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Ballsaison

hier erhältlich:

Auf den Spuren von Georgette Heyer - die schönsten Romane des Regency

Ein süßes Abenteuer
PAULA MARSHALL

Diana, die atemberaubende Duchess of Medbourne, ist die Königin der Ballsaison - und die erste Frau, die Sir Neville Fortescue an Heirat denken lässt. Doch die wagemutige Schönheit weckt nicht nur sinnliche Sehnsüchte in ihm, sondern verwickelt ihn in einen pikanten Entführungsfall. Und ruft seine Lust am Abenteuer wach. Auch am Abenteuer Liebe?
Lady Lavinias Liebestraum
MARY NICHOLS

Verwirrende Gefühle! Zwei aufregende Gentlemen umwerben die junge Lady Lavinia: der geheimnisvolle Lord Wincote und der elegante Earl of Corringham. Wen der beiden sie liebt, hat sie in ihrer Unschuld noch nicht erkannt. Doch Lavinia spürt: Diese Saison in London wird die Entscheidung bringen. Mit jedem glanzvollen Ball, mit jedem Walzer wird ihr klarer, welchem Mann ihr Herz gehört …


  • Erscheinungstag: 01.06.2014
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955763589
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ballsaison

Paula Marshall

Ein süßes Abenteuer

Aus dem Englischen von Stephanie Dufner

Mary Nichols

Lady Lavinias Liebestraum

Aus dem Englischen von Birgit Zeidler

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der englischen Originalausgaben:

The Daring Duchess

Copyright © 2004 by Paula Marshall

Lady Lavinia’s Match

Copyright © 2002 by Mary Nichols

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: Harlequin Books S.A.

ISBN eBook 978-3-95576-358-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Paula Marshall

Ein süßes Abenteuer

Aus dem Englischen von Stephanie Dufner

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PROLOG

1817

Diana Rothwell, nunmehr die Dowager Duchess of Medbourne, wurde zur Witwe, ohne je eine richtige Ehe geführt zu haben. Als sie mit vierundzwanzig Lenzen ihren achtzigjährigen Gemahl verlor, bestand sie darauf, an der Beerdigungszeremonie in der Krypta der Hauskapelle auf Medbourne Castle teilzunehmen.

Selbstverständlich verletzte sie damit die Etikette, gemäß der eine vornehme Dame der Beerdigung ihrer Angehörigen grundsätzlich fernzubleiben hatte. Damit nicht genug, trug sie statt des schwarzen Trauergewandes und der Witwenhaube, die sie erst nach Ablauf eines Jahres ablegen durfte, ein gewöhnliches Tageskleid.

Die schockierten Trauergäste konnten ja nicht ahnen, dass Diana damit den Wunsch ihres verstorbenen Gatten Charles erfüllte. Da ihre Ehe kinderlos geblieben war, hatte er ihr sein Anwesen sowie den größten Teil seines Gesamtvermögens hinterlassen, und außerdem einen langen Brief, in dem er seine Wünsche hinsichtlich ihrer Zukunft darlegte.

In der Kapelle hatten sich neben den höherrangigen Dienstboten eine ganze Reihe von Gentlemen eingefunden – Freunde und Nachbarn des Verstorbenen, die dieser zur Testamentsverlesung im Anschluss an die Zeremonie eingeladen hatte. Sie alle sollten für ihre langjährige Freundschaft und, was das Personal betraf, für ihre treuen Dienste mit Geldgeschenken oder persönlichen Andenken belohnt werden. Unterdessen hielten sich die Gemahlinnen jener Herren sittsam in der Großen Halle des Schlosses auf. Während sie auf die Rückkehr ihrer Gatten warteten, ließen sie sich eifrig über das Betragen und über die Kleidung ihrer Gastgeberin aus.

“Weder anständig noch comme il faut. Aber hätten Sie etwas anderes von ihr erwartet? Im Grunde fand ich es schon damals anstößig, dass ein Greis wie der Duke ein siebzehnjähriges junges Mädchen ehelicht, das dem Alter nach seine Enkelin sein könnte.”

“Nicht einmal einen Erben hat sie ihm geschenkt.”

“Sie soll ihm sogar bei seinen Experimenten geholfen haben.”

Die allgemeine Missbilligung wuchs erst recht, als sich später herausstellte, dass der Duke, abgesehen von den Vermächtnissen an seine Freunde, seinen gesamten Besitz seiner Witwe hinterließ.

Doch Diana kümmerte sich nicht um das Gerede. Auf dem Sterbebett hatte Charles ihr einen Umschlag übergeben.

“Kein Mann könnte sich eine bessere Ehefrau als dich wünschen”, hatte er gesagt. “Nach meinem Tod sollst du diesen Brief lesen und beherzigen, was ich darin geschrieben habe. Öffne ihn aber sofort, hörst du, warte auf keinen Fall bis nach der Beerdigung.”

Gehorsam wie immer, hatte Diana den Brief gelesen, der sie zunehmend verblüffte, um nicht zu sagen bestürzte.

“Mein liebes Kind”, stand da, “denn als das habe ich Dich stets betrachtet, als meine Tochter und als meine Schülerin. Du hast Deine Liebe einem Greis geschenkt, der Dir nicht bieten konnte, was Dir rechtmäßig zusteht, nämlich eine wahre Ehe und Kinder. Insofern habe ich nicht nur Dich betrogen, sondern auch Deine Familie, wenngleich Du es mir nie zum Vorwurf gemacht hast.

Ich weiß wohl, dass Deine verarmten Eltern sich nur wegen meines Besitzes bereit fanden, Dich mir zur Frau zu geben. Glücklicherweise musstest Du nicht deine ganze Jugend an mich verschwenden. Nun, nach meinem Ableben, sollst Du Dein Leben genießen, wie es Dir bislang verwehrt war.

Sicherlich wirst Du nicht nur mit Bedauern an unsere gemeinsamen Jahre zurückdenken. In dieser Zeit hast Du bestätigt, was ich schon immer vermutete: dass eine junge Frau ebenso umfassendes Wissen erwerben und ebenso glänzende Leistungen erbringen kann wie ein junger Mann. Als Mann hättest Du an meiner alten Universität ein ausgezeichnetes Examen ablegen können. Genau das wollte ich beweisen, indem ich Dich unterrichtete.

Nun aber sollst Du Dich endlich ein wenig amüsieren. Also traure in der Öffentlichkeit nicht um mich. Nimm an meiner Beerdigung teil, aber nicht in Trauerkleidung. Ich möchte nicht, dass Du ein ganzes Jahr lang Schwarz trägst und in den darauffolgenden Monaten Lila. Vielmehr solltest Du sofort wieder unter die Leute gehen und all die Dinge tun, denen Du seit unserer Heirat entsagen musstest.

Nachdem ich Dir hiermit meine letzten Wünsche kundgetan habe, hoffe ich, dass Du sie treulich erfüllst. Gewiss wirst Du die Jahre unseres gemeinsamen Studiums nie vergessen, ja sogar künftig davon profitieren. Hüte Dich vor Mitgiftjägern. Wenn Du eine neue Ehe eingehst, dann hoffentlich mit einem Mann, der Deiner würdig ist – damit ich in Frieden ruhen kann.”

Als Diana den Brief niederlegte, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt. Ja, er hatte immer gewusst, dass sie manchmal dem Leben nachtrauerte, das sie, ohne an ihn gebunden zu sein, hätte führen können.

Und nun sollte sie mit seinem Segen alles nachholen. Ganz gleich, was man in vornehmen Kreisen von ihr dachte, sie würde seinen Rat befolgen. Nur ihre Bildung würde sie niemals zur Schau stellen, schließlich brauchte niemand zu wissen, dass sie so gewandt debattieren konnte wie ein Anwalt, dass sie etwas von Naturphilosophie verstand und dass sie in den letzten beiden Lebensjahren ihres Gatten seine Güter für ihn verwaltet hatte.

Am Ende des Briefes stand ein amüsantes Postskriptum. “Ich habe die Witwe Marchmont, eine entfernte Verwandte von Dir, gebeten, Dich so bald wie möglich in die Gesellschaft einzuführen. Du darfst sie ruhig ein klein wenig schockieren, aber sieh zu, dass Du es nicht übertreibst.”

Unwillkürlich musste Diana lächeln. Just an diesem Morgen war Mrs. Marchmont auf Medbourne Castle eingetroffen. Sie hatte Diana inständig gebeten, der Beerdigung ihres Gatten fernzubleiben, und fassungslos den Kopf geschüttelt, als die junge Frau nicht auf sie hören wollte.

Nach dem Gottesdienst strömten die Trauergäste ins Schloss zurück, um zu essen, zu trinken und die Testamentsverlesung anzuhören. Voller Missbilligung vernahmen sie, wie die Witwe im letzten Satz aufgefordert wurde, ihr Leben zu genießen. Damit, so dachte Diana, bekräftigt Charles noch einmal, was er in seinem letzten Brief an mich geschrieben hat.

Ja, sie würde sein Andenken ehren, indem sie seinen Wunsch erfüllte.

1. KAPITEL

1819

Als Sir Neville Fortescue auf Lady Leominsters Ball zufällig mit anhörte, wie zwei seiner angeblichen Freunde über ihn sprachen, ahnte er noch nicht, dass sich dadurch bald sein ganzes Leben verändern sollte.

“Fortescue?”, sagte Frank Hollis zu Henry Latimer. “Oh nein, ich werde Fortescue gar nicht erst fragen, ob er mit uns ins Coal Hole kommen möchte. Ein netter Bursche, zuverlässig und anständig, aber langweilig, verdammt langweilig. Hat sich sein Leben lang keinen einzigen Fehltritt geleistet. Schon der Gedanke an ihn ödet mich an.”

“Ach weißt du, stille Wasser sind tief.”

“Nicht immer. Bis jetzt hat er jedenfalls noch nicht gezeigt, was in ihm steckt, dabei sitzt er schon seit fünf Jahren im Parlament. Wechseln wir lieber das Thema. Was hältst du von der neuen Geliebten seines Cousins Alford? Der weiß, wie man sich richtig vergnügt. Nehmen wir doch ihn ins Coal Hole mit.”

Mit diesen Worten entfernten sich die Sprecher. Wie heißt es so schön – der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand’, dachte Sir Neville Fortescue verdrossen. Sicher, die beiden hatten nichts allzu Schlimmes gesagt, aber er fand es nicht gerade schmeichelhaft, als langweiliger Musterknabe abgetan zu werden. Obgleich er nicht viel auf Frank Hollis’ Urteilsvermögen gab, hatten dessen Bemerkungen ihn tief getroffen, ja sogar verärgert. Wieso maßte der Mann sich überhaupt an, über ihn zu urteilen?

Der Vorfall beschäftigte ihn umso mehr, als er an diesem Tag Harriet Beauchamp aufgesucht und um ihre Hand angehalten hatte. Zum einen glaubte er, dass sie eine gute Gemahlin abgeben würde. Und zum anderen lag seine verwitwete Mutter ihm ständig in den Ohren, dass er sich endlich vermählen solle.

“Ein Mann in deiner Stellung braucht eine Gattin”, pflegte sie zu sagen, und als er ihr seinen Entschluss mitteilte, Harriet einen Heiratsantrag zu machen, freute sie sich ungemein. Ihrer Ansicht nach würde die reizende Miss Beauchamp ihm trotz ihres etwas leichtfertigen Betragens alle Ehre machen.

Heute hatte er sich genau die passenden Worte zurechtgelegt, um dieser hübschen jungen Debütantin mit dem Segen ihres Vaters einen Heiratsantrag zu machen. Noch einmal ließ er sich die beschämende Szene durch den Kopf gehen …

Nach seiner Rede hatte Harriet mit geheuchelter Traurigkeit erwidert: “Ach, mein lieber Neville, ich mag dich sehr, aber ich könnte niemals deine Gattin werden.”

Er fiel aus allen Wolken. Sie wies ihn ab? “Warum denn nicht?”, rief er in leicht entrüstetem Ton, noch immer vor ihr kniend.

“Weil ich hin und wieder etwas Aufregendes erleben möchte. Mit dir könnte ich das nicht, da du so sehr darauf achtest, immer das Richtige zu tun.”

Endlich erhob er sich, denn in den engen Hosen, die die Mode zurzeit vorschrieb, konnte man nicht lange knien. “Ich dachte, die meisten jungen Damen wünschen sich einen verlässlichen Ehemann”, entgegnete er.

“Das stimmt, aber du benimmst dich dermaßen korrekt, dass man sich mit dir schier langweilt”, erklärte sie mit herzlich wenig Taktgefühl. “Und das könnte ich nicht ertragen. Bald wirst du irgendein nettes, sittsames Mädchen kennenlernen, das besser zu dir passt als ich. Wir werden doch hoffentlich Freunde bleiben? Falls ich je Hilfe benötigen sollte, würdest du mir jederzeit mit klugem Rat beistehen, das weiß ich genau.”

Beinahe hätte er ihr entgegengeschleudert: “Im Gegenteil, in dem Fall solltest du lieber einen guten Anwalt aufsuchen.” Stattdessen gab er, wie gewöhnlich, eine unverfängliche, banale Antwort. “Ich bedaure, dass du meinen Antrag ablehnst, Harriet, aber ich werde dir natürlich immer wohlgesonnen bleiben.”

“Dann nimmst du mir meine Entscheidung also nicht übel. Wie lieb von dir!”

In diesem Augenblick regte sich plötzlich Nevilles Leidenschaft, die er sonst immer erfolgreich unterdrückte. Um ein Haar hätte er Harriet an sich gerissen, einen heftigen Kuss auf ihre Lippen gepresst und sie hinterher angefahren: “Fandest du das aufregend genug? Oder soll ich weitermachen?”

Selbstverständlich tat er nichts dergleichen. Seit er denken konnte, hütete er sich, dem Beispiel seines Vaters zu folgen, eines trunksüchtigen Wüstlings, der in den Armen einer Kokotte gestorben war. Dass seine Familie nach seinem Tod nicht in Not geriet, verdankte sie nur der Tatsache, dass Nevilles Großvater mütterlicherseits bei der Heirat seiner Tochter ihr Erbe vor dem Zugriff ihres Gatten geschützt hatte.

Glücklicherweise verbrachte seine Mutter den Sommer bei ihrer verwitweten Schwester in Surrey. Ansonsten würde sie ihm nun wegen Harriets Abfuhr endlose Vorwürfe machen. In Wahrheit sehnte er sich nicht übermäßig danach, das Mädchen zu heiraten, aber für seine Mutter spielte das keine Rolle.

Soso, Harriet wünscht sich also eine aufregende Ehe, dachte er, während er unverrichteter Dinge das Haus der Beauchamps verließ. Es geschähe ihr ganz recht, wenn sie sich am Ende mit einem Mann wie meinem Vater, Sir Carlton Fortescue, vermählt, der sie ins Elend stürzt.

Und nun, noch am selben Abend, musste er auf Lady Leominsters Ball mit anhören, wie zwei liederliche Burschen sich ganz ähnlich wie Harriet über ihn äußerten.

Wirkte er auf andere tatsächlich so langweilig? Was gab es denn an korrektem Betragen auszusetzen? Konnte man überhaupt gleichzeitig tugendhaft und aufregend sein? Angenommen, er lockerte die Zügel ein wenig? Würde er sich dann wohler fühlen?

Eine leere Hoffnung. Er konnte nicht über seinen Schatten springen. Nach mehreren Generationen von durch und durch verdorbenen Fortescues bemühte er sich als Erster, ein anständiges Leben zu führen, damit man nicht im ganzen Land über seine Eskapaden tratschte. Mit Mitte zwanzig war er ins Parlament eingetreten, wo er seine Pflichten stets tüchtig und ehrenhaft erfüllt hatte. So viel konnten die meisten seiner Freunde nicht von sich behaupten.

Er kehrte noch einmal in den Ballsaal zurück, um sich von Lady Leominster zu verabschieden. Am besten begab er sich nach Hause und vergaß den ganzen Vorfall.

Doch während er auf die Gastgeberin zuging, fasste ihn irgendjemand bei der Schulter und rief: “Genau nach dir hatte ich gesucht! Nach dem Ball wollen ein paar Freunde und ich ins Coal Hole gehen. Komm doch mit! Amüsiere dich ausnahmsweise einmal, Neville. Aber gestatte mir zuerst, dich mit der Dowager Duchess of Medbourne bekannt zu machen. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen behauptet sie, sie könne es kaum erwarten, dich kennenzulernen.”

Vor Neville stand George, Lord Alford, mit dem man ihn gerade eben verglichen hatte – zu seinen Ungunsten. In der Tat besaß George sämtliche Vorzüge, die ihm selbst fehlten. Er sah auffallend gut aus, kleidete sich hochelegant und verstand es, jeden Augenblick seines Lebens zu genießen, ob nun mit leichtfertigen Frauenzimmern oder auf der Rennbahn, in zwielichtigen Spielhöllen oder bei Wettrennen in seinem Zweispänner. Wenn er sich für Wetten interessieren würde, was er nicht tat, hätte Neville wetten können, dass George sein Vermögen in rasendem Tempo durchbrachte. Genauso schnell, wie seine besten Pferde galoppieren konnten.

Natürlich verspürte er nicht die geringste Lust, seinen Cousin ins Coal Hole zu begleiten oder der Kühnen Duchess vorgestellt zu werden. So lautete der Spitzname der reichen jungen Witwe des Duke of Medbourne, die im vergangenen Jahr die Gesellschaft im Sturm erobert hatte. Ihrem Ruf nach zu schließen stand ihre Leichtlebigkeit der Lord Alfords in nichts nach.

“Das wage ich zu bezweifeln, George – ich meine, dass die Duchess mich wirklich kennenlernen will. Und besten Dank, aber ich werde deine Einladung nicht annehmen. Ich gehe jetzt nach Hause.”

“Tu mir doch den Gefallen”, rief Lord Alford lachend. “Ich habe mit Frank Hollis gewettet, dass ich dich dazu überreden kann, und wenn du mich im Stich lässt, werde ich ein hübsches Sümmchen verlieren.”

Als Franks Name fiel, sah Neville seinen Cousin unverwandt an. “Frank Hollis, ja?”, bemerkte er nach einer Weile. “In diesem Fall werde ich mitkommen, aber nur für einen kurzen Augenblick.”

“Zuerst die Duchess. Er wettet nämlich, dass du dich weigern wirst, ihre Bekanntschaft zu machen.”

“Tatsächlich? Gut, einverstanden, aber erwarte keine große Begeisterung von mir.”

“Nein, nein. Franks Gesicht möchte ich sehen, wenn du dich vor ihr verneigst und wenn du um Mitternacht mit uns zu neuen Vergnügungen aufbrichst!”

Widerstrebend folgte er George in eine Ecke des Saals, wo Diana inmitten einer Schar von Bewunderern Hof hielt.

Seit ihrer Ankunft in London hatte sie mit ihrer unbezähmbaren Lebenslust ebenso großes Aufsehen erregt wie seinerzeit Lady Caroline Lamb. Natürlich war sie keineswegs so töricht wie Lady Caroline, ja, man hätte sie sogar als Blaustrumpf bezeichnen können, nur dass sie ihre Bildung niemals zur Schau stellte. Dagegen bewies sie immer wieder, dass sie nicht nur alle Menschen in ihrer Umgebung mit ihrer Schönheit betören, sondern auch den langweiligsten gesellschaftlichen Anlass mit ihrem Esprit und ihrer geistreichen Konversation beleben konnte.

Whist und Schach beherrschte sie so gut wie jeder Gentleman. Darüber hinaus spielte sie meisterhaft das Pianoforte, und es ging das Gerücht, sie spreche drei Fremdsprachen. Eines Tages hatte sie für eine kleine Sensation gesorgt, als sie in ihrem Zweispänner durch den Hydepark fuhr und eigenhändig zwei feurige Pferde lenkte.

Bei einer anderen Gelegenheit wurde sie während eines Spaziergangs mit ihrer Anstandsdame Zeugin, wie ein Mann einen Hund prügelte. Unverzüglich forderte sie ihn auf, damit aufzuhören; als er sich weigerte, schlug sie mit ihrem Sonnenschirm auf ihn ein und bat einen wildfremden Passanten, den Grobian festzuhalten, damit sie derweil den Hund retten konnte. Glücklicherweise tat der angesprochene Gentleman mehr als das. Es handelte sich um Lord Vaux, einen Peer aus einer äußerst alten und angesehenen Familie. Nachdem er den Tierquäler einem Konstabler übergeben hatte, bestand er darauf, die beiden Damen mitsamt dem Hund bis zu Dianas Residenz zu begleiten. Zwei Tage später hielt er um ihre Hand an, doch sie lehnte seinen Antrag ab.

Nach ihm warben noch viele andere Herren um Diana. Sie wies sie alle zurück, die Hochwohlgeborenen ebenso wie diejenigen von niederem Adel, die Gediegenen ebenso wie die Liederlichen. Allem Anschein nach wollte ausgerechnet die beste Partie der Saison sich nicht binden. Bei Watier’s schloss man Wetten ab, wie viele Männer bis zum Ende der Saison noch ihr Glück bei ihr versuchen würden. Angeblich hatten bereits zwanzig ihr einen Heiratsantrag gemacht, darunter auch Prinz Adalbert von Eckstein Halsbach, ein Cousin der Princess of Wales.

Neville beabsichtigte keineswegs, es ihnen gleichzutun, zumal Diana ohnehin zu jener Sorte Frau gehörte, die ihm am meisten missfiel. Doch als er schließlich vor ihr stand, geriet auch er wider Willen in den Bann ihrer außerordentlichen Schönheit. Solch prachtvolles, glänzend schwarzes Haar, solch himmlisch blaue Augen und solch wohlgeformte Lippen, die wie zum Küssen geschaffen schienen, sah er wahrhaftig nicht alle Tage.

Dabei trug sie ein erstaunlich schlichtes Kleid, weiß, mit seidenen Schneeglöckchen bestickt. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Fächer und nicht etwa einen großen, der sich besser zum Tändeln und Kokettieren eignen würde. Doch am meisten überraschte ihn, dass sie keinerlei Schmuck angelegt hatte.

“Hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Euer Gnaden”, sagte er, während er sich vor ihr verneigte und einen Kuss auf ihre zarte Hand hauchte. Zu seiner Verblüffung meinte er das sogar ernst. Wie rasch er sich von ihr bezaubern ließ!

“Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Sir Neville”, erwiderte sie ebenso höflich. “Man hat Sie mir als einen äußerst ernsthaften Gentleman geschildert, der sich schwerlich für ein leichtsinniges Geschöpf wie mich interessieren dürfte.”

Von wegen leichtsinnig! Seinem ersten Eindruck nach traf diese Bezeichnung nicht im Geringsten auf sie zu, auch wenn er dies nicht begründen konnte. Jedenfalls besaß sie eine Respekt einflößende Ausstrahlung, eine seltene Gabe, die die meisten vornehmen Damen nicht einmal anstrebten.

“Ich habe stets nur Gutes über Sie gehört”, versetzte er. “In der Tat schulde ich meinem Cousin Lord Alford großen Dank, denn er hat mich dazu überredet, mich Ihnen vorstellen zu lassen.”

“Demnach musste er Sie erst dazu überreden! Das enttäuscht mich ein wenig.”

“Weshalb?”, erkundigte sich Neville. “Erwarten Sie, dass alle Welt sich darum reißt, Sie kennenzulernen?”

Einen Augenblick lang befürchtete er, dass sie seine Worte womöglich als Beleidigung auffassen könnte. Aber da hatte er sie unterschätzt.

“Durchaus nicht. Aber sobald eine unverheiratete, wohlhabende Frau in die Londoner Gesellschaft eingeführt wird, hält Hinz und Kunz es für sein gutes Recht, sie zu belagern. Deswegen finde ich es wohltuend, endlich einmal einem Herrn zu begegnen, der sich nicht sonderlich für mich interessiert.”

Inzwischen hatten sie sich durch die Menge hindurch zum Rand der Tanzfläche begeben, oder besser gesagt, Diana hatte ihn geschickt in diese Richtung gelotst. Genau in diesem Augenblick stimmte das Orchester eine Quadrille an, sodass er sich verpflichtet fühlte, sie zu fragen: “Würden Sie mir die Ehre dieses Tanzes erweisen? Allerdings muss ich gestehen, dass ich in letzter Zeit selten getanzt habe. Sie müssen mir schon verzeihen, falls ich mich etwas ungeschickt anstelle.”

“Ursprünglich hatte ich diesen Tanz zwar einem anderen Herrn versprochen, aber der musste später absagen, da eine dringende Nachricht ihn nach Hause rief. Also nehme ich gerne an.”

“Ausgezeichnet”, bemerkte Neville. Dann reihten sie sich in eine Gruppe mit drei weiteren Tanzpaaren ein. George blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen, als er dies von seinem Platz aus beobachtete. Noch nie zuvor hatte er seinen sittenstrengen Cousin auf der Tanzfläche gesehen. Und noch dazu mit der Königin der Saison! Kaum zu glauben, dass dieser zugeknöpfte Bursche den Reizen der Kühnen Duchess erlag! Damit würde er ihn später gehörig aufziehen.

Neville staunte ebenso sehr über sich selbst wie sein Cousin. Solange er sich auf seine Tanzschritte konzentrieren musste, blieb ihm auch gar keine Zeit, sich sein Verhalten zu erklären. Warum hatte er überhaupt zugelassen, dass George ihn dieser hochgestellten jungen Dame vorstellte? Und warum bezauberte sie ihn so sehr, während sie anmutig und elegant wie eine Primaballerina über die Tanzfläche schwebte?

Indes ahnte keiner der beiden Männer, dass die Begegnung mit Sir Neville Fortescue auch Diana angenehm überrascht hatte. Schließlich hatte man ihn ihr als einen biederen Zeitgenossen beschrieben, der sich laut Frank Hollis “niemals dazu herablassen würde, an irgendwelchen Vergnügungen teilzunehmen. Immer steckt er seine Nase in irgendeinen dicken Wälzer.”

Dementsprechend hatte sie sich ihn als einen kleinen, nachlässig gekleideten Herrn vorgestellt, einen Bücherwurm mit abfallenden Schultern, der sie durch dicke Brillengläser hindurch anblinzelte. In Wirklichkeit aber war er hochgewachsen und athletisch, mit markanten, charaktervollen Gesichtszügen, wenn auch nicht unbedingt im üblichen Sinne gut aussehend. Sein kastanienbraunes Haar, seine grünen Augen und der strenge Zug um seinen Mund gefielen ihr nicht übel. Nichts an ihm wirkte stutzerhaft oder aufgesetzt, vielmehr machte er den Eindruck eines Mannes, der unbeirrt seinen eigenen Weg ging.

“Warum habe ich Sie erst heute kennengelernt?”, murmelte sie.

“Ich gehe nicht oft aus”, antwortete er.

“Ein Verlust für die Gesellschaft.”

“Aber unter Umständen mein Gewinn.”

“So?” Sie zog die Augenbrauen hoch. “Wer weiß.”

Am Rande der Tanzfläche raunte Frank Hollis Lord Alford zu: “Sehe ich recht? Neville tanzt, und noch dazu mit der Duchess of Medbourne? Sonst steht er doch immer nur herum und schaut überlegen drein.”

“Oh, sie hat sich Neville zum Opfer erkoren”, stellte George lachend fest. “Ein einziger Blick, und schon fordert er sie zu der Quadrille auf. Offensichtlich kann er genauso gut, wenn nicht sogar besser tanzen als wir, er hatte bloß bisher keine Lust dazu.”

“Ja, das sieht der Duchess ähnlich. Kein Mann kann sich ihrem Zauber entziehen. Aber wer hätte gedacht, dass sich Neville in ihre Fänge verstrickt!”

Unterdessen setzten Diana und Neville ihre Konversation fort. Im Nachhinein dachte sie, noch nie solch ein anregendes Gespräch geführt zu haben. “Ich würde Sie gerne wiedersehen, Sir Neville”, erklärte sie nach einer Weile kühn, “und zwar an irgendeinem Ort, wo wir uns ernsthafter unterhalten können. Eine Tanzfläche eignet sich nur für belangloses Geplauder und Schmeicheleien, fürchte ich.”

“Oh, dann möchte ich hiermit betonen, wie geschmackvoll ich Ihre Garderobe finde”, antwortete er, ehe er es sich versah. “Keine Rüschen, keine kunstvollen Verzierungen, kein protziger Schmuck. Das haben Sie ohnehin nicht nötig.”

Diana staunte nicht minder als er selbst über seine Worte. Vor allen Dingen gefiel ihr sein leicht ironischer Unterton, denn sie hatte die schmeichlerischen Komplimente, mit denen die Herren sie zu überhäufen pflegten, gründlich satt. Eines stand fest, Sir Neville Fortescue unterschied sich deutlich von ihren üblichen Bewunderern.

Für beide verging die Zeit wie im Fluge, und als sie sich am Ende der Quadrille voreinander verneigten, schien es ihnen, als hätte der Tanz eben erst begonnen.

Nachdem Neville sich bei ihr bedankt und sie zurück zu ihrem Platz geleitet hatte, entfernte er sich von ihr. Zum einen wollte er sie nicht mit Beschlag belegen, zum anderen – und dieser Grund wog noch schwerer – verwirrte sie ihn auf unerklärliche Weise.

Sofort kam George auf ihn zu. “Na, du alter Schwerenöter?”, rief er mit einem breiten Grinsen. “Sonst weigerst du dich doch immer zu tanzen! Außerdem hast du behauptet, du wolltest die Duchess gar nicht kennenlernen. Eigentlich wollte ich sie zu der Quadrille auffordern, aber du musstest mir ja zuvorkommen!”

Neville funkelte den albernen Schwätzer wütend an. “Wenn du deine Zunge nicht im Zaum halten kannst, George, werde ich dich nicht ins Coal Hole begleiten, und dann verlierst du den zweiten Teil deiner Wette. Was ich tue oder nicht tue, geht nur mich etwas an.”

Noch nie zuvor hatte er in diesem Ton mit seinem Cousin gesprochen. Eine Sekunde lang stutzte George, dann brummte er: “Schon gut, ich werde dich nicht mehr necken. Aber du musst zugeben, dass du dich heute Abend ganz anders verhältst als sonst, Neville.”

“Vielleicht will ich mein Verhalten ja ändern. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich werde mich bis Mitternacht ins Speisezimmer zurückziehen.”

Verblüfft sah George ihm hinterher, bis er bemerkte, dass die Duchess ihn zu sich winkte. “Warum haben Sie mir Sir Neville nicht schon früher vorgestellt?”, fragte sie ihn, sehr zu seinem Ärger. “In Wirklichkeit ist er ganz anders als sein Ruf, nicht wahr? Ein richtiger Charmeur.”

Ein Charmeur? Da hörte sich doch alles auf! Was um alles in der Welt hatte Neville bloß gesagt, dass die Duchess auf diese Idee kam?

Diana wusste selbst nicht, warum ihr neuer Bekannter sie so sehr beschäftigte. Auf jeden Fall musste sie ihn bald wiedersehen, um herauszufinden, ob sie den Verstand verloren oder aber endlich zu sich selbst gefunden hatte.

Punkt Mitternacht gesellte sich Neville, dem ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen wie Diana, zu George und dessen Freunden. Zu dem Zeitpunkt rechnete Frank Hollis nicht mehr damit, dass Neville tatsächlich kommen würde, daher machte er bei seinem Anblick ein langes Gesicht.

“Ich dachte schon, du hättest deine Meinung geändert”, bemerkte er säuerlich.

Neville warf ihm einen wütenden Blick zu, obwohl das eigentlich gar nicht seiner Art entsprach. Überhaupt tat er an diesem Abend Dinge, die niemand ihm zugetraut hätte. Als er sich von Lady Leominster verabschiedete, hatte sie ihm lächelnd zugeraunt: “Wie schön, dass Sie heute ausnahmsweise einmal Ihre Einsiedlergrotte verlassen! Ihre Mutter wird sich sehr darüber freuen, und was die Duchess betrifft … eine reizende junge Dame, nicht wahr? Trotz ihres ungestümen Wesens. Höchste Zeit, dass ein besonnener Mann wie Sie sich ihrer annimmt, nachdem so viele dumme Stutzer sie umworben haben.”

Wie kommt es, hatte Neville grimmig gedacht, dass sich plötzlich alle so sehr für mich und meine Angelegenheiten interessieren? Dennoch hatte er Ihrer Ladyschaft ein höfliches Lächeln geschenkt, bevor er zu seinem Vetter hinüberging. Nach seinem langen, anstrengenden Tag hätte er auf den Besuch im Coal Hole lieber verzichtet. Es handelte sich um eine üble Spelunke, ein überfülltes, verräuchertes, lautes und stinkendes Kellerloch, genau wie er befürchtet hatte. Aber er pflegte seine Versprechen zu halten. Vermutlich gehörte auch das zu seinen langweiligen Eigenschaften.

Vielleicht lag es an seinem nüchternen Zustand, dass dieser Ort ihn dermaßen anwiderte. Wenn er genauso viel trank wie seine Begleiter, würde er vielleicht irgendwann alle anwesenden Frauen hübsch und alle Männer geistreich finden. Vielleicht würde ihm seine Umgebung dann gefällig erscheinen und nicht mehr so abstoßend wie jetzt.

Zumindest könnte es eine interessante Erfahrung werden, einmal einen über den Durst zu trinken. Mit diesem Gedanken leerte Neville ein Glas nach dem anderen, bis der Alkohol ihm allmählich zu Kopf stieg, doch er amüsierte sich deswegen kein bisschen besser.

“Ich gehe jetzt nach Hause”, verkündete er eine Weile später, als ohnehin niemand mehr Notiz von ihm nahm. George lag bereits unter dem Tisch, und bald würden auch Frank Hollis und Bobus Ventress dort landen.

Draußen, in der frischen Nachtluft, wurde sein Kopf wieder ein wenig klarer. Zu Hause angekommen, begab er sich sofort in sein Zimmer. Aber sosehr er sich nach seinem Bett gesehnt hatte, in dieser Nacht fand er keinen Schlaf. Vor seinem geistigen Auge erschien immer wieder das Antlitz der Duchess of Medbourne.

2. KAPITEL

“Gestern Abend hatte ich den Eindruck, dass du ein wenig für Sir Neville Fortescue schwärmst. Falls das stimmt, kann ich dich zu deiner Wahl nur beglückwünschen”, bemerkte Dianas Gesellschafterin und Anstandsdame, Isabella Marchmont, während sie emsig ein Monogramm stickte.

Diana sah von ihrem Buch auf. “Wie kommst du darauf?”

“Weil er solider ist als die liederlichen Verschwender, die dich seit unserer Ankunft in London umwerben. Viele von ihnen besitzen keinen Penny.”

“Du meinst, mein Vermögen lockt sie an, und nicht meine Reize?”

“So könnte man es ausdrücken.”

Nachdenklich legte Diana ihr Buch nieder, eine philosophische Abhandlung. “Nun”, begann sie zögerlich, “ich fand ihn … recht interessant, besser kann ich es nicht beschreiben. Er ist längst nicht so bieder wie sein Ruf. Bei ihm kann ich mir nicht vorstellen, dass er nur mein Geld im Sinn hat, aber wer weiß, vielleicht täusche ich mich.”

“Durchaus möglich, meine Liebe. Du solltest dich in Acht nehmen.”

“Oh, gewiss, das werde ich.”

Bisher hatte sie Isabella verschwiegen, dass sie die Namen aller Bewerber um ihre Hand umgehend ihren Anwälten nannte. Diese ließen dann von einem Angestellten die finanzielle Lage der Betreffenden prüfen. Gleich heute Nachmittag würde sie den Auftrag erteilen, Erkundigungen über Sir Neville Fortescue einzuholen. Nicht dass sie ernsthaft glaubte, hinter seiner ehrbaren Fassade könnte sich ein verarmter Mitgiftjäger verbergen, aber sie wollte kein Risiko eingehen.

Es gab einen guten Grund, weshalb sie in solchen Angelegenheiten so nüchtern, ja vielleicht sogar gefühllos handelte. In ihrer Anfangszeit in London hatte sie einmal durch reinen Zufall entdeckt, dass ihr damaliger Verehrer, dem sie vertraute, sie schamlos täuschte. Nach dieser Erfahrung schwor sie sich, nie wieder auf gut aussehende, charmante Männer hereinzufallen, denn sie hatte ihm wirklich geglaubt, dass er sie um ihrer selbst willen liebte. Seither verließ sie sich auf nichts und niemanden mehr.

Nein, bis ihre Anwälte ihr über Sir Neville Bericht erstatteten, würde sie ihn mit Vorsicht behandeln, auch wenn sie sich noch so sehr zu ihm hingezogen fühlte. Zum ersten Mal seit ihrem Bruch mit jenem falschen Verehrer hatte ihre Schutzmauer einen Riss bekommen, zum ersten Mal sah es danach aus, als könnte sie wieder Gefühle für einen Mann entwickeln. Das war ihr vergangene Nacht, während sie wach lag, klar geworden.

Auch Neville hatte die Begegnung mit Diana gründlich aufgewühlt. Die schöne junge Duchess ging ihm einfach nicht aus dem Sinn. Als er am Morgen nach dem Ball mit seinem Verwalter die Bücher durchging, musste er unentwegt an ihr reizvolles Antlitz denken, und zwei Tage später ließ ihn die Erinnerung an sie immer noch nicht los. Während er versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, klopfte es an der Tür.

“Herein”, rief er, und Lemuel Banks, einer seiner Lakaien, trat ins Zimmer.

Einen Moment lang stand der junge Diener unschlüssig da, bis Neville ungeduldig fragte: “Nun, was gibt es denn?”

Lemuel zögerte deswegen, weil sein Herr sich auf einmal so sonderbar verhielt. Früher hatte er seine Bediensteten niemals schroff behandelt, im Gegenteil, sein Personal schätzte sich glücklich, wenn es ihn mit anderen Arbeitgebern verglich.

“Folgendes, Sir”, begann er endlich. “Ich gehe hin und wieder mit Belinda Jesson aus, einer Küchenmagd im Medbourne House. Vor drei Tagen wollte ich sie wie verabredet zu einem Spaziergang durch den Park abholen. Da sagte mir die Haushälterin, Belinda habe am Vortag einen Botengang für die Köchin erledigt und sei nicht zurückgekehrt. Die anderen Dienstboten glauben, dass sie vielleicht mit irgendeinem jungen Burschen durchgebrannt ist. Dagegen spricht allerdings, dass sie alle ihre Sachen zurückgelassen hat, und außerdem trifft sie sich ja mit keinem anderen außer mir. Jedenfalls, Sir, ließ Ihre Gnaden unsere Haushälterin bitten, mich freizustellen, um mich persönlich über Belindas Verschwinden zu befragen. Offenbar wird nämlich ein Küchenmädchen von Lady Jersey ebenfalls vermisst. Bei dieser Nachricht fiel unserer Haushälterin wieder ein, dass im vergangenen Winter, während Sie sich auf dem Land aufhielten, eine unserer Mägde verschwand – mutwillig davongelaufen, wie damals alle dachten. Auch sie ließ alle ihre Sachen zurück.”

Nach einer kurzen Atempause fuhr er fort: “Ich komme gerade von meinem Gespräch mit Ihrer Gnaden, die die Sache nun persönlich in die Hand nehmen will. Zuerst hat sie mir ein paar ziemlich argwöhnische Fragen gestellt, aber inzwischen glaubt sie mir, dass ich nichts darüber weiß. Ich soll Ihnen dieses Schreiben übergeben.” Mit diesen Worten überreichte er seinem Herrn einen Brief.

Wie alle Kinder seiner Dienstboten hatte er früher eine Dorfschule besucht, und als ehrgeiziger Junge hatte er den Unterricht besonders ernst genommen. Neville wusste aus Erfahrung, dass nicht einmal jeder gut geschulte Sekretär einen komplizierten Sachverhalt so knapp und verständlich zusammenfassen konnte wie Lem.

Rasch überflog er die Zeilen. “An Sir Neville Fortescue. Aufgrund der Aussage Ihres Lakaien fürchte ich, dass zwei jungen Dienstmädchen – das eine gehört zu Ihrem Personal, das andere zu meinem – etwas zugestoßen sein muss. Könnten Sie mich freundlicherweise morgen nach dem Mittagessen aufsuchen, um die Angelegenheit zu besprechen? Diana, Dowager Duchess of Medbourne.”

Nachdem Neville eine kurze Antwort aufgesetzt hatte, schärfte er Lem ein: “Du wirst der Duchess unverzüglich diese Nachricht überbringen. Darin steht, dass ich morgen um zwei Uhr kommen werde. Aber dass du keinem Menschen davon erzählst, hörst du, nicht einmal der Haushälterin! Vielleicht machen wir uns ganz unnötig Sorgen, zumindest hoffe ich das. Dennoch fühle ich mich für das Wohl meiner Bediensteten verantwortlich. Wenn gleich mehrere junge Frauen vermisst werden, müssen wir unbedingt etwas unternehmen.”

Was er unternehmen wollte, wusste er selbst noch nicht genau, aber seine Worte genügten, um Lem zuversichtlich zu stimmen.

“Danke, Sir! Auf Sie kann man sich immer verlassen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.”

Nun, das klang schon viel schmeichelhafter als die Lästereien seiner angeblichen Freunde. Wenn er es recht betrachtete, fand er es gar nicht so schlimm, als zuverlässiger Langweiler zu gelten.

Weit weniger behagte ihm die Aussicht, die Duchess of Medbourne wiederzusehen. Diese Frau brachte ihn völlig durcheinander. Und zudem besaß sie solch einen zweideutigen Ruf, dass er sich eigentlich lieber von ihr fernhalten sollte.

Am nächsten Tag schützte Diana Müdigkeit vor, damit sie Isabella nicht bei ihren Nachmittagsbesuchen begleiten musste. Um zwei Uhr wartete sie im Salon mit dem prachtvollen Landschaftsgemälde von Richard Wilson auf ihren Gast. Sicherlich würde er pünktlich erscheinen.

Als er ins Zimmer trat, fand sie ihn sogar noch eine Spur attraktiver als bei ihrer ersten Begegnung. Auch diesmal trug er schlichte, aber tadellos geschnittene Kleidung, ohne übertriebenen modischen Firlefanz.

“Euer Gnaden”, begrüßte er sie mit einer tiefen Verneigung. “Sie hatten mich zu sich gebeten. Womit kann ich dienen?”

“Setzen wir uns zunächst einmal”, erwiderte sie. “Heute müssen wir ohne Mrs. Marchmont vorliebnehmen, fürchte ich. Eigentlich braucht eine junge Frau in meinem Alter eine Anstandsdame, selbst als Witwe, aber Isabella besucht gerade eine Freundin. Da wir ohnehin über ein heikles Problem sprechen müssen, werden Sie hoffentlich über diese kleine Verletzung der Etikette hinwegsehen. Vor meiner Gesellschafterin hätten wir das Thema nicht anschneiden können.”

In der Tat hatte es Neville zunächst ein wenig beunruhigt, dass die Duchess ihn ganz allein empfing, doch ihre Erklärung beschwichtigte ihn. “Selbstverständlich. Wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, wie in diesem Fall, können wir die Etikette ruhig außer Acht lassen.”

“Gut.” Mit einer Geste bot sie ihm einen Sessel an und ließ sich ihm gegenüber nieder. Erneut fiel ihr auf, wie wohltuend sie seine sachliche Art fand. Er konnte sich wahrhaftig mit ihr unterhalten, ohne sich in blumiger Sprache über ihre Reize auszulassen. Wenn Herren ihre Bekanntschaft machten, hielten sie es nämlich meistens für angebracht, ihr entweder schamlos zu schmeicheln, oder so zu tun, als habe ihre Schönheit sie völlig überwältigt. Nur dieser Gentleman nicht, dachte sie befriedigt.

In Wirklichkeit musste Neville sich gewaltig zusammenreißen, um in ihrer Gegenwart überhaupt ein Wort herauszubringen. Glücklicherweise hatte er gelernt, in jeder Lage die Form zu wahren. So gelang es ihm, seine Verwirrung nicht gar so offen zu zeigen wie die meisten anderen Verehrer Dianas.

Hier, wo ihn keine anderen Eindrücke ablenkten, konnte er sie noch besser bewundern als neulich im Ballsaal. Und er hatte alle Zeit der Welt, um ihren natürlichen Charme zu würdigen, ihr Taktgefühl, ihren unwiderstehlichen Mund und ihre entzückend geschmeidige Figur … Schon ihre bloße Gegenwart erregte seine Leidenschaft auf beschämend offensichtliche Weise.

Woran liegt das nur, fragte er sich, während er sich in seelenruhigem Ton mit ihr unterhielt. Vielleicht lebe ich schon zu lange enthaltsam? Aber warum habe ich dann nicht ähnliche Regungen verspürt, als ich Harriet Beauchamp den Hof machte?

Bei Harriet hatte er nie die Grenzen des Anstands überschritten. Nie hatte er sich vorwerfen müssen, dass er sich fleischlichen Fantasien hingab. Im Grunde wusste er genau, wo das Problem lag: Diana stellte für ihn den Inbegriff der Verlockung dar, und er begehrte sie wie ein unreifer, unbeherrschter Jüngling.

Das ging nun wirklich nicht! Wie konnte er nur eine derart unkonventionelle junge Dame bewundern? Wenigstens bewährten sich seine alten Gewohnheiten. Die Worte flossen ihm leicht von den Lippen, ohne dass er sich sonderlich konzentrieren musste, und da sie immer wieder zustimmend nickte, ahnte sie vermutlich nicht, was in ihm vorging.

Nachdem er ausgeredet hatte, stellte sie fest: “Eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Lage, Sir Neville. Ja, das Verschwinden dieser jungen Frauen kommt auch mir sehr verdächtig vor. Dass Sie sich an den Richter Sir Stanford Markham wenden wollen, damit er der Sache auf den Grund geht, halte ich für eine glänzende Idee. Falls man die Mädchen entführt hat, dann vermutlich zu Zwecken, von denen ich als Dame gar nichts wissen sollte, geschweige denn darüber sprechen. Sie wissen schon, was ich meine.”

Ja, allerdings. Sie befürchtete genau wie er, dass man Belinda und die anderen in ein Freudenhaus gelockt hatte. Offensichtlich besaß die schöne Duchess einen scharfen Verstand. Fühlte er sich etwa deswegen zu ihr hingezogen? Weil sie beide Eigenschaften, Schönheit und Klugheit, in sich vereinte?

“Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Sir Neville?”, fragte Diana, wobei sie auf ein Tablett wies, das auf einem Beistelltisch stand.

Ohne seine Antwort abzuwarten, schenkte sie ihm eine Tasse ein, reichte sie ihm und bot ihm Milch und Zucker an.

Ihr betörender Duft brachte Neville schier um den Verstand. Dankbar nahm er die Tasse entgegen, da er hoffte, mithilfe des beruhigenden Getränks die Fassung wiederzufinden. Dann würde er wieder dem Mann ähneln, den er kannte. Gesetzt. Würdevoll. Ohne fleischliche Begierden.

Diana entging das leichte Zittern seiner Hände keineswegs. Aus irgendeinem Grund wirkte er plötzlich durchaus nicht mehr ruhig und überlegen, sondern geradezu aufgeregt. Oder ging es ihm vielleicht gesundheitlich nicht gut?

In Wirklichkeit fehlte Neville nichts, außer dass er sich innerlich hin und her gerissen fühlte. Einerseits drängte es ihn, sich so bald wie möglich zu verabschieden, andererseits sehnte er sich danach, an ihrer Seite zu bleiben. Schließlich gab er sich einen Ruck und warf einen Blick auf seine Taschenuhr.

Als er sich schon zu einem geglückten Abgang gratulieren wollte, hätte seine Zunge ihm beinahe einen Streich gespielt. “Ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Sonst wird Mrs. Marchmont uns …” Er hielt gerade noch rechtzeitig inne, bevor ihm “in flagranti ertappen” herausrutschte, eine Redewendung, die üblicherweise im Zusammenhang mit Liebesabenteuern verwendet wurde. “Dabei ertappen, wie wir grundlegende Anstandsregeln missachten”, vollendete er den Satz stattdessen.

“Ja, diese Regeln gelten in der Öffentlichkeit als unumstößlich”, gab Diana mit einem leicht spöttischen Lächeln zurück. “Im privaten Bereich sieht es anders aus, wie Sie sicherlich wissen.”

Wollte sie damit andeuten, dass er bleiben sollte, damit sie sich ein kurzes Schäferstündchen gönnen konnten? Nein, unmöglich! Rasch verscheuchte Neville diesen Gedanken, ehe er ihr Lächeln erwiderte. “Um diese Uhrzeit werde ich den Richter wohl nicht mehr in seinem Amtszimmer antreffen, aber ich will ihn gleich morgen früh aufsuchen. Danach werde ich Ihnen mitteilen, zu welchen Schritten er uns rät.”

Indem er an kaltes Wasser und Schneewetter dachte, gelang es ihm, seiner Erregung Herr zu werden. So konnte er ohne peinliche Schwierigkeiten aufstehen und sich verabschieden.

Auf dem ganzen Heimweg grübelte er darüber nach, was ihm, dem korrekten Sir Neville Fortescue, widerfahren war. Vom Hörensagen wusste er, dass man beim Anblick einer schönen Frau von einem coup de foudre getroffen werden konnte, aber bis zum heutigen Tag hatte er nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Bis er Dianas Salon betrat und mit einem Mal von dem überwältigenden Verlangen gepackt wurde, sie in seinen Armen zu spüren. Weder seine reizende Marie, seine verflossene – und einzige – Geliebte noch irgendeine andere junge Dame hatte je eine derart mächtige Anziehungskraft auf ihn ausgeübt.

Sobald sie ihr Problem gelöst hatten, musste er ihr tunlichst aus dem Weg gehen, um zu vermeiden, dass er sich in einen Lüstling vom Schlage seines Vaters verwandelte.

“Du hast Sir Neville Fortescue ganz allein empfangen?”, klagte Isabella Marchmont. “Wie konntest du nur? Damit setzt du deinen guten Ruf aufs Spiel!”

“Nun, ich werde bestimmt nicht herumerzählen, dass er mich heute Nachmittag besucht hat, und du hoffentlich auch nicht”, antwortete Diana übermütig. “Also wird niemand davon erfahren. Außerdem musste ich ihn unbedingt unter vier Augen sprechen – aus Gründen, die ich dir nicht nennen kann.”

“Aber die Dienstboten!”, rief Isabella. “Die werden mit Sicherheit tratschen. Ich weiß es ja selbst von deiner Zofe.”

“Und wenn ich dir versichere, dass Sir Neville kein einziges Mal die Grenzen des Anstands überschritten hat?”

“Das behauptest du, aber kein Mensch wird dir glauben.”

“Bedeutet sein Ruf als rechtschaffener, stets korrekter Gentleman denn gar nichts?”

“Trotz allem ist er ein Mann!” Isabellas Stimme wurde immer lauter.

“Und wenn schon! Ob du es glaubst oder nicht, wir haben uns so sittsam betragen wie beim Nachmittagstee in einem Pfarrhaus. Zu sittsam für meinen Geschmack. Seine Zurückhaltung hat mich – wie soll ich es ausdrücken? – ein wenig enttäuscht und mir nicht gerade geschmeichelt.”

“Was sagst du da, Kind! Eines Tages wirst du noch zu weit gehen.”

“Zweifellos. Aber vorerst nicht. Falls es Gerede gibt, muss man es einfach ignorieren, dann hört es schon von selbst auf. Heute wollte ich bloß ein bestimmtes Problem mit Sir Neville erörtern. Wenn wir es einmal gelöst haben, werde ich darauf achten, so wenig wie möglich mit ihm zu verkehren.”

“Und in der Zwischenzeit”, warf Isabella in strengem Ton ein, “könntest du ruhig einen deiner vielen Bewunderer zu einem Heiratsantrag ermutigen.”

“Die bewundern wohl eher mein Vermögen.”

“Nicht alle. Ich für meinen Teil finde beispielsweise Lord Alford sehr sympathisch. Er sieht gut aus und hat angenehme Umgangsformen, ist charmant, aufmerksam …”

“Und völlig mittellos”, ergänzte Diana. “Außerdem führt er angeblich ein ziemlich ausschweifendes Leben, was auf die Dauer weder meinem Vermögen noch seinem Aussehen guttun dürfte.”

“Aha, demnach glaubst du die Gerüchte über ihn, während du in deinem Fall erwartest, dass man dich grundsätzlich für unschuldig hält.”

Eine raffinierte Antwort, der Diana nichts entgegenhalten konnte. “Touché, Isabella.” In Wirklichkeit wusste sie von ihren Anwälten, und nicht durch irgendwelche Gerüchte, dass Alford keinen Penny besaß.

Da ihr Schützling eingelenkt hatte, beruhigte sich Isabella einigermaßen. Dennoch beschloss sie, Dianas Onkel Lord Marchmont nach London einzuladen, damit er der eigenwilligen jungen Frau ins Gewissen redete.

Sir Stanford Markham fühlte sich geehrt, dass Sir Neville Fortescue ihn aufsuchte, von dem er so viel Gutes gehört hatte. Allerdings ging die Freude des Richters nicht so weit, dass er seinem Besucher bei seinem Anliegen helfen wollte.

“Heutzutage werden in London tagtäglich Verbrechen verübt, verstehen Sie”, erklärte er. “Da können wir kaum erwarten, dass die Bow Street Runners oder die Konstabler einem Fall nachgehen, für den es möglicherweise eine harmlose Erklärung gibt. Die Mädchen könnten aus vielerlei Gründen davongelaufen sein. Vielleicht glauben sie, dass sie als Dirnen – um es unverblümt auszudrücken – mehr Geld verdienen könnten und weniger arbeiten müssten als in ihrer alten Stellung.”

“Würden Sie etwas unternehmen, wenn drei höhere Töchter unter ähnlichen Umständen verschwänden?”

“Selbstverständlich”, beteuerte Sir Stanford mit einem jovialen Lächeln. Natürlich begriff Sir Neville als Mann von Welt, dass in diesem Fall die Dinge völlig anders lägen. Selbstredend würde man keine Mühe scheuen, um nach vornehmen jungen Damen zu suchen, aber wenn es nur um ein paar Dienstmägde ging …

“Sie haben eine sonderbare Auffassung von Gerechtigkeit”, bemerkte Neville, während er seine Wut mühsam unterdrückte. Schließlich würde es ihm nichts nützen, wenn er diesen dünkelhaften Wichtigtuer beleidigte. “Nun, offensichtlich wollen Sie mir nicht helfen, dieses Rätsel zu lösen. Können Sie mir wenigstens raten, an wen ich mich stattdessen wenden soll?”

“An die Bow Street Runners natürlich”, meinte Sir Stanford seelenruhig. “Aber die werden Ihnen vermutlich dasselbe sagen wie ich, nämlich dass sie ihre Zeit nicht mit Lappalien verschwenden können. Warum setzen Sie sich nicht für eine wichtigere Sache ein?”

“Diese Entscheidung liegt immer noch bei mir”, erwiderte Neville kühl. “Im Augenblick sorge ich mich um Miss Belinda Jesson und um ihren Freund Lemuel Banks, einen sehr tüchtigen und anständigen jungen Mann.”

Dann nahm er seinen Hut, ignorierte das Glas Madeirawein, das Sir Stanford ihm zu Beginn ihres Gesprächs eingeschenkt hatte, und deutete eine Verneigung an. “Guten Tag, Sir. Ich habe noch viel zu tun.”

Auf dem Weg zur Bow Street kochte Neville vor Zorn, weil Sir Stanford die Suche nach den vermissten Mädchen für reine Zeitverschwendung hielt. Wahrscheinlich würden ihm auch die Bow Street Runners ihre Hilfe verweigern, aber er musste es wenigstens versuchen.

Nach längerem Warten wurde er zu einem stämmigen Mann namens Wally Smith vorgelassen, der wie ein ehemaliger Preisboxer aussah.

“Verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Sir Neville. Wie Sie sehen, finden wir vor lauter Arbeit kaum Zeit, unangemeldete Besucher zu empfangen.”

Immer wieder dieselbe Leier. Und nachdem Neville sein Anliegen geschildert hatte, musste er ein weiteres Nein hinnehmen.

“Wer kann mir denn dann helfen?”, fragte er.

“Ich werde Ihnen den Namen und die Adresse eines unserer ehemaligen Ermittler geben”, seufzte Smith. “Er hat auf eigenen Wunsch gekündigt und übernimmt heute immer wieder Fälle, die wir ablehnen. Natürlich kann ich Ihnen nicht versprechen, dass er den Ihren annehmen wird, aber einen Versuch wäre es wert.”

“Gut.”

“Er heißt Jackson”, erklärte Smith, während er etwas auf ein Blatt Papier schrieb und es Neville reichte. “Hier haben Sie seine Adresse. Viel Glück. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann. Machen Sie sich nicht allzu viele Hoffnungen, dass Sie die Mädchen finden werden. In London verschwinden jeden Tag Menschen.”

Jackson wohnte im ersten Stock eines gediegenen Hauses in Chelsea. Auf Nevilles Frage hin bestätigte die Hauswirtin lächelnd, dass Mr. Jackson zu Hause sei, und ging hinauf, um den Besucher zu melden.

Allmählich glaubte Neville selbst, dass er sich auf ein hoffnungsloses Unterfangen eingelassen hatte. Ungeduldig zückte er seine Taschenuhr. Schon längst Zeit fürs Dinner, dabei hatte er seit dem frühen Morgen nichts zu sich genommen. Am liebsten würde er einfach nach Hause fahren, wenn er nicht Lem und der Duchess versprochen hätte, der Sache auf den Grund zu gehen.

Bald kehrte die Hauswirtin zurück. “Mr. Jackson wird Sie empfangen. Die erste Tür rechts, wenn Sie die Treppe hinaufkommen.”

Jackson ähnelte weder Sir Stanford noch dem bulligen Wally Smith. Auf den ersten Blick sah er mit seinem roten Haar und seiner drahtigen Figur überhaupt nicht nach einem hartgesottenen Ermittler aus, doch auf seinem Gesicht lag ein energischer Ausdruck. Als Neville sein Zimmer betrat, das teils als Salon, teils als Arbeitszimmer diente, saß er gerade an seinem abgenutzten Schreibtisch. “Womit kann ich Ihnen dienen, Sir Neville?”, fragte er ohne Umschweife und erhob sich.

Zum dritten Mal an diesem Tag erzählte Neville seine Geschichte. “Ich habe den Fall bereits dem Richter Sir Stanford Markham und den Bow Street Runners vorgetragen”, schloss er, “aber sie wollen mir nicht helfen. Wenigstens hat mir Mr. Smith freundlicherweise Ihre Adresse gegeben, daher wende ich mich nun an Sie. Hoffentlich interessieren Sie sich für das Schicksal der armen Dienstmädchen.”

“Ja”, versicherte ihm Jackson. “Ich befürchte genau wie Sie, dass die drei in ein Bordell verschleppt worden sind, nur wissen wir natürlich nicht, in welches. Zufällig habe ich schon einmal von einem Mann gehört, angeblich aus besten Kreisen, der verschiedenen Bordellwirtinnen auf diese Weise Mädchen zuführt – natürlich gegen Geld. Ihn zu fassen dürfte allerdings schwierig werden. Wenn Sie mir nun bitte das Ganze noch einmal schildern würden, damit ich Zwischenfragen stellen und mir Notizen machen kann. Vieles, was Ihnen vielleicht unbedeutend erscheint, kann mir wichtige Hinweise liefern. Zum Beispiel: Kannten die Mädchen einander? Glauben Sie, dass Ihr Diener Banks auch wirklich die ganze Wahrheit gesagt hat?” Er bot seinem Besucher einen Sessel an und setzte sich wieder.

Dann tunkte er seine Feder in ein Tintenfass. “Bitte sehr, Sir Neville”, forderte er seinen Besucher in geschäftsmäßigem Ton auf. “Und lassen Sie sich Zeit.”

Insgesamt blieb Neville beinahe zwei Stunden bei Jackson. Nach ungefähr einer Stunde klopfte es an der Tür, und die Hauswirtin brachte ein Tablett mit zwei Tassen Tee und Sandwiches.

“Mr. Jackson, ich habe mir erlaubt, Ihnen Ihren üblichen Abendimbiss zu bringen, und auch eine Tasse für Ihren Gast.”

Neville, der mittlerweile mächtig hungrig war, nahm dankbar an. Hin und wieder machte er in seinem Bericht eine Pause, um einen Schluck zu trinken oder einen Bissen zu essen.

Am Ende warf Jackson ihm einen scharfen Blick zu. “Ich werde Ihren Auftrag annehmen, vorausgesetzt, Sie lassen mir völlig freie Hand. Sobald ich etwas Wichtiges erfahre, werde ich Sie per Boten benachrichtigen. In Zukunft sollten Sie mich möglichst nicht mehr zu Hause aufsuchen. Wir werden uns in einfachen Kaffeehäusern treffen, wo uns niemand kennt.”

Plötzlich wurde Neville klar, dass Jackson mehr über die ganze Angelegenheit wusste, als er zugab.

Des Weiteren fragte er sich, ob Sir Stanford und Wally Smith ihn abgewiesen hatten, weil sie aus irgendeinem Grund wollten, dass er die Suche aufgab. Andererseits hatte Smith ihm Jackson empfohlen – doch Jackson gehörte keiner offiziellen Behörde an, daher konnte nichts, was er tat, die Runners oder Sir Stanford belasten.

Nun nahm er sich erst recht vor, die Wahrheit herauszufinden. Solange sich sein Verdacht nicht bestätigt hatte, wollte er der Duchess nichts davon sagen. Aber er würde diesen Gedanken im Hinterkopf behalten.

Während der Heimfahrt entschied er sich dagegen, ihr noch einen Besuch abzustatten. Später am Abend würde er sie sicher bei Lady Jerseys Empfang antreffen. Dann konnte er ihr immer noch die unbefriedigenden Ergebnisse seiner Bemühungen schildern. Nicht einmal sich selbst gegenüber wollte er eingestehen, wie sehr er sich auf das Wiedersehen mit ihr freute. Nein, er besuchte den Ball nur aus reinem Pflichtbewusstsein.

Diana machte sich sorgfältig für den Abend zurecht. Anstelle eines ihrer üblichen weißen Gewänder legte sie ein zartes blassgrünes Ballkleid und dezenten Perlenschmuck an. Dass sie nicht die berühmten Medbourne-Smaragde wählte, die ein abenteuerlustiger Vorfahr im frühen achtzehnten Jahrhundert aus Südamerika mitgebracht hatte, erregte prompt Isabellas Missbilligung.

“Du schuldest es der Familie deines Gatten, dass du ihre wertvollsten Juwelen trägst, meine Liebe. Sonst sieht es so aus, als schämtest du dich, sie zu besitzen.”

“Wenn ich alt und verbraucht bin und sie benötige, werde ich sie tragen. Bis dahin verlasse ich mich ganz auf meine Jugendfrische, den wertvollsten Besitz jeder Frau. Leider verblüht sie nur allzu rasch.”

“Auf was für Ideen du kommst!”, seufzte Isabella. “Junge Damen müssen sich genauso schmücken wie ältere.”

Doch Neville teilte diese Ansicht nicht, als er Diana später den Ballsaal betreten sah. In seinen Augen überstrahlte sie gerade wegen ihrer schlichten Garderobe alle anderen weiblichen Gäste. Ein weiterer Beweis für ihre Klugheit.

Da sich sein Cousin Alford und eine Reihe anderer Herren um sie geschart hatten, widerstand er dem Drang, sofort an ihre Seite zu eilen. Stattdessen wandte er sich Lady Jersey zu, die ihn überschwänglich begrüßte.

“Sir Neville! Welch ungewöhnliche Ehre!”, rief sie strahlend. “Wissen Sie eigentlich, dass man Sie schon auf den Spitznamen ‘der Einsiedler’ getauft hat?”

“Ich versichere Ihnen, Mylady, dieser Spitzname passt ebenso wenig zu mir wie ‘die Schweigsame’ zu Ihnen”, parierte er kühn, denn so pflegte man die redselige Countess in vornehmen Kreisen augenzwinkernd zu nennen. Sie nahm ihm die Bemerkung indes keineswegs übel, sondern lachte darüber. “Sie Schelm! Als Entschädigung müssen Sie mir verraten, ob Sie heute gekommen sind, um die Duchess of Medbourne wiederzusehen. Es geht das Gerücht, der Gentleman, der grundsätzlich mit keiner Dame tanzt, habe sie bei Lady Leominster aufgefordert.”

Demnach gab es bereits Gerede über ihn und die Duchess. Was würde die klatschsüchtige Lady Jersey erst sagen, wenn sie von ihrem privaten Treffen wüsste? Schon bei dem Gedanken graute ihm so sehr, dass er beschloss, sich in Zukunft noch besser vorzusehen.

“Oh, ich möchte heute Abend sämtliche schönen Damen hier bewundern.”

So leicht ließ “die Schweigsame” sich nicht täuschen. “Ach kommen Sie, dieses Märchen erzählen Sie wahrscheinlich jedem, aber wir beide wissen es besser, nicht wahr?”, versetzte sie, indem sie ihm mit ihrem Fächer einen leichten Klaps auf die Schulter gab.

Neville blieb nichts anderes übrig, als sich lächelnd zu verneigen und weiterzugehen, da hinter ihm eine lange Schlange von Neuankömmlingen darauf wartete, der Gastgeberin ihre Aufwartung zu machen.

Wenn man wirklich schon über ihn und Diana tratschte, musste er noch eine Weile warten, ehe er sie ansprach. Ob sie sich wohl ihrerseits nach ihm umsah? Wahrscheinlich nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr mehr bedeutete als irgendein anderer der hier anwesenden Gentlemen.

Zufällig irrte er sich. Diana ließ mehrmals den Blick durch den Ballsaal schweifen, bis sie ihn endlich entdeckte. Ruhig und unauffällig stand er hinter einer Gruppe von Matronen, die ihre heiratsfähigen Töchter beaufsichtigten. Das heißt, unauffällig für die meisten anderen Gäste, denn Diana wurde plötzlich klar, dass sie ihn selbst in dem größten Gedränge sofort finden würde. Erstaunlicherweise erinnerte sie sich noch an jedes Detail seiner Gesichtszüge. Ebenso an sein kastanienbraunes Haar und seine grünen Augen, die so prachtvoll zu den Medbourne-Smaragden passen würden. Nur dass Männer natürlich keinen solchen Schmuck trugen.

Mit wachsender Ungeduld wartete sie darauf, dass er endlich zu ihr herüberkam. Den Anstandsregeln gemäß durfte sie leider nicht von sich aus auf ihn zugehen. Einen Augenblick lang erwog sie, sich wieder einmal über die Konventionen hinwegzusetzen. Dann entschied sie sich dagegen, da sie nicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihre Verbindung lenken wollte.

Während all diese Gedanken sie beschäftigten, ging das charmante Geplauder Lord Alfords, der an ihr hing wie eine Klette, völlig an ihr vorbei. Gerade erzählte er ihr von einer geplanten Bootsfahrt auf der Themse mit anschließendem Picknick irgendwo am Ufer. “Bitte versprechen Sie mir, dass Sie und Mrs. Marchmont auch mitkommen”, endete er.

Eigentlich hatte sie wenig Lust dazu, aber nach einem Blick auf Isabellas freudig erregte Miene änderte sie ihre Meinung. Sie konnte ihrer Gesellschafterin ruhig auch einmal einen Gefallen tun, schließlich musste diese sich oft genug nach ihrem Willen richten.

“Aber ja”, antwortete sie. “Wir nehmen Ihre Einladung gerne an, nicht wahr, meine Liebe?”

“Vorausgesetzt, das Wetter spielt mit”, ließ sich Mrs. Marchmont vernehmen.

“Natürlich wird es das”, rief George, der kaum auf eine Zusage gehofft hatte. “Wenn zwei solche Zierden der Gesellschaft einen Ausflug unternehmen wollen, darf es doch nicht regnen!”

In diesem Stil redete er noch eine ganze Weile lang weiter, bis ihm glücklicherweise einfiel, dass er sich um zwölf Uhr im Salon mit einem seiner Freunde treffen sollte. Da verabschiedete er sich so übertrieben galant von ihnen wie eine komische Figur aus einer Gesellschaftskomödie.

Kurz darauf erschien eine alte Freundin von Isabella. Während die beiden älteren Damen in Erinnerungen an ihre gemeinsame, längst verflossene Jugend schwelgten, bemerkte Diana, dass Neville auf sie zukam.

Gleichzeitig näherte sich Prinz Adalbert von Eckstein Halsbach, der sie in letzter Zeit ziemlich aufdringlich umwarb, obwohl sie ihm regelmäßig eine Abfuhr erteilte. Heute Abend wollte sie ihm unter allen Umständen aus dem Weg gehen, also beschloss sie, ganz zwanglos in Nevilles Richtung zu schlendern. Solange es aussah, als begegneten sie einander rein zufällig, verletzte sie die Anstandsregeln nicht.

“Euer Gnaden”, begrüßte Neville sie, als sie einander trafen. “Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, ja, ich hatte sogar gehofft, dass Sie diesen Ball besuchen würden.”

“Oh, unbedingt, Sir Neville. Bei Lady Jersey begegnet man immer so interessanten Leuten.”

Jeder, der in ihrer Nähe stand, konnte hören, dass sie bloß die üblichen leeren Floskeln wechselten. “Soviel ich weiß, hat Lady Jersey im Chinesischen Salon ihre kostbare Porzellansammlung ausgestellt”, fuhr er in lässigem Ton fort. “Vielleicht möchten Sie sie gemeinsam mit mir besichtigen?”

“Mit dem größten Vergnügen. Ich schwärme für Porzellan.”

Im Zimmer angekommen, setzte Neville mit bewusst lauter Stimme zu einem Vortrag über die schönen Stücke in den Vitrinen an, damit sie vor den anderen anwesenden Paaren wie harmlose Kunstinteressierte wirkten. Doch sobald sie allein waren, fasste er für Diana die Ergebnisse seiner heutigen Gespräche zusammen.

“Im Grunde habe ich also nicht viel erreicht”, bemerkte er abschließend. “Aber Jackson macht einen hartnäckigen Eindruck. Er wird jede Spur verfolgen.”

“Finden Sie es nicht sonderbar, dass Sir Stanford sich rundheraus weigert, den Fall zu übernehmen?”, erkundigte sich Diana scharfsinnig.

“Er hat ausdrücklich bestätigt, dass er sich anders entschieden hätte, falls junge Damen aus vornehmen Familien vermisst würden.”

“Was für eine üble Einstellung! Man sollte doch meinen, dass ein Dienstmädchen genauso wie ich den Schutz des Gesetzes genießt.”

“Genau das habe ich ihm auch gesagt.” Je besser Neville diese bezaubernde, kluge und gütige Frau kennenlernte, desto mehr wuchs seine Bewunderung. Er spürte, wie sie ihn zunehmend in ihren Bann zog. Bisher hatte er sich viel auf seine unerschütterliche Selbstbeherrschung zugutegehalten, gerade im Umgang mit dem schönen Geschlecht, doch mit Diana konnte er kaum über ein unverfängliches Thema wie Porzellan sprechen, ohne dass sein Blut in Wallung geriet. Was würde erst geschehen, wenn er einmal Walzer mit ihr tanzte?

Zu seiner Erleichterung kamen in diesem Augenblick wieder neue Gäste ins Zimmer, sodass er seinen Stegreifvortrag fortsetzen musste. Zuvor aber versicherte er Diana leise, dass er dem Verschwinden der drei Mädchen auf den Grund gehen würde. Die junge Frau schätzte ihn umso höher, weil er sich für Menschen von bescheidenem Stand einsetzte. Beiden tat es leid, dass sie sich nun wieder trennen mussten, um kein Aufsehen zu erregen.

Nachdem er sie zu ihrer Anstandsdame zurückgebracht hatte, raunte diese tadelnd: “Was sollen die Leute von dir denken? Erst gehst du auf Sir Neville zu, und dann ziehst du dich auch noch mit ihm in ein Nebenzimmer zurück!”

“Aber Isabella”, antwortete Diana in aller Unschuld. “Bestimmt wird niemand es unschicklich finden, wenn wir gemeinsam Lady Jerseys Chinesischen Salon besichtigen. Immerhin haben sich dort noch mehrere andere Gäste aufgehalten. Sir Neville hat mir viele interessante Dinge über die Geschichte und die Herstellung von Porzellan erzählt.”

Als Neville die Duchess verließ, trat George ihm in den Weg, um ihn zur Rede zu stellen. “Gehe ich recht in der Annahme, dass du um die Gunst der schönen Diana wirbst, Neville? Muss ich dich als Rivalen betrachten?”

“Falls du Gespräche über gemeinsame Interessen als Werben bezeichnest, lautet die Antwort Ja.”

“Du weißt genau, was ich meine! Hegst du ihr gegenüber ehrliche Absichten?”

“Und du?”, fuhr Neville seinen Cousin wütend an. “Was kannst du ihr bieten, abgesehen von deinem Namen und einem hohen Schuldenberg?”

George traute seinen Ohren nicht. Solch eine scharfe Antwort hätte er von dem ruhigen, stets diplomatischen und nachsichtigen Neville niemals erwartet.

“Nun, ich besitze einen Adelstitel und ein herrschaftliches Anwesen.”

“Dein Landsitz ist in völlig verfallenem Zustand und deine Stadtresidenz ebenso. Du verkehrst zwar in den vornehmsten Kreisen Londons, empfängst aber selbst niemals Gäste.”

“Ach ja? Zufällig gebe ich demnächst ein Picknick für meine Freunde, an dem auch die Duchess teilnehmen wird.”

“Genau das meine ich”, warf Neville ein. “Du lädst immer nur zu Vergnügungen ein, die dich wenig kosten. Mit welchem Recht verlangst du von mir, dass ich dir Rechenschaft über meine Gefühle für die Duchess ablege? Und nun musst du mich entschuldigen, ich habe heute Abend noch eine Verabredung”, fügte er hinzu und deutete eine knappe Verneigung an. Dann ließ er seinen verblüfften Cousin einfach stehen.

So unfreundlich kannte George ihn gar nicht. Eigentlich hatte er am folgenden Morgen Fortescue House aufsuchen und Neville um ein kleines Darlehen bitten wollen, aber nun musste er sich das noch einmal gut überlegen. Andererseits bedrängten seine Gläubiger ihn in letzter Zeit so sehr, dass er es wohl riskieren musste.

Plötzlich schoss ihm durch den Kopf, dass sein Cousin an diesem Abend ungewöhnlich elegant aussah. Hatte er sich etwa eigens für die Duchess of Medbourne in Schale geworfen? Hoffentlich nicht!

Dennoch trieb dieser Gedanke George dazu an, sich schleunigst wieder zu der jungen Dame zu gesellen. Nach kurzem Suchen entdeckte er sie im Speisezimmer, an der Seite Mrs. Marchmonts. Er behandelte das alberne alte Frauenzimmer immer betont freundlich, da eine Anstandsdame eine wertvolle Verbündete abgeben konnte – aber wahrscheinlich hörte Diana ohnehin nicht auf Isabella.

Beim Souper wurde Diana immer deutlicher bewusst, dass sie Nevilles Gesellschaft der seines Vetters eindeutig vorzog. Obwohl sie höflichkeitshalber tat, als höre sie George zu, während sie verschiedene Köstlichkeiten vom Büfett probierte, schweiften ihre Gedanken ständig ab. Beispielsweise zu den angenehmen, wenn auch kurzen Momenten, die sie mit Neville in dem Chinesischen Salon verbracht hatte.

Selbst als sie ganz allein waren, hatte er sich wie ein vollkommener Gentleman betragen, was man von ihren bisherigen Bewunderern nicht behaupten konnte. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Männern interessierte er sich für viele unterschiedliche Dinge. Auf jeden Fall wusste er eine Menge über Porzellan.

Anscheinend hatte sie diesen letzten Gedanken unwillkürlich laut ausgesprochen, denn George stutzte und erkundigte sich: “Wie bitte? Wer weiß eine Menge über Porzellan?”

Diana errötete. “Ihr Cousin, Sir Neville Fortescue. Wussten Sie, dass ein Teil der Jersey-Sammlung einst Katharina der Großen gehörte?”

“Oh, darüber hat er sich also mit Ihnen unterhalten”, rief er lachend. “Hat er Sie mit einem seiner öden Vorträge geplagt? Der Gute kennt sich auf allen Gebieten aus.”

“Immer noch besser als völlige Ignoranz”, entgegnete sie in recht scharfem Ton. “Bei seiner Tätigkeit im Parlament profitiert er zweifellos von seiner Bildung.”

“Aber man langweilt sich schrecklich mit ihm, geben Sie’s ruhig zu.”

Diana verkniff sich die hitzigen Worte, die ihr auf der Zunge lagen. Schließlich wollten sie und Neville nicht den Eindruck erwecken, dass sie auf freundschaftlichem Fuß miteinander standen.

Da George ihr Schweigen als Zustimmung auffasste, schöpfte er neue Hoffnung. Anscheinend standen seine Chancen bei ihr doch nicht so schlecht. Wenn sie seinen Heiratsantrag einmal angenommen hatte, musste er zwar noch mit ihren Anwälten fertig werden, aber wozu trug er einen dreihundert Jahre alten Adelstitel? So etwas zählte, ganz gleich, was sein Cousin behauptete.

Alles in allem ein sehr erfolgreicher Abend.

Das fand Neville auch, allerdings aus anderen Gründen. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte Diana seine Gesellschaft wirklich genossen. Heute zahlte es sich aus, dass er als Kind so viel Zeit in der Töpferfabrik seines Großonkels verbracht und den langatmigen Vorträgen des alten Mannes aufmerksam zugehört hatte.

Während er in Lady Jerseys Eingangshalle auf seine Kutsche wartete, kam Lord Burnside auf ihn zu, der vor längerer Zeit einmal mit ihm in einem parlamentarischen Ausschuss gesessen hatte.

Lord Burnside warf ihm ein unerwartet herzliches Lächeln zu. “Fortescue! Das trifft sich gut. Ich wollte Sie schon den ganzen Abend sprechen, konnte Sie aber in dem Gedränge nicht finden. Wissen Sie, vergangene Woche hat mir Ihre Rede im Unterhaus, in der Sie die Not der Textilarbeiter und Bauern in den Midlands schilderten, sehr gut gefallen. Ich stimme Ihnen zu – wenn wir nicht rechtzeitig etwas unternehmen, wird in unserem schönen Land noch eine Revolution ausbrechen.”

Da Neville große Achtung vor Lord Burnside hatte, erfreute ihn dessen Lob ganz besonders. “Sehr freundlich von Ihnen, Mylord”, bedankte er sich. “Mit den einflussreichen Männern im Parlament habe ich es mir verdorben, fürchte ich. Keinen von ihnen berührt das Leid der vielen Armen, die für uns arbeiten. Ich aber glaube, dass wir uns dringend bemühen müssen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Sonst drohen uns, wie Sie sagen, ähnliche Wirren wie in Frankreich nach 1789.”

“Mutig und ehrenhaft gesprochen. Wenn Sie allerdings weiterhin zu Reformen aufrufen, werden Sie unter Umständen nie so weit aufsteigen, wie Sie es mit Ihren Fähigkeiten könnten.”

“Ich tue nur, was ich für meine Pflicht halte.”

“Schade, dass es nicht mehr Männer wie Sie gibt, Fortescue. Ich würde mich gerne noch länger mit Ihnen unterhalten, aber meine Kutsche fährt gerade vor. Gute Nacht, und bleiben Sie sich treu!”

Verblüfft fragte sich Neville, was das alles zu bedeuten hatte. Normalerweise pflegte niemand ihn so überschwänglich zu loben, und außerdem kannte er Lord Burnside ja kaum. Wahrhaftig, in letzter Zeit nahm sein Leben eine sonderbare Wendung. Wenn er beispielsweise an seine neue Freundschaft mit Diana und an ihre gemeinsame Suche nach den vermissten Dienstmädchen dachte … Hoffentlich würde Jackson ihm bald etwas zu berichten haben.

3. KAPITEL

Wenige Tage später, als Neville die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hatte, erhielt er per Boten eine kurze Nachricht von Jackson.

“Ich habe wichtige Informationen für Sie. Treffen wir uns heute Nachmittag um drei Uhr in The Turk’s Head, dem Kaffeehaus in der Bruton Street. J.”

Endlich! Am Abend zuvor hatte er Diana auf dem Ball der Cowpers sagen müssen, dass es noch keine Neuigkeiten gab. Zu diesem Zweck hatte er sie zu einem der ersten Tänze aufgefordert. Keinem Walzer, wohlgemerkt.

“Mit jedem Tag, der vergeht, schweben die Mädchen in größerer Gefahr”, stellte sie fest.

“Ich muss Jackson vertrauen”, erwiderte Neville, dem es in ihrer Gegenwart schwerfiel, sich zu konzentrieren. Je häufiger er sie traf, desto stärker erregte sie seine Leidenschaft. Sogar ihr gesunder Menschenverstand betörte ihn, besonders wenn er beobachtete, wie sie vor anderen Leuten die Frivole spielte. Nur ihm gegenüber legte sie diese Maske ab.

Am vereinbarten Nachmittag begab er sich unauffällig gekleidet zu seinem Treffen mit Jackson. Er kannte The Turk’s Head vom Hörensagen, aber vornehme Gentlemen pflegten solche heruntergekommenen Orte nicht zu besuchen. Höchstwahrscheinlich würde ihn dort also niemand kennen. Gleich beim Eintreten entdeckte er Jackson an einem abgelegenen Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee.

Sobald Neville Platz genommen und ebenfalls einen Kaffee bestellt hatte, begann der Ermittler mit seinem Bericht, dem er einen warnenden Hinweis vorausschickte. “Dieser Fall wird schwieriger werden, als ich dachte. Von einem meiner Informanten habe ich gehört, dass es zwei Freudenhäuser gibt, die auf Wunsch Jungfrauen anbieten. Zumindest ein Teil dieser Mädchen wurde gegen ihren Willen dorthin verschleppt. So weit, so gut. Aber danach stieß ich gegen eine Mauer des Schweigens. Mein Informant weigerte sich, mir die Namen der Entführer oder ihrer Kunden zu nennen, weil er buchstäblich um sein Leben fürchtete. Nur eines steht fest: In dieses schmutzige Geschäft sind eine Reihe hoher Persönlichkeiten verwickelt. Ich weiß, dass ein paar mittellose Herren aus vornehmen Kreisen den Bordellwirtinnen und deren Zuhältern gegen Bezahlung Hinweise geben, wo sie geeignete Mädchen finden können.

Als ich mich unter den Vertretern des Gesetzes umhörte, stieß ich ebenfalls auf Widerstand, was meinen ursprünglichen Verdacht bestätigte. Nun ahnen Sie vielleicht, weshalb Sir Stanford und die Bow Street Runners Ihnen nicht helfen wollten.

Und es gibt noch ein weiteres Problem: Einige dieser Bordelle dienen nebenbei als Schlupfwinkel für Verschwörerbanden, die die gegenwärtige Regierung stürzen und eine Revolution wie in Frankreich anzetteln wollen. Auch aus diesem Grund werden alle Informationen über diese Häuser so streng geheim gehalten. Solange die Spione des Innenministeriums wissen, wo die Möchtegernverräter sich verstecken, können sie sie im Auge behalten. Aber wer weiß, wohin diese Burschen sich verziehen würden, wenn plötzlich die Konstabler die Bordelle nach entführten Mädchen durchsuchen”, schloss der Ermittler seinen Bericht.

“Vorhin deuteten Sie an, dass Jungfrauen besonders begehrt sind. Hängt das etwa mit dem Aberglauben zusammen, dass der Beischlaf mit einer Jungfrau Geschlechtskrankheiten heilen kann?”

“Unter anderem, ja. Ich habe Ihnen die Namen der beiden Freudenhäuser, wo unsere drei Mädchen möglicherweise festgehalten werden, aufgeschrieben. Nun müssen Sie entscheiden, wie es weitergehen soll.”

Neville nahm den Zettel, den Jackson ihm zuschob. “Ich werde Sie später für Ihre Dienste entlohnen, nicht hier. Wenn ich Ihre Hilfe noch einmal benötige, werde ich nach Ihnen schicken.”

Plötzlich erstarrte Jackson. “Gerade habe ich einen Mann gesehen, der mir bekannt vorkommt. Wir sollten jetzt gehen.”

“Nichts lieber als das”, versetzte Neville, der es selbst nicht für klug hielt, noch länger an diesem öffentlichen Ort zu bleiben.

Lord Alford erwachte an diesem Morgen mit heftigen Kopfschmerzen und fühlte sich erst am späten Vormittag wohl genug, um aufzustehen. Inzwischen bereute er, dass er sich am Vorabend von ein paar Freunden dazu hatte überreden lassen, eine Spielhölle am Haymarket zu besuchen. Anstatt endlich einmal zu gewinnen, hatte er seinen letzten Penny verspielt, was er sich wirklich nicht leisten konnte. Nicht solange er sich in den Fängen eines Mannes befand, den er einst für seinen Freund gehalten hatte.

Es half alles nichts, er musste seinen Cousin bitten, ihm Geld zu borgen, und zwar so viel wie möglich. In der Zwischenzeit dürfte Neville sich wieder beruhigt haben, dachte George, als er gegen Nachmittag an die Tür von Fortescue House klopfte.

Zu seiner Enttäuschung teilte der Butler ihm mit, Sir Neville sei in wichtigen Geschäften ausgegangen und werde erst spät zurückerwartet. Selbstverständlich werde er seinem Herrn ausrichten, dass Lord Alford ihn sprechen wolle. So musste George unverrichteter Dinge wieder gehen – zu Fuß, da er sich nicht einmal eine Droschke leisten konnte.

Durch die Bewegung verschlimmerten sich seine Kopfschmerzen so sehr, dass er beschloss, The Turk’s Head aufzusuchen, ein zwielichtiges Kaffeehaus, in dem er anschreiben lassen konnte. Zumindest hatte man es ihm bis heute immer erlaubt. Heute jedoch erklärte der Kellner entschuldigend, er dürfe Seiner Lordschaft nichts mehr servieren, bis dieser seine bislang angefallenen Schulden beglichen habe. Es ging um eine beträchtliche Summe, weit mehr, als George an Kleingeld bei sich trug. Fieberhaft ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Kannte er hier irgendjemanden, von dem er eine Tasse Kaffee schnorren konnte?

Da entdeckte er plötzlich keinen anderen als Neville an einem der Tische. Er trug schlichte, abgetragene Kleidung, genau genommen sah er wie ein einfacher Büroschreiber aus. Ihm gegenüber saß ein verschlagen wirkender Bursche, in dem George sofort Jackson wiedererkannte, einen ehemaligen Bow Street Runner. Vor einiger Zeit hatte der Mann dafür gesorgt, dass einer seiner Freunde wegen Betruges lebenslänglich nach Australien deportiert wurde.

Was wollte Neville von Jackson? Warum traf er sich mit einem privaten Ermittler, noch dazu in dieser Aufmachung? Das wollte George zu gerne wissen. Kurz entschlossen ging er zu seinem Cousin hinüber und klopfte ihm von hinten auf die Schulter. “Na so etwas! Dass ich dich hier finde! Dein Butler hat gesagt, du gingest wichtigen Geschäften nach.”

Neville fuhr herum. “Das stimmt auch, George”, erklärte er, indem er seinen Schreck geistesgegenwärtig überspielte. “Angelegenheiten des Parlaments. Streng vertraulich, kann ich dir versichern.”

Genau wie er erwartet hatte, traute George ihm eine Lüge gar nicht zu. “Schon verstanden, alter Junge”, raunte er verschwörerisch. “Ich werde schweigen wie ein Grab. Aber könntest du mich vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen? Stell dir vor, ich habe heute glatt meine Brieftasche zu Hause liegen lassen.”

“Natürlich. Mit Vergnügen”, log Neville erneut. “Nimm Platz. Sie haben doch nichts dagegen, dass Lord Alford sich zu uns setzt, oder, Mr. Jackson?”

“Ganz und gar nicht”, antwortete Jackson, dem die Geschichte mit der Brieftasche wie eine faule Ausrede vorkam. Vielleicht konnte Seine Lordschaft sich den Kaffee schlichtweg nicht leisten?

Während Neville eine neue Runde Kaffee bestellte, ließ George sich am Tisch nieder und beäugte seinerseits Jackson mit scheelem Blick. “Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre”, begann er, “aber arbeiten Sie nicht für die Bow Street Runners? Ich kenne Sie doch, Sie haben damals gegen Louis Frankland ermittelt.”

“Heute arbeite ich nicht mehr für sie”, erklärte Jackson. “Ich habe mich zur Ruhe gesetzt, nicht wahr, Sir Neville?”

“Ja, in der Tat.” Neville hätte jede beliebige Behauptung bestätigt, um Georges Argwohn zu zerstreuen, denn er kannte das lockere Mundwerk und die lockere Moral seines Cousins. Auf keinen Fall durfte er die Wahrheit erfahren.

Letztendlich trank George drei Tassen Kaffee statt einer. Nachdem Jackson sich verabschiedet hatte, unterhielten sich die beiden Vettern noch eine Weile über belanglose Themen, bis Neville aufstand und verkündete, er müsse nun nach Hause.

George fasste ihn beim Arm. “Hör mal, ich frage dich das höchst ungern, aber könntest du dich unter Umständen dazu durchringen, mir ein paar Hundert Guineas zu leihen? Mir steht zurzeit das Wasser bis zum Hals.”

Als Neville seinen Cousin und Jugendfreund betrachtete, in dessen Gesicht die Ausschweifungen bereits erste Spuren hinterließen, empfand er plötzlich nur noch Traurigkeit. Beging er nun einen größeren Fehler, wenn er ihm das Geld gab oder wenn er es ihm verweigerte? Nach kurzem Zögern öffnete er seine Brieftasche. “Muss ich dich daran erinnern, dass du dir schon drei Mal ein paar Hundert Guineas von mir geborgt und sie noch nicht zurückgezahlt hast? Wenn ich glauben könnte, dass es dir irgendeinen Nutzen bringt, würde ich dir gerne aushelfen. Aber du würdest das Geld wahrscheinlich noch heute Abend irgendwo verspielen. Hier, das dürfte für eine Droschke genügen.”

“Du warst schon immer ein scheinheiliger Mistkerl, Neville, schon als Kind!”, stieß George mit zornrotem Gesicht hervor. “Gut, ich nehme dein Geld, und ich bedanke mich auch für den Kaffee. In Zukunft werde ich dich nie wieder belästigen.”

Neville legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. “Würde es dir wirklich so schwerfallen, deinen Lebenswandel zu ändern? Wenn du das nicht tust, wirst du bald im Schuldnergefängnis landen.”

“Als ob dich das bekümmern würde!”, fuhr George ihn an und stürmte davon. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er Neville je wieder um Hilfe bat! In seinem Zorn bedachte er gar nicht, wie viele Male er sich das schon geschworen hatte.

Bekümmert sah Neville ihm hinterher. Offenbar wollte George sich nicht von seinem verderblichen Weg abbringen lassen. Dasselbe Verhalten hatte er einst an seinem Vater beobachtet, und schon damals hatte er erkannt, dass nichts und niemand einen solchen Mann retten konnte.

Erst zu Hause, nachdem er sich umgezogen hatte, gelang es Neville, sich von seinen Sorgen um seinen Cousin abzulenken. In Gedanken ging er noch einmal durch, was er von Jackson erfahren hatte. Für George gab es vielleicht keine Hoffnung mehr, aber für die entführten jungen Frauen schon.

Nach einer Weile läutete er nach Lem.

“Sie wünschen mich zu sprechen, Sir?”, fragte der junge Diener besorgt, als er eintrat.

“Ja. Sicher kannst du dir schon denken, weshalb.”

Lems Miene hellte sich auf. “Gibt es Neuigkeiten über Belinda?”

“Leider nein, jedenfalls haben wir sie noch nicht gefunden”, antwortete Neville ernst. “Wie es aussieht, werden sie und die anderen Mädchen in irgendeinem Bordell gefangen gehalten.”

“Heißt das, ich werde Belinda niemals wiedersehen?”, stammelte Lem. “Können wir denn gar nichts tun, Sir?”

“Ich wüsste schon eine Möglichkeit”, bekannte Neville. “Aber bevor ich dich einweihe, musst du mir folgende Frage ehrlich beantworten. Wenn du dich an meinem – zugegebenermaßen waghalsigen – Plan beteiligst, läufst du Gefahr, verhaftet zu werden. Das heißt, falls wir scheitern. Bist du bereit, dieses Risiko auf dich zu nehmen?”

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