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Beautiful

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Pippa ist frustriert von der Männerwelt und braucht dringend einen Tapetenwechsel. Ein Trip nach New York zu ihrer besten Freundin scheint genau das richtige zu sein, um auf andere Gedanken zu kommen. Doch typisch Pippa: Schon im Flugzeug lernt sie einen atemberaubend schönen Geschäftsmann kennen - und macht sich vor ihm im Champagnerrausch völlig lächerlich.

Jensen lebt für seine Arbeit. Für eine Frau ist in seinem durchgeplanten Tagesablauf kein Platz. Schon gar nicht für so eine verrückte, laute Frau wie diese Engländerin, die ihm ungefragt ihre Lebensgeschichte erzählt. Leider ist sie wahnsinnig sexy - und das Schicksal führt sie immer wieder so hartnäckig zusammen, dass Jensen irgendwann Zweifel kommen, ob er der Versuchung noch lange widerstehen kann …

"Intelligent, heiß und modern. Diese Serie ist einfach perfekt."

New-York-Times-Bestsellerautorin Katy Evans

"Das Autorinnen-Duo Christina Lauren hat seinen Stil perfektioniert. Niemand kann die sexuelle Spannung zwischen zwei Charakteren besser vermitteln und die ausgefallenen Liebesszenen sind der Hammer."

Romantic Times Book Reviews

"Christina Lauren ist meine erste Wahl, wenn ich eine heiße und süße Liebesgeschichte lesen will."

Nr.1 New York Times-Bestsellerautorin Jennifer L. Armentrout

"Unglaublich prickelnd!”

Entertainment Weekly


  • Erscheinungstag: 12.06.2017
  • Aus der Serie: Beautiful Bastard
  • Bandnummer: 10
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766887
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für A. K. W.:
für jedes geduldige Lächeln und jeden gewonnenen Kampf

1. Kapitel

PIPPA

Hinterher ist man immer schlauer. Und ich gebe mir alle Mühe, deshalb nicht zu verbittert zu sein.

Ein Beispiel: Wenn du erst im Abschlussexamen merkst, dass du vielleicht doch ein bisschen fleißiger hättest studieren sollen.

Oder, anderes Beispiel, wenn jemand eine Pistole auf deinen Kopf richtet, sodass du direkt in den Lauf guckst und denkst: Shit, ich war aber auch eine ganz schöne Idiotin!

Oder wenn du unverhofft auf den weißen, rhythmisch bebenden Hintern deines beknackten Freundes starrst, der gerade in deinem Bett eine andere Frau vögelt, und dir mit einem Anflug von Sarkasmus klar wird: Ach, deshalb hat er sich nie um die knarrende Treppenstufe gekümmert. Die war sein Pippa-Alarm …

Ich schleuderte meine Handtasche auf ihn, als er gerade zum nächsten Stoß ausholte, und traf ihn mitten im Rücken. Es klang, als ob man hundert Lippenstifte gleichzeitig gegen eine Wand geklatscht hätte.

Für einen betrügerischen, verlogenen vierzigjährigen Mistkerl war Mark zugegebenermaßen ziemlich fit.

„Du Arschloch“, zischte ich, während er sich, reichlich ungraziös, von ihr herunterbemühte. Die Laken waren abgezogen – der Mann war zusätzlich zu all seinen anderen Vorzügen auch noch faul, offenbar hatte er keine Lust gehabt, das Bettzeug vor meiner Rückkehr zum Waschsalon an der Ecke zu schleppen –, und sein Schwanz hüpfte ein paarmal federnd gegen seinen Bauch.

Er bedeckte ihn mit einer Hand. „Pippa!“

Zumindest verbarg die Frau ihr Gesicht entsetzt hinter beiden Händen, was ich sehr angebracht fand. „Mark“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. „Du hast mir nicht erzählt, dass du eine Freundin hast.“

„Lustig“, antwortete ich an seiner Stelle. „Mir hat er nicht erzählt, dass er zwei hat.“

Mark stieß ein paar abgehackte Schreckenslaute aus.

„Worauf wartest du?“ Ich reckte das Kinn. „Pack deine Sachen. Verschwinde.“

„Pippa“, jammerte er. „Ich wusste nicht …“

„Dass ich in der Mittagspause nach Hause kommen würde?“, vollendete ich den Satz. „Ja, Schatz, das habe ich mir schon gedacht.“

Die Frau stand auf und suchte verlegen ihre Klamotten zusammen. Vermutlich wäre es anständig von mir gewesen, den beiden den Rücken zuzuwenden, damit sie sich ungestört und in beschämtes Schweigen gehüllt hätten anziehen können. Aber fairerweise musste man sagen: Es wäre auch anständig gewesen, nicht so zu tun, als hätte sie nicht gewusst, dass Mark eine Freundin hatte, wo doch alles in diesem verdammten Schlafzimmer in einem zarten Türkis gehalten war und die Schirme der Nachttischlampen mit Spitze bezogen waren.

Dachte sie etwa, dass er sie in das Apartment seiner Mutter gebracht hatte? Ich glaube, es hackt!

Mark schlüpfte in seine Hose und kam auf mich zu, die Hände vorsichtig erhoben, als ob er sich einem Löwen näherte.

Ich lachte. In diesem Moment war ich viel gefährlicher als ein Löwe.

„Pippa, Liebste, es tut mir so leid.“ Er ließ die Worte hoffnungsvoll zwischen uns im Raum stehen, als ob sie tatsächlich ausreichen könnten, meinen Zorn zu besänftigen.

Sofort entstand eine vollständige Rede in meinem Kopf, artikuliert und bis ins letzte Komma ausformuliert. Sie hätte sich darum gedreht, dass ich fünfzehn Stunden am Tag schuftete, um sein Start-up zu unterstützen, dass er seit vier Monaten in meiner Wohnung lebte und arbeitete, aber es während dieser ganzen Zeit noch nicht mal geschafft hatte, auch nur einen einzigen Teller abzuwaschen – und dass er sich offenbar sehr viel mehr einbrachte, wenn es darum ging, dieser Frau hier ein bisschen Vergnügen zu bereiten, als er sich im letzten halben Jahr darum bemüht hatte, mich glücklich zu machen. Aber ich glaubte nicht, dass er noch so viel Energieeinsatz meinerseits verdiente, auch wenn es eine wirklich grandiose Rede geworden wäre.

Außerdem war sein Unbehagen, das sich mit jeder Sekunde steigerte, die ich wortlos verstreichen ließ, geradezu köstlich. Es tat überhaupt nicht weh, ihn anzuschauen. Man sollte ja meinen, dass es schmerzhaft sein müsste – in einer derartigen Situation. Doch stattdessen entzündete sein Anblick eine Art Feuer in mir. Gut möglich, dass es meine Liebe zu ihm war, die da gerade in Flammen aufging, wie eine alte Zeitung, die man über ein brennendes Streichholz hielt.

Er kam einen Schritt näher. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich das im Augenblick für dich anfühlt, aber …“

Ich legte den Kopf schräg, und die Wut kochte in mir hoch. „Ach nein, kannst du das nicht?“, unterbrach ich ihn. „Shannon hat dich wegen eines anderen Mannes verlassen. Daher solltest du eigentlich ganz genau wissen, wie sich das hier für mich anfühlt.“

Kaum hatte ich es gesagt, waren die Erinnerungen an jene frühen Tage wieder da, als wir uns gerade erst im Pub kennengelernt hatten, als wir nur Freunde gewesen waren und lange, intensive Gespräche geführt hatten über meine Flirt-Abenteuer und seine gescheiterte Beziehung. Er war so verzweifelt über die Trennung von seiner Frau gewesen, dass mir sofort klar gewesen war, wie sehr er sie geliebt haben musste. Ich versuchte nach Kräften, mich nicht in ihn zu verlieben, in seinen trockenen Humor, seine dunklen Locken, seine leuchtend braunen Augen, konnte es aber nicht verhindern. Und dann wurde zu meiner grenzenlosen Freude aus einer heißen Nacht mehr.

Drei Monate später zog er bei mir ein.

Sechs Monate später bat ich ihn, das knarrende Brett auf der Treppe zu fixieren.

Zwei Monate danach gab ich auf und kümmerte mich selbst drum.

Gestern hatte ich es erledigt.

„Hol deine Sachen aus dem Schrank und verschwinde!“

Die Frau huschte an uns vorbei, ohne aufzublicken. Würde ich mich später überhaupt an ihr Gesicht erinnern? Oder hätte ich auf ewig das Bild vor Augen, wie Marks Hintern sich über ihr bewegte und sein Schwanz dann wild herumwippte, als er sich panisch von ihr herunterrollte?

Ein paar Sekunden später hörte ich die Wohnungstür zufallen, aber Mark hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt.

„Pippa, sie ist nur eine Freundin. Sie ist die Schwester von Arnold, vom Fußball, sie heißt …“

„Sag mir bloß nicht ihren verdammten Namen.“ Ich lachte ungläubig. „Es interessiert mich einen Scheiß, wie sie heißt!“

„Was …?“

„Was ist denn, wenn es ein schöner Name ist?“, fiel ich ihm ins Wort. „Was ist, wenn ich irgendwann mal mit einem wirklich netten Kerl verheiratet bin und wir ein Baby kriegen und mein Mann genau diesen Namen vorschlägt und ich sage: ‚Oh, sehr hübsch, echt. Aber leider hat Mark ein Mädchen, das genau so hieß, in meinem Bett gevögelt und vorher die Laken abgezogen, weil er nämlich ein fauler Wichser ist, daher können wir diesen hübschen Namen leider nicht für unsere Tochter in Betracht ziehen.‘“

Ich funkelte ihn wütend an. „Du hast mir schon den Tag versaut. Vielleicht sogar die ganze Woche.“ Nachdenklich wiegte ich meinen Kopf hin und her. „Aber definitiv nicht den ganzen Monat, denn die neue Prada-Tasche, die ich mir letzte Woche gegönnt habe, macht mich verdammt glücklich – und dieses Gefühl können nicht mal du und dein untreuer bleicher Arsch schmälern.“

Er lächelte, hätte fast losgelacht. „Sogar jetzt“, sagte er leise und bewundernd, „nachdem ich dich auf diese Weise betrogen habe, bist du immer noch so ein unglaublich lustiges Mädchen, Pippa.“

Ich schob entschlossen den Unterkiefer vor. „Mark. Mach, dass du aus meiner Wohnung kommst!“

Er wand sich entschuldigend. „Weißt du, es ist nur so, dass ich um vier eine Telekonferenz mit den Italienern habe, und ich hab gehofft, dass ich die von hier aus …“

Diesmal wurde er dadurch zum Schweigen gebracht, dass meine rechte Hand auf seine Wange knallte.

Coco stellte eine Tasse Tee vor mich auf den Tisch und strich mir beruhigend übers Haar.

„Scheiß auf ihn.“ Sie flüsterte diese Empfehlung, Lele zuliebe.

Lele liebte Motorräder, Frauen, Rugby und Martin Scorsese. Aber sie schätzte es, wie wir gelernt hatten, überhaupt nicht, wenn ihre Gattin schlimme Wörter in den Mund nahm.

Ich legte das Gesicht auf meine verschränkten Arme. „Warum sind Männer bloß solche Wichser, Mum?“

Das Mum galt beiden, weil es die einzige Anrede war, auf die beide reagierten. Anfangs war es verwirrend, nach einer zu rufen, und dann kamen beide angelaufen. Aus diesem Grund gingen Colleen und Leslie, sobald ich sprechen konnte, dazu über, sich Coco und Lele nennen zu lassen statt Mum.

„Sie sind Wichser, weil …“, begann Coco und verstummte dann, offenbar ins Schwimmen geraten. „Nun ja, nicht alle sind Wichser, oder?“

Vermutlich schaute sie an dieser Stelle Bestätigung heischend zu Lele, denn als sie weitersprach, klang ihre Stimme überzeugter. „Und Frauen können übrigens durchaus auch Wichser sein.“

Lele eilte zu ihrer Rettung herbei. „Was wir dir jedoch definitiv sagen können, ist, dass Mark auf jeden Fall ein Wichser ist, und das hat uns alle doch etwas überraschend getroffen, nicht wahr?“

Für die Mums war es ebenfalls eine traurige Entwicklung. Sie mochten Mark – und die Tatsache, dass er altersmäßig genau zwischen mir und ihnen lag. Sie schätzten seinen erlesenen Weingeschmack und seine Vorliebe für Bob Dylan und Sam Cooke. Wenn er mit mir zusammen war, tat er gern so, als wäre er immer noch in seinen Zwanzigern. In ihrer Gesellschaft mutierte er mühelos zum besten Freund zweier fünfzig-plus-jähriger Lesben. Ich fragte mich, welche Version seiner selbst er bei der gesichtslosen Schlampe zum Besten gab.

„Ja und nein“, räumte ich ein, setzte mich aufrecht hin und räusperte mich. „Rückblickend stellt sich mir die Frage, ob Mark vielleicht damals wegen Shannon so am Boden zerstört war, weil es ihm nie in den Sinn gekommen war, zu betrügen.“

Ich schaute in ihre großen, sorgenvollen Augen. „Ich meine, er wusste nicht mal, dass es überhaupt eine Option war, bevor sie fremdging. Und möglicherweise ist es ja eine schreckliche Option, wenn man unglücklich ist, aber immerhin. Man weiß künftig, dass es sie gibt.“ Ich spürte, wie mir das Blut aus den Wangen wich. „Vielleicht war es ja jetzt für ihn die schnellste und einfachste Methode, mit mir Schluss zu machen?“

Sie starrten mich an, sprachlose Zeuginnen dieses erschreckenden Gedankengangs.

„Ging es womöglich nur darum?“ Ich blickte forschend von einer zur anderen. „Wollte er die Sache beenden, und ich war einfach zu blöd, es zu sehen? Hat er mit einer anderen Frau in meinem Bett geschlafen, um mich von sich zu stoßen?“ Ich wischte mir mit einer Hand über die Lippen. „Ist Mark nichts anderes als ein gigantischer Feigling mit einem super Schwengel?“

Coco legte sich eine Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken. Lele schien ernsthaft über meine Frage nachzudenken. „Ich kann nichts über den Schwengel sagen, Schatz, aber ohne jeden Zweifel ist der Mann ein Feigling.“

Sie umfasste meinen Ellbogen, hievte mich hoch und lenkte mich mit sicherem Griff zum dick gepolsterten Sofa. Dort zog sie mich an ihren langen, harten Körper, und im nächsten Moment spürte ich Cocos weiche, warme Kurven an meiner anderen Seite.

Wie oft hatten wir schon so dagesessen, aneinandergeschmiegt auf der Couch, und über die Mysterien männlichen Beziehungsverhaltens nachgegrübelt? Irgendwie konnten wir uns da gemeinsam durchwursteln. Wir fanden nicht immer die richtigen Antworten, aber zumindest ging es uns nach einer ordentlichen Kuschelrunde auf dem Sofa meist besser.

Diesmal brauchten sie sich keine besonders große Mühe mit brauchbaren Hypothesen zu geben. Wenn deine sechsundzwanzigjährige Tochter mit Männerproblemen ankommt und du ein lesbisches Paar und seit fast dreißig Jahren mit deiner ersten Liebe verheiratet bist, dann bleibt nicht viel zu sagen außer: Scheiß auf ihn.

„Du arbeitest zu viel“, murmelte Lele und küsste mein Haar.

„Du hasst deinen Job.“ Coco rieb meine Finger und summte zustimmend.

„Wisst ihr, dass ich deshalb überhaupt nur in der Mittagspause nach Hause gegangen bin? Ich hatte das zwingende Bedürfnis, meinen Stapel Tabellenkalkulationen in den Schredder zu werfen und Tony seinen Kaffee ins Gesicht zu kippen, und dachte, ein hausgebrühter Koffeinkick und ein paar Kekse wären genau das Richtige. Tja, Ironie des Schicksals.“

„Du könntest kündigen und wieder zu uns ziehen?“, schlug Coco vor.

„Ach, Mum, das möchte ich nicht“, sagte ich leise und versuchte, den winzigen Funken Begeisterung zu ignorieren, den die Vorstellung, meinen Job hinzuschmeißen, in mir auslöste. „Das ginge nicht.“

Ich starrte auf das aufgeräumte Wohnzimmer: den kleinen Fernseher, der mehr als Standplatz für Cocos reich gefüllte Blumenvasen diente als seinem eigentlichen Zweck; den blauen Noppenteppich, in dem sich früher mal ein Minenfeld verlorener Barbie-Schuhe verbarg; den sorgfältig gebeizten Parkettboden darunter.

Ich hasste meinen Job tatsächlich. Ich hasste Tony, meinen Boss. Ich hasste die dumpfe Langeweile endloser Zahlenverarbeitung. Ich hasste die ewige Pendelei und dass es niemanden mehr im Büro gab, mit dem ich wirklich befreundet war, seit Ruby vor fast anderthalb Jahren die Firma verlassen hatte.

Ich hasste, wie jeder Tag nahtlos in den nächsten überzugehen schien.

Aber vielleicht sollte ich mich glücklich schätzen, rief ich mir in Erinnerung. Zumindest habe ich einen Job, stimmt’s? Und Freunde, auch wenn die meisten den Großteil ihrer Zeit damit verbringen, in Kneipen herumzulungern und über Gott und die Welt zu tratschen. Ich habe zwei Mütter, die mich über alle Maßen lieben, und eine Garderobe, nach der viele Frauen sich die Finger schlecken würden. Und klar, Mark konnte manchmal echt süß sein, war jedoch, wie man fairerweise einräumen muss, auch irgendwie ein Rüpel. Toller Schwanz, faule Zunge. Durchtrainiert, aber ziemlich langweilig, wenn man näher drüber nachdenkt. Wer braucht überhaupt einen Mann? Ich nicht.

Ich hatte das alles – ein gutes Leben, ganz ehrlich. Warum also fühlte ich mich wie aufgewärmte Kacke?

„Du brauchst mal Urlaub.“ Lele seufzte.

Ich spürte, wie etwas in mir aufplatzte: ein kleiner Ausbruch der Erleichterung.

„Ja, genau! Urlaub!“

An einem Freitagmorgen war in Heathrow die Hölle los.

Flieg Freitag, hatte Coco gesagt.

Dann ist nichts los, hatte sie gesagt.

Vermutlich hätte ich nicht auf den Rat einer Frau hören sollen, die seit vier Jahren kein Flugzeug mehr von innen gesehen hatte. Aber im Vergleich zu mir war sie damit geradezu eine Weltenbummlerin; ich war seit sechs Jahren nicht mehr geflogen. Ich machte nie Dienstreisen. Ich setzte mich in den Zug nach Oxford, wenn ich Ruby besuchen wollte, und mit Mark in den Zug nach Paris – hatte mich mit Mark in den Zug nach Paris gesetzt –, wenn wir einen Mini-Urlaub machen, uns mit Essen und Wein verwöhnen oder wilden Sex mit dem Eiffelturm im Hintergrund haben wollten.

Sex. Du liebe Güte, wie ich das vermissen würde.

Aber es gab jetzt Wichtigeres zu bedenken, zumal sich gerade die Frage aufdrängte, ob um neun Uhr früh an einem Freitag mehr Menschen in Heathrow unterwegs waren als in der gesamten Londoner City.

Gehen die Leute denn keinem Broterwerb mehr nach?, dachte ich. Offenbar bin ich nicht der einzige Mensch, der vor dem Ende der Arbeitswoche an einem beliebigen Datum im Oktober wegfliegt, um der lähmenden Langeweile seines Jobs und dem verlogenen, betrügerischen …

„Weitergehen“, zischte die Frau hinter mir.

Ich zuckte zusammen. Da hatte ich mich doch mitten in der Schlange vor dem Sicherheitscheck in meinen Gedanken verloren.

Ich machte drei Schritte nach vorn und schaute über meine Schulter zu ihr. „Besser?“, erkundigte ich mich schnippisch, nachdem wir nun in exakt derselben Reihenfolge und kaum einen Meter näher an dem Beamten standen, der die Pässe kontrollierte.

Dreißig Minuten später war ich an meinem Gate. Und ich brauchte … irgendetwas zu tun. Mein Magen zog sich nervös zusammen, in einer Art ängstlicher Beklommenheit, bei der ich nie sicher bin, ob es besser ist, etwas zu essen oder doch lieber nüchtern zu bleiben. Es war ja nicht so, als ob ich noch nie geflogen wäre … Aber ich war noch nicht oft geflogen. Um das klarzustellen: Ich würde mich in meinem alltäglichen Leben durchaus als weltläufige Person einschätzen. Ich hatte einen Lieblingsladen auf Mallorca, in dem ich tolle Röcke kaufte. Ich besaß eine Liste von Cafés in Rom, die ich jedem zur Verfügung stellen konnte, der zum ersten Mal dorthin reiste. Und natürlich war ich eine mit allen Wassern gewaschene Tube-Fahrerin, die sich routiniert durch Massen aggressiv-ungeduldiger Pendler kämpfte. Aber irgendwie hatte ich mir den Flughafen einladender vorgestellt – als Tor zum Abenteuer.

Offensichtlich ein Irrtum. Alles war riesig und gleichzeitig total verstopft. Die Fluglinien-Angestellte an unserem Gate und die vom Gate gegenüber machten ihre Ansagen gleichzeitig, und die Leute fingen mit dem Boarding an. Das alles kam mir total chaotisch vor, aber als ich verstohlen um mich blickte, merkte ich, dass keiner außer mir sich an dem Durcheinander zu stören schien. Ich schaute prüfend auf mein Ticket, das ich fest mit den Fingern umklammerte. Die Mums hatten mir einen Erste-Klasse-Flug spendiert – zum Trost, wie sie sagten –, und ich wusste, was sie dafür bezahlt hatten. Die Maschine würde doch sicher nicht ohne mich starten?

Ein Mann trat neben mich. Er war elegant gekleidet, dunkelblauer Anzug, blitzblank gewienerte Schuhe. Er wirkte sehr viel selbstsicherer, als ich mich fühlte.

Halte dich mal schön an den, dachte ich. Wenn der noch nicht im Flieger sitzt, dann habe ich bestimmt auch noch Zeit.

Ich ließ meinen Blick müßig an seinem glatten Hals entlangwandern, bis ich sein Gesicht erreichte und plötzlich von einem leichten Schwindel erfasst wurde. Vermutlich betrachtete ich die Welt ja gerade durch die Frisch-getrennt-Brille, aber, meine Herren, der Typ war der Hammer! Dickes blondes Haar, dunkelgrüne Augen, die konzentriert auf das Smartphone in seiner Hand starrten, und ein markantes Kinn, das geradezu danach schrie, beknabbert zu werden.

„Entschuldigung.“ Ich legte eine Hand auf seinen Arm. „Könnten Sie mir vielleicht helfen?“

Er sah dorthin, wo ich ihn berührte, dann langsam zu mir herüber und lächelte.

Um seine Augen kräuselten sich kleine Fältchen, und in seiner linken Wange entstand ein süßes Grübchen. Er hatte perfekte amerikanische Zähne. Und ich war erhitzt und kurzatmig.

„Könnten Sie mir erklären, wie das Ganze hier funktioniert?“, fragte ich. „Ich bin seit Jahren nicht mehr geflogen. Muss ich jetzt boarden?“

Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf mein Ticket und drehte es leicht, damit er es lesen konnte.

Saubere, kurz geschnittene Nägel. Lange Finger.

„Oh.“ Er lachte kurz. „Sie sitzen direkt neben mir.“ Er schaute zur Tür, die offenbar zum Flugzeug führte. „Im Moment lassen sie Reisende mit kleinen Kindern und Leute, die besondere Unterstützung brauchen, rein. Danach ist die erste Klasse dran. Wollen Sie mir einfach folgen?“

Ich würde Ihnen durch die Tore der Hölle folgen, Sir.

„Das wäre super“, sagte ich. „Danke.“

Er nickte und wandte sich der Frau am Gate zu.

„Das letzte Mal bin ich nach Indien geflogen, vor sechs Jahren“, fuhr ich fort, und er schaute wieder zu mir hin. „Ich war zwanzig und wollte mit meiner Freundin Molly nach Bangalore, wo ihre Cousine in einem Krankenhaus arbeitet. Molly ist echt süß, aber wir sind beide etwas chaotisch, wenn’s ums Reisen geht, und wären aus Versehen fast in einem Flieger nach Hongkong gelandet.“

Er lachte leise. Obwohl ich wusste, dass ich nervös drauflosplapperte und er einfach nur höflich war, konnte ich mich nicht bremsen und breitete meine sinnbefreite Anekdote weiter vor ihm aus.

„Eine total nette Frau am falschen Flugsteig hat uns dann die richtige Richtung gewiesen, und wir hechteten mit hängender Zunge zum nächsten Terminal, wohin unser Abflug verlegt worden war. Die entsprechende Ankündigung hatten wir verpasst, weil wir gerade im Restaurant Biere kippten. Wir schafften es gerade so eben, bevor das Gate geschlossen wurde.“

„Glück gehabt“, murmelte er und deutete mit dem Kinn zur Fluggastbrücke. Die Frau am Gate teilte gerade mit, dass die Passagiere der ersten Klasse nun einsteigen dürften. „Das sind wir“, erklärte er. „Kommen Sie.“

Er war groß, und während er vor mir herging, weckte sein Hintern nostalgische Erinnerungen an Patrick Swayze in Dirty Dancing. Ich ließ meinen Blick weiter nach unten wandern und fragte mich, wie lange er wohl brauchte, um seine Schuhe dermaßen auf Hochglanz zu bringen. Wenn ich auf seinem Anzug nach einem losen Faden oder einer Fussel gefahndet hätte, hätte ich sehr wahrscheinlich unverrichteter Dinge aufgeben müssen. Er wirkte akkurat, aber nicht pedantisch.

Was macht er wohl beruflich?, grübelte ich, als wir schließlich das Flugzeug betraten. Geschäftsmann. Vermutlich wegen eines Jobtermins hier, hat eine Geliebte in irgendeinem schicken Apartment in Chelsea. Hat sie heute Morgen schmollend im Bett zurückgelassen, in Spitzenunterwäsche, die er ihr gestern als Entschuldigung dafür geschenkt hat, dass sein Meeting länger gedauert hatte als gedacht. Sie hat ihm auf Satin-Laken ein Abendessen vom Imbiss serviert und ihn dann die ganze Nacht geliebt, bis er um vier Uhr früh aufgestanden ist, um seine Schuhe zu wienern …

„Miss?“ Das klang, als ob er es schon mindestens einmal hätte wiederholen müssen. Ich zuckte schuldbewusst zusammen und schaute ihn entschuldigend an. „Tut mir leid, ich habe geträumt.“

Er forderte mich mit einer Geste auf, zum Fenster durchzurutschen, und ich ließ mich rasch auf meinen Platz gleiten und verstaute meine Handtasche unter dem Sitz vor mir.

„Tut mir leid“, sagte ich noch mal. „Ich habe vergessen, wie durchorganisiert das Boarding sein kann.“

Er winkte ab. „Ich fliege einfach nur oft. Da funktioniert das sozusagen auf Autopilot.“

Ich beobachtete, wie er sorgfältig ein iPad, geräuschunterdrückende Kopfhörer und ein Päckchen Desinfektionstücher auspackte. Mit einem der Tücher wischte er über die Armlehne, den Tisch und die Rückseite des Sitzes vor ihm. Dann zog er ein neues aus der Packung und säuberte damit seine Hände.

„Sie sind ja gut vorbereitet“, murmelte ich und grinste.

Er lachte unbekümmert. „Wie gesagt …“

„Sie fliegen oft“, beendete ich seinen Satz und lachte laut los. „Sind Sie immer so … wachsam?“

Er sah mich amüsiert an. „Mit einem Wort: ja.“

„Ernten Sie dafür nicht Hohn und Spott?“

Sein Lächeln war eine seltene Kombination aus vorsichtig und spitzbübisch und löste eine winzige, erregende Reaktion in meiner Brustgegend aus. „Doch.“

„Das kann ich nur begrüßen. Es ist zwar niedlich, verdient aber ein gewisses Maß an Frotzelei.“

Er lachte und widmete sich wieder der Aufgabe, die benutzten Tücher in einer kleinen Abfalltüte zu entsorgen. „Ist notiert.“

Die Stewardess kam zu uns und reichte uns jeweils eine Serviette. „Mein Name ist Amelia, ich kümmere mich auf diesem Flug um Sie. Kann ich Ihnen vor dem Start schon etwas zu trinken anbieten?“

Sie schaute mich an.

„Äh …“ Ich wand mich ein bisschen. „Was steht denn zur Auswahl?“

Sie lachte, aber freundlich. „Was immer Sie mögen. Kaffee, Tee, Saft, Limonade, Cocktails, Bier, Wein, Champagner …“

„Oh, Champagner!“ Ich klatschte in die Hände. „Das ist doch der passende Auftakt für einen Urlaub!“

Ich beugte mich vor und wühlte in meiner Handtasche. „Was kostet das?“

Der Mann legte eine Hand auf meinen Arm, um mich aufzuhalten, und lächelte etwas verdutzt. „Das ist gratis.“

Ich schaute über meine Schulter zu ihm hoch und sah, dass Amelia bereits verschwunden war, um unsere Getränke herbeizuschaffen.

„Gratis“, echote ich lahm.

Er nickte. „Auf internationalen Flügen wird kostenlos Alkohol serviert. Und in der ersten Klasse sowieso immer.“

„Mann, so ein Mist“, platzte ich heraus und setzte mich wieder aufrecht hin. „Ich bin echt ein Idiot.“ Ich trat meine Tasche wieder unter den Vordersitz. „Aber das ist mein erster Flug außerhalb der Holzklasse.“

Er beugte sich etwas näher zu mir und flüsterte: „Ich erzähle es keinem.“

Ich konnte seinen Tonfall nicht deuten und schaute ihn forschend an. Er zwinkerte mir zu.

„Aber Sie sagen mir schon, wenn ich irgendwas falsch mache?“, gab ich grinsend zurück. Als er so dicht neben mir war, nach Mann und sauberem Leinen und Schuhcreme duftend, vollführte mein Herz einen kleinen Trommelwirbel, den ich bis in die Kehle spürte.

„Dabei kann man nichts falsch machen.“

Was hat er gerade gesagt? Mein Lächeln wurde breiter. „Sie werden nicht zulassen, dass ich versehentlich all meine winzigen Gratis-Alkoholfläschchen liegen lasse?“, wisperte ich verschwörerisch.

Er hob drei Finger. „Großes Pfadfinder-Ehrenwort.“

Dann setzte er sich wieder gerade hin, verstaute die kleine Abfalltüte in seiner Aktentasche und stellte die Aktentasche neben seine Füße.

„Fliegen Sie nach Hause, oder fliegen Sie weg?“, erkundigte ich mich.

„Nach Hause“, erwiderte er. „Ich stamme aus Boston. Ich war die vergangene Woche beruflich in London. Sie sagten Urlaub, daher nehme ich an, dass Sie in die Ferien fliegen?“

„Das stimmt.“ Plötzlich wurde mir ein bisschen schwummerig. Ich straffte die Schultern und atme tief durch. „Ich fliege weg. Ich brauchte etwas Abstand von daheim. Eine Pause.“

„Eine Pause ist nie verkehrt“, entgegnete er und schaute mir direkt in die Augen. Ehrlich gesagt war seine Intensität ein bisschen nervenzerrüttend. Er hatte herrliche grüne Augen und markante Gesichtszüge. Wenn er seine Aufmerksamkeit auf mich richtete, hatte ich beinahe das Gefühl, im Rampenlicht zu stehen, was mich gleichzeitig schwindelig und verlegen machte. „Was treibt Sie ausgerechnet nach Boston?“

„Mein Großvater lebt dort. Und offenbar habe ich da auch jede Menge Freunde.“ Ich lachte. „Die ich jetzt alle treffe, um mit ihnen eine Weintour die Küste entlang zu machen. Ein paar von denen treffe ich übrigens tatsächlich buchstäblich zum ersten Mal, aber ich habe durch eine andere Freundin in den letzten zwei Jahren so viel über sie gehört, dass ich das Gefühl habe, sie schon ewig zu kennen.“

„Klingt nach einem Abenteuer.“ Er blickte, nur eine Sekunde lang, auf meine Lippen, dann wieder in meine Augen. „Jensen“, sagte er dann, um sich vorzustellen.

Ich streckte den Arm aus, zitterte, als ich die kühlen Metallreifen über meine Haut gleiten spürte, und schüttelte seine dargebotene Hand. „Pippa.“

Amelia kehrte mit unseren Getränken zurück, und wir dankten ihr, bevor wir die Gläser hoben.

„Aufs Nach-Hause-Fliegen und Wegfliegen“, sagte Jensen und lächelte. Ich stieß mit ihm an. „Wofür steht Pippa?“, fuhr er fort. „Ist es eine Abkürzung? Oder ein Spitzname?“

„Könnte es sein. Es wird oft als Kurzform für Philippa verwendet, aber in meinem Fall ist es tatsächlich nur Pippa. Pippa Bay Cox. Meine Mum Coco ist Amerikanerin – Colleen Bay, daher mein mittlerer Name –, und ihr hat der Name Pippa einfach immer gefallen. Als meine Mum Lele dann von Cocos Bruder schwanger wurde, musste sie Coco versprechen, dass sie das Baby, sofern es ein Mädchen wird, Pippa nennt.“

Er lachte. „Noch mal bitte. Ihre Mutter wurde vom Bruder Ihrer anderen Mutter geschwängert?“

Ach je. Ich vergesse dauernd, wie man diese Geschichte einigermaßen zartfühlend anmoderiert …

„Nein, nein, nicht direkt. Sie haben eine Bratenspritze benutzt“, erläuterte ich und musste dann selbst über das geistige Bild lachen, das ich damit heraufbeschwor. „Die Leute waren nicht immer so aufgeschlossen wie heute gegenüber der Idee, dass zwei Frauen miteinander Babys haben können.“

„Nein, vermutlich nicht“, räumte er ein. „Sind Sie das einzige Kind?“

… denn an dieser Stelle kippt die Erzählung immer.

„Das bin ich“, bestätigte ich nickend. „Haben Sie Geschwister?“

Jensen lächelte. „Vier.“

„Oh, Lele hätte sehr gerne mehr Kinder bekommen. Aber während sie noch mit mir schwanger war, lernte Onkel Robert Tante Natasha kennen, fand zu seinem sehr voreingenommenen Gott und kam zu dem Schluss, dass das, was er getan hatte, eine Sünde war. Er betrachtet mich als eine Art Abscheulichkeit.“ Im Bestreben, wieder etwas Leichtigkeit in unsere Unterhaltung zu bringen, fügte ich hinzu: „Da kann man nur hoffen, dass ich nie Knochenmark oder eine Niere von ihm brauche, oder?“

Jensen wirkte leicht erschüttert. „Stimmt.“

Etwas schuldbewusst wurde mir klar, dass wir noch keine fünf Minuten hier saßen und ich ihn bereits mit meiner Lebensgeschichte belästigte. „Egal“, sagte ich, um über die schwierige Stelle hinwegzukommen. „Sie mussten sich halt mit mir begnügen. Zum Glück sorgte ich dafür, dass sie alle Hände voll zu tun hatten.“

Seine Miene wurde weicher. „Darauf würde ich jede Wette eingehen.“

Ich nahm einen Schluck Champagner und zuckte ein bisschen, als mir die Bläschen in die Nase stiegen. „Jetzt wünschen sie sich Enkel, aber dank des Wichsers müssen sie darauf wohl noch eine Weile warten.“ Ich leerte das Glas mit einem letzten Schluck.

Dann hob ich es auffordernd, Amelias Blick suchend. „Bleibt noch Zeit für einen zweiten, bevor wir abheben?“

Sie nahm mir das Glas lächelnd aus der Hand, um nachzuschenken.

„Sehen Sie nur, wie groß London ist“, murmelte ich und starrte aus dem Fenster, während die Maschine immer höher stieg und die Stadt unter uns langsam von den Wolken verschluckt wurde. „Wunderschön.“

Als ich zu Jensen schaute, zog er rasch einen Kopfhörerstöpsel heraus und hielt ihn behutsam in der Hand. „Entschuldigung, wie bitte?“

„Oh, nichts.“ Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss, und wusste nicht so genau, ob aus Verlegenheit über meine Rolle als aufdringliche, geschwätzige Sitznachbarin oder wegen des Champagners. „Ich habe gar nicht gemerkt, dass Sie die reingetan haben. Ich sagte nur, dass London so riesig aussieht.“

„Es ist riesig.“ Er beugte sich ein bisschen vor, um besser gucken zu können. „Haben Sie schon immer hier gelebt?“

„Ich bin in Bristol zur Uni gegangen, dann aber wieder hergezogen, als ich den Job in der Firma gekriegt habe.“

„Der Firma?“ Er entfernte auch den anderen Kopfhörerstöpsel und legte beide zur Seite.

„Internationales Ingenieurwesen.“

Er hob beeindruckt die Brauen, und ich redete hastig weiter, um den Grad seiner Hochachtung angemessen zu justieren. „Ich bin nur eine kleine Angestellte. Meinen Abschluss habe ich in Mathematik gemacht, daher kümmere ich mich schlicht um die Zahlen und stelle sicher, dass wir nirgends die falsche Menge Beton hinkippen.“

„Meine Schwester ist Mediziningenieurin“, erzählte er stolz.

„Das ist was ganz anderes. Sie baut sehr winzige Sachen, und wir bauen sehr große Sachen.“

„Trotzdem. Ich finde beeindruckend, was Sie machen.“

Darüber konnte ich nur lächeln. „Und Sie? Was machen Sie?“

Er holte tief Luft, und ich vermutete, dass das Letzte, woran er jetzt denken wollte, die Arbeit war. „Ich bin Jurist. Ich praktiziere Arbeitsrecht und kümmere mich hauptsächlich um die Schritte, die nötig sind, wenn zwei Unternehmen fusionieren.“

„Klingt kompliziert.“

„Ich bin gut in Details.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und in meinem Job geht es vor allem um Details.“

Ich musterte ihn noch eingehender als zuvor: ordentliche Bügelfalte in exakt der Mitte jedes Hosenbeins, diese glänzenden braunen Schuhe, das perfekt gekämmte Haar ohne eine einzige widerspenstige Strähne. Haut und Nägel wirkten gepflegt. Ja … Ich konnte wohl sehen, dass er ein Mann war, der auf Kleinigkeiten Wert legte.

Ich unterzog mein eigenes Outfit einer ebenso kritischen Prüfung: schwarzes Etuikleid, schwarz-violett gestreifte Strumpfhosen, abgewetzte kniehohe schwarze Stiefel und ein Unterarm voller Armreifen. Mein Haar war zu einem zerzausten Knoten zusammengeknüllt, und ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, mich zu schminken, bevor ich zur Tube gesprintet war.

Wir waren echt ein super Gespann.

„Manchmal wünschte ich mir schon, dass wir ein bisschen mehr Aufmunterung im Büro hätten“, sagte er, nachdem er offenbar meinen Blicken gefolgt war. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Zu schade, dass wir keine Mathematikerin brauchen.“

Ich schwelgte noch in diesem Kompliment, als er hastig – beinahe verlegen – zu seiner Musik und seiner Lektüre zurückkehrte. Erst nach seiner Bemerkung war mir so richtig bewusst geworden, dass ich tatsächlich angefangen hatte, mich fade und langweilig zu fühlen. Ich konnte das Interesse meines Freundes nicht wachhalten. Ich konnte nicht die Energie aufbringen, meine Karriere voranzutreiben. Ich hatte seit Monaten keinen Urlaub mehr gemacht und war noch länger nicht mehr mit Freunden um die Häuser gezogen. Und ich hatte mich in letzter Zeit nicht mal mehr dazu aufraffen können, mein rotblondes Haar mit der ein oder anderen lustigen Farbe aufzupeppen. Ich befand mich in einer Warteschleife.

Betonung auf befand. Vergangenheitsform.

Damit war jetzt Schluss.

Amelia trat zu mir. „Noch ein bisschen mehr?“

Ich hielt ihr mein Glas hin. Das schwindelerregende Gefühl von Ferien, Abenteuer und Ausweg rauschte durch mein Blut. „Ja, sehr gern.“

Der Champagner grub sich einen scharfen, prickelnden Weg durch meine Brust und in meine Glieder. Ich konnte praktisch spüren, wie mein Körper in winzigen Abstufungen entspannte, von den Fingern über den Arm nach oben, und starrte auf meine Hände – Mist, abblätternder Nagellack –, während die Wärme bis zu dem Vogel-Tattoo auf meiner Schulter wanderte …

Ich legte den Kopf zurück und seufzte glücklich. „Das ist so viel besser, als durch mein Apartment zu laufen, um herauszufinden, was der Wichser zurückgelassen hat, als er ausgezogen ist.“

Jensen schreckte neben mir hoch. „Wie bitte?“ Er zog einen Kopfhörerstöpsel heraus.

„Mark“, präzisierte ich. „Der Wichser. Habe ich dir das nicht erzählt?“ Ich dachte nicht mehr daran, ihn zu siezen.

Belustigt musterte er mich – zweifellos zu dem Schluss gelangend, dass ich betrunken war, was mir aber so was von verdammt am Allerwertesten vorbeiging – und sagte freundlich: „Nein, das hattest du nicht erwähnt.“

„Als ich letzte Woche nach Hause gekommen bin“, erzählte ich, „habe ich meinen Freund dabei erwischt, wie er eine namenlose Schlampe gevögelt hat.“

Ich unterbrach mich, um zu hicksen.

Jensen biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen.

War ich echt schon dermaßen beschwipst? Dabei hatte ich doch nur … Ich zählte an den Fingern ab. Oh, Scheiße. Ich hatte vier Gläser Champagner auf sehr, sehr leeren Magen getrunken.

„Also habe ich ihn rausgeschmissen.“ Ich setzte mich aufrechter hin und arbeitete daran, etwas nüchterner zu klingen. „Aber wie sich herausstellte, geht das nicht so einfach, wie es den Anschein macht. Er behauptete, dass man nicht acht Monate mit jemandem zusammenleben und dann all seine Sachen binnen eines Tages packen kann. Ich sagte ihm, dass er es versuchen soll und ich alles verbrennen würde, was er zurücklässt.“

„Du warst natürlich ziemlich wütend“, meinte Jensen ruhig und zog auch den anderen Kopfhörerstöpsel raus.

„Ich war erst wütend und dann verletzt. Verdammt, ich bin sechsundzwanzig, und er ist schon über vierzig, da sollte er ja wohl nicht fremdvögeln müssen! Findest du doch auch, oder? Ich wette, deine Londoner Geliebte mit der Spitzenunterwäsche und dem Imbiss im Bett ist jünger und total fit und perfekt, richtig?“

Um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln. „Meine Londoner Geliebte?“

„Nicht, dass ich perfekt bin, und ich esse bestimmt keinen verdammten Imbiss im Bett, aber ich würde es schon tun, wenn er darauf bestanden hätte oder den ganzen Tag mit mir im Bett verbringen wollte. Aber er hat ja seine Bums-Freundin für die Mittagspause, warum also sollte er das mit mir tun wollen? Daher bin ich dann doch wieder wütend geworden.“ Ich rieb mir übers Gesicht, einigermaßen sicher, dass meine Ausführungen nicht besonders viel Sinn ergaben.

Jensen schwieg, aber als ich wieder hochguckte, schien er noch immer zuzuhören.

Es war wie mit den Mums auf der Couch, nur dass ich hier Abstand hatte und mir keine Sorgen darüber zu machen brauchte, ihnen Sorgen zu bereiten. Hier konnte ich so tun, als ob ich meinen öden Job und meinen Wichser von Ex tatsächlich für immer hinter mir lassen könnte.

Ich drehte mich so in meinem Sitz, dass ich Jensen direkt ins Gesicht schauen konnte, und machte meinem Herzen weiter Luft.

„Vor ihm mag ich ja ein bisschen viel rumgehurt haben, okay“, räumte ich ein und nickte geistesabwesend, als Amelia fragte, ob ich noch ein Glas Champagner wolle. „Aber als ich Mark kennenlernte, dachte ich, dass er der eine für mich ist. Du weißt, wie es am Anfang immer ist, nicht wahr?“

Jensen nickte vage.

„Sex auf jedem einigermaßen waagerechten Untergrund, stimmt’s?“, präzisierte ich. „Jedes Mal, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, fühlte es sich an wie an Heiligabend, wenn man als Kind das Glöckchen hört und endlich seine Geschenke auspacken darf.“

Er lachte laut los. „Sex und weihnachtliche Kindheitserinnerungen … Gib mir eine Sekunde, um da gedanklich hinterherzukommen.“

„Aber so war jeder Tag“, murmelte ich. „Seine Frau hatte ihn betrogen und verlassen, und ich sah mit an, wie er all das durchmachte und … hoffte einfach nur die ganze Zeit, dass er wieder ins Leben zurückkehren würde. Und als das passierte, kehrte er zusammen mit mir ins Leben zurück, und wir waren so lange zusammen – ich meine, elf Monate, das ist eine Ewigkeit für mich –, und am Anfang war es so gut … Bis es das plötzlich nicht mehr war. Er räumte nie auf, und er reparierte auch nichts, auch nicht, wenn ich ihn ausdrücklich darum bat, und immer war ich es, die für alles bezahlen musste, Einkäufe, essen gehen, Rechnungen, und ehe ich mich versah, trug ich sogar die Kosten für seine neue Firma.“ Ich sah Jensen an, dessen Gesicht ein wenig vor meinen Augen zu verschwimmen schien. „Und das fand ich auch okay. Total okay! Ich liebte ihn schließlich, daher hätte ich ihm alles gegeben, was er wollte. Aber ihm eine Geliebte zu gönnen, die er in meinem Bett vögelt, nachdem er die Laken abgezogen hat, damit er sie nicht waschen muss, bevor ich nach Hause komme, war dann vielleicht doch die eine Zumutung zu viel für mich.“

Jensen legte eine Hand auf meine. „Alles in Ordnung?“

„Ich möchte ihm meine Stiefelspitze in den Arsch jagen, aber abgesehen davon geht es mir …“

Er unterbrach mich freundlich. „Manchmal, wenn ich fliege, nehme ich einen Drink und dann vielleicht noch einen, und dann vergesse ich gelegentlich, welchen Effekt das nach der Landung haben wird. Die Höhe macht es noch … schlimmer.“ Er beugte sich ein wenig vor, wahrscheinlich, damit ich mich besser auf sein Gesicht fokussieren konnte. „Ich sage das nicht, weil ich dich dafür verurteile, dass du Champagner trinken willst, denn dieser Mark klingt nach einem veritablen Arschloch, sondern um dich eventuell dafür zu sensibilisieren, dass Alkohol zu trinken, während man fliegt, eine etwas andere Erfahrung ist …“

„Ich sollte lieber auf Wasser umsteigen?“ Ich hickste, und dann, zu meinem Entsetzen, rülpste ich.

Oh Gott.

Oh, verdammter Mist.

„Scheiße“, presste ich hervor und schlug mir eine Hand vor den Mund.

Jede Wette, dass ein Typ wie Jensen in der Öffentlichkeit nicht wie ein Penner rülpste.

Oder mit einem Mädchen ausging, das so etwas tat.

Oder fluchte.

Oder pupste.

Oder auch nur jemals einen Fussel auf seinem Anzug hatte.

Ich murmelte eine Entschuldigung, kletterte über seine Beine und stürzte zur Toilette. Dort spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht, atmete ein paarmal tief ein und wieder aus und hielt meinem Spiegelbild eine Strafpredigt.

Als ich nach ein paar Minuten zu meinem Platz zurückkehrte, schlief Jensen.

Die Landung war wackelig und ließ Jensen lotrecht in seinem Sitz hochfahren. Er hatte fast vier Stunden lang geschlafen, ich hingegen überhaupt nicht. Meine Freunde wurden von Alkohol müde, mich machte er munter. Eine eher unerfreuliche Nebenwirkung, speziell auf diesem Flug, denn ich hätte tausendmal lieber geschlafen, als mir in Endlosschleife vor Augen zu führen, wie ich erst vollkommen unbedarft sämtliche Anzeichen für Marks Untreue übersehen und mich dann vor einem Wildfremden total zum Affen gemacht hatte.

Logan International erstreckte sich grau und trist vor uns, und Amelia ließ die, wie ich annahm, üblichen Verkündungen vom Stapel, von wegen: angeschnallt sitzen bleiben, Handgepäck vorsichtig hervorholen, bitte wieder mit uns fliegen.

Ich wagte einen raschen Seitenblick auf Jensen, und die leichte Bewegung löste einen metallischen Gong in meinem Schädel aus.

„Ohhh“, stöhnte ich und legte eine Hand auf meine Stirn. „Verdammt, ich hasse Champagner.“

Er lächelte höflich.

Jesus, was für ein hübscher Kerl. Ich hoffte, dass zu Hause jemand auf ihn wartete, dem er von der bekloppten, zerzausten Britin im Flugzeug erzählen konnte.

Doch sobald wir aufstehen durften, zog er das Handy aus seiner Laptophülle und starrte stirnrunzelnd auf die endlose Reihe von Mitteilungen.

„Zurück in der Tretmühle?“, fragte ich und lächelte.

Er schaute nicht auf. „Ich wünsche dir eine schöne Tour.“

„Danke.“ Ich biss mir buchstäblich auf die Lippen, damit ich gar nicht erst in Versuchung geraten konnte, eine weitschweifende Erklärung abzusetzen, warum ich ihn erst unablässig vollgeblubbert und dann in seine Richtung gerülpst hatte. Stattdessen folgte ich seiner perfekten Kehrseite bis zum Terminal und den Gepäckbändern, immer schön zehn Schritte hinter ihm.

Grandpa wartete am Fuß der Rolltreppe auf mich, in seinem Red Sox-T-Shirt, ausgeblichener Kakihose und Hosenträgern.

Seine Umarmung erinnerte an Cocos: fester Griff, weiche Wärme, nicht viele Worte.

„Wie war der Flug?“, erkundigte er sich und legte einen Arm um meine Schultern, während wir nebeneinander weitergingen.

Meine Beine fühlten sich schwach und zittrig an, und ich hätte so ziemlich alles für eine heiße Dusche gegeben.

„Ich habe zu viel Champagner getrunken und dem armen Kerl da das Ohr abgekaut.“ Ich reckte das Kinn, um auf den hochgewachsenen Geschäftsmann zu deuten, der ein paar Schritte vor uns herlief und bereits in ein Telefonat vertieft war.

„Nun ja“, erwiderte Grandpa.

Ich sah ihn an, wie immer erstaunt darüber, dass ich von einem derart freundlichen Mann der leisen Töne abstamme. Es war jetzt zwei Jahre her, seit er zuletzt in London gewesen war, aber davor hatte ich ihn in allen größeren Ferien getroffen. Grandpa zeigte niemals wegen irgendetwas Überschwang, aber er war ein standhafter, stiller Rückhalt für Lele und Coco.

„Es ist so schön, dich zu sehen“, sagte ich. „Ich habe dein Gesicht vermisst und deine Hosenträger.“

„Wie lange bleibst du denn, bevor dein Ausflug losgeht?“

„Morgen steigt die Party. Die Weintour startet dann Sonntag früh. Aber wenn sie vorbei ist, bleibe ich noch eine Weile bei dir im Haus.“

„Hast du Hunger?“

„Und wie. Aber kein Alkohol.“ Ich band mir meine chaotische Mähne zu einem neuen Dutt und rieb mir übers Gesicht. „Igitt, ich bin total im Eimer.“

Grandpa schaute mich an, und als unsere Blicke sich trafen, wusste ich, dass er nur das Beste in mir sah. „Du bist wunderschön, Pippa-Mädchen.“

2. Kapitel

JENSEN

Ich konnte mich an exakt einen Flug erinnern, der noch unbehaglicher war als dieser.

Es war der Juni nach meinem ersten Jahr am College, ungefähr zehn Monate nachdem ich Will Sumner kennengelernt hatte. Er war über Baltimore hereingebrochen, mit seinem Lächeln, seiner Arroganz und der unverbrüchlichen Gewissheit, dass wir beide ab sofort Komplizen sein würden. Für jemanden wie mich, der bis dahin ein ruhiges, behütetes Leben geführt hatte, war Will Sumner die denkbar beste Abrissbirne.

In jenem Sommer sind wir mit seiner großen Familie nach Niagara Falls geflogen und haben dort … na, sagen wir mal, zufällig eine Videokassette mit irgendwelchen schlechten Pornos entdeckt. Es gab keine Musik, keine Gesichter, und das Ganze war von einer einzigen feststehenden Kamera aufgenommen worden, aber wir haben es uns trotzdem wieder und wieder reingezogen, bis wir nur noch verschwommen sehen konnten und völlig unempfindlich geworden waren, im Chor Schweinkram rezitierten und uns dabei stapelweise Pringles in den Mund schoben.

Es war das erste Mal, dass ich gesehen hatte, wie jemand echten Sex hat, und ich fand es verdammt super … jedenfalls so lange, bis Wills hübsche Tante Jessica am Flughafen total panisch wurde, weil sie ihren „Amateurfilm“ nicht mehr im Handgepäck finden konnte.

Ich saß während des gesamten Rückflugs neben Tante Jessica, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich mich nicht besonders cool aus der Affäre zog. Oder auch nur ansatzweise cool. Ich bestand nur aus einsilbigen Antworten, verschwitzten Handflächen und der nagenden Erkenntnis, dass ich wusste, wie sie nackt aussah. Ich wusste, wie sie aussah, wenn sie Sex hatte. Mein behütetes Gehirn konnte diese Art Information kaum ertragen.

Will war genauso mitfühlend, wie man es von ihm erwarten konnte. Er bewarf mich von jenseits des Gangs mit Erdnüssen und winzigen Bällen, die er aus seiner Serviette geformt hatte. „Was bist du denn so verspannt, Jens?“, rief er mir zu. „Du führst dich auf, als ob dich jemand nackt gesehen hätte.“

Pippa verkörperte eine komplett andere Sorte von Unbehagen. Nämlich die Sorte, bei der eine hübsche und einnehmende Person sich durch das Wunder des Alkohols in eine peinliche Kombination aus verschmiertem Make-up und unablässigem Geplapper verwandelt. Die Sorte, bei der du gut drei Stunden lang so tust, als ob du schliefest, während dein Gehirn fieberhaft durch die Liste der Dinge scrollt, mit denen du deine Zeit an Bord besser nutzen könntest.

Auf dem Marsch vom Flieger zum Gepäckband legte sich das dumpfe Summen des Flughafen-Lärmpegels über mich, fast so vertraut wie das Geräusch meiner Heizung, wenn sie nachts anspringt, oder das meines eigenen verdammten Atems. Ich konnte Pippa hinter mir spüren, hörte, wie sie mit ihrem Großvater plauderte. Ihre Stimme war angenehm – der Akzent ein Mix aus schickem London und straßenerprobtem Bristol. Sie hatte ein wunderbares Gesicht, mit strahlenden Augen, die mich von Anfang an angezogen hatten, weil sie so verblüffend blau und ausdrucksvoll sind. Aber ich hatte Angst, Blickkontakt aufzunehmen und an unser Gespräch anzuknüpfen. Vorhin, als ich förmlich aus dem Flugzeug gerannt war, konnte ich die wortreiche Entschuldigung praktisch auf ihren Nägeln brennen sehen, und wenn ich ihr jetzt eine Möglichkeit bot, sie loszuwerden, würde sie sich zweifellos darauf stürzen.

Ich schnappte mir meinen Koffer vom Band und rieb mir müde über die Augen. War das Ganze nun einfach nur ein komischer Zufall oder doch eine Botschaft des Schicksals? Ausgerechnet in dem Moment, in dem ich anfing, mich zu fragen, ob ich bislang an den falschen Orten nach Frauen Ausschau gehalten hatte oder mich bezüglich meines bevorzugten Typs irrte und mich gegebenenfalls etwas abenteuerlustiger verabreden sollte, sperrte mich das Universum auf einem Langstreckenflug mit einer Frau zusammen, die schön, exzentrisch und total verrückt war.

Nun übertreib mal nicht, Jens. Halt dich an das, was du kennst.

Vielleicht ist Emily vom Softball-Team doch gar keine so schlechte Wahl.

Meine Fahrerin wartete bereits, mit einem Plakat, auf dem mein Name stand. Ich nickte und folgte ihr wortlos aus dem Flughafengebäude. Im Auto war es dunkel und kühl. Sofort zog ich das Telefon hervor und ließ meine Gedanken an den vertrauten Ort in meinem Hirn wandern, an dem die Arbeit wohnte.

Montag würde ich Jacob anrufen, um einen Termin für die Sichtung der Petersen Pharma-Unterlagen zu vereinbaren.

Ich sollte Eleanor von der Personalabteilung kontaktieren, damit wir jemanden für Melissas Nachfolge im Büro in San Francisco finden.

Und ich musste nächste Woche extra früh reinkommen, um diesen gewaltigen Posteingang anzugehen.

Als der Wagen vor meinem Stadthaus hielt, fing ich langsam an runterzukommen.

Der Herbst war da, schraubte sich durch das Laub der Bäume, die die Straßen überdachten, und machte alles irgendwie heller, bevor die Welt dann für ein paar endlose Wintermonate im Dämmerlicht versank. Nach der Wärme im Auto war die Luft draußen schneidend. Ich nahm der Fahrerin am Kofferraum mein Gepäck ab und gab ihr ein dickes Trinkgeld, weil sie mich so effizient durch die Rushhour gebracht hatte.

Ich war nur eine Woche in London gewesen, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Fusionen waren das eine. Internationale Fusionen waren noch mal etwas anderes. Aber internationale Fusionen, die in die Hose gehen? Sind die Hölle! Papierkram ohne Ende. Amtsenthebungen ohne Ende. Details ohne Ende. Reisen ohne Ende.

Ich starrte zu meinem Haus hoch – ein schlichtes zweistöckiges Gebäude, zwei Lampen am Fenster zur Bucht, Topfpflanzen neben der Haustür – und ließ der Entspannung ihren Lauf. So viel ich auch reiste, im Grunde meines Herzens war ich ein Stubenhocker, und es war mir eine tiefe Genugtuung, mein eigenes Bett so nahe zu wissen. Ich war nicht mal heimlich peinlich berührt, dass der Gedanke an Lieferservice und Netflix mich fast ein bisschen betrunken machte.

Eine einzige Berührung des Lichtschalters und das ganze Gebäude war erleuchtet. Bevor ich irgendetwas anderes in Angriff nahm, packte ich aus – allein schon deshalb, um jeden Beweis dafür verschwinden zu lassen, dass ich gerade auf Reisen gewesen war und ohne jeden Zweifel schon bald wieder losfliegen müsste. Selbstbetrug ist doch mein schönster Zeitvertreib.

Koffer ausgepackt, Abendessen bestellt, Netflix bereit, und wie aufs Stichwort öffnete meine jüngste Schwester Ziggy – Hanna für jeden außerhalb der Familie – die Haustür mit ihrem eigenen Schlüssel.

„Hey“, rief sie.

Als gäbe es keinen Grund, zu klopfen.

Als wüsste sie, dass ich hier in Jogginghose und Schlappen auf dem Sofa hockte.

Allein.

„Hey“, antwortete ich. Sie warf ihre Schlüssel in die ungefähre Richtung der Schale, die auf dem Tisch neben der Haustür stand, und verfehlte sie um mindestens einen halben Meter. „Super gezielt, Versagerin.“

Sie versetzte mir im Vorbeigehen einen Klaps auf den Hinterkopf. „Bist du gerade angekommen?“

„Ja. Tut mir leid. Ich hätte dich angerufen, sobald ich was im Magen habe.“

Sie blieb stehen und schaute mich fragend an. „Warum? Bin ich dein Schatz, ich bin wieder da – Ersatz?“

Sie drehte sich zum Kühlschrank, und ich starrte Löcher in ihren Rücken, während sie ein Bier für mich und ein Glas Wasser für sich holte.

„Das war eine ziemlich fiese Bemerkung“, grummelte ich, als sie zurückkam.

„Aber ist sie auch falsch?“ Sie ließ sich neben mich auf die Couch fallen.

„Was willst du überhaupt hier?“

Ziggy war mit Will verheiratet, meinem besten Freund seit mehr als fünfzehn Jahren – der mit der berühmten Tante Jessica –, und die beiden lebten nur fünf Minuten entfernt in derselben Straße, in einem Haus, das viel größer und sehr viel bewohnter war als meins.

Sie zog ihre Haare über eine Schulter und grinste. „Man hat angedeutet, dass ich ‚wie ein Elefant durchs Haus trampele‘ und es dadurch ‚schwierig mache, abendliche Jobtelefonate‘ zu führen.“ Ziggy zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Wasser. „Will hat irgendeine größere Konferenzschaltung mit irgendwem in Australien, daher dachte ich, ich verziehe mich besser hierher, bis die Luft daheim wieder rein ist.“

„Hast du Hunger? Ich habe beim Thailänder bestellt.“

Sie nickte. „Du bist doch bestimmt müde?“

Ich hob die Schultern. „Mein Zeitgefühl ist ein bisschen durcheinander.“

„Dann ist ein ruhiger Abend doch sicher genau das Richtige. Es gibt doch bestimmt niemanden, den du jetzt unbedingt noch sehen musst, oder?“

Ich wollte gerade einen Schluck aus meiner Bierdose nehmen, erstarrte aber mitten in der Bewegung. „Hör auf damit.“

Fairerweise musste man zugeben, dass alle meine Verwandten dazu neigen, sich in das Leben der jeweils anderen einzumischen, und ich selbst hatte bei mehr als einer Gelegenheit den übermäßig beschützenden älteren Bruder gespielt. Was nicht hieß, dass es mir gefiel, meine jüngste Schwester meinem Beispiel folgen zu sehen.

„Wie geht es Emily?“, erkundigte sie sich und fakte demonstrativ ein Gähnen.

„Ziggs.“

Sie schaute mir in die Augen, wohl wissend, dass sie sich wie ein ungezogenes kleines Mädchen benahm. „Sie führt ein Scrapbook, Jensen. Und sie hat angeboten, mir zu helfen, die Garage aufzuräumen.“

„Das klingt für mich doch sehr nett.“ Ich klickte mich durch die Sender.

„Aber das ist sie vor der Hochzeit, Jens. Das sind ihre wilden und verrückten Tage.“

Ich ignorierte ihre Bemerkung und versuchte, mir das Lachen zu verbeißen, um sie nicht zu ermutigen. „Zwischen Emily und mir läuft nicht wirklich was.“

Zum Glück bohrte sie nicht weiter nach und ließ sich auch nicht zu irgendwelchen Sex-Witzen hinreißen. „Kommst du morgen zu uns rüber?“

„Was ist denn morgen?“

Ziggy funkelte mich entrüstet an. „Meinst du das jetzt ernst? Wie oft haben wir darüber gesprochen?“

Ich stöhnte, stand auf und suchte verzweifelt nach einem Grund, den Raum zu verlassen. „Hab ein bisschen Erbarmen. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen.“

„Jens, wir feiern morgen Annabels dritten Geburtstag! Sara ist kurz davor zu platzen und ihr siebzigstes Kind zur Welt zu bringen, daher können sie und Max die Party nicht selbst schmeißen. Alle kommen aus New York hierher. Du wusstest davon! Du hast gesagt, dass du rechtzeitig wieder hier sein würdest.“

„Schon gut. Schon gut. Ich denke, ich schaue kurz vorbei.“

Sie starrte mich an. „Nichts da mit vorbeischauen. Du sollst kommen und mitfeiern, Jensen. Welche Ironie, dass ausgerechnet ich dir das sagen muss. Wann hast du das letzte Mal etwas mit Freunden unternommen? Wann warst du das letzte Mal sozial aktiv oder auf einem Date, außer mit Softball-Emily?“

Darauf antwortete ich nicht. Ich datete zwar durchaus öfter, als meine Schwester ahnte, aber dass ich dabei nicht allzu viel Zeit und Gefühl investierte, stimmte schon. Ich war bereits einmal verheiratet gewesen, mit der süßen, leichtsinnigen Becky Henley. Wir hatten uns im zweiten Jahr am College kennengelernt, gingen neun Jahre lang miteinander und waren dann gerade mal vier Monate verheiratet, als ich nach Hause kam und sie tränenüberströmt beim Packen vorfand.

„Es fühlte sich nicht richtig an“, sagte sie. „Es hat sich nie wirklich richtig angefühlt.“

Und das war die einzige Erklärung, die ich je bekommen hatte.

Okay, mit achtundzwanzig hatte ich also meinen Jura-Abschluss und war frisch geschieden – also konzentrierte ich mich auf meinen Job. Volle Kraft voraus. Sechs Jahre lang schindete ich Eindruck bei den Partnern, kletterte auf der Karriereleiter nach oben, stellte mir ein Top-Team zusammen, wurde unersetzlich für die Firma.

Mit dem Ergebnis, dass ich meinen Freitagabend in Gesellschaft meiner kleinen Schwester verbrachte, die mir Vorträge darüber hielt, dass ich sozial aktiver sein solle.

Sie lag übrigens schon wieder richtig: Es entbehrte keinesfalls einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet sie das Thema anschnitt. Denn vor drei Jahren hatte ich exakt dasselbe zu ihr gesagt.

Ich seufzte.

„Jensen.“ Sie zog mich zurück auf die Couch. „Darin bist du echt ganz schlecht.“

Sie hatte recht. Ich war total schlecht darin, Ratschläge anzunehmen. Ich wusste, dass ich aus meinem beruflichen Trott ausbrechen musste. Ich wusste, dass ich dringend mehr Spaß im Leben brauchte. Und so ungern ich die Angelegenheit auch mit meiner Schwester debattierte, so wusste ich doch, dass es mir vermutlich gefallen würde, in einer festen Beziehung zu leben. Das Problem war nur, dass ich nicht so richtig wusste, wo ich anfangen sollte. Die Aussicht kam mir immer so überwältigend vor. Und je länger ich single war, desto schwieriger schien es zu werden, sich auf jemanden einzulassen.

„Du bist in London gar nicht ausgegangen, stimmt’s?“ Ziggy schaute mich vorwurfsvoll an. „Nicht ein einziges Mal?“

Ich dachte an Vera Eatherton, die Chefjuristin unseres Londoner Teams. Sie war in mein Büro gekommen, als wir Feierabend machten. Wir redeten ein paar Minuten, und ich wusste in dem Moment, in dem sich ihre Miene veränderte und sie mit beinahe schüchternem Ausdruck zu Boden blickte, dass sie sich mit mir verabreden wollte.

„Wollen wir gleich noch was zusammen essen?“, fragte sie.

Ich lächelte sie an. Sie war sehr hübsch. Ein paar Jahre älter als ich, super in Form, groß und schlank, mit wunderbaren Kurven. Ich hätte mit ihr essen wollen sollen. Ich hätte noch sehr viel mehr mit ihr machen wollen sollen.

Aber ganz abgesehen von den Komplikationen einer Affäre am Arbeitsplatz, fand ich allein die Vorstellung, mit jemandem etwas anzufangen – oder einfach nur eine Nacht zu verbringen –, unglaublich erschöpfend.

„Nein. Ich bin nicht ausgegangen. Nicht auf die Weise, die du meinst.“

„Wohin ist bloß mein Aufreißer-Bruder verschwunden?“ Sie grinste albern.

„Ich glaube, du verwechselst mich mit deinem Ehemann.“

Sie ignorierte meinen Einwand. „Du warst eine volle Woche in London und hast deine gesamte Freizeit im Hotel verbracht. Allein.“

„Das ist nicht ganz richtig.“ Tatsächlich war ich nicht in meinem Zimmer gewesen, sondern in der Stadt unterwegs, hatte Sehenswürdigkeiten besichtigt oder mich einfach treiben lassen, aber in einem hatte sie ins Schwarze getroffen: Ich hatte das alles allein getan.

Sie hob eine Braue und warf mir einen Blick zu, der jeden Widerspruch im Keim ersticken sollte. „Will sagte gestern Abend, dass du ein bisschen was vom College-Jensen bräuchtest.“

Ich funkelte sie verärgert an. „Hör auf, mit Will darüber zu reden, wie wir uns auf dem College aufgeführt haben. Er war ein Idiot.“

„Ihr wart beide Idioten.“

„Will war der Oberidiot“, gab ich zurück. „Ich bin ihm nur nachgelaufen.“

„Er erzählt es aber anders.“ Sie grinste mich provozierend an.

„Du bist schon ein komisches Wesen“, meinte ich.

„Ich bin komisch? Du hast eine Zeitschaltuhr fürs Licht, einen Saugroboter, der deinen Fußboden auch dann reinigt, wenn du auf Reisen bist, du packst deine Koffer aus, sobald du deine Türschwelle überschreitest – aber ich bin komisch?“

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, klappte ihn aber unverrichteter Dinge wieder zu und wedelte stattdessen abwehrend mit dem Finger, um die nächste Standpauke im Keim zu ersticken.

„Ich verabscheue dich“, teilte ich ihr dann mit, und sie prustete kichernd los.

Es klingelte. Ich nahm unser Abendessen in Empfang und brachte es in die Küche. Ich liebte Ziggy. Seit sie wieder nach Boston gezogen war, sahen wir uns ein paarmal pro Woche, was uns beiden definitiv gut bekam. Aber ich hasste die Vorstellung, dass sie sich Sorgen um mich machte.

Und es war nicht nur Ziggy.

Meine Familie dachte, ich wüsste nicht, dass alle mir Extrageschenke zu Weihnachten kauften, weil ich keine Freundin hatte, die mir bunte Päckchen unter den Baum legte. Wenn sie mich zum Essen einluden, ließen sie die Frage, ob ich wen mitbringen würde, immer in der Luft hängen. Ich hätte mittlerweile jede x-beliebige Fremde zum Sonntags-Dinner bei meinen Eltern anschleppen und meine unmittelbar bevorstehende Hochzeit verkünden können – die gesamte Verwandtschaft wäre durchgedreht vor Freude.

Es gab nichts Schlimmeres, als das Älteste von fünf Kindern zu sein und gleichzeitig dasjenige, um das alle anderen sich ständig Sorgen machten. Sie praktisch ununterbrochen davon überzeugen zu müssen, dass es mir total, absolut, vollkommen gut ging, war unglaublich ermüdend.

Aber das hielt mich nicht davon ab, es zu versuchen. Vor allem bei Ziggy. Immerhin war sie, als ich sie damals dazu gedrängt hatte, sich der Welt mehr zu öffnen, ausgerechnet auf Will getroffen, und die beiden waren jetzt sensationell glücklich miteinander, was ich ihnen auf gar keinen Fall missgönnte.

„Okay“, sagte ich daher, drückte ihr einen Teller mit thailändischem Essen in die Hand und ließ mich neben ihr auf dem Sofa nieder. „Erinnere mich doch noch mal rasch wegen der Party: Um wie viel Uhr geht’s los?“

„Um elf. Ich hatte dir eine entsprechende Notiz in deinen Kalender am Kühlschrank geklebt. Guckst du da eigentlich jemals hin, oder hast du das Post-it damals sofort weggeschmissen, weil es die perfekte Oberfläche deines einsamen Kühlschranks ruinierte?“

Ich trank rasch einen Schluck Bier. „Könntest du die Standpauke mal einen Moment unterbrechen? Nun komm schon, Süße, ich bin erschöpft. Ich will das heute Abend nicht hören. Sag mir einfach, was ich mitbringen soll.“

Sie lächelte entschuldigend und schob sich eine Gabel voll Reis und grünem Curry in den Mund. „Gar nichts“, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte. „Komm einfach rüber. Ich habe eine Piñata und jede Menge Kram für kleine Mädchen, Tiaras und … Pony-Sachen.“

„‚Pony-Sachen‘“?

Sie zuckte lachend mit den Schultern. „Kinderkram! Ich bin langweilig! Ich weiß nicht mal, wie man das nennt.“

„‚Partygeschenke‘?“, schlug ich vor und malte theatralische Anführungszeichen in die Luft.

Sie gab mir einen Schlag auf den Arm. „Wie auch immer. Ja. Oh! Und Will kocht.“

„Oh ja!“ Ich boxte begeistert in die Luft. Mein bester Freund hatte kürzlich seine Liebe zu allem Kulinarischen entdeckt, und zu sagen, dass wir alle davon profitierten, wäre eine glatte Untertreibung gewesen, die zum Beispiel die Extrastunde unter den Tisch fallen ließe, die ich seither jeden Abend im Fitnessstudio investieren musste, um die Kalorienattacken zu kompensieren. „Wie geht es denn unserem kleinen Chefkoch? Verfolgt er die einschlägigen Sendungen im Fernsehen? Ich muss ja zugeben, dass er seine Küchenschürze ganz reizend ausfüllt.“

Sie schaute mich von der Seite an. „Du solltest lieber drauf hoffen, dass ich ihm nicht petze, dass du das gesagt hast, sonst wirst du künftig von den Dinner-Einladungen ausgeschlossen. Ich schwöre, ich habe schon fünf Pfund zugelegt, seit er neuerdings diesem Back-Wahn verfallen ist. Nicht, dass ich mich beschwere …“

„Gebäck? Ich dachte, er war auf einem mediterranen Trip?“

Sie schüttelte dramatisch den Kopf. „Das war letzte Woche. Diese Woche versucht er sich an allen möglichen meisterhaften Desserts für Annabel.“

Ich runzelte die Stirn. „Ist sie denn besonders mäkelig beim Essen?“

„Nein, aber mein Ehemann ist nun mal total verrückt nach seiner Patentochter.“ Ziggy steckte sich einen weiteren Bissen in den Mund.

„Wenn alle nach Boston kommen, hast du ja morgen Nacht bestimmt volles Haus.“ Mit den beiden Kindern unserer Schwester Liv und dem demnächst vierköpfigen Nachwuchs unserer New Yorker Freunde Max und Sara würden die süßen Rangen gegenüber den Erwachsenen bald in der Überzahl sein. Ziggy liebte es, die Kinder zu beherbergen, und ich war bereit, viel Geld darauf zu verwetten, dass Will mindestens eines der Gören für den Großteil des Wochenendes am Bein kleben haben würde.

„Nein, tatsächlich nicht“, erwiderte sie. „Max geht mit seiner Familie ins Hotel. Bennett und Chloe übernachten bei uns.“

„Bennett und Chloe?“, wiederholte ich grinsend. „Fürchtest du dich nicht?“

„Nein, das Beste weißt du noch nicht.“ Sie beugte sich zu mir und machte große Augen. „Es ist nämlich so, als ob Chloe und Sara während ihrer Schwangerschaften einen Persönlichkeitstausch vollzogen hätten. Ernsthaft. Du musst es sehen, um es zu glauben.“

Als meine Schwester mir am Samstagmorgen die Tür öffnete, war hinter ihr erwartungsgemäß nichts anderes zu erkennen als ein Schimmer aus Farbe und Seide und winzige rennende Körper. Ein kleines Kind sauste in ihre Beine. Ziggy taumelte nach vorne in meine Arme.

„Hey.“ Sie grinste zu mir hoch. „Ich wette, du bist jetzt schon froh, dass du hergekommen bist.“

Ich schaute über ihre Schulter in den Eingangsbereich. Neben der Haustür stapelten sich Kinderschuhe, und durch einen breiten Durchgang im Craftsman Style konnte ich auf dem Tisch im Esszimmer Berge von Geburtstagsgeschenken erkennen.

„Für Wills Kochkünste bin ich immer zu haben.“ Ich schob mich an ihr vorbei ins Gewühl. Aus der Ferne, über Wills tiefes Lachen hinweg, war ein Chor aus Quietschen und Kreischen zu vernehmen, aus dem sich ein Ausruf, vermutlich aus Annabels Mund, klar und deutlich absetzte: „Es ist mein Geburtstag! Ich darf Superman sein!“

Ich brauchte mehr Kaffee.

Ich war kein sehr tiefer Schläfer und hatte einen Großteil der vergangenen Nacht hellwach in meinem Wohnzimmer gesessen und versucht, mich an jede einzelne Gelegenheit zu erinnern, bei der ich in den letzten fünf Jahren irgendetwas rein zum Vergnügen, nur für mich selbst, unternommen hatte.

Das Problem war, dass sich, abgesehen vom Fitnessstudio, meinen Softball-Spielen am Donnerstag und Kaffee oder Drinks mit einem meiner Freunde danach nicht besonders viel in meinem Leben abspielte. Klar, mein Kalender für soziale Termine war voll, das schon, aber da ging es fast immer um Arbeitsessen, Besuche von Klienten oder irgendein tolles Ergebnis, das die Partner mit einem Festmahl feiern wollten. Vor zwei Jahren war ich zu der deprimierenden Erkenntnis gelangt, dass zu viel Zeit auf Reisen und auf dem Sofa mich ziemlich hatten aus dem Leim gehen lassen. Ich fing wieder an zu laufen und Gewichte zu stemmen, nahm zehn Kilo ab und baute einiges an Muskeln auf, nur um festzustellen, dass ich meine Liebe zum Sport nicht etwa deshalb neu belebt hatte, um besser auszusehen oder besser bei den Frauen anzukommen. Sondern um mich besser zu fühlen. Abgesehen davon hatte sich nichts Entscheidendes in meinem Alltag geändert.

Normalerweise vermied ich es, über meine gescheiterte Ehe nachzudenken, aber spät gestern Nacht war mir klar geworden, dass Beckys Entschluss, sich zu trennen, eine Kettenreaktion ausgelöst hatte. Der Herzschmerz führte dazu, dass ich mich in meine Arbeit stürzte, was mir Erfolg einbrachte, der sich wiederum auf eine geradezu obsessive Art zum Lohn und Ziel aller Mühen auswuchs. Und an irgendeinem Punkt kristallisierte sich dann heraus, dass ich mich entweder voll und ganz auf den Job schmeißen oder mir eine Existenz abseits davon aufbauen konnte. Beides gleichzeitig ging nicht. Vor sechs Jahren, als der Gedanke an romantische Beziehungen mir vor allem bittere Gefühle verursachte, fiel mir die Entscheidung leicht.

Und heute war ich doch glücklich damit, nicht wahr? Vielleicht nicht unbedingt erfüllt, aber mindestens zufrieden. Glaubte ich jedenfalls. Allerdings hatte die sanfte Stichelei meiner Schwester von gestern Abend unvermutet kalte Panik in mir aufsteigen lassen. Würde ich als einsamer alter Mann sterben? Würde der Tod mich dereinst in einer total penibel aufgeräumten Junggesellenbude ereilen, während ich gerade dabei war, meine zahllosen Strickpullover nach Farben zu ordnen? Sollte ich einfach alle weiteren Bemühungen um Zweisamkeit einstellen und mit dem Gärtnern anfangen?

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