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Black Jack: Bei Anruf Mord!

hier erhältlich:

Unerschrocken taucht die attraktive Journalistin Kelly Robolo bei ihrer Suche nach einem verschwundenen Mann in einen Sumpf von Gewalt, Skrupellosigkeit und Mord ein. Der erfahrene Polizist Nick McBride scheint das gleiche Ziel wie sie zu verfolgen. Kelly vertraut dem attraktiven Mann. Und wird durch einen vermeintlichen Anruf von ihm in eine tödliche Falle gelockt.


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955761936
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christiane Heggan

Black Jack – Bei Anruf Mord!

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Rainer Nolden

Image

MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Blind Faith

Copyright © 2001 by Christiane Heggan

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by GettyImages, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-193-6

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

„He, he, he!“ Kelly Robolo riss das Steuer ihres hellblauen VW-Käfers herum und drückte auf die Hupe, als ein Linienbus von der Haltestelle losfuhr und sie so rücksichtslos schnitt, dass sie eine Vollbremsung machen musste.

Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, drängte der Fahrer mit seinem Bus weiter in die verstopfte Straße vor. Damit brachte er den Berufsverkehr an diesem Montagabend auf der viel befahrenen Broad Street von Philadelphia vollends zum Stillstand. Wieder hupte Kelly, außer sich vor Wut.

„Idiot!“ schrie sie, obwohl sie wusste, dass der Fahrer sie nicht hören konnte. „Deinen Monatslohn bezahle immer noch ich, klar?“

Als der Bus weiterfuhr und die Ampel auf Rot sprang, lehnte Kelly sich in den Sitz zurück und seufzte frustriert. Sie war ja schließlich selbst schuld, dass sie während der Rushhour in der Innenstadt festsaß. Aber Dr. Brady hatte wie immer seine Sprechstunde überzogen, und obwohl Kelly zunächst erwogen hatte, sich einen neuen Termin geben zu lassen, hatte sie es sich dann doch anders überlegt und geduldig gewartet, bis sie an die Reihe kam. Je früher der Doktor sie gesundschreiben würde, desto eher konnte sie wieder zur Arbeit. Dass er sie statt dessen weitere zwei Wochen für arbeitsunfähig befunden hatte, trug wesentlich zu ihrer schlechten Stimmung bei.

Während sie auf grünes Licht wartete, nahm sie die Finger vom Steuerrad und entspannte sich. Trotz des lärmenden Verkehrs, der rücksichtslosen Busfahrer und der Unannehmlichkeiten, mit denen sich die Einwohner von Philadelphia täglich herumschlagen mussten, liebte Kelly diese Stadt. Sie liebte ihre Geschichte, den unbeugsamen Optimismus ihrer Einwohner, den Abwechslungsreichtum ihrer Bezirke. Sie mochte sogar das Klima – besonders in dieser Jahreszeit, wenn der Himmel bedeckt war und eine Ahnung von Schnee in der Luft lag.

Nachdem sie dem Tod von der Schippe gesprungen war, hatte sie eine Weile lang überlegt, Philadelphia den Rücken zu kehren und irgendwo anders neu anzufangen, vielleicht in New York oder Chicago. In beiden Städten gab es ausgezeichnete Zeitungen, und mit ihren Referenzen als hartnäckige Reporterin, die auf Enthüllungsfälle spezialisiert war, wäre es ihr sicher nicht schwer gefallen, eine neue Stelle zu bekommen.

Aber schließlich hatte sie sich doch nicht dazu durchringen können. Sie hatte hier ihre Wurzeln, ihre Mutter, Freunde und einen Beruf, den sie liebte – wenn er sie auch fast das Leben gekostet hätte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und sie schaute aus dem Seitenfenster. Neben ihrem VW stand ein Streifenwagen, aus dem sie zwei Beamte unverhohlen anstarrten. In ihren Mienen spiegelte sich eine Mischung aus Wut und Verachtung. Noch vor fünf Wochen hätten sie ihr zugewinkt, denn Kelly Robolo war auf allen Polizeirevieren der Stadt bekannt. Nach dreizehn Jahren beim Philadelphia Globe hatte sie den Respekt und sogar die Bewunderung von einigen der zähesten Polizisten Philadelphias gewonnen.

Aber das hatte sich gründlich geändert.

Als die Ampel wieder auf Grün sprang, fuhr der Streifenwagen nicht los, sondern fädelte sich hinter ihren VW ein. Sie stellte fest, dass die Beamten ihr folgten. Möglicherweise wollten sie ihr wieder einen Strafzettel verpassen, den sie nicht verdiente. Allein in den letzten drei Wochen hatte sie drei Verwarnungen bekommen – eine, weil sie angeblich bei Rot über eine Ampel gefahren, eine weitere, weil sie zu schnell gefahren und eine dritte, weil sie an einem Stoppschild nicht stehen geblieben war. Die Polizisten hatten mit Gleichmut auf ihre heftigen Proteste gegen die falschen Anschuldigungen reagiert und lediglich gesagt, dass sie die Protokolle ja vor Gericht anfechten könnte.

Es hatte noch andere Vorfälle gegeben, direkt vor ihrer Haustür – der zerstörte Briefkasten, das Wort „Nutte“, das in großen, blutig roten Buchstaben auf die Eingangstür gesprüht worden war, die beiden zerstochenen Reifen an ihrem Wagen. Sie konnte zwar nicht beweisen, dass die Polizei von Philadelphia diese Taten begangen hatte, aber wer sonst hasste sie so sehr, dass er zu solchen Racheakten fähig war?

Sie hatte diese Vorfälle nur einem Menschen gegenüber erwähnt – ihrer besten Freundin Victoria Bowman. Da Victoria nicht zu denen gehörte, die leichtfertig ein Risiko eingingen, hatte sie Kelly gedrängt, eine Anzeige beim Polizeipräsidenten zu erstatten, den sie sehr gut kannte. Kelly hatte den Ratschlag nicht befolgt. Sie wollte die Sache nicht noch verschlimmern oder als Hysterikerin angesehen werden, die sich gleich in der obersten Etage beschwerte. Außerdem war sie nach mehr als sechs Jahren, in denen sie auch in ziemlich heiklen Fällen recherchiert hatte, solche Drohungen gewohnt, egal, ob sie ernst gemeint waren oder nur einschüchternd sein sollten. Derlei Vorfälle konnten sie schon lange nicht mehr erschüttern.

„Irgendwann werden sie die Lust an dem Spielchen verlieren“, hatte Kelly zu Victoria gesagt.

Als sie in die 17. Straße einbog, klingelte ihr Handy. Nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel holte sie das Telefon aus ihrer Tasche, ohne die Augen von der Straße zu wenden. „Hallo, Mama.“

Sie hörte ein glucksendes Lachen am anderen Ende der Leitung. „Eines Tages“, sagte Connie Robolo, „werde nicht ich das sein, sondern irgendein Komitee, um dir mitzuteilen, dass du wieder mal den Pulitzerpreis gewonnen hast. Und was wirst du dann sagen?“

Kelly lächelte. „Ich weiß immer, wenn du es bist. Du bist so vorhersehbar wie der Sonnenaufgang.“

„Ich hätte nicht angerufen, wenn du dich sofort nach deinem Arzttermin wie vereinbart gemeldet hättest.“ Und ohne Kelly die Chance auf eine Antwort zu geben, fügte sie hinzu: „Was hat Dr. Brady denn gesagt? Bist du in Ordnung? Verheilt die Wunde ordentlich? Ist er meiner Meinung, dass es nicht gerade der Genesung dient, wenn du die Wohnung tapezierst – nur fünf Wochen, nachdem sie dich niedergeschossen haben? Oder hat er über diese Nebensächlichkeiten kein Wort verloren?“

Kelly war an diese Art Verhör gewöhnt. Obwohl sie, die ältere von zwei Geschwistern, in zwei Wochen ihren 36. Geburtstag feiern würde, sorgte sich ihre Mutter um sie, als wäre sie noch ein kleines Mädchen.

„Das sind die Risiken, wenn man in eine italienische Familie hineingeboren wird“, hatte ihre Großmutter ihr einmal gesagt. „Ob es dir nun passt oder nicht – du wirst niemals ein vollkommen unabhängiges Leben führen können.“ Sie hatte ja so Recht gehabt!

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den Rückspiegel und bemerkte, dass der Streifenwagen das Warnlicht eingeschaltet hatte und in westlicher Richtung auf die Spruce Street einbog. Sie atmete erleichtert auf und war dankbar für den Notfall, der die Beamten daran hinderte, sie weiter zu verfolgen.

„Ich habe ihm alles gesagt, was du mir befohlen hast, ihm zu sagen, Mama“, antwortete Kelly.

„Werd ja nicht frech“, sagte Connie streng. „Antworte lieber auf meine Frage.“

„Dr. Brady war fast zufrieden mit meinem Zustand.“

„Was soll das heißen? Was ist los mit dir?“

„Nichts. Aber er lässt mich auch die nächsten beiden Wochen nicht zur Arbeit gehen.“

Connie Robolo machte ein missbilligendes Geräusch. „Wenn es nach mir ginge, würdest du überhaupt nicht zum Globe zurückgehen. Niemals.“

Jetzt geht das wieder los, dachte Kelly. Die Einleitung zur „Warum-suchst-du-dir-nicht-einen-sichereren-Job“-Predigt. Kelly hatte sie schon Dutzende Male gehört, aber nie war sie so nachdrücklich gewesen wie seit dem Tag, an dem sie angeschossen worden war. Es war ebenso verführerisch wie zwecklos, über die Bemerkung hinwegzugehen. „Ich weiß, Mama. Das hast du mir schon im Krankenhaus gesagt.“

„Hörst du mir denn überhaupt zu?“ Und da Connie noch keinen Tag hatte verstreichen lassen, ohne ihre Ansichten zu verkünden, fügte sie hinzu: „Ich verstehe nicht, warum du dir nicht irgendwo anders einen netten sicheren Job suchen kannst. Einem Mädchen mit deiner Intelligenz und deiner Bildung sollte das doch nicht schwer fallen. Du könntest alles tun, was du willst.“

„Ich tue doch, was ich will, Mama. Ich könnte natürlich auch als Trapezkünstlerin zum Zirkus gehen – wie Onkel Stefano“, witzelte sie.

„Meine Tochter, die Artistin.“ Im Hintergrund vernahm sie eine vertraute Stimme. „Hast du das gehört, Kelly?“ fragte Connie über das Scheppern der Töpfe und Pfannen hinweg. „Benny macht dein Lieblingsgericht – Schwertfisch alla Calabrese. Er sagt, du sollst zum Essen kommen.“

Einen Moment lang schwankte Kelly. Sie war gern im San Remo, dem italienischen Restaurant im Süden Philadelphias, das seit drei Generationen im Besitz der Robolos war. Jetzt führte es ihre Mutter allein mit Benny, ihrem langjährigen und ergebenen Stellvertreter. Manchmal, wenn im Restaurant Hochbetrieb herrschte, sprang Kelly als Bedienung ein, wie sie es während ihrer gesamten High-School-Zeit getan hatte. Sie wusste, wie sehr ihre Mutter ihre Hilfe schätzte, besonders jetzt, wo ihr Mann im Alter von 73 Jahren gestorben war.

„Kann ich ein andermal kommen, Mama? Ich habe heute Abend noch eine Menge Wäsche zu machen.“

„Bring sie mit. Ich kümmere mich darum.“

Kelly lachte. Ihre Mutter gab wirklich nie auf. „Lass mir etwas Schwertfisch übrig“, sagte sie, als sie in ihre Straße einbog. „Ich komme morgen vorbei.“

„Warte …“

„Ich muss Schluss machen, Mama. Ich bin zu Hause. Ich liebe dich.“ Sie schaltete das Handy aus, warf es in ihre Handtasche und konzentrierte sich auf die Parkplatzsuche. Um diese Tageszeit war das genauso frustrierend wie die Quälerei durch den Verkehr.

Nachdem sie zwei Mal um den Block gekurvt war und einer ihrer Reifen fast einem gigantischen Schlagloch auf der Pine Street zum Opfer gefallen wäre, fand Kelly endlich einen Platz auf der Second Street, in den sie im Handumdrehen ihren Wagen hineinrangierte. Sie warf ihre Handtasche über die Schulter, schloss die Tür des Käfers und ging zur Delancey Street, einer ruhigen, schmalen Straße mit Kopfsteinpflaster, die mitten im historischen Viertel von Philadelphia lag.

Kelly hatte das unscheinbare zweistöckige, im Stil der 1860er Jahre erbaute Haus vor zwei Jahren gekauft. Für die Anzahlung hatte sie jeden Cent zusammengekratzt und für die Restsumme ein Darlehen aufgenommen. Abgesehen von einigen Mittdreißigern waren alle ihre Nachbarn älter und wohnten schon seit Jahren hier. Die meisten von ihnen hatte sie bei einem Straßenfest kurz nach ihrem Einzug kennen gelernt. Sie hatte sich hier wohl gefühlt und sicher – bis die Attentate begonnen hatten.

Um sich aufzumuntern, rief sie sich ins Gedächtnis, dass – abgesehen von dem Streifenwagen, der ihr gefolgt war – in den letzten Tagen nicht viel passiert war. Sie hatte nicht einmal einen Bußgeldbescheid bekommen. Vielleicht hatten ihre Quälgeister endlich die Lust an dem Spiel verloren.

Noch ehe sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, kam ihr Haus in Sicht, und wie vom Donner gerührt blieb sie stehen.

Die kleine Tanne, die ihre Mutter ihr zum Einzug geschenkt hatte, war ausgerissen worden. Die Zweige hingen schlaff über dem Rand des Terrakotta-Topfes, der vor der Eingangstür stand.

„Verdammt!“ Kelly legte die kurze Strecke bis zu ihrem Haus im Laufschritt zurück und starrte hilflos auf die zerrissenen Wurzeln und verkümmerten Zweige. In ihren Augen schimmerten Tränen. Wer konnte so etwas Grausames tun? Wer zerstörte nur ein so schönes Lebewesen so rücksichtslos? Sie hockte sich hin und strich über einen der kleinen Äste.

Ohne aufzustehen ließ Kelly ihre Blicke über die verlassene Straße schweifen. Sie wäre dem Bastard nur allzu gern gegenübergetreten. Aber dazu war er wahrscheinlich zu feige. Vermutlich versteckte er sich in der Dunkelheit, beobachtete sie und amüsierte sich über ihre Reaktion.

„Wer du auch bist“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „pass auf, dass ich dich nicht erwische.“

Mit der Tanne in der einen und dem Schlüssel in der anderen Hand öffnete Kelly die Haustür und schaltete das Flurlicht ein. Ausnahmsweise wirkte das ungemütliche Chaos, das bei der Renovierung in den vergangenen Monaten entstanden war – Leitern, Farbtöpfe, weiße Overalls, die überall herumlagen – sofort beruhigend, ja geradezu tröstlich. Mit einem kleinen Seufzer trat sie die Tür mit dem Absatz ihres Stiefels zu und legte sofort die Sicherheitskette vor, ehe sie in den hinteren Bereich des Hauses ging.

Wie in allen Häusern aus dieser Zeit führte ein Korridor ins Wohnzimmer, und von dort gelangte man in einen kleinen Garten, in dem im Sommer Fleißige Lieschen und Geranien und im Herbst gelbe Chrysanthemen blühten. Gegenüber dem Essplatz war eine Kochnische, die Kelly meistens dazu benutzte, um Kaffee zu kochen und die Mahlzeiten aufzuwärmen, die ihre Mutter ihr mitbrachte.

Das Wohnzimmer mit seinen honiggelben Wänden und dem hochglanzpolierten Parkettboden war ihr Refugium. Hier standen ein Chintzsofa, Stühle und Beistelltische aus Eichenholz, auf denen alte Familienfotos aufgereiht waren. Der Kamin vor der Sitzgruppe war aus Ziegelsteinen gemauert und eingerahmt von deckenhohen Bücherregalen. Ein Fernsehgerät und ein alter Teppich, mit der Zeit und durch intensive Benutzung fadenscheinig geworden, vervollständigten die Einrichtung.

Sie merkte nicht, dass sie noch immer die Tanne in der Hand hielt, bis sie aufs Sofa sank und ihr Blick auf sie fiel. Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und diesmal bemühte sie sich nicht, sie zu unterdrücken. Es war dumm zu weinen, das wusste sie. Schließlich war es nur ein Baum, und dazu noch ein kleiner, aber verflixt noch mal, es war ihr Baum und jemand hatte ihn zerstört. Sie ließ die Tanne fallen, versteckte ihr Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos.

Vielleicht hat Mutter Recht gehabt, überlegte sie, während sie sich einem seltenen Anfall von Selbstmitleid hingab. Vielleicht war ihr die Arbeit wirklich über den Kopf gewachsen. Aber was sollte sie sonst machen? Von dem Augenblick an, wo sie zur Chefredakteurin ihrer Uni-Zeitung ernannt worden war, hatte sie gewusst, dass der Beruf des Reporters ihre eigentliche Bestimmung war. Sie liebte es, an einer Geschichte dranzubleiben, Einzelheiten herauszufinden und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ihre pfiffigen, gut recherchierten Artikel hatten schließlich die Aufmerksamkeit des Herausgebers des Philadelphia Globe erregt, Lou Ventura, einem barschen Vollblutjournalisten mit einer Nase für gute Stories und einem goldenen Herzen.

Die ersten Jahre beim Philadelphia Globe waren die aufregendsten in ihrem jungen Leben gewesen. Sie hatte sich erste Sporen in ihrem Job verdient wie alle jungen Reporter: mit Lokalnachrichten, öden Stadtratssitzungen und Bränden, zu denen sie mitten in der Nacht hingefahren war.

Ihr unermüdlicher Einsatz hatte sich gelohnt. Vier Jahre später, als zwei ältere Globe Redakteure in den Ruhestand traten, hatte Lou ihr gesagt, dass sie eine der Stellen haben könnte, wenn sie wollte. Sprachlos vor Glück hatte sie mit offenem Mund vor dem stillvergnügt lachenden Lou gestanden.

„Sie werden’s nicht bereuen“, sprudelte es aus ihr heraus, als sie wieder sprechen konnte. „Sie werden es sehen. Ich bin die beste Reporterin, die Sie jemals hatten.“

Sie hatte Wort gehalten, rund um die Uhr gearbeitet, jeden Auftrag übernommen, den man ihr gegeben hatte, sich mit vollem Einsatz ihren Stories gewidmet und sich dabei manchmal ziemlich unbeliebt gemacht. Harte Arbeit flößte ihr keine Angst ein, ebenso wenig wie die Risiken, die sie manchmal einging. Sie liebte ihren Job, und der Pulitzerpreis war nur das Sahnehäubchen auf dem Kuchen.

Dann, vor fünf Wochen, hatte sich ihr Leben dramatisch geändert. Während ihrer Kung-Fu-Stunde in Chinatown hatte Randy Chen, der Wäschereibesitzer von nebenan, den Unterricht mit Dr. Ho unterbrochen. In heller Aufregung hatte Randy Chen den Lehrer gebeten, unter vier Augen mit ihm sprechen zu können.

Kelly hatte zuvor schon Gerüchte über eine Schutzorganisation gehört, die die Nachbarschaft terrorisierte. Deshalb belauschte sie das Gespräch, in der Hoffnung herauszufinden, wer hinter der Erpressung stand. Glücklicherweise reichten ihre chinesischen Sprachkenntnisse nach zehn Jahren Unterricht bei Dr. Ho aus, um mitzubekommen, dass jemand in einem Lagerhaus auf der Tenth Street wartete.

„Sie müssen zahlen, Großmeister“, hatte Randy Chen Dr. Ho eindringlich zugeflüstert. „Sonst werden sie Sie töten.“

Nach Dr. Hos rascher und ärgerlicher Antwort hatte Randy entsetzt die Hände gerungen. Er hatte den älteren Mann darauf hingewiesen, was „sie“ nicht nur den örtlichen Kaufleuten, sondern auch ihren Frauen und Kindern antun würden.

Zu Randys großer Erleichterung hatte Dr. Ho sich schließlich bereit erklärt, zu zahlen. Leise vor sich hinmurmelnd war er zu einem Safe gegangen, hatte ein Geldbündel herausgeholt und es in eine Papiertüte gesteckt.

Kelly war verblüfft. Als sie zum ersten Mal mitbekommen hatte, dass die Kaufleute in Chinatown erpresst wurden, hatte sie Dr. Ho ausgefragt. Sie hatte gehofft, dass die einvernehmliche Beziehung, die sich während der vergangenen Jahre zwischen ihnen entwickelt hatte, ihn dazu veranlassen würde, sich ihr anzuvertrauen. Aber Dr. Ho hatte hartnäckig geschwiegen und so getan, als wüsste er nicht, wovon sie redete.

Kein Wunder, dass er nichts hatte sagen wollen. Er hatte Angst davor, was die Erpresser ihm und der übrigen Nachbarschaft antun würden. Um ihrem alten Freund zu helfen, war Kelly Randy Chen zu dem Lagerhaus gefolgt, wo das chinesische Neujahrskomitee seine Festwagen für den Umzug abstellte. Der höhlenartige Raum war schwach erleuchtet und angefüllt mit dem Duft von Sandelholz, um die Motten zu vertreiben.

Leise bewegte Kelly sich zwischen Drachenköpfen, perlenbestickten Kostümen und gefiedertem Kopfschmuck. Doch als sie am anderen Ende des Raums angelangt war, erstarrte sie wie vom Donner gerührt. Im Schein einer Glühbirne warteten drei Männer, von denen sie zwei nicht kannte. Der dritte aber war Matt Kolvic, Beamter im Polizeipräsidium von Philadelphia.

Mit zitternden Fingern hatte Kelly ihr Handy aus der Handtasche gefischt und im Polizeipräsidium angerufen. Sie wollte keine Hilfe holen, sondern mit Nick McBride von der Mordkommission reden, mit dem sie oft zusammen arbeitete. Nick war Matt Kolvics bester Freund und würde wissen, was zu tun war. Sie hatte es so eilig, die Verbindung herzustellen, dass sie gegen einen der Festwagen stolperte und das Handy fallen ließ.

Die drei Männer wirbelten gleichzeitig mit gezogenen Pistolen herum. Das Letzte, an das Kelly sich danach erinnerte, war der stechende Schmerz, als eine der Kugeln sie im Brustkasten traf, und der schwächer werdende Duft von Sandelholz.

Vierundzwanzig Stunden lang hatte sie zwischen Leben und Tod geschwebt. Der Arzt, der sie operiert hatte, war nicht sehr zuversichtlich gewesen.

„Die Kugel hat eine Schlagader getroffen. Sie hat eine Menge Blut verloren“, hatte Dr. Brady ihrer Familie erklärt. „Ihre Lebenszeichen sind ganz schwach, und ihr Herzschlag ist unregelmäßig. Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend.“

Am zweiten Tag war sie dann außer Lebensgefahr, und am dritten ging es ihr wieder so gut, dass sie Besuch empfangen und die Fragen der Polizisten beantworten konnte. Man sagte ihr, dass ein Streifenwagen in der Nähe gewesen war, als die Schüsse fielen. Die beiden Männer, die sie nicht kannte, gehörten einem organisierten Verbrecherring an, den die Polizisten seit Monaten zu sprengen versucht hatten. Der dritte, Detective Matt Kolvic, arbeitete als verdeckter Ermittler.

Er war bei dem Schusswechsel getötet worden.

Die Geschichte hatte tagelang die Schlagzeilen beherrscht. Während Kellys Chef sie öffentlich wegen ihrer Courage gelobt hatte, war man im Polizeipräsidium von Philadelphia anderer Meinung. In einer Pressekonferenz, die Kelly von ihrem Krankenbett verfolgte, hatte der Polizeichef seinem Ärger über die Presse Ausdruck verliehen und gesagt, dass ein ausgezeichneter Polizist wegen eines übereifrigen Reporters ums Leben gekommen war.

Das Läuten des Telefons riss Kelly aus ihren Gedanken. Da sie keine Lust zu reden hatte, vergrub sie den Kopf ins Sofakissen und beachtete das Klingeln nicht.

Beim vierten Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sekunden später füllte Victorias erregte Stimme den Raum. „Kelly, bitte nimm den Hörer ab, wenn du da bist. Es geht um Jonathan. Er … er ist verschwunden.“

Mit einem Satz war Kelly beim Telefon. „Ich bin hier. Was meinst du damit … verschwunden?“

„Wir wollten uns in der LaFarge-Tanzschule treffen, wegen Phoebes Aufführung heute Abend, aber er ist nicht gekommen.“

Da Kelly wusste, wie vergesslich Victorias Ehemann sein konnte, wenn er arbeitete, versuchte sie, zuversichtlich zu klingen. „Vielleicht ist er im Büro aufgehalten worden. Du weißt doch, wie er ist, wenn er viel zu tun hat …“

„Er ist nicht in seinem Büro.“ Victorias Stimme war schrill geworden. „Er ist heute Morgen nach Miami geflogen und bisher nicht zurückgekommen.“

Die Panik in Victorias Antwort reichte aus, um Kelly in Alarmbereitschaft zu versetzen. Fürs Erste vergaß sie die eigenen Probleme und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Wo bist du?“

„Im Geschäft.“

„Bleib dort. Ich bin gleich da.“

2. KAPITEL

Kelly stellte den VW auf einem kleinen Parkplatz in der Manning Street ab, nahm das Ticket vom Parkplatzwächter in Empfang und ging mit schnellen Schritten zum Rittenhouse Square. Der Platz, der vor mehr als hundert Jahren zwischen der 18. und der Walnut Street angelegt und nach dem Präsidenten der American Philosophical Society benannt worden war, gehörte zu den nobelsten Adressen der Stadt. Luxusapartments, Hotels und elegante Boutiquen säumten einen kleinen Park und bildeten eine exklusiven Bezirk, der jedes Jahr Tausende von Besuchern anzog.

Viktorias Antiquitätengeschäft, das sie passenderweise „Alles von Gestern“ genannt hatte, befand sich auf der Westseite des Platzes zwischen einer Zweigstelle der Stadtbibliothek und einem Teesalon. Der Laden gehörte Cecily Sanders, ihrer wohlhabenden Tante, aber es war Victorias exquisitem Geschmack und ihrem Kunstverständnis zu verdanken, dass „Alles von Gestern“ so erfolgreich geworden war. Der enge Raum war voll gestopft mit einzigartigen und sorgfältig ausgewählten Stücken – von alten Uhren über Gläser bis hin zu modischen Accessoires, die Victoria von ihren Reisen durch die ganze Welt mitbrachte.

Victoria saß mit geschlossenen Augen an ihrem Schreibtisch und hielt verkrampft die Hände vor den Mund. Ihr langes blondes Haar war im Nacken zu einem eleganten Knoten gebunden, der ihren schlanken Hals betonte. Sie trug einen roten Hosenanzug, der ihre zierliche Statur betonte, und eine weiße Bluse mit einem Seidenkragen. Bis auf den schlichten Diamantehering trug sie keinen Schmuck.

Victoria schaute auf, als die Ladenglocke läutete. Ihre wunderschönen grünen Augen blickten sorgenvoll.

„Oh, gut dass du da bist.“ Sie sprang von ihrem Stuhl auf, wartete aber, bis Kelly die Tür geschlossen hatte, ehe sie zu ihr ging und sie herzlich umarmte. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist.“

„Jonathan hat sich noch nicht gemeldet?“

„Nein.“ Die Stimme ihrer Freundin klang sicher und kontrolliert, aber Kelly spürte, dass sie sich sehr bemühen musste, ruhig zu bleiben.

Sie ergriff Victorias kalte Hand und zog sie zu den beiden Queen Anne-Stühlen, die auf der anderen Seite des Schreibtisches standen. „So“, sagte sie, nachdem sie sich beide hingesetzt hatten. „Zunächst einmal: Was hat Jonathan in Miami zu tun?“

„Ich weiß es nicht. Und Syd weiß es auch nicht.“

Syd Webber war der Besitzer des Chenonceau Casino-Hotels in Atlantic City, dem Jonathan als Vizepräsident vorstand. Syd war ein Mann mit zweifelhaftem Charakter und undurchsichtiger Vergangenheit und der Hauptgrund dafür, dass Victorias Tante so vehement gegen die Hochzeit ihrer Nichte mit Jonathan war.

„Hast du schon mit Syd gesprochen?“

„Ja. Er ist genauso ratlos wie ich. Er sagte, Jonathan habe sich heute Morgen krank gemeldet, und er glaubte natürlich, dass er zu Hause sei.“

Eine Krankmeldung klang überhaupt nicht nach Jonathan. Er musste schon im Sarg liegen, ehe er einen Arbeitstag versäumen würde. „Woher weißt du, dass er nach Miami geflogen ist?“

„Er hat mich heute Morgen von seinem Handy aus angerufen. Wenigstens glaube ich, dass es sein Handy war, denn die Nummer erschien auf dem Display. Er sagte, Syd habe ihn auf Geschäftsreise nach Miami geschickt und dass er gegen Abend zurück sein würde.“

„Hat er irgendetwas darüber gesagt, dass er nicht zu Phoebes Aufführung kommen würde?“

„Die Verbindung wurde unterbrochen, ehe wir darüber sprechen konnten. Ich habe versucht, ihn zurückzurufen, um ihn daran zu erinnern, aber er muss in einem Funkloch gesteckt haben, denn ich konnte ihn nicht erreichen.“

„Hast du es mehrfach versucht?“

„Alle fünf Minuten in den vergangenen zweieinhalb Stunden.“

Victorias Stimme versagte, und sie presste die Hände gegen den Mund, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie war nicht nur eine phänomenale Geschäftsfrau, sondern hatte sich auch den Ruf erworben, selbst unter der größten Anspannung einen kühlen Kopf zu bewahren. Deshalb war sie eine unschätzbare Hilfe bei jeder Familienkrise.

„Mit welcher Gesellschaft fliegt er normalerweise?“ fragte Kelly, während sie nach ihrem Handy griff.

„American Airlines. Ich habe da schon angerufen. Sie konnten mir bestätigen, dass Jonathan heute Morgen um 9.02 Uhr an Bord der Maschine mit der Flugnummer 2399 nach Miami gegangen ist. Er war für den Rückflug um 15.58 Uhr gebucht, aber er ist nicht erschienen.“

„Hast du den Kauf des Tickets auf seinem Kreditkartenkonto überprüft?“

„Er hat bar bezahlt.“

Kelly schwieg eine Weile, um zu begreifen, was sie gerade gehört hatte. Keiner bezahlte seine Flugtickets mehr in bar – es sei denn, er hatte etwas zu verbergen. Aber das war bei Jonathan ja wohl nicht der Fall; schließlich hatte er Victoria von seiner Reise erzählt. „Kennt er jemanden in Miami?“ Kelly hätte zwar gewusst, wenn es so wäre, aber sie fragte trotzdem.

„Keine Menschenseele. Wir sind nur einmal in Florida gewesen, als wir mit Phoebe in Disneyworld waren, und das war in Orlando und nicht in Miami.“

„Bist du sicher, dass Jonathan dort keine Verwandten hat, einen Geschäftspartner, einen Kumpel von der Army?“

„Nicht, dass ich wüsste. Jonathans einzige Verwandte sind ein älterer Onkel, der in San Diego lebt, und ein paar Cousins, die wir seit unserer Hochzeit nicht mehr gesehen haben.“ Victoria hatte die Hände in den Schoß gelegt; ihre Finger verkrampften sich noch stärker. „Ich muss immer an die Morde denken, die in den vergangenen Wochen in Miami passiert sind. Ich stelle mir vor, dass Jonathan irgendwo auf der Straße liegt und Opfer eines Überfalls oder eines Autodiebstahls geworden ist.“ Sie schloss die Augen. „Oder noch Schlimmeres.“

Kelly schüttelte den Kopf. „Jemand hätte ihn gefunden und die Polizei verständigt. Eigentlich …“ Sie öffnete ihr Handy und zog die kurze Antenne heraus.

„Wen rufst du an?“ fragte Victoria.

„Die Polizei in Miami. Nur die können dich beruhigen.“ Sie wählte die Auskunft, fragte nach der Telefonnummer des Polizeihauptquartiers in Miami und schrieb sie auf einen Block, den sie aus ihrer Tasche gezogen hatte. „Was hatte Jonathan an?“ fragte sie, während sie erneut wählte.

„Einen marineblauen gestreiften Anzug, ein weißes Hemd, eine Krawatte mit roten und blauen Quadraten und schwarze Schuhe.“

Ein Polizist namens Barry Brown nahm Kellys Anruf entgegen. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, unterrichtete sie ihn über das wenige, was sie wusste, und gab ihm eine Beschreibung von Jonathan sowie ihre Handynummer.

„In Ordnung, Ma’am“, sagte der Polizist. „Ich werde der Sache nachgehen und schauen, was ich tun kann.“

Kelly wandte sich wieder an Victoria. „Während wir warten, überlegen wir mal, was passiert sein könnte. Ist zwischen euch alles o.k.? Hattet ihr einen Streit?“

„Nein.“

„War er in letzter Zeit irgendwie anders? Vielleicht zerstreut?“

Victoria betupfte sich die Augen mit einem zusammengeknüllten Taschentuch. „Jetzt, wo du es sagst … er schien in den letzten Tagen ein wenig bedrückt zu sein.“

„Hast du ihn gefragt, wieso?“

„Nein.“ Sie wandte den Blick ab, als ob sie sich schuldig fühlte. „Ich hatte den Kopf voll von dieser Versteigerung, zu der ich heute Morgen musste. Ich fürchte, um alles andere habe ich mich nicht allzu viel gekümmert.“

„Hat er über irgendetwas Besonderes gesprochen? Schwierigkeiten im Beruf?“

„Nein.“ Victoria stand auf, ging hinüber zu ihrem Schreibtisch und begann, ein paar Kataloge zu ordnen, obwohl sie ordentlich aufeinander lagen. „Es war ein Morgen wie jeder andere, jedenfalls ist es mir so vorgekommen. Wir haben zusammen gefrühstückt und über die kommende Woche gesprochen. Ich habe ihn an die Vorstellung erinnert und wie sehr Phoebe sich darauf freute. Er hat gesagt, er würde mich heute Abend in der Tanzschule treffen. Dann hat er mir einen Abschiedskuss gegeben und ist gegangen.“

„Um wie viel Uhr war das?“

„Kurz nach sieben.“ Sie drehte sich um und schaute Kelly ins Gesicht. „Und um halb neun hat er mich angerufen und mir gesagt, dass er auf dem Weg nach Miami sei.“

„Hat er aus dem Auto angerufen? Oder vom Flughafen?“

„Vom Flughafen. Die Verbindung war sehr schlecht. Es knisterte in der Leitung, und ich konnte ihn kaum verstehen.“

So schlecht hätte die Leitung eigentlich nicht sein dürfen, wenn er vom Flughafen aus angerufen hatte.

Mit verschränkten Armen ging Victoria zum Fenster und schaute auf den erleuchteten Platz. „Du hast mich eben gefragt, ob irgendetwas Ungewöhnliches passiert ist.“

Kelly war sofort alarmiert. „Ja?“

„Es ist wirklich etwas passiert, aber ich bin mir nicht sicher, ob es irgendetwas mit Jonathan zu tun hat.“

„Sags mir trotzdem.“

Victoria drehte sich um und ließ ihren Blick zu einem deckenhohen Glasschrank schweifen, in dem eine Sammlung von antiken chinesischen Duftfläschchen stand. Es handelte sich ausnahmslos um sehr teure Sammlerstücke. „Ich vermisse eins meiner Fläschchen.“

Kelly wusste von orientalischer Kunst nur so viel, wie sie in den vergangenen Jahren von Victoria gelernt hatte. Sie folgte ihrem Blick. „Welches?“

„Das blaue aus Email. Es gehörte zu der chinesischen Whisper-Sammlung. Heute Morgen, als ich das Geschäft aufgemacht habe, war es nicht mehr da.“

„Bist du sicher, dass du es nicht woanders hingestellt hast?“ Die Frage war überflüssig. Victoria war ebenso gut organisiert wie Jonathan zuverlässig. Dass sie ein derart wertvolles Objekt verlegt haben sollte, war einfach undenkbar.

„Absolut.“

„Könnte es ein Kunde genommen haben?“

„Möglich, aber unwahrscheinlich. Ich verlasse den Raum so gut wie nie, wenn jemand im Laden ist. Die meiste Zeit bin ich dabei, um bei der Auswahl zu helfen oder Fragen zu beantworten. Am Freitag war allerdings viel zu tun. Und ich musste ein paar Mal nach hinten gehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Stammkunden mich bestehlen.“

„Hast du den Diebstahl der Polizei gemeldet? Oder der Versicherung?“

„Nein. Ich wollte erst mit meiner Tante sprechen.“ Sie ließ den Schrank nicht aus den Augen. „Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.“

Kelly hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme. „Glaubst du, dass Jonathan es genommen hat?“

„Nein.“ Müde fuhr sich Victoria mit der Hand durch das Haar. „Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll, Kelly. Ich bin total durcheinander.“ Sie presste die Zeigefinger gegen die Schläfen. „Zum Teufel mit dem Fläschchen. Ich möchte, dass mein Mann wieder nach Hause kommt.“

Kelly zog den Ärmel ihrer Lederjacke hoch und sah auf ihre Uhr. Neun Uhr. „Hör zu. Es könnte eine Weile dauern, bis Officer Brown sich meldet. Warum machst du den Laden nicht zu, und wir gehen nach Hause? Dort schauen wir uns mal Jonathans Kleiderschrank an. Vielleicht finden wir ja da einen Hinweis zu seinem Ausflug nach Miami.“

Victoria griff bereits nach dem Telefon. „Lass mich eben noch Lucy fragen, ob sie Phoebe schon zu Bett gebracht hat. Ich möchte meinem kleinen Mädchen nicht erklären müssen, warum Daddy ihre Vorstellung versäumt hat und noch weniger, warum er nicht zu Hause ist.“

3. KAPITEL

Die Bowmans wohnten in Bryn Mawr, einer eleganten Gegend für die Wohlhabenden, knapp zwanzig Autominuten von der Innenstadt von Philadelphia entfernt.

Kurz nachdem Jonathan zum Vizepräsidenten ernannt worden war, hatte Victoria vorgeschlagen, das kleine, im Cape-Cod-Stil erbaute Haus in Haverford zu verlassen und eines in New Jersey zu kaufen, damit Jonathan nicht jeden Tag den weiten Weg zur Arbeit hatte. Da er jedoch wusste, wie gern seine Frau in der Nähe ihrer Tante und ihres Onkels war, hatte er ihr stattdessen das Haus in Bryn Mawr gezeigt. Er wusste, dass sie sich darin verlieben würde.

Solche großzügigen Gesten waren typisch für Jonathan. Er liebte es, Victoria mit kleinen Aufmerksamkeiten zu erfreuen, und überschüttete sie mit Geschenken, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Manchmal waren die Präsente sehr teuer, aber das war seine Art, nicht nur Victoria, sondern auch ihrer Tante zu beweisen, dass er durchaus in der Lage war, Victoria den Lebensstil zu ermöglichen, den sie ihr ganzes Leben lang genossen hatte. Für Victoria waren diese Liebesbezeigungen überflüssig, aber sie wusste, warum er es tat, und liebte ihn deswegen um so mehr.

Die Babysitterin, ein attraktiver Teenager mit braunem Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als Kelly und Victoria kamen. Weisungsgemäß hatte Lucy Phoebe bereits zu Bett gebracht. Victoria bemühte sich nach Kräften, ihre Ängste nicht zu zeigen. Sie gab ihr das Geld, brachte sie hinaus und wartete, bis die Schülerin an der Tür ihres zwei Häuser weiter gelegenen Zuhauses angekommen war, ehe sie wieder hineinging.

„Ich seh mal nach Phoebe“, sagte sie und rieb sich die nächtliche Kälte von den Armen.

„Ich komme mit dir.“

Beim Anblick ihres friedlich schlafenden Patenkindes, das seine rothaarige Stoffpuppe fest im Arm hatte, fühlte Kelly wie immer eine Welle der Zuneigung. Mit ihrem langen hellblonden Haar, der makellosen Haut und dem herzförmigen Mund war die Fünfjährige das getreue Ebenbild ihrer Mutter. Nur ihre Augen, die so braun waren wie die ihres Vaters, deuteten darauf hin, dass sie eine Bowman war.

Nachdem sie und Victoria Phoebe auf die Stirn geküsst hatten, gingen beide auf Zehenspitzen hinaus und geräuschlos zum Elternschlafzimmer am anderen Ende des Korridors. Sie begannen, Jonathans Kleiderschrank zu durchsuchen, der genauso ordentlich und gepflegt war wie sein Besitzer. Sämtliche Taschen seiner Anzüge waren leer. Dann konzentrierten Kelly und Victoria ihre Aufmerksamkeit auf den Nachttisch. Die Schublade war voll mit säuberlich zusammengehefteten Parkscheinen, Kreditkartenbelegen, Notizen, die er hastig auf kleine Zettel geschrieben hatte, und eine Quittung von den Hafenbehörden in Delaware.

Nach einer halben Stunde ergebnisloser Suche schüttelte Kelly den Kopf, und die beiden Frauen gingen wieder hinunter. In der gemütlichen, gelb gestrichenen Küche machte sich Victoria sofort daran, Kaffee zu kochen.

„Soll ich das tun?“ bot Kelly an.

Victoria schüttelte den Kopf. „Ich muss mich ablenken.“ Mit kontrollierten Handgriffen, die wie mechanisch wirkten, öffnete sie den Kühlschrank, nahm ein kleines weißes Paket heraus und gab einige Löffel in den Kaffeefilter. Kurz darauf füllte sich die Kanne, und Victoria nahm gegenüber von Kelly an dem runden Ahorntisch Platz.

„Was glaubst du – wie lange müssen wir noch auf den Anruf des Polizisten warten?“

„Schwer zu sagen. Miami ist eine große Stadt. Es dauert, bis sie sich in den Krankenhäusern und Gefängnissen erkundigt haben.“ Kelly erwähnte die Leichenhallen nicht, aber der Blick in Victorias Augen verriet ihr, dass sie auch daran gedacht hatte.

Auf dem Tisch stand ein drehbares Tablett, das aus dem gleichen Ahornholz gemacht war. Geistesabwesend begann Victoria, damit zu spielen. „Das sieht Jonathan überhaupt nicht ähnlich.“ Ihr Blick blieb an dem rotierenden Tablett haften. „Er macht keinen Schritt aus seinem Büro, ohne mir zu sagen, wo er hingeht. Und wir bleiben immer in Kontakt.“

Das stimmte. Jonathan war einer der zuverlässigsten Männer, die Kelly kannte. Er wusste auch, wie sehr Victoria sich sorgte und wie schnell ihre Ängste in nackte Panik umschlagen konnten. Er hätte nie absichtlich etwas getan, das diesen Zustand heraufbeschwören würde.

Die Möglichkeit, dass er wegen einer Affäre die Zeit vergessen haben könnte, war zu abwegig, um daran auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Jonathan und Victoria beteten einander an und zeigten es auch auf alle möglichen Arten.

Als ob sie Kellys Gedanken lesen könnte, blickte Victoria ihr forschend ins Gesicht. „Du kennst ihn doch fast genauso lange wie ich. Glaubst du, er macht das absichtlich? Weil er sich über irgendetwas geärgert hat?“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, gab Kelly zu. „Deshalb habe ich dich ja gefragt, ob ihr euch gestritten habt. Aber selbst wenn, kann ich mir nicht vorstellen, dass Jonathan so hinterhältig wäre. Das ist nicht seine Art.“

Als das rote Licht an der Kaffeemaschine aufleuchtete, stand Victoria auf, füllte zwei Becher und setzte sich wieder hin. Kelly nahm ein paar Schlucke und lauschte auf das Geräusch von Jonathans Schlüssel an der Haustür und seine fröhliche Stimme, mit der er seine Frau begrüßte. Aber im Haus blieb es stumm bis auf den Gong der alten Standuhr im Wohnzimmer, der jede Viertelstunde die Stille unterbrach.

Während der nächsten Stunden, die wie Jahre erschienen, rief Kelly noch zweimal bei Officer Brown an, aber er hatte nichts herausgefunden. Die Nachforschungen dauerten noch an.

Um vier Uhr morgens klingelte Kellys Handy. Diesmal meldete sich ein Detective Quinn von der Polizei in Miami. Als sie seinen offiziellen Tonfall vernahm, verschwand Kellys Zuversicht. „Haben Sie Jonathan gefunden?“ fragte sie.

„Kann ich bitte Mrs. Bowman sprechen?“

Kelly reichte ihr das Handy. „Detective Quinn von der Polizei in Miami. Er möchte mit dir sprechen.“

Victoria schüttelte nur den Kopf. Ihr Gesicht war aschfahl, und in ihren Augen lag Angst.

„Ich bin Kelly Robolo, Victorias beste Freundin“, sagte Kelly rasch. „Ich fürchte, sie ist im Moment nicht in der Verfassung, mit Ihnen zu sprechen. Können Sie mir nicht sagen, was Sie herausgefunden haben?“

Der Detective zögerte, wenn auch nur kurz. „Nun gut. Um 1.52 Uhr heute Morgen ist eine Bombe im Encantado explodiert, einem Motel neben der Bundesstraße 95.“ Er hielt inne. „Mr. Bowmans Name stand im Gästebuch, und daneben die Zeit seiner Ankunft – 11.45 Uhr am Montagmorgen.“

Als Kelly die Bedeutung der Nachricht erkannte, griff sie sich an den Hals. „Ist Jonathan verletzt?“

„Alle Verletzten sind registriert – aber der Mann Ihrer Freundin war nicht dabei.“ Der Detective räusperte sich. „Die Bombe lag in Zimmer 116 – Mr. Bowmans Zimmer …“

„Oh mein Gott!“ Kelly verfluchte sich insgeheim, weil sie so unbeherrscht reagiert hatte. Auf der anderen Seite des Tisches sah Victoria aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

„Die Explosion hat das halbe Gebäude zerstört“, fuhr Detective Quinn fort. „Die Trümmer sind in einem Umkreis von sechzig Metern verteilt. Es ist ein Wunder, dass nicht noch mehr Menschen getötet worden sind.“

„Wollen Sie damit sagen … dass Jonathan getötet wurde?“

Bei diesen Worten stöhnte Victoria auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Rasch ging Kelly auf die andere Seite des Tisches und griff nach der Hand ihrer Freundin.

„Wir haben noch keine Gewissheit“, beantwortete der Detective ihre Frage.

„Haben Sie einen Leichnam gefunden?“

„Nur die stark verbrannten Teile eines Leichnams, zusammen mit Trümmern aus den Nachbarräumen. Es kann noch Tage bis zur vollkommenen Identifizierung dauern.“

„Sie haben gesagt, dass Jonathans Name im Gästebuch stand. Hat er ein Anmeldeformular ausgefüllt? Mit seiner Heimatadresse, Telefonnummer und allem?“

„Das Encantado ist als Drogenumschlagplatz bekannt, Miss Robolo. Dealer machen hier ihre Geschäfte. Die Direktion verlangt von ihren Kunden nur den Namen – irgendeinen Namen – im Buch. Das Zimmer muss im Voraus und in bar gezahlt werden.“

„Sie müssen doch wissen, bei wem er eingecheckt hat.“

„Sicher. Aber der Portier liegt leider im Krankenhaus – mit Verbrennungen dritten Grades. Die Chance, dass er durchkommt, ist fifty-fifty. Ich kann erst mit ihm reden, wenn sein Zustand nicht mehr kritisch ist.“ Er räusperte sich. „Ist Mr. Bowman oft in Miami?“

„Nie. Warum?“

„Weil der größte Teil der Deals im Encantado von Besuchern aus anderen Bundesstaaten abgewickelt wird. Die kommen nach Miami und kaufen ihre Drogen bei einem Kartell, das wir seit Monaten auffliegen lassen wollten.“

Kelly lachte kurz auf. „Und Sie glauben, deshalb war Jonathan dort? Um mit Drogen zu handeln?“

„Ich muss jede Möglichkeit in Betracht ziehen, Miss Robolo, vor allem, da wohl jemand an seinem Tod interessiert war.“

„Aber das ist verrückt“, schrie Kelly, die einen Moment lang vergessen hatte, dass Phoebe im ersten Stock schlief. „Jonathan hat Familie, er ist ein hingebungsvoller Ehemann und Vater. Er würde sich niemals mit Drogen abgeben, ganz zu schweigen von Drogenhandel.“

„Hoffentlich haben Sie Recht, Miss Robolo. Um seinetwillen. Und der Familie.“

Es versetzte Kelly einen milden Schock, dass er ihr nicht glaubte. In seinen Augen war Jonathan bereits entweder schuldig oder tot – oder beides. „Gibt es jemanden, der Jonathan identifizieren kann?“ fragte sie. Sie weigerte sich, Quinns Version dieser verrückten Geschichte zu akzeptieren. „Ein Zimmermädchen? Oder ein Hausmeister?“

„In dem Motel arbeiten drei Zimmermädchen, ein Hausmeister und ein Kellner im Coffeeshop. Alle sind sehr darauf bedacht, sich ausschließlich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Das heißt, sie achten nicht darauf, wer kommt oder geht. Jedenfalls behaupten sie das. In den vergangenen sechs Wochen gab es bereits drei Morde im Encantado. Alle waren Opfer von Schüssen aus vorbeifahrenden Autos. Und wir haben keinen einzigen Augenzeugen.“

„Vielleicht kann ich mit ihnen reden …“

Detective Quinn lachte. „Hören Sie, Miss Robolo. Ich weiß nicht, wie Sie in Philadelphia arbeiten, aber hier unten halten wir die Augenzeugen in einem Mordprozess von der Presse fern.“

Auf die Gefahr hin, ihn weiter zu verärgern, versuchte Kelly es noch einmal. „Ich habe Erfahrung darin, mit widerwilligen Zeugen zu reden, Detective.“

„Ganz wie die Lokalreporter hier, die mir gerade die Bude einrennen. Glauben Sie mir, das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein Reporter von außerhalb, der meine Ermittlungen noch komplizierter macht.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht als Reporterin komme.“

„Ja, ich weiß, Sie sind eine enge Freundin der Familie. Aber meine Zeugen sind noch nicht vernehmungsfähig, egal, als was Sie hierher kommen. Sagen Sie Mrs. Bowman, sobald ich etwas in Erfahrung bringe, wird sie die Erste sein, der ich es mitteile. Wenn Sie weitere Informationen benötigen, fragen Sie die Polizei in Philadelphia, die ich auf dem Laufenden halte. Guten Tag, Miss Robolo.“

Kelly blieb keine Zeit zu antworten. Er hatte aufgelegt.

„Was hat er gesagt?“ wollte Victoria wissen, als Kelly ärgerlich auf die Taste drückte, mit der sie das Handy ausschaltete. „Geht es Jonathan gut? Ist er verletzt?“ Ihre Fingernägel gruben sich in Kellys Arm, als sie sich schließlich zu der gefürchteten Frage überwinden konnte: „Ist er tot?“

„Sie wissen es nicht.“ Kelly wiederholte jedes Wort, das sie mit Detective Quinn gewechselt hatte. Ihre Augen waren inzwischen rot vor Müdigkeit.

„Wie kann er nur denken, dass Jonathan Geschäfte mit Drogendealern macht?“ fragte Victoria wütend. „Er hasst Rauschgift.“

„Das Encantado ist ein Motel, wo sich Drogenhändler treffen, um ihre Geschäfte zu machen“, erklärte Kelly. „Jeder, der dort absteigt, gerät in Verdacht. Ich bin sicher, dass Quinn jeden Gast ausgiebig und intensiv verhört hat.“

Allmählich wich der Ärger in Victorias Stimme wieder der Sorge. „Was hat Jonathan denn an so einem Ort verloren, Kelly? Wenn er reist, steigt er immer in First-Class-Hotels ab.“ Als Kelly nicht antwortete, runzelte sie die Stirn. „Was ist? Warum schaust du mich so an? Du glaubst doch nicht etwa den Unsinn, den Detective Quinn dir erzählt hat, oder? Du denkst doch nicht etwa, dass Jonathan nach Miami gefahren ist, um Drogen zu kaufen.“

„Nein“, antwortete Kelly und achtete sorgfältig auf ihre Worte. „Ich glaube es nicht, aber wir müssen die Sache fairerweise auch aus Quinns Perspektive sehen. Im Moment scheint alles auf die Möglichkeit hinzudeuten, dass Jonathan im Encantado abgestiegen ist. Falls er das getan hat, müssen wir herausfinden, warum, und wenn er in eine Falle gelockt worden ist, müssen wir wissen, von wem.“

Victoria schloss die Augen. Sie sah erschöpft aus. „Es tut mir Leid. Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen.“

Kelly lächelte. „Jetzt sind wir quitt. Schließlich habe ich dich auch oft genug angeschnauzt.“

Anstatt zurückzulächeln, sah Victoria sie forschend an. „Kelly, ich möchte, dass du Jonathan findest.“

Kelly sank in ihren Stuhl zurück. „Victoria, das kann ich nicht.“

„Warum nicht?“

„Ich bin die Falsche für diesen Job. Ich stecke zu sehr drin.“

„Gerade deshalb musst du es machen“, entgegnete Victoria ernst. „Du kennst Jonathan, und du hast früher schon verschwundene Personen gesucht. Erinnerst du dich nicht mehr an diese Bonner-Entführung?“

Und ob sie sich daran erinnerte. Drei Monate hatte sie gebraucht, um auf die Spur der Achtzehnjährigen aus bester Familie in Philadelphia zu kommen. Das FBI, das noch unwirscher als Quinn auf Reporter reagierte, hatte ihr heftig zugesetzt. Während einer besonders unerfreulichen Konfrontation war sie sogar festgenommen worden, weil sie angeblich die Ermittlungen behinderte. Lou hatte sie innerhalb einer Stunde auf Kaution freibekommen, aber seitdem hatte sie sich angewöhnt, den Beamten vom FBI aus dem Weg zu gehen.

„Bitte, Kelly“, flehte Victoria, wieder den Tränen nahe. „Hilf mir.“

Jetzt füllten sich auch Kellys Augen mit Tränen. Sie und Victoria waren Freundinnen seit ihrem ersten Jahr an der Universität von Pennsylvania. All die Jahre waren sie füreinander da gewesen und hatten immer alles stehen und liegen gelassen, wenn die andere Hilfe benötigte. Wie konnte Kelly ihre Freundin in der schlimmsten Stunde ihres Lebens im Stich lassen?

„Kelly?“

Kelly fühlte einen Kloß im Hals und nickte. „Ja, natürlich. Ich tue, was ich kann.“

„Danke.“ Aus Victorias traurigem Lächeln sprach ihre Unsicherheit. Dann stand sie auf und ging zum Telefon. „Ich muss meine Tante und meinen Onkel anrufen und ihnen sagen, was passiert ist, bevor sie es von der Polizei oder aus der Zeitung erfahren.“

4. KAPITEL

Zwanzig Minuten später waren Ward und Cecily Sanders zur Stelle. Selbst in ihrer Freizeitkleidung wirkten sie so elegant, als seien sie gerade von einer ihrer gesellschaftlichen Verpflichtungen gekommen, denen sie sich das ganze Jahr über widmeten.

Ein Reporter hatte sie einmal „Philadelphias illustres Ehepaar“ genannt, eine Bezeichnung, der sie vollkommen gerecht wurden. Die feingliedrige und blondhaarige Cecily war mit ihrem eleganten Aussehen die perfekte Ergänzung zu Wards stattlicher Figur und aristokratischer Erscheinung. Beide waren auf ihren jeweiligen Gebieten ausgesprochen erfolgreich. Als Hauptgeschäftsführerin und Präsidentin einer der größten Wohlfahrtsorganisationen des Landes hatte Cecily beträchtlichen Einfluss nicht nur in der Gesellschaft von Philadelphia, die ihr ohne Zweifel sehr verpflichtet war, sondern auch in den höchsten Kreisen Washingtons.

Obwohl zurückhaltender als seine extravagante Frau, war Ward dennoch ein erfolgreicher Geschäftsmann, der das kleine Bankunternehmen, das sein Großvater in den frühen 20er Jahren gegründet hatte, nicht nur am Leben erhalten, sondern sehr erfolgreich gemacht hatte. In einer Welt der Fusionen und feindlichen Übernahmen war das keine leichte Aufgabe. Er war nicht nur das einzige der Sanders-Kinder, das ein Interesse am Bankwesen hatte, sondern auch dasjenige, das von seinem Furcht einflößenden und leicht erregbaren Vater, Monroe Sanders, am wenigsten geachtet wurde.

Victoria betete ihre Tante und ihren Onkel an, und das aus gutem Grund. Als ihre Eltern bei einem Bootsunglück in der Chesapeake Bay vor 28 Jahren ums Leben kamen, hatte das Paar seine verzweifelte Nichte mit offenen Armen aufgenommen und sie behandelt, als wäre sie das eigene Kind.

Die Vaterrolle war Ward leicht gefallen. Er kam selbst aus einer großen Familie und hatte sich immer ein Kind gewünscht. Cecily dagegen war von Zweifeln und Ängsten geplagt bei der Aussicht, die achtjährige Tochter ihrer Schwester erziehen zu müssen. Sie hatte sich dazu entschieden, keine Kinder zu haben, und nun befürchtete sie, dass sie die anspruchsvolle Aufgabe als Vizepräsidentin der Norton-Stiftung nicht mit der Rolle einer hingebungsvollen Mutter vereinbaren konnte.

Aber sie hatte alle überrascht, sich selbst eingeschlossen. Innerhalb weniger Wochen beherrschte sie diese Aufgabe so perfekt und mühelos, dass Ward sie liebevoll und neckend June Cleaver nannte, wie die erfolgreiche Mutter einer der beliebtesten Fernsehserien aus den frühen 50er Jahren hieß.

Beeindruckt von Victorias ausgeprägten Kenntnissen auf dem Gebiet der Kunst, hatte Cecily ihr vor sechs Jahren das Antiquitätengeschäft am Rittenhouse Square gekauft, ihrer Nichte die Verantwortung für den Laden übertragen und diese Entscheidung noch keine Minute lang bereut.

Nur einmal waren die beiden Frauen aneinander geraten: als Victoria verkündete, sie habe sich in Jonathan Bowman verliebt und beabsichtige, ihn zu heiraten. Damals war er Generaldirektor des Hotel-Casinos Chenonceau in Atlantic City gewesen.

Ganz pragmatisch hatte Ward sofort begonnen, Nachforschungen über Jonathans Werdegang anzustellen. Als sich herausstellte, dass der aus Wilmington im Bundesstaat Delaware Gebürtige ein anständiger, hart arbeitender junger Mann war, der Victoria über alles in der Welt liebte, hatte Ward der Verbindung seinen Segen gegeben.

Nicht so Cecily. Obwohl sie selbst aus kleinen Verhältnissen stammte, hatte sie hochfliegende Pläne für ihre wunderschöne Nichte, und dazu gehörte keineswegs, dass sie einen Mann heiratete, dessen Chef man Verbindungen zur Mafia nachsagte.

Es hatte Ward Wochen gekostet, um seine Frau davon zu überzeugen, dass man die Anklage gegen Syd Webber nicht nur aus Mangel an Beweisen hatte fallen lassen müssen, sondern dass Jonathans Arbeit als Chef einer Spielbank keinerlei Rückschlüsse auf seine mangelnde Integrität zuließ oder etwa seine Unfähigkeit, Victoria glücklich zu machen.

Kelly beobachtete Cecily, als Victoria ihr von Jonathans Verschwinden erzählte, und sie musste zugeben, dass ihr Ziel trotz zeitweiliger Starrsinnigkeit stets und ausschließlich darauf ausgerichtet gewesen war, ihre Nichte glücklich zu machen.

Als Victoria ihren Bericht beendet hatte, wandte Ward sich an Kelly. Sein Gesicht mit den fein geschnittenen Zügen war angespannt vor Betroffenheit und Verwirrung. „Kelly, ist das wahr? Sie glauben nicht, dass Jonathan tot ist?“

Kelly schüttelte den Kopf. „Sagen wir mal so: Ich finde es schwer, das zu glauben. Die ganze Angelegenheit ist einfach zu merkwürdig.“

„Aber was ist mit dem verbrannten Körper in Zimmer 116?“ fragte Cecily.

Kelly zuckte mit den Achseln. „Das könnte jeder sein – vielleicht ist es sogar ein Komplott.“

„Sie glauben also an ein falsches Spiel?“ wollte Ward wissen.

„Offen gestanden, Ward, ich weiß im Moment noch nicht, was ich glauben soll. Laut Detective Quinn benutzen die meisten Menschen, die im Encantado absteigen, nicht ihren richtigen Namen. Der Umstand, dass Jonathan das getan hat, ist für mich nicht nur ein Beweis dafür, dass er nicht dort war, um Drogen zu kaufen, sondern auch, dass er in eine Falle gelockt wurde.“

„Wozu?“

„Ich weiß es nicht. Noch nicht.“

Cecily seufzte ungeduldig. „Es könnte lange dauern, bis man herausgefunden hat, ob Jonathan in Drogenhandel verwickelt war. Die Nachricht könnte auch bis zu den Zeitungen durchsickern, und deshalb habe ich mich entschlossen, selbst mit Detective Quinn zu reden, und zwar sofort. Haben Sie seine Telefonnummer, Kelly?“

„Nein, Tante Cecily.“ Victoria klang ebenso entschlossen. Wenn sie etwas gelernt hatte in den vergangenen Jahren, dann war es, dem unbeugsamen Willen ihrer Tante Widerstand entgegenzusetzen. „Ich möchte nicht, dass du irgendetwas tust, das Detective Quinn gegen uns aufbringt. Wir werden ihn noch brauchen.“

„Aber Liebling, wir müssen uns schützen.“

„Das ist das Letzte, worüber ich mir im Moment Sorgen mache. Für mich ist das Wichtigste, Jonathan zu finden.“

„Und was ist mit Phoebe? Sollte nicht sie für dich das Wichtigste sein? Hast du eine Vorstellung davon, was ihr dieser Öffentlichkeitsrummel antun wird?“

„Mach dir keine Sorgen um Phoebe“, sagte Victoria. „Um sie kümmere ich mich schon.“

Cecily wandte sich an ihren Ehemann. „Ward, sag du doch etwas.“

Ward hob hilflos die Schultern. „Was soll ich denn sagen? Mir macht es ebenso wenig Vergnügen wie dir, mich mit der Presse herumzuschlagen. Aber hier geht es nicht um uns. Es geht um Jonathan. Victoria hat Recht. Ihn zu finden sollte für uns das Wichtigste sein.“

Cecily war klug genug, um zu wissen, wann sie überstimmt war. Sie nickte kurz und fragte Victoria: „Gut, Liebling. Was soll ich tun?“

„Halt zu mir“, antwortete Victoria nur. „Und bitte bleibe Jonathan gegenüber unvoreingenommen.“

Die letzte Bemerkung schien Cecily zu überraschen. „War ich das nicht immer?“

Ward lächelte, sagte aber nichts. Stattdessen richtete er seine nächste Frage direkt an Victoria: „Wie willst du Jonathan finden, meine Liebe? Falls du einen Privatdetektiv brauchst …“

„Kein Privatdetektiv“, unterbrach Victoria.

„Wie willst du denn dann deinen Mann aufspüren?“

„Ich habe Kelly darum gebeten.“

„Kelly?“ Wie aus einem Mund kam der Name, und zwei Augenpaare richteten sich auf sie. „Ich dachte, Detective Quinn hätte Ihnen klar zu verstehen gegeben, dass Sie sich von ihm fern halten sollen“, sagte Cecily mit Betonung.

Kelly lächelte. „Das bedeutet ja nicht, dass ich gehorsam sein muss.“

Jetzt klang Ward skeptisch. „Ich möchte nicht undankbar erscheinen“, sagte er, während er seine Worte sehr diplomatisch wählte. „Sie sind eine hervorragende Journalistin, und es ist wirklich großherzig von Ihnen, Ihre Zeit und Erfahrung anzubieten, aber Sie müssen sich noch immer von einer schweren Verletzung erholen. Sind Sie sicher, dass Sie das schaffen können?“

„Ich hätte mich nicht dazu bereit erklärt, wenn ich der Meinung wäre, der Sache nicht gewachsen zu sein.“

„Dennoch könnte ich es mir nie verzeihen, wenn Ihnen etwas passierte.“

„Ich auch nicht“, echote Cecily.

Kelly schaute von einem zum anderen. Wieso hatte sie das Gefühl, dass die beiden sie nicht in die Angelegenheit verwickelt sehen wollten? Und bestimmt nicht aus dem Grund, den sie genannt hatten. „Mir wird schon nichts passieren“, versicherte sie.

„Nun gut. Aber seien Sie vorsichtig, ja? Und lassen Sie es mich sofort wissen, wenn Cecily und ich Ihnen helfen können.“ Ward erhob sich und sah seine Nichte an. „Warum packst du nicht ein paar Sachen ein und kommst mit uns, Victoria? Du solltest nicht hier alleine bleiben.“

„Das ist lieb von dir, Onkel Ward, aber ich bleibe lieber zu Hause, falls Jonathan sich meldet. Außerdem möchte ich Phoebe nicht beunruhigen.“

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