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Big Sky River - Am reißenden Fluss

hier erhältlich:

Die Erinnerung an seine verstorbene Frau ist wie der Fluss, der an Boone Taylors Grundstück vorbeifließt. Immer da, nicht aufzuhalten... Erst als Boone sich zum Sheriff wählen lässt, scheint ein erster Schritt in Richtung Zukunft getan, ein zweiter, als er seine kleinen Söhne wiedersehen will. Und dann ist da seine Nachbarin Tara Kendall. Eigentlich eine Frau, die für Boone alles verkörpert, was ihn provoziert. Angefangen von ihrem Model-Look bis hin zu ihrem wahnwitzigen Plan einer Hühnerfarm! Doch sobald sie sich näherkommen, spürt er wieder Hoffnung: Das Leben könnte für ihn weitergehen - wäre da nicht seine Angst, erneut einen geliebten Menschen zu verlieren.


  • Erscheinungstag: 10.04.2014
  • Aus der Serie: Big Sky
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956493157
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Lael Miller

Big Sky River – Am reißenden Fluss

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ralph Sander

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Big Sky River

Copyright © 2012 by Linda Lael Miller

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-315-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Sheriff Boone Taylor genoss einen seiner seltenen freien Tage. Er holte mit der ramponierten Angelrute aus und ließ den Haken mitten im rauschenden Wasser des Big Sky River landen, auf dessen Oberfläche sich die Sonne glitzernd spiegelte. Der Strom verlief quer durch Parable County, Montana, machte jedoch einen Bogen um das Städtchen Parable und durchquerte anschließend die Nachbargemeinde Three Trees, von wo aus er dann geradewegs in Richtung Pazifik weiterfloss.

Boone liebte dieses wilde, weite Land nicht nur, er war Montana, vom endlosen Himmel über ihm bis hin zum felsigen Boden unter den abgewetzten Sohlen seiner Stiefel. In seinen Augen stellte diese Landschaft so etwas wie ein Abbild seiner Seele dar.

Ein leichtes Ziehen an der Angel, gefolgt von einem heftigen Ruck, verriet einen Fisch von beachtlicher Größe am Haken … der sich gleich wieder befreit hatte. Boone lächelte flüchtig, schließlich hätte er seinen Fang ohnehin umgehend zurück in die Freiheit entlassen, da noch genügend Forellen im kleinen Gefrierfach seines Kühlschranks lagen. Als er die Schnur einholte, musste er feststellen, dass der Fisch den Haken abgerissen hatte, und befestigte einen neuen. Angeln war für Boone eine Art Meditation, ein seltener Luxus in seinem hektischen Leben, ein Moment des Friedens und der Ruhe, der ihm half, die Narben auf seiner Seele für eine Weile zu vergessen.

Wieder warf er die Leine aus und schob seine Baseballkappe zum Schutz vor der Vormittagssonne zurecht. Die Sonnenbrille hatte er zu Hause vergessen – sofern man den mehr oder weniger schrottreifen Trailer überhaupt als ein Zuhause bezeichnen wollte –, und er hatte einfach keine Lust, noch einmal umzukehren, nur um die Brille zu holen. Stattdessen stand er da, blinzelte in die Sonne und nahm es einfach hin, nur wenig von der Umgebung zu erkennen.

Für Boone war das nichts Neues, denn eigentlich nahm er sein ganzes Leben einfach nur hin.

Plötzlich klingelte das Handy in der Brusttasche seines Hemds, das er offen über einem alten T-Shirt trug, und er fluchte leise. Er hätte das Klingeln gern ignoriert, um noch eine Weile Ruhe zu haben, aber als Sheriff konnte er sich das nicht leisten. Ob es ihm gefiel oder nicht, er war praktisch sieben Tage die Woche rund um die Uhr im Dienst.

Er zog das Handy aus der Tasche, sah aufs Display und kniff die Augenbrauen zusammen, während er den Anruf entgegennahm. Es war seine Schwester Molly. Sie und ihr Mann Bob kümmerten sich seit dem Tod von Boones Frau Corrie vor ein paar Jahren um seine beiden Söhne Griffin und Fletcher. Wenn sie sich meldete, hatte sie für gewöhnlich nur Gutes über seine Jungs zu berichten. Dennoch bestand immer die Gefahr schlechter Neuigkeiten, etwa dass einem der beiden etwas zugestoßen war. Nach allem, was Boone durchgemacht hatte, betrachtete er es als sein gutes Recht, leicht paranoid zu sein, was er zweifellos immer dann war, wenn es um seine Kinder ging.

„Molly“, rief er in den Hörer. „Was gibt’s?“

„Hallo, Boone“, erwiderte sie und klang, als hätte sie gerade geweint oder als stünde sie zumindest dicht davor. Und erschöpft hörte sie sich auch noch an. Sie schniefte leise und sagte nach endlos erscheinenden Sekunden: „Deinen Jungs geht’s gut.“ Es folgte eine winzige Pause, ehe sie fortfuhr: „Es geht um Bob. Er hat sich heute Morgen die Kniescheibe gebrochen, ausgerechnet auf dem Golfplatz! Die Ärzte in der Notaufnahme meinen, er muss sofort operiert werden. Es kann sogar sein, dass sie ihm ein künstliches Kniegelenk einsetzen.“

„Weinst du?“, fragte er, was wie eine Warnung klang, es besser nicht zu tun. Immerhin versuchte er, alles zu verarbeiten, was sie ihm soeben erzählt hatte. Außerdem gab es für ihn kaum etwas Schlimmeres als eine weinende Frau  – vor allem eine Frau, die ihm wichtig war –, wenn er ihr nicht irgendwie helfen konnte.

„Ja“, gab Molly zu. „Ich weine. Nach der Operation kommt er in die Reha. Bis er sich wieder normal bewegen kann, wird es Wochen dauern, Boone, Wochen!“

Er holte die Schnur nicht erst ein, sondern ließ die Angel auf das felsige Flussufer fallen. Wie ein unbeteiligter Zuschauer beobachtete er, wie die Rute wieder hin und her zu zucken begann, was ein sicheres Anzeichen für einen weiteren Fang war. „Molly, das … das tut mir leid“, sagte er leise.

Bob war Mollys große Liebe und der Vater ihrer drei Kinder – und der Ersatzvater für Griff und Fletch. Ihm und dem Rest der Familie standen harte Zeiten bevor, und es gab rein gar nichts, was Boone hätte tun können, um ihnen irgendwie diese Last abzunehmen.

„Sag was, Molly“, forderte er sie schroff auf, als sie nicht sofort antwortete. Dabei sah er sie deutlich vor sich, wie sie versuchte, tapfer zu lächeln.

Mit einem Mal wurde die Angelrute in Richtung Wasser gezogen, und nur dank eines beherzten Tritts darauf konnte er verhindern, dass sie ganz im Fluss verschwand. Während Molly noch immer um Fassung rang und er das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt hielt, hantierte er mit dem Taschenmesser, um die Schnur zu durchtrennen. Von seinen Kindern abgesehen, war Molly die einzige Blutsverwandte, die er noch hatte, und er verdankte ihr sehr viel.

„Es ist …“, begann sie, hielt inne und atmete schließlich zitternd durch. „Es ist halt so, dass die Kinder alle einen Ferienjob angenommen haben, und ich werde mit Bob alle Hände voll zu tun haben …“

Mit einiger Verspätung dämmerte es Boone. Er konnte von Molly nicht erwarten, dass sie sich um ihren Ehemann und auch noch um Griffin und Fletcher kümmerte. So sanft und indirekt wie möglich versuchte sie ihrem begriffsstutzigen Bruder klarzumachen, dass er sich wieder selbst seinen Kindern widmen musste. Die Aussicht erfüllte ihn mit einer Mischung aus Überschwang und blankem Entsetzen.

Boone riss sich zusammen und rief sich in Erinnerung, dass die Lage viel schlimmer hätte sein können. Bobs Verletzung war übel, da gab es nichts zu beschönigen, allerdings war er nicht todkrank, ganz anders als Corrie. Vor seinem geistigen Auge spielten sich Szenen wie aus einem besonders tragischen Film ab, in dem seine im Sterben liegende Frau die Hauptrolle spielte, ausgezehrt und zerbrechlich nach einem langen, aussichtslosen Kampf gegen den Brustkrebs.

„Okay“, brachte er irgendwie heraus. „Ich komme zu dir, sobald ich kann. Bist du zu Hause oder im Krankenhaus?“

„Im Krankenhaus“, erwiderte sie fast flüsternd. „Aber ich werde vermutlich zu Hause zurück sein, bevor du hier sein kannst.“

Er nickte, bis ihm bewusst wurde, dass sie ihn gar nicht sehen konnte. „Halt die Ohren steif, Schwesterherz“, meinte er. „Ich bin schon so gut wie unterwegs.“

„Griffin und Fletcher wissen noch nichts“, fügte sie hastig hinzu. „Weder dass Bob in der Klinik ist, noch dass du sie abholen kommst, um sie nach Parable mitzunehmen. Sie sind bei meiner Nachbarin Mrs Millis. Ich will dabei sein, wenn sie es erfahren, Boone.“

Mit anderen Worten: Wenn du vor mir bei den Jungs eintriffst, sag keinen Ton davon, warum du da bist und was los ist. So wie ich dich kenne, wirst du wahrscheinlich nur wieder Mist bauen.

„Gute Idee“, stimmte Boone ihr zu und lächelte flüchtig. Es war schon gut, dass Molly ihm gegenüber immer noch die große Schwester raushängen ließ, die ihm zeigte, wo es langging.

Wieder hörte er sie schniefen, jetzt jedoch schon ruhiger, so als hätten die Ereignisse sie überrollt und als würde sie sich langsam wieder fassen. „Ich weiß, das kommt sehr plötzlich …“

„Ich werde schon damit zurechtkommen“, versicherte er ihr, hob die Angelrute auf, rollte die noch verbliebene Schnur auf und stapfte zu seinem alten rostigen Truck, den er in Ufernähe am Rand des Feldwegs geparkt hatte. Ihm war klar, dass er sich längst einen anderen Wagen hätte anschaffen sollen, aber die meiste Zeit war er sowieso im Streifenwagen unterwegs. Außerdem ging es ihm gegen den Strich, einen Kredit aufzunehmen.

„Bis später“, sagte Molly. Ohne sie sehen zu müssen, wusste Boone auch so, dass sie jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen würde.

Obwohl er körperlich in guter Verfassung war, musste er nach Luft schnappen, nachdem er den steilen Weg hinauf zum Feldweg und zu seinem Truck zurückgelegt hatte. Die Hand, in der er sein Telefon hielt, war nass geschwitzt. Er warf die Angel auf die Ladefläche, wo sie scheppernd über das rostige Blech rutschte.

„Ja, bis später“, erwiderte er und legte auf.

Wie sollte er den ganzen Sommer und womöglich noch länger mit zwei kleinen Jungs verbringen, für die er bestenfalls ein Bekannter war, aber nicht ihr Dad? Nach Corries Tod hatte er seine Rolle als Vater praktisch abgegeben und die Kinder zu Molly, Bob und ihren Kindern nach Missoula gebracht. Anfangs war das nur als vorübergehende Lösung gedacht gewesen, doch sehr schnell war aus der räumlichen auch eine gefühlsmäßige Distanz zu seinen Söhnen geworden. Während seine engsten Freunde seit Corries Beerdigung immer wieder auf ihn einredeten, er solle ein ganzer Mann sein und Griffin und Fletcher nach Hause holen, hatte er sich stets gesagt, er benötige noch etwas Zeit für sich, auch wenn seine Sehnsucht nach den Jungs ihn insgeheim ständig quälte. Erst sollten sie bei Molly und Bob bleiben, bis die Sheriffwahl vorüber war. Dann hatte er sich nach der gewonnenen Wahl erst einmal in Ruhe in seine neuen Aufgaben einarbeiten wollen, weil der Job des Sheriffs viele Dinge umfasste, die einen Deputy nicht kümmerten. Und schließlich sollten sie bei seiner Schwester bleiben, bis er den großen Trailer durch ein richtiges Haus ersetzt hatte.

Erst dieses, dann jenes, dann noch was, Hauptsache, da war immer noch etwas anderes zu erledigen.

Jetzt war damit Schluss. Molly brauchte all ihre Kraft – körperlich, geistig und emotional  –, damit Bob und ihre eigenen Kinder die vor ihnen liegenden Wochen gut überstanden.

Einen Moment lang saß Boone bei laufendem Motor in seinem Truck, das Telefon immer noch in seiner Hand, während er im Geiste über den langen Highway zwischen Parable und Missoula fuhr. Schließlich tippte er auf seinem Handy die Kurzwahl für seinen besten Freund Hutch Carmody ein.

„Yo, Sheriff Taylor“, begrüßte der ihn fröhlich. „Aus welcher Klemme darf ich dich befreien?“

Hutch war mit seiner großen Liebe Kendra verheiratet, die ihre fünf Jahre alte Stieftochter mit in die Ehe gebracht hatte, und nun von ihm ein Kind erwartete. Seit er mit Kendra zusammen war, schien schlechte Laune für Hutch ein Fremdwort zu sein.

Vermutlich liegt es am regelmäßigen Sex, dachte Boone, der zwar zu sehr in Gedanken war, um seinen Freund zu beneiden, dem aber unterbewusst sehr wohl klar war, dass er seit Corries Tod weitestgehend wie ein Mönch lebte. „Ich muss mir von dir einen Wagen ausleihen“, sagte er ohne Umschweife. „Ich muss nach Missoula, aber ich traue meiner Rostlaube nicht zu, dass ich mit ihr ans Ziel und zurück nach Hause komme.“

Sofort wurde Hutch ernst. „Kein Problem. Was ist denn passiert? Ist mit den Jungs alles in Ordnung?“

Boones Söhne waren nur ein paar Mal in Parable gewesen, seit sie bei Molly und Bob lebten, doch Hutch war für die zwei so etwas wie ein großer Held, und vermutlich wünschten sie sich, er wäre ihr Dad.

„Den Jungs geht es gut. Aber Bob hat sich beim Golfen das Knie verletzt und muss operiert werden. Molly wird die nächste Zeit über mit ihm und ihren eigenen Kindern genug zu tun haben, darum muss ich hin und die Jungs zu mir holen.“

„Oh Mann, Bob kann einem leidtun. Soll ich dich begleiten, damit du einen Beifahrer hast, der dich moralisch unterstützt?“

„Danke, Hutch, ich weiß dein Angebot zu schätzen. Aber ich glaube, ich brauche etwas Zeit allein mit den beiden, damit ich ihnen auf der Rückfahrt erklären kann, was geschehen ist.“

Griffin war sieben, Fletcher erst fünf. Und Boone würde bis zum Jüngsten Tag erklären können, was er wollte, sie würden trotzdem nicht verstehen, warum er sie aus der einzigen Familie herausriss, mit der sie wirklich vertraut waren. Griffin konnte sich noch vage an seine Mutter erinnern, und er musste auch noch wissen, dass sie vier einmal eine Familie gewesen waren. Fletcher dagegen hatte gar keine Erinnerung an Corrie, und er betrachtete Boone auch nicht als seinen Vater. Bob war derjenige, der ihn und seinen Bruder großzog. Er ging mit ihnen zum T-Ball-Training, einer Vorstufe zum Baseball, er begleitete sie zum Zahnarzt und zur Sonntagsschule.

„Kein Problem“, erwiderte Hutch verständnisvoll. „Der Truck ist vollgetankt und einsatzbereit. Soll ich ihn dir bringen? Einer meiner Leute kann hinterherfahren und mich …“

„Nein, nein, ich komme zu dir und hol den Wagen ab“, unterbrach Boone ihn, da er seinem Freund nicht noch mehr Umstände als unbedingt nötig bereiten wollte. „In einer Viertelstunde müsste ich bei dir sein.“

„Okay“, seufzte Hutch und beendete das Gespräch.

Die ganze Zeit über blieb Boone haarscharf unter dem Tempolimit, bis er Whisper Creek erreichte, die Ranch der Carmodys. Hutch wartete bereits neben dem neuen Truck mit der extralangen Fahrerkabine, den er sich im letzten Jahr angeschafft hatte, als er und Kendra sich zum zweiten Mal ineinander verliebt hatten. Aber vielleicht war ihnen auch nur klar geworden, dass sie nie aufgehört hatten, sich in all den Jahren zu lieben.

Hutch stand da, ausnahmsweise einmal ohne Cowboyhut, und hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt, wie er es immer tat, wenn er über irgendetwas grübelte. Die Hände hatte er in den Gesäßtaschen seiner abgewetzten Jeans vergraben. Neben ihm stand Kendra, eine atemberaubend schöne Blondine, die im nächsten Monat ihr Kind bekommen sollte.

„Hast du wenigstens was gegessen?“, rief sie Boone zu, kaum dass er seinen Wagen geparkt hatte. Dichte Staubschwaden wirbelten um den alten Truck, aber sie war jetzt die Frau eines Ranchers, und da nahm man solche Belanglosigkeiten gar nicht erst zur Kenntnis.

Boone stieg aus und ging zu den beiden. Er gab Kendra einen Kuss auf die Wange, doch sein Lächeln fiel reichlich kläglich aus.

„Warum müssen Frauen immer zuerst ans Essen denken?“, fragte er an sie beide gerichtet. „Da kann ein Mann platt gewalzt auf den Gleisen liegen – sobald eine Frau auf ihn aufmerksam wird, will sie ihn als Erstes mit irgendetwas füttern.“

Auch wenn Hutch über den Kommentar leise lachte, verriet sein Blick doch seine Sorge. „Bis nach Missoula ist es ganz schön weit“, erwiderte er. „Du könntest unterwegs Hunger bekommen.“

„Ich schmiere dir ein paar Sandwiches“, verkündete Kendra, drehte sich um und bewegte sich fast watschelnd zurück zum Haus, das im Vergleich zu Boones großem Trailer wie ein Palast wirkte. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, er könnte seinen Söhnen ein solches Zuhause präsentieren.

„Das ist nicht …“, begann Boone, aber sein Protest kam zu spät, da sie bereits die Fliegengittertür öffnete und die Küche betrat.

„Lass sie dir was zu essen machen“, meinte Hutch ruhig und gelassen. Seit seiner Hochzeit war er die Ruhe selbst. „Sie wird sich beeilen, und sie will dir nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten helfen. Wir alle wollen das.“

Boone nickte, räusperte sich und schaute zur Seite. Hutchs Hund, ein schwarzer Mischling namens Leviticus, trottete auf ihn zu und stieß ihn mit der Schnauze an, um ihn zu begrüßen. Kendras Golden Retriever Daisy gesellte sich ebenfalls zu ihnen und beobachtete schwanzwedelnd das Geschehen.

Er streichelte kurz beide Hunde, dann richtete er sich auf und sah Hutch in die Augen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, doch sie waren lange genug befreundet, um sich auch ohne Worte zu verstehen.

Dass Boone besorgt war, die Jungs für mehr als nur ein Wochenende zu sich nach Hause zu holen, war Hutch bestens bekannt. Er fühlte mit ihm, aber gleichzeitig freute es ihn auch, dass die drei mehr Zeit miteinander verbringen würden. Es war nur einfach überflüssig, das Offensichtliche auch noch auszusprechen.

Kendra kehrte nur ein paar Minuten später zurück und lief angesichts ihres enormen Bauchumfangs überraschend schnell über den Hof zu Hutch und Boone. In einer Hand trug sie eine prall gefüllte braune Papiertüte, die sie Boone mit den Worten reichte: „Truthahn auf Vollkorntoast. Mit Gurken. Und ich habe dir auch noch ein paar hart gekochte Eier und einen Apfel eingepackt.“

Mit einem gemurmelten „Danke“ stieg er in Hutchs Truck ein. Dann gab er seinem Freund den Schlüssel für die Rostlaube, mit der er hergekommen war. Toller Tausch, dachte er reumütig.

„Grüß Molly und Bob von uns“, rief Kendra ihm nach, während er den Motor anließ und ein Stück zurücksetzte. „Und wenn wir sonst noch was für dich tun können …“

Boone schüttelte den Kopf, winkte den beiden zu und fuhr los. Nach einem kurzen Zwischenstopp am Geldautomaten in Parable fuhr er auf den Highway und gab Gas, damit er so bald wie möglich Missoula erreichte. Dort würde er – zusammen mit Molly – seinen Söhnen alles in Ruhe erklären.

Gott allein wusste, wie die beiden diese Neuigkeit aufnehmen würden. Bei ihren Besuchen in Parable waren sie bislang immer sehr zurückhaltend und ruhig gewesen – wie jemand, den man auf einem fernen fremden Planeten ausgesetzt hatte. Und sie waren jedes Mal sichtlich erleichtert gewesen, wenn es Zeit wurde, in die Stadt zurückzukehren.

Alles zu seiner Zeit, ermahnte sich Boone.

Tara Kendall stand vor ihrem Hühnerstall, umgeben von Dutzenden gackernden Hennen, und zweifelte zum vermutlich tausendsten Mal an ihrer Entscheidung, einen absolut glamourösen und verdammt gut bezahlten Job in New York aufzugeben, nach Parable in Montana zu ziehen und von heute auf morgen etwas ganz anderes zu tun.

Ihr fehlte der Freundeskreis an der Ostküste, und ihre Stieftöchter, die Zwillinge Elle und Erin, fehlten ihr erst recht – so wie tausend Dinge mehr: Straßencafés, skurrile Geschäfte, gelbe Taxis und schattige Bänke im Central Park, aber auch anderes wie beispielsweise diese ganz besondere Energie, die New York pulsieren ließ und sie durchströmte wie ein unsichtbarer Fluss.

Was Kendra andererseits nicht fehlte, war der Stress, mitten in einer massiven Wirtschaftskrise ihre Karriere am Laufen zu halten, während ihr Exmann Dr. James Lennox sich ständig bei ihr darüber beklagte, sie habe ihm bei der Scheidung die Liebe seiner beiden Töchter gestohlen – zusammen mit einem Großteil seiner Investitionen und Immobilien.

Die Scheidungsvereinbarungen hatte Tara bis heute nicht bereut. Immerhin hatte sie James im Lauf ihrer schwierigen Ehe sehr viel von ihrem eigenen Geld überlassen, damit er seine Stelle in einem großen Krankenhaus kündigen konnte, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Und was die Zuneigung der Zwillinge anging … nun, die verdankte sie der Tatsache, dass sie immer für Elle und Erin da gewesen war, ganz im Gegensatz zu deren Vater. Dafür hatte sie James nicht erst vor seinen Töchtern schlechtmachen müssen, das war ganz allein sein Verdienst.

Selbst wenn Tara etwas so Schäbiges in Erwägung gezogen hätte, wäre es nicht nötig gewesen, einen Keil zwischen James und die Zwillinge zu treiben. Die Mädchen waren intelligent genug, dass sie ihren Vater durchschauen konnten, der sich gerne eine Affäre nach der anderen gegönnt hatte. Da er nie Zeit für seine Töchter erübrigt hatte, war deren Empörung nur zu verständlich gewesen, als sie durch einen Zufall herausgefunden hatten, dass er lieber romantische Wochenenden mit ständig wechselnden Freundinnen verbrachte, als etwas mit seinen eigenen Kindern zu unternehmen.

Taras Golden Retriever Lucy schlief auf der schattigen Veranda des Farmhauses. Plötzlich hob die Hündin den Kopf und spitzte die Ohren. Gleich darauf klingelte das schnurlose Haustelefon, das sich auf dem Korbtisch zwischen den beiden farbenfroh gepolsterten Schaukelstühlen befand.

Sofort lief Tara die Stufen hinauf und griff nach dem Telefon. „Hallo?“

„Gehst du eigentlich nie ran, wenn man dich auf dem Handy anruft?“, fragte ihr Exmann gereizt.

„Das wird gerade aufgeladen“, entgegnete sie gelassen. James suchte liebend gern Streit, so gern, dass er vielleicht besser Anwalt geworden wäre als Arzt. Tara ihrerseits machte sich einen Spaß daraus, seine Provokationen an sich abprallen zu lassen. Doch dann erschrak sie. „Mit Elle und Erin ist doch alles in Ordnung, oder?“

James blieb gereizt. „Den beiden geht es bestens. Sie haben soeben das vierte Kindermädchen innerhalb von drei Wochen vergrault, und jetzt weigert sich die Agentur, jemand Neues zu schicken.“

Tara musste sich ein Lachen verkneifen. „Wahrscheinlich fühlen sie sich mit zwölf zu alt für ein Kindermädchen“, erwiderte sie schließlich. James rief nie an, um nur ein wenig zu plaudern. Das hatte er schon während ihrer Ehe nicht gemacht. Genau genommen hatte er sich damals nicht einmal beiläufig mit ihr unterhalten, wenn sie sich im selben Zimmer aufgehalten oder zusammen im Bett gelegen hatten. Nein, Dr. Lennox hegte immer irgendwelche Absichten, wenn er den Mund öffnete, und sie hatte bereits eine vage Vorstellung davon, was er diesmal von ihr wollte.

„Du willst doch sicher nicht vorschlagen, dass ich sie den ganzen Sommer lang Tag für Tag unbeaufsichtigt lasse, während ich in der Praxis bin und operiere“, konterte er. In seinem missmutigen Tonfall schwang noch etwas mit, was ihr wie ein Anflug von Verzweiflung oder sogar … Panik vorkam.

„Nein, natürlich nicht“, meinte sie und ließ sich in einen der Schaukelstühle sinken, während sich Lucy neben ihren Füßen zusammenrollte. „Tagesbetreuung im Sommercamp wäre eine Möglichkeit. Du könntest auch …“

„Tagesbetreuung im Sommercamp würde bedeuten, dass ich sie jeden Morgen hinfahren und jeden Nachmittag abholen muss, aber genau dafür fehlt mir die Zeit, Tara“, sagte er in diesem typisch sarkastischen Tonfall, als müsse er ihr solche Dinge erst noch erklären, da sich ihr Intelligenzquotient im unteren einstelligen Bereich bewegte. „Ich bin ein viel beschäftigter Mann.“

So beschäftigt, dass du nicht mal Zeit für deine eigenen Kinder hast, dachte Tara, allerdings sprach sie es nicht aus. „Was willst du?“, fragte sie ihn stattdessen geradeheraus.

Sein aufgebrachtes Schnaufen verriet ihr, dass ihm diese direkte Frage nicht gefiel. „Das ist ja wieder mal typisch für dich. Ich weiß wirklich nicht, was …“

„James“, unterbrach sie ihn. „Du willst irgendwas von mir, sonst würdest du mich nicht anrufen. Also komm zur Sache und verrat mir, was du willst.“

Ein langes, leidendes Seufzen war seine erste Reaktion. Armer, missverstandener James. Immer so engagiert und immer ein Opfer seiner eigenen Güte.

„Ich habe jemanden kennengelernt.“

Na, das ist ja mal was ganz Neues, schoss es Tara durch den Kopf. James lernte ständig jemanden kennen, und natürlich war dieser Jemand immer irgendeine Frau. Und ganz bestimmt war er davon überzeugt, dass diese jüngste Bekanntschaft die große, die wahre Liebe war, dass es seine Bestimmung gewesen war, dieser Botin der Liebe zu begegnen, deren Schicksal schon in den ersten Sekunden nach dem Urknall festgeschrieben worden war.

„Sie heißt Bethany“, fuhr er fort und klang mit einem Mal ungewöhnlich zurückhaltend. Dabei war er doch der überaus talentierte Chirurg mit der grandiosen Erfolgsquote, für den Bescheidenheit ein Fremdwort war. „Sie ist etwas Besonderes.“

Tara verkniff sich einen Kommentar. Sie waren geschiedene Leute, und es interessierte sie nicht, mit wem er ausging und ob seine neueste Flamme etwas Besonderes war oder nicht. Aber sie war um Elle und Erin besorgt, die bei James immer an letzter Stelle kamen, weit hinter seiner Karriere, seinen Golfturnieren und der gerade aktuellen Geliebten. Ihre leibliche Mutter  – James’ erste Ehefrau – war an den Folgen einer bakteriellen Infektion gestorben, als die beiden noch Kleinkinder waren. Tara hatte sie in den Schlaf gewiegt, ihnen Geschichten vorgelesen und ihnen nach einem unglücklichen Sturz Ellbogen oder Knie verbunden. Die Zwillinge betrachteten sie als ihre Mom, selbst wenn sie derzeit nicht bei ihnen war.

„Bist du noch da?“, erkundigte er sich und klang gleich wieder gereizt und auch ein wenig herablassend.

„Ja, bin ich“, antwortete sie, nachdem sie einen Moment lang gewartet hatte. Lucy setzte sich hin und legte den Kopf auf Taras Oberschenkel, dann sah sie ihrem Frauchen tief in die Augen, als wollte sie ergründen, was mit Tara los war.

„Die Mädchen tun, was sie nur können, um Bethany zu vergraulen“, fuhr James nach ein paar Sekunden ängstlichen Schweigens fort. „Wir brauchen etwas … ein bisschen Freiraum, nur wir beide … Beth und ich, meine ich … ohne dass …“

„… ohne dass dir deine Kinder dazwischenfunken können“, führte sie den Satz für ihn zu Ende, nachdem er in Schweigen verfallen war. Am liebsten hätte sie sofort laut Ja gerufen, nicht etwa, weil sie ihm diesen Gefallen tun wollte. Ihr fehlten Elle und Erin einfach sehr. Dass sie sie nicht mehr jeden Tag sehen konnte, schmerzte sie entsetzlich.

James ging auf ihre spitze Bemerkung nicht ein, was genauso untypisch für ihn war wie die Bitte, ihm zu helfen. „Ich dachte … na ja … vielleicht würde es dir gefallen, wenn die Zwillinge dich besuchen kommen. Bis zum Herbst ist kein Unterricht, und ein paar Wochen oder womöglich sogar ein oder zwei Monate auf dem Land könnten ihnen guttun.“

Unwillkürlich richtete Tara sich kerzengerade auf und hielt den Atem an. Dass sie sich keine Hoffnungen auf irgendeine Form von Sorgerecht an seinen Töchtern machen durfte, hatte er ihr oft genug unter die Nase gerieben.

„Ein Besuch?“, wollte sie vorsichtig wissen. Der Gedanke löste die unterschiedlichsten Gefühle in ihr aus. Einerseits konnte sie sich vor Freude kaum beherrschen, auf der anderen Seite wusste sie, wie einsam sie sich fühlen würde, wenn Elle und Erin zu ihrem Vater zurückkehren mussten. Diesen Verlust ein zweites Mal durchstehen zu müssen würde schwierig und schmerzhaft werden.

„Genau.“ James räusperte sich. „Würdest du das machen? Würdest du die Zwillinge für eine Weile zu dir nehmen?“

„Gern“, antwortete sie verhalten. Sie wollte nicht zu viel Begeisterung zeigen, weil es gefährlich war, wenn James mit der Nase darauf gestoßen wurde, wie sehr sie die Mädchen liebte. Er war eifersüchtig und befürchtete, dass die Zwillinge umgekehrt genauso empfanden. Für ihn gab es nichts Schöneres, als Taras Wünsche und Hoffnungen wie eine Seifenblase zerplatzen zu lassen. Das hatte er schon während ihrer Ehe mit Vergnügen getan. „Wann sollen sie denn herkommen?“

„Ich habe überlegt, sie morgen in einen Flieger zu setzen“, sagte er und klang wieder kleinlaut. Tara war klar, dass es für ihn nichts Schlimmeres gab, als andere um etwas bitten zu müssen. Das war ein Grund mehr, mit Vorsicht an die Sache heranzugehen, denn ganz ohne Folgen würde das nicht bleiben. Ob in fünf Minuten oder fünf Jahren – irgendwann würde er sich für das revanchieren, was er gerade durchmachte. „Wäre das für dich okay?“

Taras Herz begann zu rasen, und sie legte die freie Hand auf ihre Brust, während sie mit der anderen das Telefon fester umschlossen hielt. „Morgen?“

„Ist das zu früh?“, erwiderte er fast vorwurfsvoll.

„Nein“, antwortete sie womöglich etwas zu hastig. „Morgen passt mir gut. Elle und Erin können bis nach Missoula fliegen. Ich werde sie dort abholen.“

„Hervorragend“, sagte James unüberhörbar erleichtert. Kein „Danke“, kein „Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen“, sondern nur ein „Hervorragend“. Ein knappes Lob dafür, dass sie das Richtige getan hatte – wobei das Richtige einfach nur das war, was er in diesem Augenblick hören wollte.

Im nächsten Moment kamen Elle und Erin laut johlend ins Zimmer gestürmt. Allein diese Geräuschkulisse genügte, um Tara vor Freude Tränen in die Augen steigen zu lassen. „Schreib mir, wann genau sie ankommen“, bat sie James und bemühte sich, nicht zu glücklich zu klingen. Immerhin war sie nach wie vor noch nicht restlos überzeugt, dass es nicht bloß eine Falle war, um in ihr Hoffnung zu wecken, die er gleich darauf wieder zerschmettern würde.

„Mach ich“, versprach James, der vergeblich versuchte, die Mädchen zur Ruhe zu bringen. „Und, Tara … danke.“

Danke.

Er hatte es gesagt. Er hatte es tatsächlich gesagt. Offenbar geschahen doch Wunder!

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann James sich das letzte Mal bei ihr für irgendetwas bedankt hatte. Selbst als sie noch verliebt und verheiratet gewesen waren, hatte er sie viel lieber kritisiert als gelobt. Damals wog sie seiner Meinung nach ständig fünf Kilo zu viel, ihre Haare waren mal zu lang und mal zu kurz, dann war sie zu ehrgeizig oder zu faul, je nachdem, wie es ihm gerade passte.

Da diese Überlegungen zu nichts führten, verbannte Tara sie aus ihrem Kopf. „Gern geschehen“, erwiderte sie.

„Also gut.“ Ganz eindeutig wusste James nicht, worüber er noch mit ihr reden sollte, nachdem er sein Ziel nun erreicht hatte. „Tja“, murmelte er schließlich. „Dann schicke ich dir eine SMS mit den Flugdaten, sobald ich die Flüge gebucht habe.“

„Gut.“ Sie wollte ihn gerade noch bitten, den Hörer an die Mädchen weiterzugeben, da hatte James auch schon aufgelegt.

Natürlich hätte sie die Nummer vom Penthouse wählen und mit Elle und Erin sprechen können, aber sie würde sie ja morgen schon persönlich sehen. Dann blieb genug Zeit, um Neuigkeiten auszutauschen.

Außerdem gab es vorher noch genug zu erledigen. Sie musste duschen und sich umziehen, in die Stadt fahren und die Dinge kaufen, die Kinder am liebsten aßen – also verschiedene Sorten Cornflakes –, genauso wie die Dinge, die sie gar nicht mochten, beispielsweise frisches Gemüse.

Sie musste das Gästezimmer lüften, das Bett beziehen, im Gästebad Seife, Shampoo, Zahnbürsten und Zahnpasta deponieren, einfach für den Fall, dass sie irgendetwas davon nicht mitbrachten.

Lucy folgte ihr durchs Haus und wedelte mit dem Schwanz. Sie merkte, dass irgendetwas im Gange war, und wie jeder Hund, der etwas auf sich hält, wollte sie für alles Kommende gewappnet sein.

Im Haus war es angenehm kühl, da alle Ventilatoren auf Hochtouren liefen und vor den meisten Fenstern die Rollläden runtergelassen waren. Dadurch war es in allen Zimmern ziemlich düster, allerdings kam es Tara nach James’ Anruf überhaupt nicht mehr düster vor.

Wie schnell sich solche Dinge doch ändern konnten.

Ab morgen würden sie und Lucy in diesem geräumigen alten Haus nicht mehr allein sein, sondern es würde erfüllt sein vom Lachen, Lärmen und von der Musik der Zwillinge. Die beiden würden ihr im Detail von den Schrecken erzählen, denen sie seit der Scheidung durch Babysitter, Haushälterinnen, ein oder zwei Butler und eine lange Reihe von Kindermädchen ausgesetzt gewesen waren.

Lächelnd stieg sie zusammen mit Lucy die knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock und ging dort durch den langen Flur bis zu ihrem Schlafzimmer. Der größte Teil des Hauses wurde noch renoviert, aber diesen Raum hatten die Handwerker zuerst fertig gemacht, da sie nicht ohne ein Schlafzimmer auskommen konnte. Weiße Spitzengardinen zierten die hohen Fenster, und eine riesige Wanne war gegenüber dem Kamin in den glänzenden Holzfußboden eingelassen worden.

Als Tara die Farm gekauft hatte, war der begehbare Kleiderschrank noch ein kleines Schlafzimmer gewesen, aber gleich nach dem Einzug hatte sie ihn in das Traumzimmer einer jeden Frau verwandelt, damit sie genug Platz für ihre teure Garderobe und ihre umfangreiche Schuhsammlung hatte. Eigentlich war es albern, all diese schicken Kleider zu behalten, schließlich war man in Parable immer genau richtig angezogen, wenn man im Winter Jeans und Sweater und im Sommer Jeans und Tanktop trug. Aber so wie bei ihren Büchern und ihrer alten Schallplattensammlung hatte sie sich bislang einfach nicht davon trennen können.

Sich von Elle und Erin trennen zu müssen war schon schwierig genug gewesen, allerdings hatte Tara New York auch in der Hoffnung verlassen, dass die Zwillinge und sie selbst einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und nach vorn schauen würden. Es hätte sie wahnsinnig gemacht, in derselben Stadt zu leben wie die Mädchen und sie nicht besuchen zu können. Jetzt kamen die zwei zu ihr nach Parable, um vorläufig bei ihr zu bleiben. Die Aussicht erfüllte sie mit Angst und Freude zugleich.

Tara entschied sich für ein rotes Sommerkleid und weiße Sandalen, dann ging sie an der Wanne vorbei ins Badezimmer, um zu duschen. Lucy trottete auf ihre lässige Art hinterher und setzte sich auf den flauschigen Läufer und wartete geduldig, bis diese höchst sonderbare menschliche Beschäftigung namens Duschen erledigt war. Sie legte den Kopf ein wenig schräg und wunderte sich sichtlich, wie Menschen so etwas freiwillig tun konnten.

Nach ein paar Minuten verließ Tara die Dusche, trocknete sich ab und zog sich an. Das Schminken beschränkte sie auf einen Hauch Lipgloss und etwas Mascara.

Lucy folgte ihr zurück ins Schlafzimmer, wo Tara aus einem unerfindlichen Grund vor einem bestimmten Fenster stehen blieb und einen Blick auf Boone Taylors merkwürdiges Zuhause und einen Seitenarm des Big Sky River zwischen beiden Grundstücken warf.

Seufzend schüttelte sie den Kopf. Diese Aussicht könnte perfekt sein, wenn da nicht Boones hässlicher alter Trailer mitten auf einem hoffnungslos überwucherten Grundstück abgestellt wäre. Wenigstens waren die zum Blumenkübel umfunktionierte Toilette und andere Beweisstücke für extrem schlechten Geschmack verschwunden, was sie Hutch Carmody und einem halben Dutzend seiner Rancharbeiter verdankte. Die Männer waren letzten Sommer zu Boone gefahren und hatten bei ihm aufgeräumt, aber allem Anschein nach war Boone selbst nicht bereit, mehr in dieser Richtung zu unternehmen, da sich seitdem an diesem Schandfleck mitten in der Landschaft nichts mehr getan hatte.

Sie wandte sich ab, weil sie sich von dem unerfreulichen Anblick nicht zur Weißglut treiben lassen wollte. Die Mädchen waren schon so gut wie auf dem Weg hierher, und bald würde sie sie in die Arme schließen und mit ihnen lachen können.

„Komm, Lucy“, sagte sie. „Wir müssen in die Stadt.“

Im Erdgeschoss stöpselte sie ihr Handy vom Ladegerät, verließ mit der Hündin das Haus und ging zu der ein Stück vom Haus entfernt stehenden Garage, in der ihr schicker roter Mercedes-Sportwagen stand. Genau wie die Farm hatte sie ihn aus einer spontanen Laune heraus gekauft. Aber als sie nun das Garagentor öffnete und den Wagen sah, beschlichen sie ernste Zweifel, ob diese Anschaffung wirklich so klug gewesen war.

Es handelte sich um einen Zweisitzer, der völlig ungeeignet war, um zwei Kinder und einen Golden Retriever zu befördern.

„Himmel“, murmelte sie und zog die Brauen zusammen, während sie die Beifahrertür des tief liegenden Sportwagens öffnete, damit Lucy hineinspringen konnte. Tara lief um das Auto herum, und noch bevor sie hinter dem Lenkrad Platz nahm, tippte sie eine vertraute Nummer auf ihrem Handy ein.

Ihre Freundin meldete sich mit einem melodischen „Halloho“.

„Joslyn“, begrüßte Tara sie. „Ich glaube, ich muss mir einen Wagen ausleihen.“

2. KAPITEL

Geldautomaten waren in Parable genauso selten vertreten wie Ampeln, weshalb es Boone eigentlich nicht hätte wundern sollen, dass er vor der Cattleman’s First National Bank seiner bissigen, aber unbestreitbar scharfen Nachbarin Tara Kendall über den Weg lief. Er drehte sich gerade vom Geldautomaten weg, in einer Hand das Geld und in Gedanken bereits bei seinen Söhnen, als Tara ihren flotten Sportwagen gleich neben seinem geborgten Truck abstellte. Sie trug ein kirschrotes Kleid, ihr Golden Retriever, eine Wurfschwester von Kendras Hündin Daisy, saß angegurtet auf dem Beifahrersitz.

Tara lächelte so strahlend wie in einer Zahnpasta-Werbung, als sie den großen Truck entdeckte, weil sie wusste, dass er Hutch und Kendra gehörte, und erwartete, einen der beiden zu sehen. Ihr Lächeln verblasste aber sofort, als sie sah, dass Boone mit dem Wagen unterwegs war.

Ihr Mienenspiel verriet alles: kein Hutch, keine Kendra, nur der Hinterwäldler-Sheriff, der ihr mit seinem schrottreifen Trailer und seinem verwilderten Grundstück die Aussicht vermieste.

Das Verdeck ihres Wagens war heruntergeklappt, und Boone sah, dass die Hündin so wie ihr Frauchen eine Sonnenbrille trug, wahrscheinlich sogar irgendein teures Designermodell. Himmel, hat diese Frau eigentlich noch immer nicht begriffen, dass sie hier in Montana ist und nicht in L. A. oder New York?

Als Tara aus dem Cabrio stieg, schob sie die Brille bis zur makellosen Nasenspitze runter und warf ihm mit ihren goldgesprenkelten blauen Augen einen verächtlichen Blick zu, der ihn von der schief sitzenden Baseballkappe bis hin zu den abgewetzten alten Stiefeln erfasste.

„Na, heute ganz leger im Dienst, Sheriff?“, fragte sie mit säuselnder Stimme.

Boone legte die Hände an die Hüften und erwiderte ihren Blick, wobei er erfreut feststellte, dass ihre modeltauglichen Wangen ein wenig erröteten. Er und Tara waren gleich bei ihrer ersten Begegnung aneinandergeraten, als sie das Grundstück direkt neben seinem gekauft und ihm von Beginn an klargemacht hatte, dass sie ihn für einen hoffnungslosen Bauerntölpel hielt, für einen idealen Kandidaten in einer dieser Talkshows, in der sich Loser vor laufender Kamera zum Affen machten. Und sie hatte ihm – zugegebenermaßen auf eine nette Art – zu verstehen gegeben, dass sein Zuhause ein Schandfleck in der Landschaft war.

Seiner Meinung nach war Tara nicht nur der typische Großstadtmensch, dem der Bezug zur Realität abhandengekommen war, sondern auch ein Snob hoch drei. Zu schade, dass diese Frau einen perfekten Körper und wunderbar glänzendes Haar hatte, sonst wäre es ihm leichter gefallen, sie so unausstehlich zu finden, wie er ganz offensichtlich auf sie wirkte.

„Hallo, liebste Nachbarin, freut mich auch, dich zu sehen“, gab er ironischer zurück, als er sich fühlte. „Schönes Wetter, nicht wahr?“

Sie sah ihn mürrisch an und begann, theatralisch ihre Handtasche zu durchsuchen, bis sie ihre Brieftasche fand. Die Hündin auf dem Beifahrersitz, die noch immer ihre Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern trug, gähnte ausgiebig, als wäre ihr das alles viel zu langweilig.

„Wenn du am Geldautomaten fertig bist …“ Mit ihrer manikürten Hand beschrieb sie eine Geste, die wohl bedeuten sollte, dass er ihr im Weg stand. Für eine Hühnerfarmerin war sie ziemlich gestylt, fand er.

Boone ging einen Schritt zur Seite. „Du weißt, dass du das besser nicht machen solltest, oder nicht?“, hörte er sich plötzlich fragen, obwohl er wusste, dass ein Ratschlag von ihm bei ihr auf taube Ohren stoßen würde, selbst wenn er noch so gut gemeint war.

„Was soll ich nicht machen?“ Als sie ihn ansah, fiel ihm auf, dass ihr Gesicht um die Nase herum einen Hauch von Sommersprossen aufwies, den er noch nie bemerkt hatte. Diese Entdeckung verwirrte ihn ein wenig.

„Bereits auf dem Weg vom Wagen zum Geldautomaten die Brieftasche herausholen“, erklärte er ihr ganz im Sheriff-Tonfall, selbst wenn er in ihren Augen wie ein Obdachloser angezogen war. Tatsächlich wollte er nur so schnell wie möglich Missoula erreichen und hatte daher darauf verzichtet, sich noch umzuziehen. „Das ist riskant.“

Tara blieb stehen und schob die Sonnenbrille hoch bis ins Haar, dann klimperte sie mit ihren vollen Wimpern und sah Boone mit gespielter Naivität an. „Aber mir wird doch sicher nichts passieren, wenn der Sheriff von ganz Parable County neben mir steht und mich beschützt, nicht wahr?“, fragte sie in honigsüßem Tonfall. Inzwischen hatte sie ihre Kreditkarte aus der Brieftasche gezogen und machte den Eindruck, als wollte sie Boone aus dem Weg stoßen, um endlich an den Geldautomaten zu kommen.

„Mach doch, was du willst“, presste Boone gereizt heraus. Warum saß er nicht längst in Hutchs Truck und war auf dem Weg aus der Stadt? Er wollte seine Jungs sehen, er wollte wissen, wie er Molly mit ihren drei Kindern behilflich sein konnte. Und vielleicht würde er auch noch beim Krankenhaus vorbeifahren, um nach Bob zu sehen. Aber im Moment stand er da, als hätte er Wurzeln geschlagen, die sich so tief in den Straßenbelag gebohrt hatten, dass er sich einfach nicht von der Stelle rühren konnte. Diese Unfähigkeit, weiterzugehen, machte ihn noch wütender als Taras arrogantes Auftreten.

„Besten Dank für den Ratschlag“, sagte sie, nicht mehr ganz so süßlich, schob sich an ihm vorbei und steckte die Karte in den Geldautomaten. Dann tippte sie eine Ziffernfolge ein. „Genau das hatte ich auch vor.“

Boone verdrehte die Augen und seufzte frustriert. „Es werden immer wieder Leute an Geldautomaten überfallen“, belehrte er sie, während er innerlich vor Wut kochte, dass er nach wie vor hier stand. Die Fahrt nach Missoula dauerte gut zwei Stunden. Wie lange es dauern würde, bis alles geklärt war und er die Jungs in den Wagen setzen konnte, wusste niemand. Und dann mussten sie noch einmal zwei Stunden für die Rückfahrt einkalkulieren, die durchaus länger dauern konnte, falls sie unterwegs irgendwo anhielten, um etwas zu essen.

Tara zog die Karte aus dem Automaten, nahm ein Bündel Geldscheine aus dem Schacht und begann dann von vorn. Wer braucht denn so viel Bargeld? dachte Boone.

Aber womöglich war das auch nur eine Angewohnheit, die sie aus New York mitgebracht hatte.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm, einem sehr attraktiven Rücken, der von dem dünnen Sommerkleid nur zum Teil bedeckt wurde. Ein Duft nach in der Sonne getrockneter Wäsche und Wildblumen umgab sie. „In Parable?“, gab Tara zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen. „Wer sollte es denn wagen, in deiner Stadt ein Verbrechen zu begehen, Boone Taylor?“

Stumm wartete er, bis sie das zweite Mal Geld abgehoben hatte. Als sie sich dann vom Geldautomaten wegdrehte, wäre sie fast mit Boone zusammengestoßen. Die Art, wie sie mit ihrem Bündel Zwanziger herumfuchtelte, war eine regelrechte Einladung zum Raub. „Ich gebe mir alle Mühe“, sagte er und erfreute sich am verärgerten Aufblitzen ihrer Augen und dem rötlichen Schimmer auf ihren Wangen. „Aber Parable ist nicht immun gegen Verbrechen, und es gibt Risiken, die nur jemand eingeht, der verdammt dämlich ist.“

Erstaunt zog sie die Brauen hoch, gleichzeitig schob sie mit dem Mittelfinger auf vielsagende Weise die Brille zurück auf die Nase. „Hast du mich gerade als verdammt dämlich bezeichnet?“, fragte sie in frostigem Tonfall.

„Nein“, antwortete Boone und war die Ruhe selbst. Ich bezeichne dich als ein verwöhntes Stadtkind, das sich selbst für viel zu wichtig hält. Natürlich sagte er ihr das nicht ins Gesicht, aber es tat gut, es allein schon zu denken. „Ich schlage dir nur vor, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein, das ist alles. Wie ich schon sagte, Parable ist eine anständige Stadt, aber hier kommen auch Fremde vorbei, am helllichten Tag genauso wie in der Nacht, und möglicherweise befinden sich mitten unter uns sogar ein paar heimliche Gesetzlose.“

Tara sah ihn ausdruckslos an. „Bist du dann fertig?“, fragte sie ihn höflich.

Daraufhin spreizte er die Hände und grinste sie spöttisch an. „Ich hab’s zumindest versucht“, sagte er mehr zu sich selbst. Zu gern hätte er ihr mit auf den Weg gegeben, dass sie nicht heulend zu ihm gelaufen kommen möge, wenn man sie überfallen hatte. Aber das konnte er nicht zu ihr sagen, schließlich vertrat er das Gesetz.

Sie ging um ihn herum und stolzierte zurück zu ihrem Wagen. Er fand es amüsant zu sehen, wie sich bei jedem Schritt ihre Hüften unter dem dünnen Stoff bewegten.

„Wie ich schon sagte, besten Dank für den Ratschlag“, gab sie gereizt zurück, stieg in ihren Wagen und steckte erst dann die Scheine in die Brieftasche, die sie anschließend in ihrer Tasche verstaute.

Die Hündin drehte wiederholt den Kopf zwischen ihr und Boone hin und her – mit dem gleichen Interesse, das Zuschauer für ein langatmiges Tennismatch aufbrachten.

Boone nahm die Baseballkappe ab und verbeugte sich tief. „Jederzeit gern, Euer Hochwohlgeboren.“

Mit geschürzten Lippen sah Tara über die Schulter, ob sich niemand hinter ihrem Wagen aufhielt, dann legte sie den Rückwärtsgang ein. Sie schien etwas zu sagen, aber da in dem Moment der Motor aufheulte, verstand Boone kein Wort, was vermutlich auch besser so war.

Allerdings würde es ihr nur recht geschehen, wenn er ihr für rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr einen Strafzettel ausstellte. Zwar hatte er für so etwas weder Zeit noch überhaupt einen Anlass, dennoch genoss er diesen Wunschtraum, als er in Hutchs Truck einstieg.

Boone Taylor ist ein unmöglicher Mensch, dachte Tara wütend, als sie mit Lucy im Wagen davonbrauste. Bedauerlicherweise sah er aber auch verdammt gut aus und regte bei ihr nicht nur alle fünf Sinne an, sondern auch noch ein paar mehr, von deren Existenz sie bislang gar nichts gewusst hatte. Wie zum Teufel stellte er das nur an?

Die ganze Zeit über brodelte sie innerlich vor Ärger über diesen Mann, während sie Lebensmittel einkaufte, nach Hause fuhr und ihre Besorgungen auf die Vorratskammer, den Kühlschrank und die Tiefkühltruhe verteilte. Boone hatte ihr den ganzen Nachmittag verdorben, und das ausgerechnet auch noch heute, wo sie sich so auf den Besuch ihrer beiden Stieftöchter gefreut hatte.

Um nicht den Schwung zu verlieren, machte sie sich daran, das Gästezimmer herzurichten, im Badezimmer Staub zu wischen und zu lüften, zu staubsaugen, Decken und Kissen auszuschütteln und alles frisch zu beziehen. Tara hatte schon seit einer Weile keine Gäste mehr gehabt, und sie wollte, dass für die Zwillinge alles frisch und neu war.

Die ganze Zeit über wurde sie dabei von Lucy verfolgt, die mit ihr von Zimmer zu Zimmer ging, sie von der Türschwelle aus beobachtete, hin und wieder aufmunternd bellte und mit dem Schwanz wedelte.

„Alles fertig“, sagte Tara schließlich und richtete sich auf, nachdem sie ein letztes Mal die weißen Chenille-Tagesdecken glatt gestrichen hatte. Sie sah auf die Uhr, die auf dem Nachttisch zwischen den Betten stand. „Und es ist noch nicht mal Zeit, die Hühner zu füttern.“

Lucy gab ein leises Winseln von sich, als wollte sie die Unterhaltung auf jeden Fall in Gang halten.

Wieder musste Tara an ihr familienfeindliches Auto und an Joslyns großzügiges Angebot denken, ihr den klobigen Kombi zu leihen, den sie sich mit ihrer Haushälterin Opal und mit Shea, der achtzehnjährigen Stieftochter ihres Ehemanns Slade, teilte.

Sie hatte längst entschieden, dass sie ihnen allen viel zu viele Umstände machen würde, wenn sie sich den Wagen tatsächlich auslieh. Gemeinsam mit Lucy verließ sie wieder das Haus. Es war an der Zeit, nach Three Trees zu fahren, um sich bei den zwei Autohändlern im Ort umzusehen und sich ein Auto für große Mädchen auszusuchen. Irgendwas Praktisches wie einen Minivan oder eine viertürige Limousine. Hauptsache: geräumig und sparsam im Verbrauch.

Diesmal fuhr Tara mit geschlossenem Dach. Sie konnte es sich nicht leisten, vom Wind völlig zerzaust dort anzukommen und gleich auf den ersten Blick für nicht kreditwürdig gehalten zu werden.

Molly und Bob lebten in einem Einfamilienhaus in einer schattigen Straße im besten Viertel von Missoula. Der Rasen vor dem Haus war grüner als grün und so gleichmäßig kurz, dass man meinen konnte, jemand hätte mit einer Nagelschere Hand angelegt. Überall waren Blumen gepflanzt, die zusammen ein Meer aus Farben bildeten, und der Gartenzaun leuchtete so strahlend weiß, als wäre er erst vor ein paar Minuten gestrichen worden.

Boone hielt direkt vor dem Haus. Auch wenn er normalerweise nicht zu jener Sorte Mensch gehörte, die ihren Besitz gern mit dem anderer Leute verglichen, um festzustellen, wer besser dastand, fiel ihm der Unterschied zwischen seinem Zuhause und dem seiner Schwester in diesem Moment überdeutlich ins Auge. Seufzend zog er den Zündschlüssel ab und öffnete die Fahrertür, während er sich seit seiner Begegnung mit Tara Kendall am Geldautomaten in Parable zum x-ten Mal wünschte, er hätte vor der Abreise doch noch geduscht und seine Anglerkluft gegen normale Kleidung eingetauscht. So hätte er der Welt wenigstens beweisen können, dass er von Zeit zu Zeit sehr wohl die Waschmaschine einschaltete und ab und zu auch mal ein Hemd bügelte. Jetzt, da er vor diesem wunderschönen Haus stand, kam er sich vor wie ein schäbiger Herumtreiber, dem nur noch ein Pappschild mit der Aufschrift „Habe Hunger, gebt mir bitte einen Dollar“ fehlte.

Die Fliegengittertür wurde geöffnet, und Molly kam nach draußen auf die Veranda, winkte ihm zu und rang sich zu einem betrübten Lächeln durch. Ihre langen dunklen Haare hatte sie nachlässig zum Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie trug eine Jeans und eines von Bobs Hemden, dazu Sneakers, die schon erheblich bessere Zeiten erlebt hatten. Typische Mom-Schuhe.

„Sie haben Bob untersucht“, sagte sie ohne Vorrede, kam die Verandastufen herunter, durchquerte den Vorgarten und öffnete ihrem Bruder das Gartentor. „Morgen früh setzen sie ihm ein künstliches Kniegelenk ein.“

„Vielleicht fahre ich auf dem Heimweg noch bei ihm vorbei und statte ihm einen kurzen Besuch ab.“

„Ich glaube kaum, dass er dich erkennen wird“, entgegnete sie. „Er hat starke Schmerzen, und von den Schmerzmitteln ist er ziemlich daneben.“

Boone legte ihr eine Hand auf die Schulter und gab seiner Schwester einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Wie ist das überhaupt passiert?“ Bob war ein athletischer, sportlicher Typ, dem so etwas eigentlich gar nicht zustoßen sollte.

„Einer der Spieler aus dem Klub hatte heute seinen Neffen mitgebracht, der noch nie Golf gespielt hat und mit dem Schläger unheimlich kraftvoll ausholt. Dabei war ihm dann auf einmal Bobs Knie im Weg.“

„Autsch“, ächzte Boone und verzog schmerzhaft das Gesicht.

„‚Autsch‘ trifft es sehr gut“, bestätigte Molly. „Dem Neffen ist das natürlich alles schrecklich unangenehm.“

„Das sollte es auch“, meinte Boone.

Daraufhin seufzte Molly frustriert und besorgt und drückte sich an Boone, der sie seinerseits noch fester umarmte. Sein Kopf ruhte auf ihrem Kopf.

„Es tut mir so leid, Schwesterchen“, sagte er leise, weil ihm nichts Besseres einfiel.

Schniefend löste sich Molly von ihm und lächelte ihn an. „Komm mit rein. Im Kühlschrank steht frischer Eistee, und die Kinder werden bald zurück sein. Mein Team ist losgezogen, um Pizza zu holen … als verspätetes Mittagessen oder vorgezogenes Abendessen oder was auch immer … Griffin und Fletchersind mitgegangen.“ Ihr Blick trübte sich ein wenig. „Ich habe ihnen von der Operation und der Reha erzählt und ihnen auch gesagt, dass sie mit dir nach Parable zurückfahren werden, aber, um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob sie es wirklich verstanden haben.“

Boone nickte und folgte ihr ins Haus. Zwar handelte es sich nicht um ein Herrenhaus, doch das im Kolonialstil errichtete Gebäude war von beeindruckender Größe und in einem lässigeleganten Stil eingerichtet, mit dem es sein Trailer aus dritter Hand in hundert Jahren nicht würde aufnehmen können.

„Ich kann mir vorstellen, dass sie tausend Fragen dazu haben“, sagte er, als sie unter dem funkelnden Kristallleuchter durch die Diele gingen. An einer Wand entdeckte er eine antike Standuhr, deren dumpfes Ticken sich anhörte wie ein Herzschlag – so als würde die Uhr jeden wissen lassen, wie viel Zeit ihm noch auf Erden blieb. Das Leben steckt voller Risiken, überlegte Boone. Jeden Moment konnte etwas Schreckliches passieren.

Über die Schulter warf Molly ihm einen kurzen Blick zu. „Das denke ich auch. Ich habe ihnen auch gesagt, dass sie in ein paar Monaten hierher zurückkommen werden, wenn ihr Onkel Bob sich von der Operation erholt hat.“

Zu ihrer Bemerkung äußerte er sich nicht, denn allen Bedenken zum Trotz – Boone war fest davon überzeugt, dass er an einer Art „Kindererziehungsbehinderung“ litt  – schlummerte irgendwo tief in ihm die Gewissheit, dass Griffin und Fletcher bei ihrem Vater leben sollten, selbst wenn er ihnen nur ein sehr bescheidenes Zuhause bieten konnte.

Aber das war nicht der richtige Moment, um über solche Dinge zu reden. Molly liebte ihre Neffen genauso wie ihre eigenen Kinder, aber sie musste sich jetzt um so vieles kümmern, da konnte er nicht von ihr erwarten, dass sie auch noch seine Jungs großzog.

Nachdenklich folgte er Molly durch den breiten Flur ins große Esszimmer. Eine Seite des Raums bestand aus Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten und den Blick auf einen Rosengarten mitsamt Springbrunnen erlaubten. Es kam Boone vor, als würde er sich im Fernsehen eine von diesen Sendungen anschauen, in denen den Zuschauern Traumgärten vorgestellt wurden.

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