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Beeren pflücken

Als Buch hier erhältlich:

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»Ein atemberaubendes Debüt über Liebe, Ethnie, Brutalität und den Balsam der Vergebung.« People

Juli 1962. Eine Mi'kmaq-Familie aus Nova Scotia kommt in Maine an, um den Sommer über Blaubeeren zu pflücken. Einige Wochen später ist die vierjährige Ruthie verschwunden. Sie wird zuletzt von ihrem sechsjährigen Bruder Joe gesehen, als sie auf ihrem Lieblingsstein am Rande eines Beerenfeldes sitzt. Ihr Verschwinden wirft Rätsel auf, die Joe und seine Familie verfolgen und fast 50 Jahre lang ungelöst bleiben.

In Maine wächst ein Mädchen namens Norma als Einzelkind in einer wohlhabenden Familie auf. Ihr Vater ist emotional distanziert, ihre Mutter erdrückend überfürsorglich. Norma wird oft von wiederkehrenden Träumen geplagt. Mit zunehmendem Alter ahnt sie, dass ihre Eltern ihr etwas verheimlichen. Da sie nicht bereit ist, von ihrem Gefühl abzulassen, wird sie Jahrzehnte damit verbringen, dieses Geheimnis zu lüften.

»Beeren pflücken« ist eine berührende Geschichte über ungebrochene Hoffnung, unerschütterliche Liebe und die Kraft der Familie – selbst im Angesicht von Trauer und Verrat.

Der Nr. 1 Bestseller aus Kanada


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009444

Leseprobe

Für meinen Vater, danke für die Geschichten.
Wela’lin a’tukowin

Prolog

Ich sitze mit dem Rücken an der Wand, dazwischen flache Kissen. Mae hatte sie aufgeschüttelt, aber das ist schon Stunden her. Ich halte ein Bild von Leah in den Händen. Darauf ist sie noch klein, es wurde aufgenommen, bevor ich überhaupt wusste, dass es sie gab. Draußen wird die Sonne langsam schwächer, und ich staune, wie sehr ich von Frauen geprägt und geformt wurde, obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens gar nicht bei ihnen war.

Der Schmerz in meinem Bein hindert mich daran, im Freien zu sitzen, am Feuer neben dem Baumstumpf, den ich schon lange als einen Freund betrachte. Ich habe die Nase voll von diesem Bett, von den Medikamenten und dem Alleinsein, das mit der Krankheit einhergeht, zumal ich weiß, dass die Menschen, die ich liebe, meine Einsamkeit nicht verstehen, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühen. Sterben ist etwas, das man allein tun muss. Leah, mittlerweile eine erwachsene Frau, besucht mich zweimal in der Woche. Meine Schwester Mae und mein älterer Bruder Ben sorgen für mich, auch wenn ich es nicht verdiene. Meine Mutter betet.

»Joe?« Mae öffnet die Tür einen Spaltbreit, ihr Gesicht wird auf einer Seite von der Tür, auf der anderen von der Wand eingerahmt.

»Ich bin wach.«

Die Tür öffnet sich ganz, und Mae tritt ein. Ihr Blick strahlt etwas Freudiges aus. Etwas, das ich seit Langem bei niemandem mehr gesehen habe.

»Du wirkst glücklich, Mae.«

»Weil ich es bin.«

Ich versuche mich aufzurichten. Für sie möchte ich ganz präsent sein, damit ich ihr zeigen kann, dass alles, was sie glücklich macht, auch mich beglückt.

»Joe, da ist jemand, der uns besuchen will. Und ich glaube, wir haben einiges aufzuholen.«

1
Joe

An dem Tag, als Ruthie verschwand, waren die Kriebelmücken irgendwie besonders hungrig. Die Weißen in dem Laden, wo wir unsere Vorräte kauften, sagten oft, dass Indianer so gute Beerenpflücker sind, weil irgendwas Saures in unserm Blut die Kriebelmücken fernhält. Aber schon damals, als sechsjähriger Junge, war mir klar, dass das nicht stimmt. Kriebelmücken unterscheiden nicht. Jetzt allerdings, wo ich fast auf den Tag genau fünfzig Jahre später hier liege und mich eine unsichtbare Krankheit von innen heraus zerfrisst, bin ich mir nicht mehr sicher, was stimmt und was nicht. Vielleicht sind wir doch sauer.

Jedenfalls wurden wir trotzdem gebissen – unabhängig vom Geschmack unseres Blutes. Aber Mom wusste, wie man nachts das Jucken stoppen konnte, damit wir ein bisschen Schlaf bekamen. Sie schälte die Rinde von einer Erle, zerkaute sie zu Brei und schmierte sie auf die Bisse.

»Halt still, Joe. Zappel nicht herum«, sagte Mom, während sie die dicke Paste auftrug. Die Erlen wuchsen wild vor einer spärlichen Baumreihe, die den hinteren Rand der Felder säumte. Die Felder erstreckten sich endlos, so kam es mir damals jedenfalls vor. Mr. Ellis, der Landbesitzer, hatte sie mit großen Steinen unterteilt, damit man leichter den Überblick darüber behielt, wo wir schon waren und wo wir noch pflücken mussten. Aber irgendwann erreichte man immer wieder die Bäume. Entweder die Bäume oder die Route 9, eine bröckelnde Straße mit Löchern so groß wie Wassermelonen und so tief wie der See, ein dunkler Asphaltstreifen, der sich durch die Felder schlängelte und uns Jahr für Jahr dorthin brachte.

Schon damals, 1962, gab es an der Route 9 nicht viele Häuser. Und die wenigen, die dort standen, waren alt, der grauweiße Anstrich blätterte bereits ab, die Veranden waren schief und modrig, und ringsum wuchs hohes grüngelbes Gras zwischen liegen gelassenen Autos und Kühlschränken, von denen bei starkem Wind Rostblättchen wegflogen. Wenn wir im Hochsommer aus Nova Scotia ankamen, eine singende und lachende Karawane dunkelhäutiger Arbeiter, die durch ihre überwucherte und verrostende Welt zog, drehten uns die Einheimischen den Rücken zu, schließlich war unsere Anwesenheit der Beweis dafür, dass sie versagten und nicht vorankamen. Das einzige Mal, wenn dieser Ort ein bisschen Freude verströmte, war im Herbst, sobald die untergehende Sonne golden schien und die Felder unter einem herrlichen Septemberhimmel glühten.

Zwischen all dem Rost und Verfall stand Mr. Ellis’ Haus. Es befand sich an der Ecke, wo die Route 9 auf die Schotterstraße stieß, die zur anderen Seite des Sees führte, der Seite ohne Indianer, wo die Weißen sonntags immer schwammen und Picknick machten und sich ihre Haut unter der schwachen Sonne von Maine verbrannten. Zu Hause, Jahre später und bevor ich wieder wegging, erinnerte ich mich an dieses Haus, als wäre es ein Bild aus einem Buch oder einer Zeitschrift, das man betrachtet, während man an der Bushaltestelle oder in der Arztpraxis wartet. Die hohen Ahornbäume hingen über der Einfahrt, und jemand hatte eine lange gerade Reihe Kiefern zwischen dem Haus und der Schotterstraße gepflanzt, die zu den Zeltlagern führte, damit wir es nicht sehen konnten, obwohl wir’s natürlich trotzdem versuchten.

»Ben, wieso wohnen die überhaupt in einem Haus, wenn es nur aus Fenstern besteht?«, fragte ich meinen Bruder.

»Die Leute brauchen doch ein Dach über dem Kopf. Hier wird es genauso kalt wie bei uns zu Hause.«

»Aber die vielen Fenster.« Ich konnte es nicht fassen.

»Fenster sind teuer. So zeigen sie der Welt, dass sie reich sind.«

Ich nickte, auch wenn ich es nicht wirklich verstand.

Das Weiß des Hauses, das jeden zweiten Sommer erneuert wurde, mit den roten Zierkanten und zwei Säulen, die den Eingang rahmten, genügte mir, der in einer winzigen Vierzimmerwohnung mit undichtem Dach lebte, um es zum »Herrenhaus« zu erklären. Jahre später, als ich zurückkehrte und Mr. Ellis längst an einem Herzinfarkt gestorben war, sah ich das Ganze mit anderen Augen und stellte fest, dass es nicht mehr war als ein zweistöckiges Haus mit einem Erkerfenster.

Bei unserer Ankunft Mitte Juli, in dem Sommer, als wir Ruthie verloren, waren die Büsche auf den Feldern saftig grün und strotzten vor Beeren. Wir waren noch voller Aufregung, denn die harte Arbeit und die langen Tage der vergangenen Jahre hatten wir vollkommen vergessen. Mein Vater setzte uns mit den Vorräten ab, die wir für die nächsten acht bis zwölf Wochen brauchten, und fuhr noch am selben Tag zurück, gefolgt von einer Staubwolke. Er fuhr nach New Brunswick, um die Pflücker abzuholen, die immer kamen und denen er vertrauen konnte. Old Gerald und seine Frau Julia, Hank und Bernard, Zwillingsbrüder, die hart arbeiteten und gern für sich blieben, die Witwe Agnus und ihre sechs Kinder, alle groß und kräftig, und Frankie, der Trinker. Ein lustiger Mann, der Angst vor Bären und der Dunkelheit hatte und nicht gerade der beste Arbeiter war.

Dad sagte oft: »Eure Mutter ist der Meinung, dass selbst Leute wie Frankie Geld und einen Lebensplan brauchen, wenn auch nur für acht Wochen.«

»Aber ich pflücke mehr als er, Dad«, sagte ich und nickte in Richtung Frankie, der sich geistesabwesend eine Beere in den Mund steckte, »und er isst genauso viel, wie er pflückt.«

»Bei manchen Leuten lassen wir Nachsicht walten, Joe. Du weißt, dass er als Baby fast ertrunken wäre und danach nicht richtig erwachsen wurde. Mit Frankie ist alles in Ordnung, Gott hatte offenbar einen Plan für ihn, also nehmen wir ihn so, wie er ist. Er braucht diese Zeit im Sommer genauso sehr wie wir. Er kommt gern und sitzt abends am Feuer und verdient sich ein bisschen Kleingeld. Das gibt ihm was, worauf er sich freut.«

»Ja, aber Dad –«, setzte ich an, verärgert darüber, dass Frankie mit Geld bezahlt wurde, während ich mehr pflückte und mit Ausnahme neuer Schulkleider im September nichts bekam.

»Kein Aber, geh einfach wieder an die Arbeit und sei nett zu Frankie. Man weiß nie, wann man die Freundlichkeit anderer Menschen brauchen könnte.«

Während Dad unterwegs war und die anderen Pflücker auf der Ladefläche seines Trucks einsammelte, brachten wir die Hütte in Schuss und schlugen das Lager unter dem wachsamen Auge unserer Mutter auf. »Ihr Jungs reißt das Gras aus, das durch den Boden der Veranda wächst. Bringt das Ganze ein bisschen in Ordnung.« Wir schnitten uns an den Händen, als wir das Gras jäteten, das in unserer Abwesenheit gewuchert war. Dann sammelten wir trockenes Holz für die Feuer, eins fürs Kochen, das fast die ganze Zeit brannte, und eins zum Waschen des Geschirrs und, am Wochenende, unserer Kleider. Meine Schwester Mae und einige andere Mädchen halfen beim Saubermachen der Hütte, und ein paar gingen zu Mr. Ellis, um wie jeden Sommer seiner Frau zu helfen, das Haus von oben bis unten zu putzen. Dafür bekamen sie ein bisschen Geld, das sie auf dem Jahrmarkt für Haarklammern, schwarzgebrannten Schnaps und Popcorn ausgaben.

Von unserer Hütte aus konnten wir den See nicht sehen, aber vom Rand des Lagers aus, dort, wo das Zelt von Old Gerald und Julia stand. Wir hatten Glück, dass wir eine Hütte mit einem Dach, einer Tür und ein paar Matratzen zum Schlafen hatten. Nur eine Handvoll von uns durfte in einer Hütte wohnen. Die anderen, einschließlich meiner zwei älteren Brüder Ben und Charlie, schliefen in Zelten, mit dem Rücken auf dem harten Boden, ihre Jacken dienten als Kopfkissen.

Als die anderen Familien ankamen, Familien aus ganz Nova Scotia und ein paar aus New Brunswick, wurden die Jungs laut und ausgelassen. Sie hatten sich seit der Beerensaison im vergangenen Jahr nicht gesehen und jetzt viel nachzuholen. Ich war in dem Sommer damals noch nicht alt genug, um mit ihnen abzuhängen, und verbrachte deshalb die meiste Zeit bei Ruthie, die in der Nähe der älteren Jungs immer nervös wurde. Tagsüber, wenn sie ernsthaft arbeiteten, dachte sie gern an sie und liebte sie genauso sehr wie uns andere. Aber abends, wenn sie am Feuer sangen, mit den Mädchen flirteten und sich aus Spaß prügelten, zog sie sich in die Hütte zurück und schlief mit dem Rücken an der hinteren Wand, während sie unterm Arm ihre aus alten Socken gemachte Puppe hielt. Mom lag als Barriere auf der anderen Seite, um sie vor den lauten Jungs zu beschützen.

In diesem Sommer waren wir zu siebt mit dem alten Truck in Richtung Süden aufgebrochen. Mom, Dad, Ben, Mae, Charlie, Ruthie und ich. Eine Zeit lang hatten Ben und Mae das Internat für Indianer-Kinder besucht, und Mom wartete nur darauf, dass sie nach Hause kamen, auch wenn sie es nicht offen zeigte. Und wenn es dann endlich so weit war, konnten sie kaum aus dem Auto steigen, und schon war Mom bei ihnen, umarmte erst die eine, dann den anderen, nahm ihr Gesicht in die Hände, stand einfach da und schaute sie an, als wären sie aus Gold oder so. Sie küsste sie auf die Stirn und wiederholte ständig ihre Namen, so wie das Ave Maria. Dad klopfte Ben auf den Rücken und nahm Mae in den Arm, bevor er uns auf den Truck lud und zur Grenze fuhr. Der Indianerbeauftragte ließ sie uns nur zweimal im Jahr sehen, zu Weihnachten und zur Beerenpflückzeit. »Harte Arbeit wird ihren Charakter stärken und ihnen helfen, anständige Bürger zu werden, die ihren Beitrag leisten«, las Ben einmal aus einem wieder zusammengestückelten Brief vor, den Dad zuvor zerrissen hatte. Dad mochte Mr. Hughes nicht, den dicken Indianerbeauftragten mit den kleinen violetten Löchern auf der Nase. Und nachdem Dad diesen Brief gelesen hatte, mussten Ben und Mae nicht mehr zurückgehen. Sie durften bei uns zu Hause bleiben und die gleiche Schule besuchen wie Charlie und ich.

Im Augenblick schläft Ben in einem Einzelbett mir gegenüber. Meistens ist er nachts wach, weil er befürchtet, ich könnte während seiner Schicht meinen letzten Atemzug tun. Wenn er nicht da ist, liegt Mae in dem Bett und grummelt und schnarcht. Inzwischen gibt es nur noch uns – Mom, Mae, Ben und mich. Falls die Welt der Geister tatsächlich existiert, freue ich mich, die Menschen wiederzusehen, die ich verloren habe, sie zu umarmen und ihnen zu sagen, dass ich sie liebe und es mir leidtut. Auf beiden Seiten der großen Kluft muss ich mich bei einigen entschuldigen. Falls es den Himmel aber nicht gibt, werde ich es wohl nie erfahren, also befasse ich mich gar nicht erst damit. Eigentlich würde ich Mom gern sagen, dass ich am Himmel zweifle, doch sie glaubt, dass alle Menschen, die sie liebt und die gestorben sind, zur Rechten des Herrn sitzen.

In dem Sommer damals saßen wir an einem klaren Abend Mitte August alle am Lagerfeuer. Dad hatte gerade seine Geige beiseitegelegt, und wir waren müde vom Tanzen und Singen. Ruthie und ich breiteten eine Decke aus und legten uns hin. Wir legten die Hände unter den Kopf und sahen zu, wie die Glühwürmchen mit den Sternen um Aufmerksamkeit kämpften. Diejenigen, die Glück hatten und alt genug waren, machten sich auf den Weg nach Allen’s Mountain, um ihr eigenes Feuer zu entfachen. Mae tischte uns Märchen über Jungen und Mädchen auf, die tanzten und sich küssten, während sie sich ausnahmslos gut benahm und zurückhielt. Weder ich noch Ruthie nahmen ihr das ab. Schließlich war Mae für jede Party zu haben, bei der sie Ärger machen konnte. Doch bei uns am Lagerfeuer ging es um andere Themen.

»Sie behaupten, es ist gut und hilft den Kindern, sich anzupassen und Arbeit zu finden«, sagte eine alte Frau. Sie hatte Hände wie dicke Knoten, flocht aber die langen aschfarbenen Streifen in die Form eines Korbs, ohne ein einziges Mal nach unten zu blicken.

»Alles Schwachsinn, so seh ich das. Keiner hat das Recht, unsere Kinder einfach so wegzuholen, schon gar nicht die Weißen. Ihr seht doch, wie sie sie erziehen, entweder sie flennen oder sie quasseln. Die Weißen kennen keine Freude, und jetzt wollen sie uns auch unsere wegnehmen.«

»Versteht mich nicht falsch, ich bin froh, dass Ben und Mae zu Hause sind, aber man muss auch zugeben, dass sie ihnen die Lehren aus der Bibel beibringen«, sagte meine Mutter, während sie sich zum Feuer neigte, um die Socke besser zu erkennen, die sie gerade strickte. »Ich bin mir nicht sicher, ob es richtig war, Ben und Mae aus der Schule zu nehmen, aber Lewis ist fest davon überzeugt.« Meine Mutter hatte, ohne eigenes Verschulden, die Kirche lieben gelernt; die aufwendigen Zeremonien ersetzten jene, die man ihr während einer Kindheit, über die sie nur selten sprach, aus dem Herzen gerissen hatte. Ruthie stand auf und flüsterte mir ins Ohr, dass sie mal aufs Klo müsse, und hinterließ eine warme Kuhle in der Decke, auf der wir lagen. Sie kam nicht mehr zurück. Nach einer Weile ging Mom sie suchen und fand sie zusammengerollt und schlafend in der Hütte.

Schon am nächsten Tag war Ruthie verschwunden.

Dad marschierte die Reihen entlang, überprüfte, wie wir vorankamen, und wies auf ausgelassene Büsche und schludrige Arbeit hin. Am Ende jeden Tages traf er die Pflücker und notierte, wie viele Kisten sie an dem Tag gepflückt hatten. Einige der Bequemeren legten den Boden der Kisten mit grünen Blättern und Stängeln aus, damit es aussah, als hätten sie mehr gepflückt, als es wirklich der Fall war. Aber Dad fiel nie drauf rein, egal, wie oft sie’s versuchten. Die Pflücker wurden nach Kisten bezahlt. Mr. Ellis spazierte an einer der langen Schnüre entlang, die die Reihen voneinander trennten, als Ruthie mit einem kleinen Eimer voll Wasser aus der anderen Richtung zu Dad kam. Ruthies winzige Arme zitterten von dem Gewicht, als sie ihren kleinen blauen Plastikeimer mit dem weißen Henkel hochhob; früher hatten wir damit an Sonntagnachmittagen Sandburgen gebaut.

»Wela’lin ntus.« Dad nahm das Wasser, trank einen Schluck und dankte Ruthie.

»Sie ist eine ganz Stille, Lewis.« Mr. Ellis legte seine verschwitzte Hand auf ihren Kopf, strich in kreisenden Bewegungen über ihr Haar und machte mit seiner dicken Zunge einen geringschätzigen Laut, als wäre Ruthie einfältig oder so. Sie stand da und ließ ihn machen; sein Bauch hing über seinem Gürtel, seine Jeans strotzte von Fett und Schmutz. »Sie ist heller als deine anderen, Lewis. Letztlich ist das wahrscheinlich gut für sie, aber ich glaube, in dem Kauderwelsch mit ihr zu reden, ist nicht hilfreich.« Dad trank noch einen Schluck, gab Ruthie den Eimer zurück, legte seine Hand auf ihren Rücken und schob sie weg von Mr. Ellis in Richtung von Ben und mir. Der Rest des Wassers schwappte im Eimer, als Ruthie zu mir kam. Ben griff nach dem Eimer, doch ich schnappte ihn mir und kippte mir den Rest des Wassers über den Kopf. Ich hustete und spuckte, als ich etwas in den Mund bekam und versehentlich schluckte. Ruthie kauerte sich hin und rieb mir den Rücken, so wie sie es tausend Mal bei Mom gesehen hatte.

Irgendwann um die Mittagszeit fuhr Dad in seinem blauen Truck am Rand der Felder entlang, sammelte die hungrigen Pflücker ein und brachte sie zum Hauptfeld zurück, das dem Lager am nächsten lag. Dort verteilte Mom Wurstsandwiches. Das Brot war trocken und klebte an meinem Gaumen. Manchmal gab es Ketchup oder Senf dazu, aber meistens nur Brot und Wurst. Wenn Mom nicht hinsah, zog ich die Wurst raus und warf das Brot zu den Krähen. Wahrscheinlich hätte es eine ordentliche Tracht Prügel gesetzt, wenn sie das gesehen hätte. Mom duldete keine Verschwendung, nicht bei sieben eigenen Leuten, die sie satt kriegen musste, plus die anderen im Lager.

An diesem Tag saßen Ruthie und ich am Feldrand auf unserem großen Stein. Wir saßen gern dort, während sich die Jungs in ihren wenigen freien Minuten davonstahlen, um kurz im See zu schwimmen oder eins der Mädchen zu küssen. Mae bereitete schon das Abendessen vor, meistens Kartoffeln mit Fleisch, die im Freien bei Sonnenuntergang gekocht wurden. Da wir für das ganze Lager kochten, dauerte es eine Weile, bis die vielen Kartoffeln geschält waren. Mae beklagte sich ständig, und manchmal haute sie auch einfach ab. Sie trampte nach Bangor, ohne einen Gedanken an Dads Sorgen oder Moms Wut zu verschwenden. Nach Anbruch der Dunkelheit kam sie dann zurück und steckte Ruthie und mir heimlich Süßigkeiten zu. Wir fragten nie, woher sie die hatte – das war uns egal. Der Geschmack von Zucker und dem sauren Pulver war aufregend. Die Bonbons klebten in unseren Zähnen. Mom schrie ein bisschen herum, und Mae saß da und hörte zu. Danach war sie ein paar Wochen lang zuverlässig und machte sich nützlich, bis sie wieder verschwand. Mae war damals einfach unberechenbar.

Keine Menschenseele konnte sich daran erinnern, Ruthie an dem Tag gesehen zu haben, nachdem ich mein Brot den Krähen hingeworfen und meinen Zeigefinger auf die Lippen gelegt hatte. »Sag es nicht Mom, Ruthie.«

»Ich würd dich nie verraten, Joe.« Ihre Stimme war leise, und sie hatte diesen gewissen Ausdruck im Gesicht. Still und nachdenklich. Schon komisch, an was man sich erinnert, wenn irgendwas schiefgeht. Etwas, das man unter normalen Umständen sofort vergessen würde, bleibt einem dann für immer in Erinnerung. Ich weiß noch, dass Ruthie ein leichtes Sommerkleid trug, das von den älteren Mädchen weitergegeben worden war. Als es bei Ruthie landete, war es dünn, geflickt und viel zu groß für ihre zierliche Gestalt. Das ursprüngliche Blau war mit roten und grünen Flicken gemustert, und direkt unterm Arm war sogar ein kleines Stück brauner Cord von meiner Arbeitshose aus dem letzten Sommer eingenäht. Und ich erinnere mich an ihr Gesicht, das Gesicht meiner Mutter – die Ähnlichkeit war so verblüffend, dass jeder darauf anspielte –, als Ruthie wegsah und eine Krähe beobachtete, die herabstürzte und sich das Brot schnappte, das ich weggeworfen hatte.

Wie fast jeden Tag rannte ich, nachdem ich mein Sandwich gegessen hatte und bevor ich zum Pflücken zurückmusste, zum See hinunter, um Steine übers Wasser hüpfen zu lassen. Ich hätte nie gedacht, dass sie weglaufen würde. Nach dem Essen saß sie immer nur da, beobachtete die Vögel und wartete, bis Mom oder Mae sie abholte. Als Dad die Pflücker mit dem Truck zum Feld zurückfuhr, fiel ihm gar nicht auf, dass sie nicht da war. Erst als Mom zu dem großen Stein ging, um sie zu suchen, nachdem sie nicht zurückgekommen war, um Mae zu helfen, kam man auf die Idee, dass etwas nicht stimmen könnte. Mom rief nach ihr und dachte, sie wolle sich nur vor dem Helfen drücken, auch wenn das Ruthie überhaupt nicht ähnlich sah.

»Ruthie! Ruthie! Komm schon, Mädchen, hör auf, dich zu verstecken.« Mom ging an den Bäumen entlang, als ihr Dad mit dem leeren Truck entgegenkam. Er fuhr langsamer und folgte Mom auf der holprigen Schotterstraße.

»Was ist denn los?«

»Ruthie ist weggelaufen. Ich werde ihr den Arsch versohlen, wenn ich sie finde. Mir so einen Schreck einzujagen!« Dad lächelte und kurbelte das Fenster auf der Beifahrerseite hoch, um den Staub und die Kriebelmücken fernzuhalten. Dann fuhr er weiter die Straße entlang und ließ Mom zurück, die nach Ruthie rief.

Dad schnitt gerade Schnüre zurecht, um ein neues Feld abzugrenzen, als Mom ohne die Jüngste an ihrer Seite ins Lager zurückkehrte.

Draußen auf den Feldern waren wir überrascht, als wir Dads Truck wieder sahen, der Staub und Steinchen aufwirbelnd den Feldweg entlangfuhr. Er hielt an und rief uns zu sich. Ben, Charlie und ich schauten zur Sonne hoch und stellten fest, dass es noch nicht Feierabend war, ehe wir alles liegen und stehen ließen und zusammen mit den anderen auf die Ladefläche kletterten. Als wir das Lager erreichten, saß Mom auf einem der Plastikstühle, den Kopf in den Händen, Mae kauerte neben ihr.

»Hört gut zu. Wie es aussieht, ist Ruthie weggelaufen«, sagte Dad. Alle drehten die Köpfe gleichzeitig zu den Bäumen und dem Weg, der zum See führte, als könnte unser vereinter Blick sie zum Vorschein bringen. »Ich möchte, dass ihr euch zu Paaren zusammentut und zwischen den Bäumen sucht.«

Mae ging mit Charlie. Ich folgte Ben in den Wald. Das Gebüsch kratzte an meinen Beinen und meinem Gesicht. Bis zu meinem Todestag, und der ist nicht mehr allzu fern, werde ich mich an den Klang der Stimmen erinnern, die Ruthies Namen riefen. Wir durchkämmten den Wald bis zum See hinunter und suchten sicherheitshalber jeden Winkel am Ufer ab. Wir horchten auf den Jubelruf von jemandem, der sie gefunden hatte, doch er kam nie. Als die Sonne unterging und die Suche fortgesetzt wurde, war mir vom Kopf bis zu den Füßen übel. Die Rufe hallten in meinem Bauch wider, während der Himmel dunkler wurde. Ben blieb stehen, als ich mich auf den feuchten Boden setzen musste, um zu verschnaufen.

»Los komm, Joe, steh auf. Jetzt ist keine Zeit zum Ausruhen. Inzwischen hat Ruthie bestimmt Angst.« Ben packte mich am Arm, um mich hochzuziehen, aber meine Beine gaben nach, und ich fiel hart hin. »Joe, sei kein Baby, stell dich nicht an.«

Ich brach in Tränen aus, bevor ich mich von ihm wegdrehte und über einer moosigen Stelle übergab.

»Das darf doch nicht wahr sein. Komm schon, ich bring dich zurück.« Ben hob mich hoch und schwang mich auf seinen Rücken, als wäre ich leicht wie eine Feder. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Schulter. »Aber kotz mich nicht voll, sonst lass ich dich hier mitten im Nirgendwo fallen.«

Ich nickte schwach, und mein Kinn schlug gegen seine Schulterknochen.

Als wir zurückkamen, saß Mom immer noch auf dem Plastikstuhl und starrte ins Feuer. Es war fast Zeit fürs Abendessen, aber nichts deutete darauf hin. Mae hob mich von Bens Rücken und legte mich auf eine alte Decke auf dem Boden, den Kopf zu Moms Füßen. Sie nannte mich nicht mal einen Weichling, als Ben ihr erzählte, dass ich mich übergeben hatte.

»Mach dir keine Sorgen, Joe«, sagte Mom. »Wahrscheinlich ist sie nur zu weit gelaufen. Irgendwer wird sie schon finden. Mach dir mal keine Sorgen.« Sie beugte sich vor und strich mir mit ihren kräftigen Händen durchs Haar.

Es war die Tageszeit, in der die Sonne langsam der Nacht weicht und alles gespenstisch aussieht. Dad trat ans Lagerfeuer, aber ich war mir erst sicher, dass er wirklich da war, als er anfing zu sprechen.

»Ich fahre in die Stadt und hole die Polizei dazu. Es ist gut, wenn mehr Leute helfen, und vielleicht haben sie auch mehr Lichter als wir. Und sie ist ja auch noch ein kleines Mädchen.« Als ob ihr Alter etwas ändern würde. Dad drehte sich um, stieg in den Truck und fuhr los.

»Er glaubt immer noch, dass sie für uns da sind«, sagte Mom, während die Rücklichter in der düsteren Dämmerung verschwanden. Eine halbe Stunde später war er zurück – ein einziger Polizist in einem einzigen Streifenwagen folgte dem ramponierten Truck. Der Polizist, kleiner als Dad, aber genauso dünn, schien eine ganze Ewigkeit in seinem Wagen zu sitzen. Wir alle beobachteten, wie er nur dasaß und sich Notizen auf seinem Block machte. Manchmal blickte er hoch und spähte zu uns herüber, die wir uns um das Feuer versammelt hatten. Er war zu weit entfernt und es war auch zu dunkel, um ihn deutlich zu sehen, bis er endlich ausstieg. Dad zeigte auf mich, der noch immer zu Füßen meiner Mutter lag. Der Polizist kam zu mir und ging in die Hocke, um mit mir zu sprechen.

»Hast du heute Nachmittag etwas Merkwürdiges gesehen, Kleiner?« Ich schüttelte den Kopf. »Hast du deine Schwester in den Wald gehen sehen? Hinunter zum See?« Wieder schüttelte ich den Kopf. Sein Atem roch widerlich nach Zwiebeln und Kohl, die zu lange in der Sonne gelegen haben. Er stand auf und zog seine Hose zurecht, ehe er Mom und Mae die gleichen Fragen stellte. Er musterte die ums Feuer versammelten Leute und hörte kaum zu, wenn jemand etwas sagte. Mae wurde langsam gereizt.

»Stellen Sie immer bloß die gleichen blöden Fragen, oder wollen Sie uns helfen, sie zu finden?«, blaffte sie ihn an.

Mom packte Maes Hand, um sie zu beruhigen. Der Polizist drehte sich nicht mal in ihre Richtung. Ich erinnere mich noch deutlich daran, wie das Feuerlicht eine Hälfte von ihm in Schatten tauchte, sodass er wie ein Bösewicht aus einem der Comichefte aussah, die ich so toll fand, mir aber nie kaufen konnte.

Er klopfte mit dem Bleistift auf seinen Notizblock. »Tja, viel mehr, als bisher getan wurde, kann ich auch nicht machen. Gebt mir Bescheid, wenn ihr sie findet. Meine Notizen bewahre ich sicherheitshalber auf.«

»Sie wollen uns nicht helfen?«, fragte Dad.

»Tut mir leid« – er senkte den Blick auf seinen Notizblock – »Lewis. Ich bin sicher, ihr findet sie. Im Übrigen können wir nicht viel tun. Sie ist noch nicht lange genug verschwunden, und ihr seid keine richtigen Einwohner von Maine und geltet als Durchreisende. Sie verstehen mich doch.« Er verstummte und hoffte, dass Dad zustimmte. Dad verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. »Außerdem sind wir nur drei Polizisten, und vor zwei Wochen hatten wir einen Einbruch im Geschäft für Landwirtschaftsbedarf, darum …«

Er ging zu seinem Wagen zurück und wollte schon einsteigen, als Dad ihn am Kragen packte. Der Hut des Polizisten fiel herunter, prallte von der Wagentür ab und landete zu Dads Füßen.

»Sie ist ein kleines Mädchen«, sagte Dad ruhig.

Der Polizist fing sich wieder, stand zwischen Auto und Tür, Dads Hände noch immer an seinem Kragen. »Ich würde vorschlagen, Sie nehmen Ihre Hände von mir weg. Ihr seid hier mehr, die suchen können, als ich auftreiben könnte. Und jetzt lassen Sie mich los.«

Dad ließ los, und der Polizist rückte seine Jacke zurecht. Dann bückte er sich, hob seinen Hut auf und klopfte ihn gegen die Autotür, um den Staub zu entfernen.

»Wenn ihr so besorgt um das Mädchen seid, dann hättet ihr vielleicht besser aufpassen sollen. Und jetzt tretet zurück. Ich habe gesagt, dass ich meine Notizen aufbewahre für den Fall, dass wir was hören. Ihr könnt mir gern Bescheid geben, wenn ihr sie findet.« Er stieg in sein Auto, darauf bedacht, meinen Dad nicht aus dem Auge zu lassen. Dad war so groß und dünn wie eine Weide, aber wenn er wütend wurde, wirkte er Furcht einflößend. Der Wagen fuhr rückwärts in eine Lücke zwischen den Bäumen, drehte um und fuhr den staubigen Weg zur Route 9 zurück. Dad hob einen großen Stein auf, warf ihn dem Streifenwagen hinterher und zerschmetterte ein Rücklicht. Das Auto hielt kurz an, dann fuhr es weiter, bis das eine verbliebene Licht endgültig verschwand.

»Du hast doch gewusst, dass sie uns nicht helfen würden, Lewis. Du hast zu viel Vertrauen in diese Leute.« Mom setzte sich wieder, lehnte sich zurück und starrte in die Sterne, während sie anfing zu weinen.

In dieser Nacht schlief niemand. Ich wurde allein ins Bett geschickt und lag neben einem Platz, auf dem eigentlich Ruthie hätte liegen sollen. Das Licht, das vom Feuer herüberstrahlte, stahl sich durch die dünnen Ritzen der Kiefernbretter der Außenwände. Das gedämpfte Murmeln der Erwachsenen drang zu mir, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Ich presste die Augen so fest zu, bis ich Sterne sah. Als sie wieder verblassten, zeichnete ich ein Bild von Ruthies Gesicht auf die Innenseite meiner Augenlider.

Zwei Tage nach Ruthies Verschwinden kam Mr. Ellis vorbei. Er hatte sich bisher nicht sehen lassen, aber wir waren zu beschäftigt gewesen, um es zu bemerken. Er wusste über Ruthie Bescheid. Alle Camps entlang der Route 9 wussten es inzwischen. Doch als die Beerenkisten auch am dritten Tag leer blieben, hielt er seinen Truck an, stieg aus, winkte Dad zu sich und tat so, als hörte er die Suchenden nicht, die immer noch ihren Namen riefen.

»Lewis, das ist nicht mein Problem. Das ist wirklich nicht mein Problem. Weißt du, was mein Problem ist? Die Beeren müssen gepflückt werden.« Mr. Ellis zeigte zu den Feldern, wo niemand pflückte. »Und wenn ihr nicht wieder an die Arbeit geht, gibt es jede Menge andere Indianer, die liebend gern auf diesen Feldern arbeiten würden.«

Sein Speichel traf Dad ins Gesicht, und alle warteten erstarrt, ob Dad ihn mit einem Schlag niederstrecken würde, aber er tat es nicht. Für einen Kampf schien Dad keine Kraft mehr zu haben.

»Also, zurück an die Arbeit«, rief Mr. Ellis, als er in das Führerhaus seines Trucks kletterte. »Tut mir leid mit eurem vermissten Mädchen«, sagte er im Wegfahren aus dem Fenster zu Mom.

Wir suchten noch zwei Tage nach Ruthie und wechselten uns beim Beerenpflücken auf den Feldern ab. Mr. Ellis kam jeden Vormittag um halb elf vorbei, also waren um diese Zeit jede Menge Leute am Pflücken. Er nickte kurz und fuhr weiter. Doch von dem Zeitpunkt an, als die Sonne aufging, bis sie hinter den Bäumen verschwand und die Hoffnung mit sich nahm, suchten wir nach Ruthie und nahmen uns nur die Zeit, die Beerenkisten mit Gras und Zweigen zu füllen, bevor die Sonne unterging. Wir riefen ihren Namen so oft, dass die Bäume ihn auswendig kannten. Wir wanderten die Route 9 hoch und runter, suchten auf den Feldern und der anderen Seite des Sees, ohne eine einzige Spur von ihr zu finden. Sie war nicht in dem lichten Wald, der am hinteren Ende der Beerenfelder entlangführte, und sie war in keinem der Schuppen oder verrosteten Kühlschränke der wenigen benachbarten Häuser.

Nach vier Tagen ohne ein Zeichen von Ruthie wurde Moms Stimmung zunehmend unberechenbar. Sie verließ ihren Stuhl nur noch, um zur Toilette zu gehen oder um sich auf Ruthies großen Stein zu setzen. Mae fand sie neben dem Stein, wo sie sich die Augen ausweinte, weil sie Ruthies kleinen Fußabdruck in der Erde erkennen konnte. Mae schaute aus allen erdenklichen Winkeln auf den Boden, aber da war nirgendwo ein Fußabdruck. Sie konnte Mom nicht dazu bewegen, mit ihr zu kommen, bis das Wetter umschlug und der Regen den unsichtbaren Fußabdruck zum Graben am Ende der Schotterstraße spülte. Mae führte sie zur Hütte zurück, und auf dem ganzen Weg jammerte sie und verfluchte Gott in der alten Sprache, die nur sie und Dad noch kannten.

Dad bezahlte einen der anderen Pflücker, um Mom zusammen mit Mae nach Nova Scotia zurückzufahren. Bevor sie aufbrachen, weinte Mom stundenlang. Es war beunruhigend, meine Mutter in diesem Zustand zu sehen. Sonst weinte sie nie. Wir sahen zu, wie der alte ramponierte 1952er Crosley-Kombi die Schotterstraße entlangkroch und Rost herunterfiel, sobald er über eine ausgetrocknete Schlammpfütze fuhr. Ich winkte, während die rissige Hand meines Vaters auf meiner Schulter lag.

Nachdem Mom weg war, steckten die Frauen im Lager die Köpfe zusammen und tuschelten kopfschüttelnd über das Schlimmste, was einer Frau widerfahren konnte.

»Es ist schrecklich, ein Kind zu verlieren. Ich habe drei vor der Geburt verloren, und ein kleines starb vor vierzig Jahren am Fieber. Über so was kommt eine Frau nie hinweg.« Die alte Frau schüttelte den Kopf und beugte sich über ihr Nähzeug, um möglichst viel Licht vom Feuer abzubekommen.

»Und vor allem so ein stilles und liebes Mädchen wie Ruthie.«

»Hoffentlich macht es ihr nicht zu viel aus. Sie hat noch vier andere Kinder, die brauchen auch eine Mutter.«

Ich saß da, hörte zu und dachte, dass es Mom besser ginge, wenn ich und nicht Ruthie verschwunden wäre. Sie hatte drei Jungen und nur zwei Mädchen. Ich war der Jüngste, auf mich hätte man gut verzichten können. Zumindest an dem Abend redete ich mir das ein, während das Feuerlicht traurige Schatten auf den Boden warf. Es war schlichte Mathematik.

Sechs ganze Wochen lang suchten wir nach Ruthie, bis die Beerenfelder leer und die Kartoffeln aus der Erde gezogen waren und es Zeit für die Rückfahrt wurde. Wir packten das Lager zusammen und nahmen die Besitzer des Kombiwagens auf der Ladefläche unseres Trucks mit. Niemand sprach über sie, aber als wir an dem großen Stein vorbeifuhren, wo ich sie das letzte Mal mit einem Sandwich in der Hand gesehen hatte, wusste ich irgendwie, dass wir Ruthie zurückließen.

2
Norma

Als ich klein war, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, hatte ich oft seltsame Träume. Einer war voller Licht, der andere ganz dunkel. Erst als ich dann um die fünfzig war und Mutter langsam ihren Verstand verlor, wurde mir klar, dass es sich um ein und denselben Traum handelte. Im ersten saß ich auf der Rückbank eines Autos, als die Sonne durch die Bäume brach, die die Straße säumten. Das Licht glitzerte auf dem Autofenster, und ich blinzelte. Ich hielt das Gesicht in die Sonne, die sich schön warm anfühlte. Mein Haar, das normalerweise zu einem festen Zopf auf meinem Rücken geflochten war, um die Zecken fernzuhalten, kitzelte mich an der Nase. Ständig hob ich meine winzigen Hände mit den schmutzigen Fingernägeln, um das Haar wegzuschieben. Aus irgendeinem Grund hatte ich nur einen Schuh an, der andere lag auf dem Boden vor mir. Das Auto fuhr schnell und roch nach Seife und neuem Leder. Es gab keine Klimaanlage, weshalb meine dünnen braunen Beine am Sitz klebten und der Schweiß kleine ovale Flecken auf dem Leder hinterließ. Ich hob mein fadenscheiniges Kleid hoch und versuchte, es unter die Beine zu ziehen. Mutter hätte sich geärgert, wenn ich auf einem fremden Autositz geschwitzt hätte. Ich blinzelte die Sternchen weg, die vom zu langen Gucken in die Sonne kamen, als sie auf dem Vordersitz mit mir sprach. Ich blickte auf und sah das Gesicht einer Frau, die zwar nicht meine Mutter war, aber das Gesicht meiner Mutter hatte. Und dann wachte ich auf.

In meinem dunklen Traum war der Himmel schwarz, nur den Mond umgab ein kleiner blauer Hof. Lichtbrechung, lernte ich später im Leben. Der Mond schien hell, und der Hof war so blau, dass sich meine Augen auf keinen einzigen Stern fixieren ließen. Alles ringsum wurde von dem Licht geschluckt. Ein paar Wolkenfetzen hingen am Himmel, doch es wollte nicht regnen. Mir war nicht klar, woher ich das wusste, aber ich wusste es. »Das sind keine Regenwolken«, sagte eine vertraute Stimme zu mir. Ein Feuer brannte nicht weit entfernt von der Stelle, wo ich stand. Das Gras war kühl und nass. Der Mond brachte feuchte Füße und Frösteln mit sich. Leute waren um ein Feuer versammelt, und eine Frau drehte sich zu mir, nickte, wandte sich wieder den Flammen zu und war in Schatten getaucht. Ich musste pinkeln.

Ich hörte Streifenkäuze, die sich gegenseitig riefen, und dann das weit entfernte Heulen eines Kojoten, aber das machte mir keine Angst. Heute ist das anders, wenn ich in unserem Ferienhäuschen bin, das Mark und ich gemietet hatten, als wir verheiratet waren, und ich allein bin und die Kojoten anfangen zu heulen. Dann muss ich meinen ganzen Mut zusammennehmen, um nicht ins Auto zu steigen und wieder nach Boston zurückzufahren. Das Einzige, was mich dort hält, ist der Gedanke, dass mich ein Kojote auf dem kurzen Sprint vom Haus zum Auto erwischen könnte. Das Alter bringt alle möglichen Ängste mit sich. Doch in diesem Kindheitstraum jagten mir die Nachttiere keine Angst ein.

In dem Traum stand ich da und verschmolz mit der Nacht. Jemand lachte, und ich erkannte meinen Bruder, was merkwürdig ist, da ich ein Einzelkind bin. Ich schauderte, und die Frau am Feuer drehte sich wieder um. Sie suchte nach mir, gestikulierte, winkte mich in Richtung der Leute. Ich frage mich, warum sie in der Dunkelheit verborgen blieb. Ich weiß, wie sie roch, ich kannte den Klang ihrer Stimme. Ich spüre, wie mich ihre Hände, abgenutzt vom jahrelangen Bemuttern, bei einem Gewitter trösten. Ihr Gesicht war und blieb mir, bis vor wenigen Wochen, ein Rätsel. Sie war immer eine Silhouette ohne Farbe in den Augen, ohne Rot in den Lippen und ohne Augenfältchen, die das Verstreichen der Zeit markieren. Sie existierte ausschließlich in der Nacht. Immer wenn ich aufwachte, trauerte ich um die Frau, die in Dunkelheit gehüllt war, und ich wollte sie rufen. Ich kannte sie zwar, aber sobald ich ihren Namen aussprechen wollte, klebte meine Zunge am Gaumen fest, und ich vergaß ihn. Meine Kehle vibrierte, doch kein Ton kam heraus. Ich war so angefüllt mit Traurigkeit, dass die Tränen flossen, ehe ich die Augen überhaupt öffnete.

Manchmal offenbarte sich die Traurigkeit auch als Angst. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Situationen, aber ich weiß noch, dass ich begriff – nicht nur dachte, sondern wirklich begriff –, dass mein Haus nicht mein Haus war. Nichts war dort, wo es sein sollte. Niemand war, wer er sein sollte.

»Wir sind umgezogen, Liebes. Du erinnerst dich nur an das alte Haus. Mehr nicht.« Sie schaffte es immer, mir das Gefühl zu vermitteln, dass ich dumm war, wenn ich solche Dinge sagte. Dumm, als ich klein war, aber beschämt, als ich älter wurde.

Und wenn ich über die Frau sprechen wollte, wenn ich anfing, mich an ihr Gesicht, ihre Züge und ihr Haar zu erinnern, gab es eine andere vernünftige Erklärung.

»Ich musste fort, um mich ein paar Wochen um deine Tante June zu kümmern, weißt du nicht mehr? Nach ihrer Operation.« Eine Operation, die mir nie näher erklärt wurde und die, wie ich später erfuhr, eine vollständige Lügengeschichte war.

»Du bist verwirrt. Du denkst an die Cousine deines Vaters, die in der Zeit bei dir war.«

Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass etwas nicht stimmt. Aber als ich klein war, dachte ich, es läge an mir. Dann vergaß ich es rasch wieder. Und die Träume blieben.

Ich versuchte, mit Vater über meine Träume zu sprechen. Obwohl er jedes Mal eine absolut vernünftige Erklärung parat hatte, konnte ich den Traum nicht wegstecken. Ich konnte ihn nicht zusammenfalten und hinten in eine Schublade stecken, damit er in Vergessenheit geriet.

»Norma, Liebes.« Er seufzte. »Wahrscheinlich denkst du an eine der Frauen, die im Sommer unsere Kirche besuchen. Eine Frau, die mal nett zu dir war.« Er friemelte an seinen Fingern, wenn er über das Thema sprach, und zog kleine Hautfetzen von der Ecke, wo der Nagel auf den Daumen traf. Manchmal steckte er den Daumen auch in den Mund, um die Blutung zu stoppen. Wenn ich über meine Träume sprach, hatte er noch eine Woche später Verbände an den Daumen.

»Träume ergeben oft keinen Sinn, Norma. Ich war in einem Traum mal ein Seepferdchen. Das heißt aber nicht, dass ich wirklich eins bin«, sagte Vater zu mir, als ich anfing, die Frau am Feuer zu beschreiben.

»Aber sie ist so echt«, sagte ich. In den ersten paar Minuten nach dem Aufwachen sah ich alles ganz deutlich vor mir. Ich konnte das Lagerfeuer und die kochenden Kartoffeln riechen. Ich litt mit jedem Atemzug, wenn die Gerüche verblassten. Und dann weinte ich, aber nicht nur ein bisschen, sondern tief aus meinem Inneren.

Wenn das laute Schluchzen anfing, eilte Mutter in mein Zimmer und schaltete die kleine Arche-Noah-Keramiklampe mit den paarweise aufgereihten Elefanten und Enten an. Das Klicken der Schnur, die die kleine Lampe zum Leuchten brachte, war meine erste wirkliche Erinnerung, abgesehen von dem Traum. Und die Lampe warf ihr Licht auf ein kleines Bett mit Plüschtieren und eine selbst gemachte Patchworkdecke in Rosatönen, deren Spitzenrüschen bis zum Boden reichten. Noch heute kann mich das Licht einer Lampe, wenn es die einzige Lichtquelle ist, in dieses Zimmer zurückversetzen und den Geruch von Schweiß und Urin heraufbeschwören, der meine bonbonrosa Laken durchdrang. Irgendwo habe ich die Lampe noch aufbewahrt, vielleicht im Ferienhaus. Die Patchworkdecke ist längst verschwunden.

»Das ist nur ein Traum, meine Süße, nur ein Traum. Mutter ist jetzt bei dir. Schon gut, Norma, ist doch bloß ein Traum, bloß ein Traum. Nichts als ein dummer Traum. Nur ein Traum.« Nachts war ihre Stimme leiser als tagsüber. Sie hielt mich fest im Arm, schaukelte mich vor und zurück und summte Kirchenlieder. Die Uhr im Flur tickte, bis der kleine Holzvogel herausspähte, um dreimal zu piepsen, und die ganze Zeit über saß Mutter da und schaukelte mich. Sie hielt mich so lange im Arm, bis meine Tränen versiegten und die Schatten an den Wänden entlangkrochen und im Grau des Morgens verschwanden. Manchmal, wenn ich nicht sofort aufhörte zu weinen, baute sie ein kleines Bett auf dem Fußboden und benutzte alle zusätzlichen Kissen aus dem Schrank am Ende des Flurs. Ein paarmal kochte sie Milch mit ein bisschen Vanille und ließ mich aus einer Teetasse trinken, die mit blauen Blumen bemalt war – eine Tasse, die ich tagsüber nicht anrühren durfte. Den vollen Milchgeschmack noch im Mund, schlief ich mit meiner Mutter an der Seite wieder ein. Ich liebte das Gefühl, wenn ihr Arm über mir lag und ihre Hand meine hielt, bis sie vom Schlaf schlaff wurde. Wenn ich morgens aufwachte, war sie fort, lag wieder im Bett, das sie mit Vater teilte, aber ihr Geruch hing noch in dem Kissen neben mir. Meine frühe Kindheit war von Gerüchen bestimmt. Lagerfeuer und kochende Kartoffeln am Abend, Ivory-Seife und Whiskey, von dem sie dachte, ich wüsste nichts davon, am Morgen.

»Vielleicht sollten wir zu jemandem gehen, der ihr hilft. Ein Priester vielleicht?« Mutter sprach gedämpft, ihre Lippen bewegten sich kaum, als trüge sie ein Geheimnis auf der Zunge und fürchtete, es könnte entwischen, wenn sie zu laut sprach. Diesmal war der dunkle Traum äußerst lebhaft gewesen. Das Dunkel war schwärzer, der Mond heller, aber die Stimmen waren weiter entfernt. Das machte mir Angst. Und ihre dunklen Augenringe und die Art, wie sie die Töpfe schrubbte, sagten mir, dass es auch meiner Mutter Angst machte. Sie stand hinter der Küchentheke und sah mich an, um festzustellen, ob ich ihr zuhörte.

An den Tagen nach meinen Träumen durfte ich nicht allein sein. Also saß ich auf dem Fußboden im Wohnzimmer, neigte den Kopf und strengte mich an, meine Eltern zu hören. Ich saß an der Stelle, wo ich die beiden am besten sehen konnte, und wenn Mutter mich entdeckte, senkte sie die Stimme. Vor mir lag ein Stapel Jugendbücher und meine Babypuppe. Ich war neun, eigentlich zu alt für die Babypuppe, aber Mutter fühlte sich besser, wenn ich sie bei mir hatte. Wenn sie mich beobachtete, drückte ich die Puppe an mich, zog sie an und wieder aus, tat so, als fütterte ich sie. Ich kämmte ihre gelben Nylonhaare und flocht sie zu Zöpfen. Dann flüsterte ich ihr mütterliche Dinge in ihre winzigen Plastikohren. Aber wenn Mutter mich nicht beobachtete, legte ich die Puppe beiseite und suchte nach einem Buch, einem Puzzle oder irgendetwas, das für ein neunjähriges Mädchen interessanter war. Wenn mich Mutter ohne die Puppe sah, suchte sie nach ihr, setzte sie neben mich und wartete, bis ich sie nahm und an mich drückte.

»Sie ist noch ein Kind, Lenore. Sie hat Albträume, aber sie kommt damit zurecht. Wir brauchen keinen Priester. Das wächst sich aus. Sie wird es vergessen, ganz bestimmt.« Vater nippte an seinem Kaffee und widmete sich wieder seiner Zeitung. Es war Samstagvormittag, und er war angezogen, als wollte er ins Gericht, sein graues Haar war nach hinten gestrichen, der Schnurrbart ordentlich gekämmt. Er trug ein weißes Anzughemd und eine Krawatte, für den Fall, dass wir irgendwohin gingen. Im Sommer nahm er die Krawatte ab, wenn er Rasen mähte, im Winter, wenn er Schnee von der Einfahrt schaufelte. Mutter sagte, dass die Menschen einem Richter vertrauten, die richtige Entscheidung zu treffen, solange er sauber und ordentlich war. Sauberkeit war Mutters Lösung für die meisten Probleme.

»Es ist mehr als ein Traum. Und du weißt genau, was ich meine. Tu nicht so, als wüsstest du das nicht.«

Er sah mich durch die Türöffnung an, die das Wohnzimmer von der Küche trennte. Ich drehte mich schnell weg und tat, als wüsste ich nicht, dass sie über mich sprachen. Er las seine Zeitung weiter, und Mutter stürmte davon, soweit sie in ihren dicken Absätzen stürmen konnte, die sie sogar im Haus trug. Sie ging in ein anderes Zimmer und widmete sich irgendeiner unnötigen Arbeit.

Als ich viel älter war und mich nur noch vage an die Träume erinnerte, dachte sich Mutter eine neue Theorie aus, die sie aufrechterhielt, bis die Krankheit anfing, ihren Verstand zu untergraben. Die Träume, sagte sie, seien nichts weiter als das Resultat von zu viel Zucker vor dem Schlafengehen. Was merkwürdig war, da Zucker in unserem Haus aus Sorge um meine Zähne stark rationiert war. Ich bedachte sie mit dem gleichen verärgerten Blick wie mein Vater, und sie wandte sich ab, um die Geschirrtücher neu zu falten oder den bereits vollen Salzstreuer aufzufüllen. Aber irgendwann hörte ich auf, über die Träume zu sprechen. Es ging nicht anders. Ich träumte zwar weiterhin, nur erwähnte ich es nicht mehr, zumindest nicht meiner Mutter gegenüber. Das letzte Mal, als ich das Auto oder die Mutter in meinem Traum ansprach, zerbrach sie ein schweres Trinkglas. Sie knallte es so fest auf die Theke, dass es in drei große Stücke zersprang und sie sich in den weichen Teil ihrer Handfläche unterhalb des Daumens schnitt. Fünf Stiche. Das war das letzte Mal. Ich spürte das Gewicht der Schuld auf meinen Schultern, und immer, wenn das Gefühl langsam wieder verschwand, drehte sie ihre Hand in meine Richtung und zeigte mir die Narbe.

Wenn meine Mutter etwas unglaublich gut beherrschte, dann Schuldgefühle auszulösen. Schuldgefühle auszulösen, begleitet von einem Putzfimmel. Ich träumte, und sie putzte. Und wenn sie putzte, fühlte ich mich schlecht. Während Vater bei der Arbeit war und ich in der Schule, beschäftigte sie sich mit Hausarbeiten, die sie schon am Tag davor und am Tag davor gemacht hatte. »Für den Fall, dass jemand unangekündigt vorbeikommt«, sagte sie. Aber ich erinnere mich nicht daran, dass außer Mutters Schwester, meiner Tante June, überhaupt jemand zu Besuch kam. Jedenfalls blieb dem Staub gar nicht die Zeit, sich niederzulassen, bevor sie ihn mit einem Tuch oder dem Staubsauger einfing. Und bei der seltenen Gelegenheit, wenn die Frauen vom Wohltätigkeitsverein kamen und Spenden sammelten, empfing Mutter sie an der Tür, während sich die Frauen den Hals verrenkten, um etwas zu sehen. Meistens hatte Mutter ihren Geldbeutel zur Hand, oder ein Tablett mit Cupcakes stand für den Kuchenbasar bereit. Die Frauen kamen nie weiter als bis zur Eingangstreppe. Sie versuchten es, aber nicht einer von ihnen gelang es. Jahre später erfuhr ich die Geschichten, die man sich über unser Haus erzählte – Zeitungsstapel, die höher waren als mein Vater, und eine tote Verwandte, mumifiziert im Keller. Letzteres hörte ich, glaube ich, schon in der Grundschule von einem sommersprossigen Jungen namens Randall, der schlecht roch und bei allen unbeliebt war. Erst in der siebten Klasse erfuhr ich, dass meine Mutter als die komische Frau des Richters in der Maple Street bekannt war. Und ich war folglich die komische Tochter.

»Sie ist nur wachsam, mehr nicht«, sagte Tante June. »Sie weiß gern, wo alles und jeder sich befindet. Das beruhigt sie.« Tante June war die Einzige, die aus Mutter schlau wurde, und sie bemühte sich, mir zu helfen, dass auch ich schlau aus ihr wurde.

»So war sie nicht immer, Spätzchen. Als Kind hat sie alle in Grund und Boden geredet. Ich schwöre dir, dieses Mädchen konnte man in Timbuktu hören. Und sie war glücklich, immer quietschfidel«, sagte Tante June, ehe ihr Gesicht ernst wurde. »Erst nach den toten Babys wurde sie still und unheimlich. Für eine Frau ist das schwer. Dann hatte sie eins, das zwar voll ausgebildet war, aber das kleine Ding hatte keine Luft in der Lunge. Ein Mädchen.« Sie verstummte und atmete tief durch. »Und dann kamst du, und das war gut. Sie hat einfach Angst, dass sie dich verliert. Das ist alles. Nicht mehr und nicht weniger. So viel Liebe ist doch etwas wert.«

Ich nickte und leckte an dem Eis, das Tante June mir gekauft hatte, bevor sie mit dem Zug nach Boston zurückfuhr. Schokoladensofteis mit Vanille obendrauf und Erdbeere in der Mitte, weich und kalt auf meiner Zunge. Vater wartete im Auto, und Mutter hatte zur Toilette gemusst, also wartete ich allein mit Tante June auf den Zug.

»Vergiss das nicht. Erinnere dich daran, dass sie alles aus Liebe tut. Manchmal vielleicht unangebracht, aber bis oben hin voll mit Liebe. Vergiss das nicht, Spätzchen.« Ich musste ihr die Hand darauf geben.

Ich glaube nicht, dass sich jemand daran erinnert, wann er anfing, die Welt zu begreifen. Ich jedenfalls kann mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal mit jemandem gefühlt oder wann ich einen Erwachsenen das erste Mal als normal oder seltsam, freundlich oder gefährlich eingestuft habe. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal im Kino geweint habe, weil ich den Liebeskummer eines anderen mitfühlte, oder wann mir das erste Mal die Schamesröte für den Fehler eines anderen ins Gesicht gestiegen ist. Aber ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich begriff, was Unterschied bedeutet. Und ich meine nicht den Unterschied zwischen selbst gebackenen Schokoplätzchen und gekauften. Ich spreche von echtem Unterschied.

Ich muss neun gewesen sein, denn mit neun fing ich an, mit Alice zu sprechen, und ich erinnere mich, dass die beiden Ereignisse eng zusammenlagen. Jedenfalls fuhren wir, als ich neun war, zum Strand. Der Strand war der einzige Ort auf Erden, wo Mutter friedlich wirkte. Ich könnte schwören, dass ihre Haut lockerer wurde, ihre Rückenmuskeln sich entspannten, und ihre Mundwinkel öfter nach oben als nach unten zeigten. Am Strand sah ich ein wenig von der Person, die Tante June so gut kannte. Wenn es kein Bild gäbe, käme ich vielleicht auf den Gedanken, dass meine Erinnerung mir einen heimtückischen Streich spielte, wie das manchmal der Fall ist. Ein Bild in Schwarz-Weiß, von meiner Mutter im Badeanzug, wie sie über eine Welle springt, die Hände in Richtung Sonne gestreckt und die Haare ein Wirrwarr aus Licht, das sie wie ein Heiligenschein umgab. Als Vater starb, stahl ich das Bild aus seinem Nachttisch.

An jenem Tag wanderten wir am Strand entlang und sammelten zerbrochene Muschelschalen. Ich war enttäuscht, dass ich keine fand, die man sich ans Ohr halten und dann das Meer rauschen hören konnte.

Vater schimpfte mit mir, weil ich deswegen schmollte. »Norma, sei nicht albern. Du brauchst keine Muschel, wenn das Meer nur ein paar Meter entfernt ist.«

Murrend baute ich eine Sandburg mit einem kleinen blauen Eimer mit einem weißen Henkel, den Mutter mir im Kaufhaus besorgt hatte. Ich liebte diesen blauen Eimer. Als ich ihn in der Einfahrt vergaß und Vater rückwärts drüberfuhr und ihn in Stücke zermalmte, weinte ich. Doch an dem Tag damals am Strand hatte er noch den Glanz von neuem Plastik.

Ich blickte von meinem unförmigen Sandhaufen auf und betrachtete die vorbeigehenden weißen, von der Sonne rot verbrannten Körper. Einige blieben stehen, um meine Burg zu bewundern, obwohl sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer Burg aufwies. Andere ignorierten mich völlig. Mutter saß in der Sonne, das Kinn zum Himmel gereckt, und Vater trank ein Bier und las ein Buch unter einem Sonnenschirm, der ständig umkippte. Ich sah auf meine Hand, dunkel vom Sommer, voller winziger Sandkörner und noch dunklerer Sommersprossen. Die Haut war glatt, und die Nägel formten hübsche Halbmonde, die Mutter erst am Tag zuvor in die perfekte Form und Länge gefeilt hatte.

»Wieso bin ich so braun?« Ich stand vor meiner Mutter, die ihren Arm über die Augen legte. »Ihr seid so weiß, und ich bin so braun.«

Mutter richtete sich auf und schaute vorsichtig zu Vater, der sein Buch verkehrt herum aufs Knie legte. »Dein Urgroßvater war Italiener«, sagte er mit einer Autorität, die keinen Raum für Zweifel ließ. »Du hast seinen Hautton geerbt, und in der Sonne kommt er zum Vorschein.«

Ich hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben, und wandte mich wieder meinem Sandhaufen zu. »Darf ich ein Bild von ihm sehen, wenn wir zu Hause sind?«

»Nein, sie sind alle bei einem Feuer verbrannt.«

Mit diesem Feuer, das stattgefunden hatte, als ich noch zu klein gewesen war, um mich daran zu erinnern, war vieles verschwunden, einschließlich aller Bilder von mir vor meinem fünften Lebensjahr und nun auch das Bild der einzigen Person in meiner Familie, die vielleicht so ausgesehen hatte wie ich. Ich verfluchte dieses Feuer und baute weiter an meiner Sandburg.

Ein paar Wochen später, kurz nach Schulbeginn, spielte ich hinten im Garten. Die Mücken stachen noch nicht, also muss es Nachmittag gewesen sein. Die Sonne brannte mir heiß in den Nacken. Ich hatte meine Freizeitkleider an – ältere Sachen, die ich irgendwie mit Flecken oder durch schlichtes Wachsen ruiniert hatte. Die Ärmelbündchen endeten knapp unterhalb der Ellbogen, und das Oberteil spannte über Brust und Bauch. Ich buddelte in der dunklen, kühlen Erde im Garten und bereitete die Beerdigung eines großen toten Junikäfers vor, dessen harte Flügel selbst noch im Tod in der Sonne glänzten. Es tat mir leid, dass er wegen unseres Verandalichts gegen das Fenster geflogen und gestorben war. Ich zog einen Wurm aus dem Loch, das ich mithilfe eines großen Silberlöffels aus der Küche grub, als das Telefon klingelte. Mutter legte ihr Buch beiseite und schaute ins Haus, dann zu mir und wieder ins Haus, als es zum dritten Mal klingelte. Schließlich stand sie auf, ging hinein und ließ mich mit dem Löffel und dem toten Käfer allein zurück.

Sie war noch nicht lange weg, als ich vorne Stimmen hörte, Kinderstimmen, die sich gegenseitig etwas zuriefen. Ich durfte abends nie Fahrrad fahren wie die anderen Kinder. Unter der gewissenhaften Aufsicht meines Vaters durfte ich die Einfahrt zwar hoch- und runterfahren, aber mir war verboten, ein paar Straßen weiter auf dem überwucherten Feld Baseball zu spielen. »Auf keinen Fall. Raufbolde und Insekten. Und Eltern, denen offenbar egal ist, was mit ihren Kindern passiert«, war die Antwort, die ich bekam, wenn ich fragte, ob ich gehen dürfe. Mit Ausnahme des Fahrradfahrens war ich auf den Garten vor und hinter dem Haus beschränkt. Aber etwas an den Stimmen zog mich an diesem Tag nach vorn. Ich erreichte den Rand des Rasens, als ein paar Kinder, die ich aus der Schule kannte, auf ihren Rädern vorbeifuhren. Ein paar winkten und riefen grüßend meinen Namen. Ich winkte zurück, und sie verschwanden gerade um ein paar Bäume an der Ecke, als ich mit solcher Wucht zurückgezogen wurde, dass ich sicher war, mein Arm würde sich vom Körper lösen. Ich stolperte, hielt aber das Gleichgewicht, während Mutter mich die Treppe hoch und ins Haus zerrte. Die Vorhänge waren wie immer geschlossen, und ich musste blinzeln, um mich an das Halbdunkel zu gewöhnen.

»Tu mir das nie, ich wiederhole, tu mir das nie wieder an.« Sie schnaufte schwer, und auf ihrer Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. »Jemand hätte dich mitnehmen können. Verstehst du? Sag schon.« Ich nickte. »Was sollen wir tun, wenn dich jemand einfach vom Rasen geholt und mitgenommen hätte? Nach allem, was wir durchgemacht haben, was soll ich dann tun?« Ihre Finger bohrten sich in das weiche Fleisch meines Oberarms, und ich bemühte mich stillzuhalten, obwohl es wehtat. Am nächsten Tag entdeckte ich fünf blaue Flecken, jeder in Form einer Kirsche.

»Tut mir leid, Mutter. Das wollte ich nicht, ehrlich«, flüsterte ich und erinnerte mich an den Handschlag mit Tante June.

Sie unterbrach ihre Zurechtweisung, um die Spitzengardinen zurückzuziehen und auf die leere Straße zu blicken. Zufrieden, dass niemand dort war, der mich vom Rasen entführen wollte, setzte sie sich zu mir, schlang ihre Arme um meinen Kopf und schaukelte mich hin und her, so wie früher, wenn ich meine Träume hatte. Ich ließ ihre Umarmung mit angespannten Muskeln über mich ergehen und schaute aus dem Fenster, als sie mich noch näher an sich zog. Dann sprach sie in einem sanfteren Tonfall und schickte ihre Wut durch zusammengebissene Zähne gefiltert in die Welt.

»Ich wollte dir nicht wehtun. Wirklich nicht. Entschuldige, Norma, Schätzchen. Es tut mir leid.«

Als meine Eltern am Abend an dem kleinen Tisch in der Küche saßen und sich eine Flasche Whiskey teilten – inzwischen hatten sie es aufgegeben, sie vor mir zu verstecken –, klang ihre Unterhaltung so angespannt, und ihre Stimmen waren so leise, dass ich das Lauschen im Flur aufgab und ins Bett ging. Es dauerte Jahre, bis ich wieder auf den Rasen vor dem Haus trat, und ich kam nie dazu, den armen Junikäfer zu begraben. Wahrscheinlich wurde er von Orangie weggeschleppt, der räudigen Katze unserer Nachbarn.

Ein paar Wochen später, als ich in meinem Zimmer das Einmaleins auswendig lernen sollte, hörte ich, wie sie sich über mich unterhielten. Mutter trank einen Mint Julep, einen Cocktail, den sie vor Kurzem entdeckt hatte und für den Inbegriff an Grazie und Klasse hielt, während Tante June ihn als rassistisch und protzig bezeichnete. Tante June trank Wein aus Kalifornien. Sie vertraute darauf, erzählte sie mir, dass die Winzer an der Westküste es irgendwann richtig hinbekämen. Sie und Mutter stritten sich oft und umarmten sich fast genauso oft. Ihre Beziehung war verwirrend, aber auch irgendwie tröstlich.

Mutter sperrte sich gegen Tante Junes Vorschlag, dass ich zu einem Therapeuten gehen sollte. »Hippie-Medizin«, nannte sie es, und Vater widersprach ihr nicht. Nur Tante June trat für mich ein.

Mutter sagte: »Aber June –«

»Kein ›aber June‹.« Tante June nippte an ihrem Wein, und Mutter wandte sich von ihr ab.

»Aber June, was ist, wenn sie ihr früheres Leben ausgraben, es aus ihrer Erinnerung herausholen?«, fragte Mutter leise und schaute zur Tür, die ins Wohnzimmer führte. Sie und Tante June saßen am Esszimmertisch. Eigentlich sollte ich mir Romper Room ansehen, aber mich interessierte nicht, wen die Frau durch den kleinen Spiegel sehen konnte. Wenn ich wusste, dass irgendwo im Haus über mich gesprochen wurde, schlich ich hinter Vorhänge oder versteckte mich hinter Türen und lauschte.

»Alice sagt, dass Kinder erst mit fünf oder sechs ein richtiges Erinnerungsvermögen entwickeln. Du kannst ihr also ruhig weiterhin sagen, dass sie träumt.« Tante June trank einen langen Schluck aus ihrem Kristallglas, das von Kondenswasser beschlagen war.

»Sie ist neun, June.«

»War sie vier, vielleicht fünf, als es passiert ist? Wir werden es nie genau erfahren. Sie hat uns gesagt, sie sei vier, aber Kinder sind manchmal verwirrt. In dem Alter ist das Erinnerungsvermögen noch nicht ausgebildet. Glaub mir.« Tante June streckte den Arm aus, damit Mutter ihr Glas wieder auffüllte. Ich dachte, sie unterhielten sich über das Feuer, das die vielen konkreten Erinnerungen aus der Vergangenheit mit sich genommen hatte. Ich weiß noch, dass es an dem Tag nach Schmorbraten roch. Es war Anfang September, und so früh kochten wir sonst nie Braten. Schmorbraten gab es meist an den kalten Tagen, wenn der Wind heulte und Schnee fiel. Ich erinnere mich, dass Mutter nickte, während im Hintergrund Kinder im Fernseher lachten.

»Lass Alice mit ihr sprechen. Vielleicht beruhigt es dich.«

Mutter schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen, weil sie versehentlich etwas Minze geschluckt hatte. »Das glaube ich nicht. Mein Gott, June, manchmal frage ich mich, ob du überhaupt bei Verstand bist. Eine wie sie? Im Ernst, June?«

»Eine wie sie?«

»Du weißt, was ich meine.«

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