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Bedrohliche Nähe

hier erhältlich:

Der Albtraum jedes Ermittlers: FBI-Profilerin Evelyn Baine wird im Dienst gekidnappt. Bei der vermeintlichen Routineüberprüfung im Lager einer dubiosen Sekte wird sie von schwerbewaffneten Mitgliedern überrumpelt und gefangengenommen. Zwar kann sie in einem unbeobachteten Moment einen Notruf absetzen. Doch als kurz darauf eine Spezialeinheit für den Antiterrorkampf anrückt, begreift Evelyn das ganze Ausmaß des Schreckens: Sie ist in keine religiöse Sekte, sondern mitten in die Vorbereitungen für einen Terroranschlag geraten - und unrettbar verloren! Wird das Lager gestürmt, bedeutet es für alle darin den sicheren Tod. Wenn nicht, wird die Terrorsekte selbst alles zerstören …

"Evelyn Baine gehört zu den wunderbarsten Romanheldinnen, die ich jemals das Vergnügen hatte kennenzulernen."

Fresh Fiction

"Heiters temporeicher, actiongeladener Schreibstil und ihre glaubwürdigen Geschichten machen Lust auf mehr."

BookReporter über Ewige Ruhe

"Ein exzellenter Thriller - atemberaubende Spannung, rasante Entwicklung und einprägsame Charaktere."

Suzanne Brockmann, New York Times-Bestsellerautorin über Kalte Gräber


  • Erscheinungstag: 10.05.2016
  • Aus der Serie: Evelyn Baine
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679756
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Heiter

Bedrohliche Nähe

Roman

Aus dem Amerikanischen von Rainer Nolden

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Seized

Copyright © 2016 by Elizabeth Heiter

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption / Reihengestaltung: fredebold & partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Arcangel; Thinkstock / Getty Images, München / Coica

ISBN eBook 978-3-95967-975-6

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Der Tag, an dem der KAMPF FÜR DIE FREIHEIT begann, rückte näher.

Lange hatte John Peters darauf warten müssen. Jetzt war er voller Vorfreude, in die sich allerdings ein Wermutstropfen mischte: Könnte er doch seine Gefühle mit jemand anderem teilen als mit Bobby Durham.

Aus den Augenwinkeln musterte John seinen Partner, der sich mit verschränkten Armen über der Brust stumm in den Beifahrersitz drückte. Zu seinen Füßen lagen die Utensilien. Zugegeben, als Kumpel war Bobby in Ordnung. Nicht gerade ein strategischer Denker, aber unbeirrbar in seinem Glauben an die Sache. Er würde mit seinem Leben dafür einstehen, die Mission zu einem guten Ende zu bringen.

Trotzdem wünschte John sich nichts sehnlicher, als dass sein Halbbruder bei ihm wäre – der Mann, der sein großes Vorbild war und seinem Leben einen Sinn gab.

Er kurbelte das Fenster herunter. Tief sog er die vertrauten Gerüche von Staub, Pinien und frisch gefallenem Schnee in die Nase, während er aufs Gaspedal drückte. Er war jetzt ganz nahe dran. Nur noch einen Tag in dieser Gegend, dann konnte er weiterziehen und endlich aktiv werden.

Schade nur, dass er das Ergebnis seiner Mission nicht mit eigenen Augen sehen konnte. Stattdessen würde er bloß aus den Nachrichten davon erfahren. Immerhin war er dazu ausersehen, den Anfang zu machen. Und es würde mit einem Knall beginnen.

Bei der Vorstellung musste er schmunzeln. Er spürte Bobbys neugierigen Blick auf sich ruhen.

„Packst du das?“, fragte John.

„Klar doch“, prahlte Bobby voll jugendlicher Selbstgewissheit.

„Wenn wir zurückkommen, musst du deine Bude räumen. Alles muss verschwinden.“

„Ich weiß. Die Karten, die Waffen, die Vorräte.“ Bobby wiederholte Johns Worte von vorhin. „Ich werde alles entsorgen. Wir sind bereit, sobald wir grünes Licht kriegen.“

„Gut.“ Ehe sie untertauchten, würde John natürlich auch noch einmal alles kontrollieren und seine eigene Wohnung komplett leeren – bis auf den letzten Fetzen Papier. Obwohl er sich nie Notizen machte. Er behielt alles dort, wo es hingehörte, nämlich in seinem Kopf. Dort konnte keiner irgendetwas zufällig entdecken.

Lass niemals etwas zurück, was sie auf deine Spur bringen könnte.

Der Merksatz schoss ihm durch den Kopf. Eigentlich brauchte er nicht daran erinnert zu werden. Für diesen Auftrag hatte er sein ganzes Leben lang trainiert. Doch erst vor Kurzem war ihm der eigentliche Grund für dieses Training klar geworden.

Ein wahrhaft fantastischer Grund! Sein Land würde eine äußerst wichtige Lektion erteilt bekommen – und er war dabei!

„Keiner wird Verdacht schöpfen, wenn wir zurückkommen.“ Bobbys Worte unterbrachen seine Gedanken.

John brummte etwas Unverständliches. Bobby war zwar entschlossen, für die Sache zu sterben, aber John wusste, dass der Kleine sich insgeheim vorstellte, als Held zurückzukehren.

Er machte sich allerdings nichts vor. Sie würden niemals hierher zurückkehren. Wenn sie ihren Auftrag überlebten, würden sie für den Rest ihrer Tage im Untergrund leben müssen. Nun gut, das war es allemal wert.

Er dachte an das Endergebnis, das er leider nicht erleben würde, und er spürte, wie seine Erwartungen größer und übermächtiger wurden. Ein Gefühl ergriff Besitz von ihm, stärker als alles, was er je gespürt hatte.

Einmal hatte er ein Video von dem Ziel gesehen. Wacklige Bilder, vor langer Zeit mit einer alten Kamera aufgenommen. Sie zeigten eine Gruppe von Menschen, die sich für die Elite hielten, furchtbar anmaßend und selbstgerecht. Sie standen auf einem Stück Land, das nicht ihnen gehörte, und benutzten Waffen, um ihrer vermeintlichen Autorität Gewicht zu verleihen.

Fast konnte er sie wieder vor sich sehen – vollkommen überzeugt von ihrer Unantastbarkeit. Vermutlich glaubten sie sogar, das Blut von ihren Händen gewaschen zu haben.

Sie irrten sich.

Und bald, sehr bald, würde es die ganze Welt wissen.

1. KAPITEL

Lee Cartwright hätte sie am liebsten umgebracht.

Um das zu spüren, musste Evelyn Baine keine Profilerin der Behavioral Analysis Unit, kurz BAU sein, in der die Verhaltensanalytiker vom FBI arbeiteten. Dafür reichte ihr ein Blick in Cartwrights zusammengekniffene Augen, auf seine zusammengepressten Lippen und seine mahlenden Kiefermuskeln. Jetzt beugte er sich näher zu ihr über den Tisch.

Eine nackte Glühbirne flackerte über ihren Köpfen in diesem winzigen, schmuddeligen Verhörraum tief in den Eingeweiden des Staatsgefängnisses von Montana. Von weither drang das Gemurmel der anderen Insassen an ihr Ohr.

Sie waren allein in dem Raum – sie und der zu lebenslänglicher Haft verurteilte Bombenleger. Nur ein kleiner wackliger Tisch trennte sie von dem Mörder, der mit einem Paar ganz normaler Handschellen an den Tisch gefesselt war. Die Metallbügel waren so eng, dass sie in Cartwrights fleischige Handgelenke kniffen.

Jetzt warf er ihr wieder einen seiner finsteren Blicke zu. Sie wusste ganz genau, was er in ihr sah – ein perfektes Opfer.

Sie schaute ihm fest in die Augen und zuckte auch nicht zusammen, als er unvermittelt mit heftigen Bewegungen seine Hände zu kneten begann. Es sah aus, als teste er die Widerstandsfähigkeit der Handschellen. Genau die Tatsache, dass Cartwright sie am liebsten getötet hätte, war einer der Gründe, warum ausgerechnet sie dieses Verhör führte.

Lee Cartwright war verurteilt worden, weil er Bomben in zwei Kirchen von schwarzen Gemeinden und in einer Moschee gezündet hatte. Zwei Menschen waren gestorben, Dutzende verletzt worden. Es war seine Art, Angst und Schrecken zu verbreiten. Wie zahlreiche Bombenattentäter vor ihm hatte er es nicht auf eine spezielle Gruppe abgesehen. Ihm lag nur daran, weithin bekannt zu werden. Die Leute sollten ihn fürchten – den Mann, der wegen der Materialien, die er benutzte, der „Nagelbomber“ genannt wurde.

Er hasste den Staat und seine Repräsentanten – und vor allem alle Menschen, die keine weiße Hautfarbe hatten. Dass ihr Chef Dan Moore sie, deren Vater aus Simbabwe stammte, geschickt hatte, war seine Art, Cartwright mitzuteilen, dass Dan hier die Entscheidungen traf. Damit wollte er den Häftling provozieren in der Hoffnung, er würde anfangen, mit seinen Taten zu prahlen. Cartwright hatte den Gefängnisbeamten nämlich erzählt, dass es einen Nachahmungstäter gäbe, der seine Methoden genau kopierte. Das FBI wollte herausfinden, ob etwas Wahres an Cartwrights Behauptung war.

Der zweite Grund, warum Dan Moore, Chef der BAU, Evelyn Baine ausgewählt hatte: Sie stand auf seiner Abschussliste.

Verbrecher zu verhören, selbst jene, die behaupteten, Trittbrettfahrer zu haben, gehörte eigentlich nicht zu den Aufgaben der BAU. Die Akte war auf Dan Moores Schreibtisch gelandet, und der Fall erschien ihm als eine weitere passende Disziplinarmaßnahme für seine Untergebene, weil die sich drei Monate zuvor geweigert hatte, seinen Anweisungen Folge zu leisten.

Sie war nie seine Lieblingskollegin gewesen – dafür war sie zu jung, zu weiblich und zu wenig Teamplayer. Zwar hatte er sie immer schon wie eine Anfängerin behandelt, die unter besondere Beobachtung gestellt werden musste. Doch in letzter Zeit war es noch unerträglicher geworden. Seit einigen Wochen hatte sie das Gefühl, überhaupt nicht mehr zum Team zu gehören.

Schlimmer noch: Sie war sich selbst nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch dazugehören wollte. Eine solche Frage hatte sie sich bis jetzt noch nie gestellt. Zweifel, wo sie hingehörte, waren ihr bisher nur einmal gekommen. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen. Cassie, ihre beste Freundin, war von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden. Evelyn hatte sich auf einmal vollkommen alleingelassen gefühlt.

„Ich habe Ihnen nichts zu sagen“, knurrte Cartwright zum dritten Mal in der halben Stunde, in der sie nun schon ihren „Wer-schautzuerst-weg?“-Wettkampf austrugen.

„Sie haben zwei Beamten von einem Trittbrettfahrer erzählt, Lee. Und Sie haben denen auch gesagt, dass Sie mit jemandem darüber reden wollten. Deshalb bin ich hier. Also reden Sie mit mir“, drängte Evelyn. Sie versuchte, so viel Autorität wie möglich in ihre Stimme zu legen.

Große Hoffnungen, etwas aus ihm herauszubekommen, machte sie sich allerdings nicht. Sie hatte die Gefängniswärter schon nach Cartwrights Post und seinen Besuchern ausgefragt. Der einzige Mensch, der sich um ihn kümmerte, war seine Mutter, und seine Briefe waren nie als verdächtig aussortiert und kontrolliert worden. Wahrscheinlich wollte er sich nur interessant machen. Und warum sollte er sich von einem Trittbrettfahrer bedroht fühlen, wie er behauptete?

Zwar hatte jemand in den Wäldern von Montana, etwa eine Stunde Autofahrt vom Gefängnis entfernt, Bomben hochgehen lassen. Nichts deutete jedoch darauf hin, dass die Explosionen etwas mit Cartwright zu tun hatten. Er konstruierte seine Bomben auf eine ganz spezielle Art – sozusagen sein Markenzeichen, das die Ermittler dieses Mal nicht gefunden hatten.

Die jüngsten Explosionen hatten nicht viel Aufsehen erregt, da sie weit weg von jeglicher Zivilisation stattgefunden hatten. Tatsache war, dass in jener Gegend hin und wieder paramilitärische Gruppen ihr Unwesen trieben. Es hatte dort schon öfter ähnliche Zwischenfälle gegeben. Daher war Cartwrights Behauptung, einen Nachahmungstäter zu haben, eher abwegig.

Nichtsdestotrotz war er wegen Verbrechen und Mord aus Hass angeklagt worden. Falls nur der geringste Zweifel daran bestand, dass er nicht gelogen hatte, musste man der Sache nachgehen.

Aber warum musste sie das unbedingt tun? Es gab keinen Grund, Evelyn quer durchs Land fliegen zu lassen, wenn fähige Kollegen vor Ort waren. Außerdem schien ein Profiler bei diesem Fall absolut überflüssig zu sein.

Abgesehen davon hatte sie die Nase voll von diesen bescheuerten Aufträgen. Schließlich gab es genügend Fälle, in denen ihre Profiler-Qualitäten gefragt waren.

Wenn sie denn endlich mit einem solchen Fall betraut würde, konnte sie vielleicht herausfinden, ob sie wirklich noch zum Team gehörte und ob sie wirklich noch das Zeug zur Profilerin hatte. Im Moment deutete nichts darauf hin – obwohl ihr ihre Fähigkeiten bei der Lösung des Falles um ihre beste Freundin, die als Zwölfjährige spurlos verschwunden war, sehr zupass gekommen waren. Seitdem jedoch schienen ihr alle Energie und aller Eifer abhandengekommen zu sein.

Cartwright funkelte sie nur stumm an. Dabei ließ er seine Bizeps spielen, die er sich im Gefängnis antrainiert hatte.

Evelyn unterdrückte einen Seufzer und beugte sich näher zu ihm. „Hat Sie überhaupt jemand kontaktiert, Lee?“

„Ich erzähle Ihnen keinen Scheiß.“

Ihr Frust wurde größer. Sie gehörte zu den Menschen, die er am liebsten zum Ziel seiner Bombenattentate machte. Deshalb hatte sie fest damit gerechnet, er würde mit seinem Trittbrettfahrer prahlen, sobald sie vor ihm saß. Zwar hatten weder ihr Chef noch sie geglaubt, dass er mit einem Namen herausrücken würde. Aber zumindest auf ein paar Andeutungen hatte sie gehofft – Andeutungen über das, was er möglicherweise wusste –, und sei es auch nur, um sie damit zu verhöhnen. Falls die Bedrohung tatsächlich existierte – was aber immer unwahrscheinlicher wurde.

Dass er überhaupt nichts sagte, überraschte sie allerdings.

„Welches Ziel hat sich Ihr Nachahmer denn vorgenommen? Falls er Sie wirklich imitiert, macht er keinen besonders guten Job.“ Sie versuchte, an seine Eitelkeit zu appellieren. Vielleicht konnte sie ihn damit aus der Reserve locken. Er wollte ihr doch bestimmt beweisen, was für ein Teufelskerl er war.

Doch Cartwright musterte sie nur mit einem abschätzigen Blick. „Vergessen Sie’s.“

„Haben Sie jemandem gezeigt, wie man eine Bombe bastelt?“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und probierte es mit einer anderen Methode. „Sie sind nicht gerade der geschickteste Bombenbauer. Da haben wir schon bessere Sachen gesehen.“

„Ach ja?“, blaffte er sie an. „Haben Sie es denn schon mal selbst versucht? All diese Nägel da reinzukriegen …?“ Er unterbrach sich und grinste höhnisch. „Meine Methode war in Ordnung.“

„Aber nicht so kompliziert, dass Sie sie einem anderen erst beibringen mussten, oder? Ich meine, die konnten auch von allein darauf kommen.“ Was so nicht stimmte. Zwar hatte Cartwright für seine Bomben Materialien verwendet, die man in jedem Baumarkt kaufen konnte. Doch wenn sie gezündet wurden, entfalteten sie eine ganz besondere Wirkung. Nie zuvor hatten sie beim FBI so etwas gesehen – und seitdem auch nicht mehr.

„Was soll’s?“, knurrte er. „Ich habe nicht um dieses Gespräch gebeten. Ich habe Ihnen nichts zu erzählen.“

„Warum nicht? Weil es keinen Trittbrettfahrer gibt?“

„Glauben Sie doch, was Sie wollen.“

„Ich glaube, dass Sie meine Zeit vergeuden“, konterte sie, legte die Hände auf den Tisch und lehnte sich nach vorn, um ihrem verärgerten Blick mehr Nachdruck zu verleihen.

Unvermittelt sprang er von seinem Stuhl auf und rammte ihr seinen Ellbogen ins Gesicht.

Entsetzt wich sie zurück – aber nicht schnell genug. Sein Ellbogen streifte ihre Wange. Sie stieß gegen ihren Stuhl, stolperte darüber und stürzte zu Boden. Mit dem Kopf landete sie hart auf dem Zement. Im gleichen Moment verfluchte sie sich, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass ihm die Handschellen so viel Bewegungsfreiheit ließen.

Hinter ihrem Rücken hörte sie die Wärter an der verschlossenen Tür rütteln. Cartwrights hämisches Lachen trieb sie zur Weiß glut.

Sie hätte dagegen gewappnet sein müssen. Cartwright hatte nichts zu verlieren. Dank einem nachsichtigen Richter war er zwar um die Todesstrafe herumgekommen. Aber dieses Gefängnis würde er nicht mehr lebend verlassen.

Evelyn rappelte sich auf, ehe der Wärter die Tür geöffnet hatte. Anstatt vor Wut zu schreien, riss sie sich zusammen, hob den Stuhl auf und setzte sich wieder hin, als sei alles in bester Ordnung. Mit einer Handbewegung bedeutete sie dem Gefängnisbeamten zu gehen. „Es muss ja schrecklich für Sie sein, dass so etwas das Schlimmste ist, wozu Sie noch in der Lage sind“, verhöhnte sie ihn. „Haben Sie deshalb diesen Trittbrettfahrer erfunden?“

Sein Gesicht wurde rot vor Zorn, und auf seiner Stirn zeigte sich eine pulsierende Ader. „Verschwinden Sie!“

„Wenn es keine Erfindung ist“, provozierte sie ihn ungeachtet ihrer schmerzenden Wange, „dann beweisen Sie es.“

„Ich habe keine Forderung an diese zionistisch …“ Er unterbrach sich und atmete schnaufend aus.

Doch sie wusste, was er sagen wollte. Zionistisch besetzte Regierung. So nannten eine Menge gewaltbereiter Gruppierungen die Regierung, gegen die sie zu Felde zogen. Evelyn zeigte keine Reaktion, obwohl es ihr nicht leichtfiel.

„Ich habe Ihnen nichts zu sagen“, beendete Cartwright das Gespräch.

Sie musterte ihn noch eine Weile. Aufgrund ihrer anderthalbjährigen Erfahrung als Profilerin – oder als Verhaltensanalytikerin, wie sie offiziell genannt wurde – war ihr klar, dass sie von ihm nichts mehr zu erwarten hatte. Und nach den sechs Jahren, die sie zuvor als Special Agent gearbeitet hatte, sehnte sie sich danach, endlich wieder mit einem richtigen Fall betraut zu werden.

„Es war nett, mit Ihnen zu reden, Cartwright.“ So sarkastisch hätte sie noch vor drei Monaten niemals eine Vernehmung beendet.

Cartwright blieb einfach sitzen. Nur seine Wangen- und Oberarmmuskeln bewegten sich fast synchron. Evelyn erhob sich und machte dem Wärter durch das Sichtfenster der Tür ein Zeichen.

Die Schlüssel klapperten so lange im Schloss, dass Evelyn eine weitere Attacke von Cartwright nicht überrascht hätte. Fast konnte sie sich glücklich schätzen, dass er sie nur mit dem Ellbogen getroffen hatte. Endlich wurde die Tür geöffnet, und der Wärter winkte sie heraus.

Sie hielt sich dicht neben ihm und möglichst weit weg von den Wänden, als er sie über den Korridor an den Zellen vorbeiführte. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses saßen die besonders gefähr-lichen Lebenslänglichen. Zwar würden die Insassen sich hüten, einen Wärter, mit dem sie täglich zu tun hatten, anzuspucken oder mit anderen Körperflüssigkeiten zu behelligen. Bei einer FBI-Agentin, die nur zu Besuch war, sah die Sache dagegen anders aus.

Glücklicherweise war der Wärter ein Meter neunzig groß, und sein breiter Oberkörper hatte die Ausmaße eines Kleinwagens, sodass sie mit ihren ein Meter siebenundfünzig und fünfzig Kilo neben ihm fast unsichtbar war. Die Geräuschkulisse von Pfiffen und obszönen Bemerkungen war trotzdem ohrenbetäubend, und am Ende des Korridors fühlte sie sich richtig schmutzig.

Endlich erreichten sie den Eingangsbereich des Gefängnisses. „Haben Sie denn was von Cartwright erfahren?“, erkundigte sich der Wärter betont beiläufig, als interessierte ihn die Antwort nicht die Bohne.

Er ließ sich viel Zeit damit, ihre Waffe aus dem Schließfach zu holen, wo sie sie bei ihrer Ankunft hatte zurücklassen müssen. Ungeduldig trat Evelyn von einem Fuß auf den anderen. Sie war noch nicht einmal zwei Stunden in diesem Gefängnis gewesen und hatte bereits das Gefühl, unbedingt an die frische Luft zu müssen.

Wie musste Cartwright, der erst drei Jahre seiner lebenslangen Haftstrafe abgesessen hatte, sich fühlen? Hatte er deshalb behauptet, einen Trittbrettfahrer zu haben? Um sich einen Spaß daraus zu machen, die Zeit von Polizisten und FBI-Agenten zu vergeuden? Bei einem Insassen wie ihm war das durchaus möglich.

Evelyn befestigte das Halfter an ihrem Gürtel und zog die Jacke darüber. „Danke. Nein, nichts wirklich Neues.“

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Ihr blieb noch genügend Zeit für ein Abendessen und zum Packen, ehe ihr Flugzeug ging. Sobald sie wieder in Virginia war, würde sie einige Erkundigungen über den Aufseher einziehen, der sich so offensichtlich für Cartwrights Auskunftsfreudigkeit interessierte.

Sie trat hinaus ins Freie und sog die frische saubere Luft tief in die Lungen ein. Da es in Montana gut zehn Grad kälter war als in Virginia, zitterte sie in ihrem dünnen Hosenanzug. Eine leichte Schneeschicht hatte sich über ihren Mietwagen gelegt. Die Sonne war inzwischen untergangen. Im Dämmerlicht wirkte der Parkplatz fast ein wenig unheimlich.

Auf dem Weg zum Auto spürte sie die Wärme aus ihren Fingern weichen. Weiße Atemwölkchen tanzten vor ihrem Mund in der eisigen Novemberluft. Rasch ließ sie die Gefängnismauer hinter sich und nahm sich vor, die Heizung sofort auf die höchste Stufe zu stellen, als sie jemanden neben ihrem Auto stehen sah.

Schon von Weitem erkannte sie, dass es sich um eine Vertreterin des Gesetzes handelte – möglicherweise FBI. Es war die Art, wie sie sich postiert hatte und ihre Umgebung im Auge behielt, um jeder Situation gewachsen zu sein. Die Hand hielt sie möglichst unauffällig an der Hüfte in der Nähe ihrer Waffe.

Noch ehe sie am Auto war, warf Evelyn einen Blick auf ihre Uhr. Das nächstgelegene FBI-Büro war ziemlich weit vom Staatsgefängnis von Montana entfernt. Bestimmt wollte die Frau etwas von ihr. Evelyns Magen knurrte, als sie die Chance auf ein baldiges Abendessen schwinden sah.

„Evelyn Baine?“, fragte die Frau. Zackig streckte sie die Hand aus und schüttelte sie kraftvoll wie jemand, der daran gewöhnt war, in einem von Männern dominierten Beruf zu arbeiten. „Ich bin Jen Martinez vom FBI-Büro in Salt Lake City.“

Sie zeigte ihre Dienstmarke. Evelyn musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Freut mich.“

Stirnrunzelnd ließ Jen Evelyns Hand los. „Was ist mir Ihrem Auge passiert?“

Flüchtig berührte Evelyn die Stelle an ihrer Wange, wo Cartwright sie getroffen hatte. Der Bereich unter ihrem Auge war angeschwollen. „Ein Unfall. Was kann ich für Sie tun?“ Sie unterdrückte ein Frösteln und verschränkte die Arme vor der Brust, als ob sie damit die restliche Wärme im Körper bewahren könnte.

Jen musste lange genug in der Gegend gewohnt haben, denn sie schien an die Kälte gewöhnt zu sein. Selbst bei diesen Temperaturen trug sie ihren Blazer offen. Sie war ein paar Zentimeter größer als Evelyn und hatte ihr hellblondes Haar zu einem ebenso strengen Knoten zusammengebunden wie Evelyn ihr dunkles. Sie mochte etwa fünfzehn Jahre älter als Evelyn sein, und alles an ihr, von ihrem scharfen Blick bis hin zu ihrem makellos sitzenden Hosenanzug, ein Gemisch aus Polyester und Baumwolle, verriet ihre langjährige Erfahrung im Dienst des Gesetzes.

„Als ich hörte, dass die BAU einen Profiler schickt, um mit Lee Cartwright zu reden, musste ich kommen und hören, was Sie erfahren haben.“

„Wissen Sie etwas über einen Trittbrettfahrer, den Cartwright angeblich hat?“

Jen machte eine abschätzige Handbewegung. „Dazu kann ich nichts sagen. Aber ich bin an einer anderen Sache dran, bei der ich die Meinung eines erfahrenen Profilers gebrauchen könnte.“

Mit einem vielsagenden Blick schaute Evelyn auf ihre Uhr. „Mein Flug geht in ein paar Stunden.“ Es war zwar erst vier Uhr, aber dennoch blieb ihr nicht viel Zeit, um sich einen Fall in allen Einzelheiten schildern zu lassen und einer Kollegin anschließend ein brauchbares Täterprofil zu geben.

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie nicht berechtigt war, sich mit einem Fall zu beschäftigen, ehe er bei der BAU auf dem Schreibtisch landete und sie quasi offiziell damit beauftragt wurde. Andererseits hatte Jen vielleicht ein Problem, bei dem Evelyn endlich einmal wieder ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. „Haben Sie die Unterlagen mitgebracht?“

Jen zögerte. „Nein. Ich dachte, wir könnten zusammen fahren.“

Evelyn trat von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte zu bekämpfen. „Wohin?“

„Haben Sie schon mal was von dem Butler-Landgut gehört?“

„Nein.“

Jens Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Typisch. Ich habe die BAU schon ein paar Mal darum gebeten, sich die Sache näher anzusehen, beiße aber immer auf Granit.“

Wahrscheinlich aus gutem Grund. Aber das sagte Evelyn lieber nicht. Die Abteilung für Verhaltensanalyse erhielt jede Woche Hunderte von Anfragen – aus Washington, von einzelnen Bundesstaaten und von lokalen Polizeistationen aus dem ganzen Land – und hin und wieder auch Anfragen aus dem Ausland. Es war unmöglich, sie alle zu bearbeiten. Abgesehen davon war bei vielen davon gar kein Profiler nötig.

„Wenn …“, begann Evelyn.

„Wo Sie schon mal hier sind“, unterbrach Jen sie und stützte die Hände in die Hüften, „könnten Sie doch mal einen Blick drauf werfen. Ich weiß, dass mehr an der Sache dran ist, und ich brauche Hilfe.“

Plötzlich verspürte Evelyn den alten Drang in sich aufkeimen, die Anweisungen ihres Chefs zu befolgen und genau nach Vorschrift vorzugehen. Früher hatte sie niemals die Regeln gebrochen. Aber der Wunsch, endlich wieder als Profilerin zu arbeiten und aus der Vorhölle langweiliger Fälle herauszukommen, war einfach stärker.

Sie gab sich geschlagen. „Dann erzählen Sie mal. Wo ist denn Ihr Partner?“ Als Profilerin hatte Evelyn keinen, aber das war eher die Ausnahme. Wie die meisten Strafverfolgungsbehörden verließ sich auch das FBI bei Einsätzen lieber auf zwei Agenten.

Jen sah erleichtert aus. „Der ist gerade in ein anderes Büro versetzt worden. Aber als ich gehört habe, dass Sie hierherkommen, wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen.“ Erst jetzt bemerkte sie offenbar, dass Evelyn zitterte. „Wollen Sie ins Warme?“

„Gern.“

Schmunzelnd deutete Jen auf den verbeulten SUV neben Evelyns Mietwagen. Es war wohl ihr Dienstfahrzeug. Sie betätigte die Fernbedienung, stieg ein und startete den Motor. „Rein mit Ihnen.“

Evelyn kletterte auf den Beifahrersitz und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. „Erzählen Sie mir das Wichtigste.“

„Schon das ist eine ganze Menge.“ Jen schnallte sich an und rangierte den Wagen aus der Parklücke.

Unvermittelt beschlich Evelyn ein mulmiges Gefühl – nämlich dass sie in etwas hineingeriet, von dem sie besser die Finger lassen sollte. Hinzu kam der Ärger darüber, dass sie sich von Jen überrum-pelt fühlte. Warum hatte sie Evelyn nicht sofort gefragt, ob sie mit ihr kommen könnte?

„Wo genau fahren wir denn hin?“, wollte sie wissen, während sie sich anschnallte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Jen nicht bitten sollte, sie wieder aussteigen zu lassen.

„Zum Butler-Landgut.“

„Und wie weit ist das von hier?“

„Etwa eine Stunde Fahrzeit.“ Der Tonfall ihrer Antwort verriet Evelyn, dass es vermutlich weiter entfernt war. „Danach bringe ich Sie sofort zurück.“

Stirnrunzelnd schaute Evelyn auf ihre Uhr. Sollte sie ihr Flugzeug verpassen, rückte sie noch eine Stufe höher auf Dans Abschussliste. Aber das war eigentlich gar nicht mehr möglich.

Wenn sie die Analyseabteilung verließ, dann sollte es ihre Entscheidung sein – und nicht, weil Dan sie hinausgeworfen hatte.

Jen schien ihre verärgerte Miene nicht entgangen zu sein. „Ich möchte, dass Sie den Ort persönlich in Augenschein nehmen“, platzte sie heraus. „Vielleicht glaubt die BAU dann auch endlich, dass es sich nicht um einen harmlosen Kult handelt.“

„Sondern?“

Jen warf ihr einen bedeutsamen Blick zu, ehe sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Um eine Bedrohung.“

„Das ist aber ziemlich weit draußen.“ Evelyn schaute aus dem Fenster. Sie fuhren durch eine einsame Gegend, und je höher sie kamen, desto spärlicher wurde der Baumbestand. Ansonsten konnte sie im Licht der Scheinwerfer von Jens SUV nicht allzu viel erkennen, denn die Sonne war inzwischen untergegangen.

Sie waren jetzt schon länger als eine Stunde unterwegs, und Evelyn hatte nicht viel mehr gesehen als gelegentlich einen Unterstand oder eine Bretterbude. Den Horizont begrenzten schneebedeckte Berge. Evelyn konnte sich nicht vorstellen, dass hier draußen jemand wohnte. Wenigstens war die Aussicht fantastisch.

„Stimmt“, pflichtete Jen ihr bei. „Ziemlich weit ab vom Schuss. Guter Platz für ein Versteck ohne neugierige Nachbarn. Und weit weg vom Auge des Gesetzes.“

Jen hatte endlich das Telefongespräch beendet, das sie kurz nach ihrer Abfahrt angenommen hatte, sodass Evelyn bis jetzt immer noch nicht wusste, warum sie zum Butler-Landgut fahren sollte. Aber dank des Telefonats hatte sie eine Menge über Jen erfahren.

„Das war Ihr Chef, stimmt’s?“

„Ja“, antwortete sie. „Und bevor Sie fragen: Nein, ich darf das hier eigentlich gar nicht tun. Er glaubt, ich sei in einer anderen Sache unterwegs. Das haben Sie bei dem Gespräch vermutlich schon mitbekommen. Er weiß nicht, dass ich am Gefängnis auf Sie gewartet habe.“

Evelyn nickte. „Möglich, dass er nichts von mir weiß. Aber er weiß, was Sie tun.“

„Was?“ Jen drehte den Kopf so abrupt zu Evelyn, dass der SUV ins Schlingern geriet. Rasch brachte sie ihn wieder auf die Spur. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Ich habe es aus Ihrem Gespräch herausgehört.“

„Sie konnten ihn hören? Haben Sie Fledermausohren?“ Jen hatte die Unterhaltung auf ihrem Bluetooth anstatt auf der Freisprechanlage geführt.

„Nein. Aber ich bin schließlich Profilerin“, entgegnete Evelyn. „Glauben Sie mir, Martinez: Er weiß es.“

Der Umstand, dass Martinez wiederholt auf Fragen nach ihrem Aufenthaltsort antworten musste, machte es offensichtlich.

Ihr Vorgesetzter hatte sehr detaillierte Fragen gestellt – als ob er ihr nicht ein Wort von dem glaubte, was sie ihm erzählte.

„Scheiße“, murmelte Jen. „Er hat mir ausdrücklich gesagt, dass ich mich da raushalten soll.“

„Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, auf was ich mich da eingelassen habe?“

„Na schön. Das Gelände ist ziemlich abgelegen, wie Sie bereits bemerkt haben. Diese Gruppe ist aus demselben Holz geschnitzt wie Cartwright.“ Sie warf Evelyn einen Blick zu. „Ach übrigens: Sagen Sie doch Jen zu mir. Nicht Martinez. Alle dort kennen mich nur als Jen.“

Entgeistert sah Evelyn sie an. „Die kennen Sie?“

„Ja. Ich bin schon ein paarmal dort gewesen. Ganz inoffiziell natürlich. Eine Art Ausflug. Habe mich nur ein bisschen umgesehen – so in der Art. Sie kommen dann raus und unterhalten sich mit mir. Meistens Butler selbst. Manchmal sind ein paar seiner Gefolgsleute bei ihm.“

„Und sie haben Ihnen den Grund für Ihren Besuch abgekauft?“

„Klar. Das Büro von Salt Lake City ist für ein großes Gebiet verantwortlich – ein Gebiet, das kaum bewohnt ist. Die Leute sind daran gewöhnt, dass manchmal Beamte auftauchen, um nach dem Rechten zu sehen oder ein bisschen zu plaudern.“

Evelyn runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

„Haben Sie niemals in einem Regionalbüro gearbeitet?“, wollte Jen wissen.

Evelyn schüttelte den Kopf. Die meisten Agenten begannen ihre Arbeit mittlerweile in einer der größeren Zweigstellen, aber als Jen ihre Karriere beim FBI angefangen hatte, wurden viele der Neulinge noch in die kleineren Ortsbüros geschickt.

„Nun, ich schon. In einer Gegend so ähnlich wie hier – in Nevada. Und da war es ganz normal, wenn die Agenten hin und wieder mal auftauchten, um nach dem Rechten zu sehen.“

Evelyn nickte. Sie bezweifelte immer noch, dass es eine gute Idee von Jen war, diese Besuche zu machen. Auf der anderen Seite war der direkte Kontakt die beste Möglichkeit, Informationen über eine Gruppe zu bekommen, die möglicherweise Probleme machte.

„Jedenfalls haben mein letzter Partner und ich uns als FBI vorgestellt – aber nur mit Vornamen. Ich muss einer Horde von Rassisten nicht auf die Nase binden, dass ich mit einem Hispano verheiratet bin.“

„Dann werden sie mich ja lieben“, murmelte Evelyn. Ihre Mutter war irisch-englischer Abstammung, und ihr Vater kam aus Simbabwe. Sie konnte ihre Herkunft also nicht verleugnen.

„Na ja, vielleicht wäre es auch zu viel erwartet, mit einem großen weißen Profiler zu rechnen. Machen Sie sich keine Sorgen. Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, sind missbilligende Blicke.“

„Das kann ja heiter werden.“ Einmal mehr bereute Evelyn, sich auf dieses Abenteuer eingelassen zu haben. Sie schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Anfeindungen von Verdächtigen machten ihr eigentlich nichts aus; das war etwas ganz Normales. Aber dieser Besuch erschien ihr immer mehr eine ziemlich schlechte Idee zu sein.

Doch wenn missbilligende Blicke das Schlimmste waren, das sie befürchten musste, welche Bedrohung ging dann von ihnen aus?

„Der Anführer, Ward Butler, war mit Lee Cartwright befreundet, als sie Kinder waren“, erklärte Jen, während sie über die schlecht gepflasterte Straße holperte.

Evelyn musterte sie von der Seite. „Sie wissen, dass Cartwright behauptet, einen Trittbrettfahrer zu haben?“

„Ja, das habe ich gehört. Aber ich würde dem Kerl nicht unbedingt glauben. Er ist nicht der Typ, der die Regierung warnt. Er beobachtet eher aus dem Gefängnis, was sich so tut, und freut sich, wenn es passiert. Oder er hält uns zum Narren, indem er so tut, als wüsste er, wer ihn imitiert, um uns zu provozieren.“

„Verstehe“, erwiderte Evelyn. „Aber wenn Butler und Cartwright Freunde sind …“

„Waren“, verbesserte Jen sie. „Vor etwa zwanzig Jahren. Sie sind zusammen aufgewachsen, aber nichts deutet darauf hin, dass sie in den vergangenen Jahren Kontakt hatten. Irgendwann haben sie sich dann total verkracht, als Cartwright gewalttätig wurde, und Butler gründete seine eigene Gruppe.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Butlers Gruppe nicht gewalttätig ist?“ Evelyn klang verwirrt. „Warum stellt sie dann eine Bedrohung dar?“

„Sie sind bisher nicht gewalttätig geworden“, präzisierte Jen. „Aber ich vermute, sie werden es bald.“

„Warum? Und wie lange verhalten sie sich schon friedlich?“

Jen bremste den SUV und bog auf einen Feldweg ein. „Nur weil sie sich ein paar Jahre lang ruhig verhalten haben, heißt das ja nicht, dass sie das weiter tun. Butler bezeichnet diesen Ort als ‚Refugium‘ für andere ‚Survivalisten‘. So nennt er sie. Unabhängige Überlebenswillige sozusagen. Davon gibt es eine Menge – Leute, die weit weg von jeder Zivilisation wohnen wollen, damit sie von niemandem behelligt werden. Die meisten von ihnen wären gern ein paar Jahrhunderte früher geboren – ohne irgendein Gesetz bis vielleicht auf den örtlichen Sheriff. Und ansonsten kein Kontakt zu irgendwelchen anderen Menschen.“

„Ich kenne diese Survivalisten“, erwiderte Evelyn. „Einige von denen sind wirklich ein Problem. Aber es gibt auch viele, die einfach nur ihre Ruhe wollen. Lass sie in Ruhe, und sie lassen dich in Ruhe.“

Der SUV rumpelte über einige Schlaglöcher. Jen schwieg ziemlich lange. „Wussten Sie, dass die Hütte des Unabombers nur etwa zwanzig Meilen von hier entfernt ist?“, fragte sie schließlich. „Seine Nachbarn glaubten vermutlich auch, dass er harmlos sei und einfach nur seine Ruhe wollte.“

Evelyn unterdrückte einen Seufzer. „Sie haben mir immer noch nicht erzählt, warum Sie diese Typen für gefährlicher halten als andere ähnliche Sekten, mit denen wir es zu tun haben.“

Jens Knöchel traten weiß hervor, als sie das Steuer umklammerte. „Sie sind zu jung, um sich an einige Desaster aus den Neunzigern zu erinnern, aber …“

„Ich weiß genug.“ Evelyn merkte, worauf Jen hinauswollte. „Und ja, während der vergangenen Jahre hat die Zahl der Terroristen, die in den Staaten sozialisiert worden sind, zugenommen, aber …“

„Offiziell ist das Butler-Landgut als geringfügige Bedrohung eingestuft worden“, unterbrach Jen sie. „Das FBI glaubt, dass Butler seinen Gefolgsleuten irgendeine halbwegs glaubwürdige Story auftischt, um sie bei Laune zu halten, und im Übrigen keinen Angriff gegen irgendjemanden plant. Aber ich bin schon bei mehreren dieser Sekten gewesen. Einer meiner ersten Einsätze war in Waco, Texas.“ Sie warf Evelyn einen bedeutungsschweren Blick zu.

„Das Koresh-Desaster? Sie waren dabei?“ David Koresh und seine Jünger hatten sich im Frühjahr 1993 fünfzig Tage lang verschanzt, nachdem Agenten der Kontrollbehörde für Alkohol, Tabak, Schusswaffen und Sprengstoffe, kurz ATF, vergeblich versucht hatten, einen Haftbefehl zu vollstrecken. Koresh und seine Gefolgsleute hatten sich in der Apocalypse-Ranch verbarrikadiert – ein Name, der von Anfang an sämtliche Alarmglocken hätte schrillen lassen müssen – und das Feuer auf die ATF-Agenten eröffnet. Das Hostage Rescue Team, kurz HRT, das sich um die Befreiung von Geiseln kümmerte, hatte den Ort schließlich umstellt. Am Ende hatten Koresh und seine Jünger das Landgut selbst in Brand gesteckt, und die meisten von ihnen waren in den Flammen umgekommen.

„Ja, ich war dabei. Ich habe zwar die meiste Zeit bloß Kaffee für die älteren Kollegen geholt, aber glauben Sie mir: Ich habe Erfahrungen mit Sekten. Ich habe das wahnsinnige Geschrei gehört, ich habe ein paar von den Kultisten gesehen, die zu fliehen versuchten, ich habe das Feuer gesehen. Ich bin sogar durch die Meute der Demonstranten gelaufen und wurde mit Eiern beworfen. Aber dieses Anwesen hier ist anders. Es hat etwas von dieser unheimlichen Atmosphäre, aber meiner Meinung nach ist das mehr als bloß eine Sekte. Irgendetwas stimmt da nicht. Da wird noch etwas anderes passieren. Und ich gehöre nicht zu den Kollegen, die das einfach so auf sich beruhen lassen.“

Kein Wunder, dass die BAU sich geweigert hatte, diesem Fall nachzugehen. Das Butler-Landgut war bereits observiert worden, doch Jen vertraute auf ihren Instinkt: Sie war davon überzeugt, dass von den Menschen auf dem Anwesen eine wirkliche Bedrohung ausging.

Vermutlich würde Evelyn eine Gruppe von Einsiedlern treffen, die weder mit ihr noch mit Jen etwas zu tun haben wollten. Nicht nur, dass sie nichts Brauchbares von Cartwright erfahren hatte – jetzt würde sie vermutlich auch noch ihren Flug verpassen, weil sie einen nicht genehmigten Ausflug gemacht hatte.

Jen musste ihre Bedenken gespürt haben, denn sie sagte fast aggressiv: „Aber überzeugen Sie sich selbst.“

Der SUV folgte einer ausladenden Kurve, und plötzlich tauchte das Landgut wie aus dem Nichts vor ihnen auf. In dieser gottverlassenen Gegend hatte sie nicht mit einem so großen Gebäude gerechnet, das zudem ziemlich solide wirkte. Normalerweise bauten die Survivalisten kleine Hütten und verwendeten das Material, das sie in der unmittelbaren Nachbarschaft fanden. Bei dieser Sekte war es jedoch anders.

Der Komplex erinnerte mehr an einen überirdischen Bunker als an ein Wohnhaus. Die Fenster waren verbarrikadiert, als ob die Bewohner in einer Stadt und nicht weitab in der Wildnis lebten. In der Mitte erhob sich ein Turm, den Evelyn erst bemerkte, als sie näher kamen. Aber falls da oben jemand saß, hätte er sie und Jen längst gesehen. Die Lichtbänder der Autoscheinwerfer, die die Dunkelheit zerschnitten, wären bereits von Weitem aufgefallen.

Evelyn kniff die Augen zusammen und blinzelte durch die Windschutzscheibe. „Sind das …?“

„Sonnenkollektoren“, bestätigte Jen. „Ja. Den Schornsteinen nach zu urteilen haben sie mehrere Feuerstellen. Ich weiß auch, dass sie über ein paar große Generatoren verfügen. Sie sind nicht ans Stromnetz angeschlossen. Soweit wir wissen, haben sie weder Elektrizität noch Internet. Sie haben sich sogar eine eigene Trinkwasserversorgung gebaut. Sie sind absolut autark.“

Wie kann man nur so leben? überlegte Evelyn schweigend. Aber es gab eine ganze Reihe von Kultisten, die ohne Elektrizität zurechtkamen, während ihre Anführer in Saus und Braus lebten.

Bei dieser Gruppe handelte es sich wahrscheinlich um Survivalisten, die bewusst auf jeglichen Komfort verzichteten.

Das Anwesen schmiegte sich an den Fuß eines steilen Hügels, der von keiner Seite einen unbemerkten Zugang ermöglichte. Zusätzlich wurde es von einem hohen Zaun, teils aus Holz, teils aus Maschendraht, gesichert, der mit Stacheldraht gekrönt war. Doch das Eingangstor stand offen.

„Das ist ja merkwürdig“, meinte Jen, als sie durch das Tor fuhr.

„Was?“ Evelyn setzte sich kerzengerade auf.

Die Gruppe hatte Bäume gefällt – zum einen, um den Zaun errichten zu können, zum anderen, damit niemand auf die Bäume klettern und so auf das Gelände gelangen konnte. Innerhalb des Zauns hatten sie der Natur freien Lauf gelassen. Mehr als ein paar dürre Nadelbäume gab es zwar nicht, aber sie waren immer noch groß genug, dass man sich dahinter verbergen konnte. Doch niemand tauchte auf. Evelyn sah keine Menschenseele. Ein nervöser Schauer fuhr ihr über den Rücken.

„Normalerweise kommen sie ans Tor“, murmelte Jen argwöhnisch.

„Wie oft waren Sie denn schon hier?“ Und wie deutlich hatte sie sich bei diesen Besuchen ihr Misstrauen anmerken lassen?

„Nur drei Mal.“

Das reicht, um ihr Interesse offensichtlich zu machen, überlegte Evelyn. Doch wo steckten sie alle?

„Vielleicht hatte das FBI recht damit, dass Butler seinen Leuten irgendwas vom Pferd erzählt“, versuchte Jen zu witzeln. Doch ihre Stimme blieb ernst.

Sie parkte vor dem Gebäude, nahm ihr Handy heraus und wählte eine Nummer. Noch ehe Evelyn vorschlagen konnte, besser im Wagen zu warten, hatte Jen bereits die Tür geöffnet und war ausgestiegen.

Evelyn folgte ihr fluchend. Selbst wenn Jen aus ihren Vermutungen kein Hehl gemacht hatte, kannte sie die Leute besser als Evelyn. Sie hatten sich bisher friedlich mit ihr unterhalten. Warum sollten sie jetzt aggressiv reagieren, wenn sie erneut hier auftauchte?

Dennoch gefiel Evelyn das alles nicht. Weder das geöffnete Tor noch die bleierne Stille ringsum oder Jens hartnäckiges Bestehen darauf, dass von hier aus eine Gefahr ausging.

Kaum hatte sie die Wagentür zugeschlagen, stach ihr eine eisige Luft in die Kehle. Es war noch kälter geworden – entweder, weil es inzwischen noch später geworden war oder weil die Gegend höher lag. Die Luft fühlte sich zehn Grad kälter an. In der Wildnis von Montana brauchte man mehr als einen Hosenanzug und Schuhe mit Absätzen. Nach kaum fünf Schritten begannen ihre Finger vor Kälte zu schmerzen.

Trotzdem öffnete sie ihr Jackett, um schneller an die SIG Sauer P226 an ihrer Hüfte gelangen zu können.

Jen folgte den breiten Reifenspuren, die von dem festgetretenen Pfad wegführten und tief in die lockere Erde gegraben waren. Als sie um die Ecke des Hauses bog, rief sie laut: „Hallo?“

Evelyn ging schneller, um Schritt mit ihr zu halten, als sie Jen ausrufen hörte: „Hey, ich kenne Sie doch!“

Wieder lief Jen um die Ecke, dieses Mal allerdings rückwärts – und mit erhobenen Händen.

Evelyn wollte nach ihrer Waffe greifen, aber noch bevor sie sie aus dem Holster ziehen konnte, tauchte ein Mann hinter der Hauswand auf.

Nur verschwommen nahm sie seine verzerrten Gesichtszüge und den Tarnanzug wahr. Denn ihr Blick war auf das modifizierte AK-47 fokussiert, mit dem er direkt auf Jen zielte.

2. KAPITEL

„Was hast du hier zu suchen, Agent Martinez?“, wollte der bewaffnete Mann wissen. Seine Stimme war ein tiefes raues Grollen.

Jen zuckte zusammen, als ihr klar wurde, dass Butler ihren Nachnamen kannte. Doch sie ließ sich nichts anmerken, während sie mit erhobenen Händen langsam rückwärtsging, bis sie neben Evelyn stand. „Nur ein Freundschaftsbesuch, Ward. Nicht mehr.“ Ward Butler. Evelyn blinzelte, um in der zunehmenden Dunkelheit genug sehen zu können. Der Anführer auf dem Butler-Landgut. Der Mann, den Jen verdächtigte, Terrorakte gegen sein eigenes Land zu verüben.

Mit seinem dichten struppigen Bart, der tief in die Stirn gezogenen Kappe und dem Tarnanzug sowie dem illegal modifizierten Sturmgewehr hätte man ihm das ohne Weiteres zugetraut.

„Lass das fallen“, blaffte Butler, ohne auf Jens freundlichen Ton einzugehen.

Jens Blick wanderte zu ihrem Handy. Das Display leuchtete – vermutlich war die Verbindung mit demjenigen, dessen Nummer sie im Wagen gewählt hatte, hergestellt.

„Weg damit!“, schrie Butler. Seine Stimme schallte über das Grundstück.

Das Handy fiel zu Boden, Butler zielte mit einer raschen Bewegung darauf und drückte ab. Das Telefon zersplitterte in tausend Stücke.

Instinktiv wich Evelyn zurück und wollte zur Waffe greifen.

Ehe sie sie erreichen konnte, war das Sturmgewehr auf sie gerichtet.

„Ich würde das nicht tun“, warnte Butler sie. „Hände hoch!“

Evelyn hob die Hände. Sie merkte, dass sie zitterte. Ob wegen der Kälte oder Butlers Waffe, hätte sie nicht sagen können.

Jens Chef vermutete bestimmt, dass sie zum Anwesen hinausgefahren war, und er rechnete sicher nicht damit, sie bald wieder in ihrem Büro zu sehen. Vielleicht erwartete er sie auch erst am nächsten Tag zurück.

Und niemand wusste, wo Evelyn war.

„Versuchen wir’s noch mal, Agent Martinez.“ Bei dem Wort Agent bekam Butlers Stimme einen sarkastischen Unterton. „Was willst du hier?“

Die meisten Sektenführer hatten etwas Charismatisches – trotz der Tatsache, dass sie selbstverliebte und eitle Soziopathen waren. Die Klügeren unter ihnen ließen sich das natürlich nicht anmerken. Stattdessen gaben sie sich charmant und verbindlich, um andere Menschen davon zu überzeugen, dass es das Beste war, auf jeglichen Besitz zu verzichten und ihnen bedingungslos zu folgen.

Dieser Mann war anders. Sie kannte ihn erst wenige Minuten, war aber davon überzeugt, dass es sich bei ihm um eine neunzig Kilo schwere Zeitbombe handelte, die jeden Moment hochgehen konnte.

Sie hatte nicht viel Erfahrung mit Sekten, aber Butler brachte bei ihr sämtliche Alarmglocken zum Schrillen. Wenn er ein Sektenführer war, wo zum Teufel steckten dann seine Anhänger?

„Meine Schicht ist gerade zu Ende gegangen, Ward“, erklärte Jen. „Ich zeige meiner neuen Partnerin ihr Einsatzgebiet.“ Sie hob die Schultern und versuchte zu lächeln. „Sie soll möglichst viele Leute aus der Gegend kennen, wenn sie hier ihren Dienst beginnt. Wir müssen auch gleich zurück ins Büro.“

Butler musterte Evelyn von oben bis unten. Er versuchte gar nicht erst, seine Abneigung zu verbergen. „Du bist die Neue im Büro in Salt Lake City?“, fragte er misstrauisch.

„So ist es“, erwiderte Evelyn. Butlers Tonfall verursachte ihr Unbehagen. Hatte er das Büro erwähnt, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sich mit den Strukturen der FBI-Dienststellen auskannte? Oder steckte mehr dahinter?

Jen versuchte, ein bisschen Härte in ihre Stimme zu legen. „Es gibt überhaupt keinen Grund, so unfreundlich zu sein.“

Butlers Miene spiegelte seine Verachtung. Ohne Evelyn aus den Augen zu lassen, sagte er zu Jen: „Doch. Sie.“

Seine Stimme klang so hasserfüllt, dass Evelyn unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Butler grinste höhnisch. Doch anstatt das Wort an sie zu richten, wandte er sich wieder an Jen. „Das ist Privatbesitz. Hier einfach reinzuschneien, ohne sich vorher anzumelden, ist nicht besonders clever.“ Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die wohl Mitleid ausdrücken sollte. „Stellt euch vor, jemand hält euch für Einbrecher und jagt euch eine Kugel in den Kopf. Wäre doch zu schade!“

Evelyn lief es eiskalt über den Rücken. Nachdem sie gesehen hatte, wie treffsicher er Jens Handy außer Gefecht gesetzt hatte, versuchte sie erst gar nicht mehr, ihre Waffe aus dem Holster zu holen. Er hätte sofort abgedrückt.

Dann wären alle Überlegungen über ihre Zukunft beim FBI überflüssig. Schlimmer noch: Sie würde sich nicht von ihrer Großmutter verabschieden können. Und nie erfahren, was aus ihrer kürzlich begonnenen Beziehung zu Agent Kyle McKenzie werden würde.

Sie hätte sich eine längere Auszeit nehmen sollen, nachdem sie den Fall ihrer verschwundenen Freundin aufgeklärt hatte. Und mit Kyle länger Urlaub machen sollen – egal, was ihre Kollegen beim FBI über sie dachten. Geradezu sehnsüchtig erinnerte sie sich an den paradiesisch einsamen Strand, der sich meilenweit erstreckte, an Kyles blaue Augen, die sie unverwandt anschauten …

Eine kurze Woche lang hatte sie sich wie ein anderer Mensch gefühlt. Wie jemand, dessen Leben nicht nur aus Arbeit bestand. Wie jemand, der nicht vom unbezähmbaren Drang beherrscht wurde, die Dämonen der Kindheit zu jagen, bis sie sie endlich zur Strecke gebracht hatte.

Sie hatte sich einfach nur normal gefühlt – so normal wie schon lange nicht mehr. Nicht seitdem ihre Freundin Cassie aus ihrem Leben verschwunden war – das einschneidende Ereignis, das sie letztlich dazu bewogen hatte, Profilerin zu werden.

Mit Kyle an ihrer Seite war sie zuversichtlich genug gewesen, um es mit der ganzen Welt aufnehmen zu können. Und mit der Hoffnung, dass alles anders werden würde, war sie an ihre Arbeit zurückgekehrt.

Aber in den vergangenen drei Monaten war sie sich ganz verloren vorgekommen. Als würde sie ziellos durchs Leben laufen. Eine Erfahrung, die vollkommen neu für sie war.

Wie ein Film liefen die Bilder vor ihrem inneren Auge ab, während sie fieberhaft überlegte, wie sie sich verhalten sollte angesichts der Bedrohung, der sie und Jen ausgeliefert waren. Du bist Profilerin, schärfte sie sich ein. Tu etwas. Dein Leben hängt davon ab.

„Und jetzt wirf deine Waffe weg. Aber ganz langsam bewegen“, befahl Butler.

Jen griff nach ihrer Waffe. Angespannt sah Evelyn ihr dabei zu, jederzeit bereit sich wegzuducken, falls Jen seiner Aufforderung nicht Folge leisten sollte. Sie war fest entschlossen, sofort zu ihrer eigenen Pistole zu greifen – als letzter verzweifelter Versuch, wenn Butler seinen Finger über dem Abzugsbügel seines AK-47 krümmte.

Jen zögerte keine Sekunde. Sie warf die Pistole ins Gebüsch.

Das Geräusch eines starken Motors wurde lauter. Ein großer schwarzer Truck bog um die Hausecke. Er brauste so dicht an ihr vorbei, dass sie die Hitze des Motors zu spüren glaubte. Der Luftzug blies ihr ins Gesicht und löste ein paar Strähnen aus ihrem Haarknoten.

Der Wagen raste durch die Einfahrt und verschwand aus ihrer Sicht. Fast im selben Moment bog ein zweiter Mann um die Ecke, die Arme lässig hin und her baumelnd. Auch er hatte ein AK-47 um die Schulter geschlungen.

Ihn konnte sich Evelyn viel eher als Anführer einer Sekte vorstellen. Er war größer und schlanker als Butler, mit sandfarbenem Haar, dessen Locken seine Ohren bedeckten, und sein Gesicht war vermutlich sogar attraktiv, wenn er nicht so finster dreinblicken würde.

Wer mochte das sein? Evelyn warf Jen einen fragenden Blick zu, aber sie reagierte nicht.

Jen und Butler kannten sich offenbar ganz gut. Mit ihm musste sie also zuerst gesprochen haben, nachdem sie aus dem SUV gestiegen war. Warum hatte er dann bei ihrem Anblick so überrascht gewirkt?

„Wir müssen uns um die beiden kümmern.“ Wenn Butler damit meinte, die beiden Frauen töten zu wollen, klang er nichtsdestoweniger so beiläufig, als ginge es nur darum, ein Abendessen zu bestellen.

Der Neuankömmling schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das solltest du nicht tun.“

„Sie könnten uns alles vermasseln.“

„Das ist in der Tat ein Problem“, stimmte der Blondschopf zu. Er war ebenfalls in einen Tarnanzug gekleidet, trug aber weder Kappe noch Handschuhe. Sein Gesicht war von der Kälte gerötet, aber die Temperaturen machten ihm offenbar nichts aus.

Evelyn ergriff das Wort. „Es gibt hier keine Probleme.“

„Schnauze!“, herrschte Butler sie an. „So fängt immer alles an“, wandte er sich an seinen Kumpel. „Es spielt keine Rolle, was wir mit den beiden machen.“

„Wenn wir sie umbringen, haben wir noch mehr von der Sorte am Hals“, gab der andere Mann zu bedenken. Welche Funktion mochte er hier wohl haben?

Vielleicht die Stimme der Vernunft. Sie drückte die Arme an ihre Seite und betete, dass er Butler dazu überreden konnte, sie gehen zu lassen.

Falls diese Gemeinschaft wirklich wie eine typische Sekte organisiert war, gehörte er vielleicht zu den vertrauenswürdigen Ranghöheren, die Befehle von Butler entgegennahmen und dafür sorgten, dass die Anhänger sie in die Tat umsetzten. Innerhalb einer Sekte wurden solche Leute oft Leutnant genannt.

Evelyn betrachtete das Gebäude, das sich drohend in der Dunkelheit erhob. Wenn sie recht mit ihrer Annahme hatte – wo waren dann die Gefolgsleute? Gab es überhaupt welche? Und warum waren sie nicht aufgetaucht, als der Schuss gefallen war? Was mochte Butler mit seiner Bemerkung „So fängt immer alles an“ gemeint haben?

„Die da …“, Butler zeigte mit seiner Waffe auf Evelyn, „… ist die Neue. Und die andere, Jen Martinez, schnüffelt seit Monaten auf unserem Grundstück rum.“

„Na und? Wir tun doch nichts Verbotenes“, meinte der andere Mann mit sanfter Stimme.

Abgesehen von illegalem Waffenbesitz, dachte Evelyn. Aber das behielt sie lieber für sich.

„Tja, aber jetzt kann ich sie nicht mehr gehen lassen“, meinte Butler, und er klang geradezu erfreut.

Wieder schaute Evelyn in Jens Richtung und hoffte auf eine Reaktion von ihr. Wie sollten sie aus diesem Schlamassel herauskommen? Gab es irgendeine Verbindung zwischen Jen und Butler oder dem anderen Mann, die ihr jetzt helfen konnte?

Reden schien die beste Option zu sein, vor allem in dieser ziemlich verfahrenen Situation: Zwei bewaffnete Survivalisten standen vor ihnen, Jen war unbewaffnet, ihre eigene Waffe quasi unerreichbar. Fieberhaft überlegte Evelyn, wie sie am besten vorgehen sollte.

Jen hielt ihren Blick auf Butler geheftet. „Natürlich können Sie uns gehen lassen“, sagte sie mit fester Stimme. „Sie haben es noch nicht zu weit getrieben. Noch nicht. Lassen wir es dabei bewenden.“

„Vielleicht solltest du die beiden einsperren“, schlug der blonde Typ vor. „Und bring den Wagen weg von hier.“

„Warum sollten Sie das tun?“, schaltete Evelyn sich ein. „Wenn weiter nichts passiert – und bis jetzt haben wir nichts gesehen, was unsere Aufmerksamkeit verdienen würde –, warum riskieren Sie dann, dass das FBI hier draußen nach uns sucht?“ Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: „Falls Sie glauben, ihr Chef weiß nicht, wo wir sind, dann irren Sie sich. Hier werden sie als Erstes suchen, wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind.“

Butler zuckte nur mit den Schultern. „Da kann man nichts machen.“ Er nickte seinem Stellvertreter zu. „Vielleicht hast du recht mit deinem Vorschlag, sie einzusperren. Zumindest für eine Weile. Durchsuch sie, Rolfe.“

„Ward.“ Jen versuchte es erneut, während Rolfe sie nach versteckten Waffen absuchte. „Ich war immer offen Ihnen gegenüber. Das ist wirklich nicht nötig.“

Er beachtete sie gar nicht. Und dann stand Rolfe hinter Evelyn, so nahe, dass sich all ihre Muskeln verspannten. Er zog die Waffe aus ihrem Holster und nahm ihr das Handy ab. Anschließend tastete er sie geschickt ab. Evelyn erkannte sofort, dass er darauf trainiert war, nach versteckten Waffen zu suchen.

Wahrscheinlich trug er noch eine zweite Waffe bei sich. Aber sie hätte ohnehin nichts dagegen unternehmen können.

Er zeigte auf das Gebäude, und sie und Jen setzten sich in Bewegung. Jen wirkte schockiert und wütend zugleich, aber sie starrte nur stumm vor sich hin. Das froststarre Gras knirschte unter ihren Sohlen. Sie protestierte nicht länger – fast als freute sie sich darüber, endlich auch das Innere des Gebäudes kennenzulernen.

Butler folgte ihnen, das AK-47 unbeirrt auf Evelyns Rücken gerichtet.

„Bleibst du?“, fragte Butler mürrisch, und es dauerte eine Weile, bis Evelyn begriffen hatte, dass er mit Rolfe sprach.

Stirnrunzelnd schaute sie über ihre Schulter.

Rolfe lief im Gleichschritt hinter Butler her, ohne Evelyn aus den Augen zu lassen, wie sie feststellte, als sie in seine Richtung schaute.

Prompt stolperte sie und sah wieder nach vorn. Warum sollte Butlers Leutnant nicht bleiben? Vielleicht war er gar kein Leutnant. Vielleicht bekleidete er einen anderen Rang innerhalb der Sekte. Was konnte das sein? Und warum war jemand mit dem Truck weggefahren?

Was zum Teufel geschah auf dem Anwesen von diesem Butler?

„Sie fahren nach Montana“, verkündete der Chef der BAU, sobald Greg Ibsen sein Büro betrat.

„Was?“ Wie vom Donner gerührt blieb Greg in dem tristen grauen Büro stehen. „Hat Evelyns Gespräch mit Cartwright irgendwas gebracht?“

Greg versuchte, nicht überrascht zu klingen. Er arbeitete schon lange als Profiler bei der BAU. Lange genug, um zu wissen, wann Dan Moore jemanden mit einer langwierigen Sache beauftragte, um ihm eins auszuwischen.

Stirnrunzelnd musterte Dan ihn. Bestimmt konnte er die Gedanken seines Gegenübers lesen, denn er war schließlich auch Profiler. „Nein.“ Mit seinem Füller klopfte er auf den stetig wachsenden Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Es gibt neue Entwicklungen in Montana.“

„Wenn Evelyn schon dort ist, kann sie sich doch darum kümmern“, schlug Greg vor. Er hatte Evelyn ausgebildet und kannte sie wie kein zweiter in der Abteilung. Was immer es sein mochte – sie würde damit klarkommen. Und falls Dan ihr nicht bald wieder einen richtigen Auftrag zuwies, würde sie die Abteilung wahrscheinlich verlassen. Das jedenfalls waren Gregs Befürchtungen.

„Zu spät. Sie ist bereits auf dem Rückweg“, entgegnete Dan. Er schüttete seinen Kaffee hinunter und stellte die Tasse ab. „Außerdem hat sie nicht genug Erfahrung für einen solchen Fall. Wahrscheinlich werdet ihr euch in der Luft begegnen.“

„Worum geht’s denn überhaupt?“ Greg wurde mulmig bei dem Gedanken, zu Hause anrufen und seinem Sohn Josh mitteilen zu müssen, dass er nicht zu seinem ersten Eishockeyspiel kommen konnte. Gregs Familie war zwar an solche Botschaften gewöhnt; so war es nun mal, wenn man beim FBI arbeitete. Aber nach wie vor fiel es ihm nicht leicht, mit der Enttäuschung in ihren Stimmen und Gesichtern klarzukommen. Und dann war da noch die Resignation in ihren Blicken – als hätten sie ohnehin mit seiner Absage gerechnet.

„Eine Agentin vom Büro in Salt Lake City ist seit einem nicht genehmigten Alleingang verschwunden. Ihr Boss hat mir erzählt, dass sie seit einiger Zeit das Anwesen eines Typens namens Butler auf dem Kieker hat. Der hat eine Sekte in der Einöde von Montana um sich geschart, für die das Büro in Salt Lake City zuständig ist. Ihr Vorgesetzter ist ziemlich sicher, dass sie dorthin gefahren ist. Vor etwa einer Stunde hat er einen Anruf von ihr bekommen. Sie hat zwar kein Wort gesagt, als die Verbindung stand, aber er hat Gesprächsfetzen mitbekommen und einen Gewehrschuss gehört.“

„Okay“, sagte Greg zögernd. „Und aus welchem Grund wollen sie einen Profiler?“ Es hörte sich eher nach einem Fall für das SWAT-Team von Salt Lake City an – und zwar einem ziemlich akuten.

„Weil sie keinen Kontakt zu der Agentin haben und nicht wissen, was mit ihr los ist. Sie sind auch nicht hundertprozentig sicher, dass sie sich tatsächlich dort aufhält. Bei der Sekte handelt es sich um Survivalisten. Sie sind aus Prinzip gegen den Staat und die Regierung, bislang aber noch nicht als besonders aggressiv in Erscheinung getreten. Sie sind sehr geschickt im Umgang mit Waffen. Die Kollegen in Salt Lake City befürchten, die Bewohner zu einem Feuergefecht zu provozieren, wenn sie dort mit einem Zugriffsteam anrücken.“

„Sollte ich mir dann nicht besser erst mal die Infos, die wir über dieses Butler-Anwesen haben, hier vornehmen und aufgrund dessen ein Profil erstellen?“ Greg hatte zwar nichts dagegen, nach Montana zu fahren, falls er dort wirklich gebraucht wurde, aber ihm war nicht klar, wie seine Anwesenheit an Ort und Stelle in diesem Fall von Nutzen sein konnte. Zumal es nicht einmal einen bestätigten „Ort“ gab.

Seufzend öffnete Dan die oberste Schublade seines Schreibtischs, in der Greg eine Kollektion von Medikamenten gegen einen nervösen Magen vermutete, mit dem sein Boss zu kämpfen hatte. Aber statt eine Pille einzuwerfen, schloss Dan die Schublade wieder und dachte nach. „Sie fahren mit einer CIRG-Einheit. Ein Geiselunterhändler und ein paar Kollegen vom HRT kommen mit Ihnen.“

Die Critical Incident Response Group war ein besonderes Kriseninterventionsteam innerhalb des FBI. Sie konnte blitzschnell auf ernsthafte Bedrohungen reagieren – überall in den Vereinigten Staaten und auch im Ausland. Die BAU war ein Teil der CIRG – die einzige Abteilung, die nicht in Quantico saß, der nächstgelegenen Stadt, in der die FBI-Akademie beheimatet war.

Wenn ihn ein Geiselunterhändler und Kollegen vom Hostage Rescue Team begleiteten, bedeutete dies, dass jemand von ziemlich weit oben mit dem Schlimmsten rechnete; etwas, bei dem ein regionales Spezialteam der Polizei nicht ausreichte. Die Situation schien so brenzlig zu sein, dass die Anwesenheit von HRT-Agenten erforderlich war, deren Hauptaufgabengebiet die Geiselrettung war und die tagtäglich Geiselbefreiungen trainierten, um die Risiken für die Geisel so gering wie möglich zu halten.

Greg hatte ein unangenehmes Gefühl im Magen – zusammen mit einer gespannten Erwartung, die ihn immer befiel, wenn er einen neuen Auftrag bekam. Genau das war es, warum er seit neun Jahren ununterbrochen in der BAU arbeitete. „Was weiß ich noch nicht?“

„Das meiste wissen Sie schon“, erwiderte Dan, als sein Telefon klingelte. Er drückte auf eine Taste, um es stumm zu stellen. „Wir wollen eine bewaffnete Auseinandersetzung vermeiden. Aber falls diese Kollegin sich in dem Gebäude befindet, müssen wir sie rausholen.“

Greg nickte. Als das letzte Mal ein „Feind der Regierung“ Washington herausforderte, hatte sich der Vorfall umgehend zu einem Medienspektakel ausgewachsen, das jeden Moment in offene Gewalt umzuschlagen drohte. Doch schließlich waren sowohl das FBI als auch die Bundespolizei und die örtliche Polizei wieder abgezogen.

Dieser Vorfall in Nevada hatte alle Durchgeknallten aus den Wäldern gelockt. Sie wollten ihre Solidarität mit dem Farmer bekunden, der sich weigerte, sein Vieh von öffentlichem Land wegzuholen. Anschließend hatten sie sich im Gebüsch verschanzt, die Gesetzeshüter von allen Seiten mit Gewehren bedroht und Bilder von ihrem Aufstand online gestellt.

Es grenzte an ein Wunder, dass kein Schuss gefallen war. Die Chancen, dass so etwas noch einmal so glimpflich ausging, waren gering. Das wusste Greg genau.

„Ich vermute, ich muss rüber nach Quantico?“ Greg machte Anstalten, das Büro zu verlassen.

„Warten Sie.“ Dan klang erschöpft. „Da ist noch was.“

„Gibt’s eine Akte zum Butler-Landgut?“

„Ja, aber sie ist ziemlich dünn. Wir haben uns die Sekte vergangenes Jahr mal vorgenommen – auf Anfrage dieser Martinez. Die, die derzeit vermisst wird.“

„Und?“

„Wir halten sie für ein geringes Sicherheitsrisiko. Es ist wohl eine Sekte, die einfach nur in Ruhe gelassen und nicht vom Staat behelligt werden will. Die Mitglieder verbindet der Wunsch, nicht ans öffentliche Netz angeschlossen zu sein – weder Wasser noch Elektrizität. Wahrscheinlich gibt es auch irgendetwas Religiöses, was sie zusammenhält, obwohl darüber bislang keine Erkenntnisse vorliegen. Die Typen verhalten sich ruhig, solange der Staat nicht an ihre Tür klopft. In dem Fall könnten sie allerdings gefährlich werden. Vince hat die Analyse vorgenommen.“

Vince gehörte zu den ältesten und erfahrensten Kollegen und verfügte über einen legendären Ruf. Vor einem Monat hatte er allerdings gekündigt und bei einer privaten Sicherheitsfirma angeheuert. Die BAU suchte noch immer einen Ersatz für ihn.

„Das hört sich ja gut an – solange wir ihnen nicht auf die Pelle rücken“, erwiderte Greg langsam. Er hatte das Gefühl, dass noch etwas Schlimmes folgen würde.

„Martinez behauptet steif und fest, dass Butler ein Bubba ist.“

Greg blickte skeptisch drein. „Sie glaubt, ein Sektenführer ist ein Bubba?“

Bubba bezeichnete im Süden der USA den ältesten Bruder in einer Familie. In Strafverfolgungskreisen stand es allerdings für Amerikaner, die im eigenen Land zu Terroristen geworden waren.

„Nicht nur er“, erwiderte Dan. „Die ganze Gruppe.“

„Das wäre aber sehr ungewöhnlich – vor allem für Survivalisten.“

Amerikanische Terroristen, die sich gegen die Regierung verschworen hatten, waren aller Erfahrung nach eher Einzelgänger. Jemand, der vergeblich versucht hatte, sich paramilitärischen Gruppen oder Survivalisten anzuschließen, und deshalb letztlich allein einen zerstörerischen Kreuzzug unternahm.

Sektenmitglieder erwarteten von ihrem Anführer, dass er ihnen ein Gemeinschaftsgefühl vermittelte. Und ein Sektenführer gewann Macht und Einfluss dadurch, dass seine Anhänger taten, was er verlangte, und von ihnen wie ein Gott verehrt wurde. Wenn ein solcher Anführer seine Leute ausschickte, um Terroranschläge zu verüben, würde er sein kleines Königsreich zerstören. Wenn aber keiner mehr da wäre, der ihn anbeten konnte, welchen Zweck hätte dann seine Sekte noch?

Greg nahm die Akte, die Dan ihm reichte. „Und jetzt glauben Sie, dass Martinez recht haben könnte?“

„Nein. Aber ich könnte mir vorstellen, dass die Gruppe zum Äußersten bereit ist, weil die Frau dort dauernd herumgeschnüffelt hat. Wir müssen damit rechnen, auf Leute zu treffen, die sich auf ihrem Grundstück verbarrikadieren und es um jeden Preis verteidigen. Unter Umständen begehen sie sogar Massenselbstmord.“

Greg runzelte die Stirn. Plötzlich verstand er, warum er nach Montana geschickt wurde. „Und falls Martinez dort sein sollte, müssen wir auf jeden Fall auf das Grundstück.“

Dan nickte grimmig. „Genau.“

3. KAPITEL

„Wir müssen von hier weg“, flüsterte Jen. Ein schmaler Lichtstreifen wanderte über ihre rechte Gesichtshälfte und verlor sich auf dem Boden.

„Wir brauchen einen Plan“, entgegnete Evelyn ebenso leise. „Die haben deinen Autoschlüssel. Wir sind mitten in der Wildnis und haben nichts dabei.“ Es war ziemlich kühl in der unbeheizten Abstellkammer. Wenigstens war es ein geschlossener Raum, in den die Eiseskälte von draußen nicht eindringen konnte. Im Freien wären sie wahrscheinlich längst erfroren.

„Und selbst wenn wir den SUV zum Laufen kriegen sollten“, fuhr sie fort, „haben sie das große Tor wahrscheinlich längst geschlossen. Außerdem würden sie uns hören. Du hast doch selbst gesehen, wie gut Butler mit dem Gewehr umgehen kann.“

Leise schloss Jen die Tür.

Man hatte sie in einen Abstellraum des Gebäudes gesperrt, der sich in der Nähe eines Seiteneingangs befand. Vor zwanzig Minuten hatten Butler und Rolfe sie hier zurückgelassen. Vielleicht schliefen die beiden Männer bereits. Oder sie hatten sich in einen anderen Teil des weitläufigen Hauses verzogen.

Da Evelyn mit dem Gelände nicht vertraut war, wusste sie natürlich nicht, wer sich sonst noch hier aufhielt, wo sie möglicherweise eine Waffe oder Autoschlüssel finden konnte. Und dann fiel ihr der Aussichtsturm auf dem Haus wieder ein. Ehe sie auch nur in die Nähe des Tores gekommen waren, hätte man sie bestimmt längst entdeckt.

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