroßes rotes T-Shirt und suchte die Zahnpasta. Die elektrische Zahnbürste schien statt der voreingestellten zwei Minuten heute zwei Stunden zu laufen.

Um halb eins knipste sie endlich das Licht aus, zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn und schlief sofort ein.

3. KAPITEL

»So klingt es, wenn man einen USB-Stick in den Computer steckt«, riet ein Mann im Radio. »Nein, das ist leider falsch«, sagte der Moderator.

Veda wehrte sich gegen die Decke, die sie fesselte, und schlug die Augen auf. Es war taghell im Schlafzimmer. Ihr rechter Arm war eiskalt, und das Radio spielte Musik, die immer lauter wurde. Sie zog die linke Hand aus dem Deckenwirrwarr und schaltete den Wecker aus.

Für fünf Minuten kuschelte sie sich noch einmal ein, damit ihr Arm wieder warm wurde. Hatte wohl draußen gehangen.

Sie konnte sich noch an ihren Traum vor dem Aufwachen erinnern: Julia, in einem rot seidenen Abendkleid, hatte eng mit dem kleineren Marco getanzt. In seinen Locken, die über Nacht zehn Zentimeter gewachsen waren, hatte sich ein Eichhörnchen sein Nest gebaut. Und der Tanzsaal hatte viel zu viele Säulen, als drehten sie ihre Runden durch einen Wald. »Ist das nicht eine schöne Beerdigung?«, fragte Julia. Irgendwann tauchten auch Danilos nörgelnde Eltern auf. »Das Papier für die Einladungen zum Tanztee ist nicht dick genug, und sie sind falsch bedruckt. Warum hast du nicht aufgepasst, Veda. Das ist alles deine Schuld.«

Eine verrückte Kombination ihrer Erlebnisse vom Vortag. Sie schüttelte sachte den Kopf, sodass ihre Haare auf dem Stoff rieben und die Federn im Kissen knisterten.

Ihr Wecker begann erneut zu klingeln. »Och nö«, murmelte sie, streckte sich und gähnte.

Todmüde wälzte sie sich auf die Seite und schaltete ihn aus. Widerwillig setzte sie sich auf, rieb sich das Gesicht und krabbelte aus dem Bett.

Unter der heißen Dusche wäre sie, die Stirn mit geschlossenen Augen an den Fliesenspiegel gelehnt, fast wieder eingeschlafen. Nicht einmal kaltes Wasser über die Beine half, sondern ließ ihre Füße nur zu Eiszapfen werden. Hoffentlich tauten die in der Kanzlei wieder auf.

Die Hände um ihren extragroßen Kaffeebecher gelegt, dachte sie an Danilos Wohnung in Winterhude und daran, was er bei ihrem Besuch gesagt hatte. Mit keinem Wort hatte er einen Fall erwähnt. Die Wohnung war sauber und aufgeräumt gewesen. Der Schreibtisch hatte mit dem geöffneten Laptop, zwei Ordnern, blauen Heftern und dem darauf liegenden Tablet nach Arbeit ausgesehen.

Danilo hatte einen entschlossenen Eindruck auf sie gemacht. Er denke über seine Zukunft nach. Darüber, was er wirklich wolle. Über seine Vergangenheit und über das, was ihm noch bevorstünde: schwere, vielleicht schmerzhafte Entscheidungen.

Veda hatte das automatisch darauf bezogen, dass er auf Wunsch seiner Eltern Jurist geworden war. Wenn man zu seinem dreizehnten Geburtstag das Grundgesetz geschenkt bekam und für ein Jahr zum Schüleraustausch in die USA, nach Florida auf die The King’s Academy ging, die unter anderem für ihre vorbereitenden Jurakurse bekannt war, blieb einem nur übrig, Jurist zu werden. Er hatte zwar beteuert, endlich dem Kokain und den Koffeintabletten abgeschworen zu haben, die ihn sein früheres Arbeitspensum schaffen ließen. Aber er hatte zuletzt viel geraucht, getrunken und gegessen und daher zugenommen, was mit dem Älterwerden den meisten passierte.

Veda konnte ein Lied davon singen. In ihre Hosenanzüge aus dem Studium passte sie längst nicht mehr. Andererseits war sie froh darüber. Sie hasste es, Blusen zu bügeln. Nur die Blazer passten noch. Sie zupfte den beigefarbenen mit dem Fischgrätenmuster zurecht, den sie heute aus dem Schrank gezogen hatte.

Was hatte Danilo damals noch gesagt? Von Neuanfang hatte er gesprochen, aber welcher Art?

Die Uhr am Herd sprang auf halb acht. Seufzend stellte sie den leeren Becher in die Spüle und machte sich auf den Weg zur Haltestelle Hoisbüttel.

Für vierzig Minuten zog die übliche U-Bahn-Routine an ihr vorbei. Halten, Anfahren, Einstieg und Ausstieg. Der Wechsel von kalt und warm, abgestandene Luft, müde und genervte Gesichter. Passagiere, die laut telefonierten oder Musik hörten. Veda hatte ihre Kopfhörer vergessen, also tat sie ihr Bestes, um den Lärm um sich herum zu ignorieren. Da die Bahn längst in den Untergrund gerauscht war, gab es vor dem Fenster nichts mehr zu sehen. Zum Glück hatte sich der Hamburger Verkehrsverbund zu einer deeskalierenden Investition entschieden: kleine Bildschirme. Das Programm war begrenzt, aber bewegt und besser als nichts.

Während des Studiums war sie zu Fuß vom Stadthaus ihrer Familie zur Uni gelaufen. Wenn sie Danilo in Ohlstedt besucht hatte, war sie mit der gleichen Linie gefahren wie jetzt.

Immer wieder ging sie ihre letzten Gespräche mit ihm durch. Er hatte nie davon gesprochen, aufgeben oder sich das Leben nehmen zu wollen, sondern von Veränderung. Viel Arbeit läge noch vor ihm. Genervt schloss sie für einen Moment die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ihre Gedanken und Erinnerungen fuhren Karussell.

Veda hoffte auf Antworten in den Dateien, die Ralph ihr geschickt hatte. Es musste eine Erklärung geben. Hoffentlich kam ihr Chef heute nicht mit einem Spezialauftrag um die Ecke, für den sie stundenlang recherchieren musste, damit sie heute Abend genug Zeit hatte, um Danilos Unterlagen durchzugehen. Oder würden die es nur schlimmer machen? Bestätigen, dass er kurz vor dem Burn-out gestanden und wirre Gedanken gehabt hatte? Wollte sie das wissen?

Für die letzten zwei Stationen setzte sich eine wasserstoffblonde Frau mit tomatenroten Strähnchen neben sie, die heute Morgen in ihre Parfümflasche gefallen war. Veda atmete flach. Knoblauch, rohe Zwiebeln, Bier, Schweiß, alles schon gehabt, alles nicht schön. Aber dieses Aerosol brannte in der Lunge.

Sie schlängelte sich von ihrem Sitz, drängelte sich schwankend ans andere Ende des Waggons und blieb die restlichen Stationen stehen.

»Er kommt heute später ins Büro. Sie sollen sich diese Akte schon einmal ansehen und einen Vorschlag machen, wie Sie mit dem Fall umgehen würden«, sagte Frau Kehl nachsichtig lächelnd, reichte dem sauer dreinblickenden Referendar einen Zettel mit der Aktennummer und wandte sich von ihm ab.

Sie war das Urgestein der Kanzlei. Einundsechzig Jahre alt, mit Nerven aus Stahl und froh, dass sie in absehbarer Zeit nicht mehr für den Sohn ihres früheren Chefs arbeiten musste. Dieser kam notorisch zu spät, arbeitete nie vor neun Uhr, außer ein Richter zwang ihn per Gerichtstermin dazu, und trug immer Cowboystiefel. Etwas, woran sich Frau Kehl niemals gewöhnen würde.

»Guten Morgen, Frau Weller, der Kaffee ist schon durchgelaufen. Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen.« Das einzig Positive an Frau Kehls Abgang in die Rente würde die darauffolgende Anschaffung eines Kaffeevollautomaten sein.

»Mehr als einen«, antwortete Veda und lächelte dankbar.

Die elegante Dame trug wie meistens ein Kostüm, heute ein dunkelbraunes.

Noch bevor Veda in ihr Büro ging, goss sie sich in der Küche einen großen Becher schwarzen Kaffee ein, nahm ihn in die Hände und schnupperte genüsslich daran. Allein der Duft belebte sie.

Vanessa kam hinzu und hob eine Augenbraue, als sie Veda ins Gesicht sah. »Schlecht geschlafen?«

»Und zu spät im Bett gewesen.«

»Wegen der Beerdigung?«

Veda nickte. Im Großen und Ganzen stimmte das.

Vanessa schenkte sich ebenfalls einen Kaffee ein, ehe sie gemeinsam mit ihren Bechern an dem Großraumbüro vorbeigingen, in dem die vier Rechtsanwalts- und Notargehilfen in jeweils mit Sichtschutzwänden und Pflanzen abgegrenzten Abteilen arbeiteten.

»Moin«, grüßte Veda in die Runde.

Vanessa bog zu ihrem Schreibtisch ab.

»Nach einem freien Tag zu spät zur Arbeit kommen, würde uns niemand durchgehen lassen«, sagte Frau Rieser leise zu niemand Bestimmtem, aber so laut, dass Veda es hören konnte.

Die fünf Minuten, was für eine blöde Kuh! Wahrscheinlich hing bei ihr – wie so oft – der Haussegen schief. Dann suchte sie Streit, und Veda war ihr bevorzugtes Ziel, weil sie ihr eigenes Büro hatte und den Rechtsanwalts- und Notargehilfen zwar nicht übergeordnet war, aber eine Sonderstellung genoss. Als einfache Juristin arbeitete Veda ihrem Chef, Dr. Zymo, und manchmal auch den anderen Anwälten zu. Sie war lange genug dabei, um ihnen im Backoffice das Wasser reichen zu können. Aufgrund des fehlenden zweiten Staatsexamens aber nur fast.

Mühsam verkniff sie sich eine Erwiderung auf Frau Riesers Kommentar und schloss die Tür zu ihrem Büro hinter sich. Erschöpft ließ sie sich auf ihren schwarzen Bürostuhl fallen, der knackend protestierte, und trank den noch halb vollen Becher Kaffee in einem Zug leer. Schon besser.

Kaum war ihr PC hochgefahren, klopfte es an der Tür.

»Moin«, grüßte Dr. Zymo fröhlich in dunkelblauem Anzug und hellblauem Hemd. Keine Krawatte, denn die hasste er. Für Mandanten und Gerichtstermine holte er sie aus dem Kleiderschrank, nahm sie danach jedoch sofort wieder ab.

»Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Besucherstuhl.

»Natürlich.« Irritiert zeigte Veda fahrig mit der Hand zum Stuhl. Er war der Chef, warum fragte er?

Mit einem Grinsen hob er einen dicken blau-roten Gesetzeskommentar und eine Zeitschrift von der Sitzfläche und reichte ihr beides. Sie hatte vergessen, die Sachen zurück in die kleine Bibliothek zu stellen.

»Oh, Entschuldigung«, murmelte Veda nahm ihm die Sachen aus der Hand und suchte einen anderen Platz für Buch und Magazin, was nicht so einfach war. Auf ihrem Sideboard lagen vor den aufgereihten Gesetzestexten Akten und Ringordner. Ihren Schreibtisch nahmen ein großer Bildschirm, Telefon, Stifthalter, Notizzettel und alles, was man sonst noch so brauchte, ein. Letztlich stand sie auf und legte die Sachen zum restlichen Kram auf das Sideboard.

...

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