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Aussicht auf ein neues Morgen

Als Buch hier erhältlich:

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Drei Frauen, drei Träume ... und nicht alle davon können wahr werden

Hanna zieht Mitte der Siebzigerjahre nach Ost-Berlin, um eine Stelle beim Postamt im Fernsehturm anzutreten. Dort lernt sie Trudi und Babs kennen. Jede von ihnen hat ganz unterschiedliche Erwartungen und Hoffnungen für das Leben in der Großstadt.

Trudi, die erfahrenste und aufmüpfigste unter den Frauen, ist nach Ost-Berlin gekommen, um endlich einen Weg in die westliche Freiheit zu finden. Babs die in einem kleinen Dorf aufgewachsen ist leidet an Heimweh. Erst als sie auf den jugoslawischen Gastarbeiter Miro trifft, fühlt sie sich immer wohler.

Und Hanna lernt den rebellischen Musiker Peter kennen und fühlt sich von seiner offenen Art immer mehr angezogen. Doch mit seiner systemkritischen Einstellung gerät er ins Auge der Staatssicherheit. Kann die aufblühende Liebe das überstehen?


  • Erscheinungstag: 25.06.2024
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907274
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Mutter.
Danke für deine Geschichte und für vieles mehr!

Hanna – Spätsommer 1976

Durch den Sucher ihrer Kamera ragte der Berliner Fernsehturm vor ihr imposant in die Höhe. Mit Fingerspitzengefühl stellte Hanna die Linse scharf, während sie sich die Nase am klobigen Gehäuse platt drückte. Die rot-weiß gestreifte Spitze des Turms passte nicht ganz aufs Bild, egal wie sehr sie den Winkel auch zu verändern versuchte. Sie drückte den Auslöser. Für den Bruchteil einer Sekunde öffnete sich die Blende, und das stolze Monument der noch jungen sozialistischen Republik wurde in Schwarz-Weiß auf Zelluloid gebannt.

Zufrieden ließ Hanna die Kamera sinken – das Abschiedsgeschenk ihres Vaters. Bevor sie in Greifswald in den Zug gestiegen war, hatte er ihr im Bahnhof ein Päckchen überreicht. Voller Neugier hatte sie es sogleich geöffnet und war ihm um den Hals gefallen, als sie die »Praktica« darin entdeckte. Eine Träne hatte sie ebenfalls verdrückt, die jedoch gar nicht weiter aufgefallen war. Denn schon als sie den Bahnsteig betreten hatte, sah sie nur noch verschwommen durch ihren Tränenschleier.

Aber nicht nur der Abschied von ihrem Vater war ihr schwergefallen. Sie hatte in diesem Moment auch an ihre Mutter denken müssen, die sechs Jahre zuvor von ihnen gegangen war. Oft merkte sie an den kleinen Dingen, dass sie ihre Mutter noch immer vermisste. Auch ihr hätte sie gerne an diesem Tag Lebewohl gesagt. Hanna hätte sie ebenfalls in den Arm nehmen wollen, sie dem Zug hinterherwinken sehen und im Abteil ein Stullenpaket auspacken wollen, das ihre Mutter ihr zuvor liebevoll geschmiert hätte. Doch so hatte sie sich nur von ihrem Vater verabschieden können, der ihr bei der letzten Umarmung noch einen Apfel für die Fahrt in die Jackentasche steckte.

Die Tränen waren während der Zugfahrt getrocknet. Die Vorfreude, die sie in den letzten Wochen kaum hatte schlafen lassen, gewann schnell wieder die Oberhand. Die Gedanken an ihre Mutter waren ebenso weitergewandert wie die Wolken am Himmel, der durch das Abteilfenster an ihr vorbeizog. Denn morgen schon würde sie genau hier, am Fuße des Fernsehturms, in dem kleinen Postamt ihre Stelle antreten. Sie konnte es kaum erwarten.

Beschwingt nahm sie ihren Koffer in die Hand, den sie neben sich abgestellt hatte, und eilte zur Straßenbahnhaltestelle. Die Kamera baumelte dabei an einem Band um ihren Hals. Etwas ratlos blieb sie vor dem Fahrplan stehen. Rote, schwarze, grüne Linien zogen sich auf der Karte wie Adern durch eine Stadt, die größer war als jede andere Stadt, die sie je zuvor besucht hatte. Gegen Berlin war Greifswald geradezu beschaulich und übersichtlich. Man traf sich im Konsum, an der Wache der Freiwilligen Feuerwehr oder in der Eckkneipe. Jeder kannte jeden oder zumindest war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man einander über mehrere Ecken kannte.

Freundlich wandte Hanna sich dem Mann zu, der neben ihr stand. Er trug eine blaue Latzhose, seine Alu-Brotdose hatte er unter den Arm geklemmt. »Entschuldigen Sie! Können Sie mir helfen?«

Mürrisch drehte der Mann sich um. »Seh ick aus wie die Auskunft?«

»Oh, nein, aber … Ich wollte nur wissen«, stotterte Hanna überrascht. Mit so viel Unfreundlichkeit hatte sie nicht gerechnet.

Der Mann winkte ab. »Schon jut! Wo müssen Se denn hin, Fräulein?«

Hanna versuchte, sich in ihrer Heiterkeit nicht beirren zu lassen, und lächelte wieder. Sie hatte von der etwas eigentümlichen Berliner Art schon gehört. »Ich muss nach Hohenschönhausen. In den Clara-Zetkin-Weg …« Sie kramte aus ihrer Rocktasche einen Zettel hervor und vergewisserte sich noch einmal der korrekten Hausnummer. »12c. Dort beziehe ich mein neues …«

»Dit is janz leicht zu finden«, unterbrach der Mann sie ungeduldig. Er war zwar gewillt, ihr zu helfen, an ihrer Lebensgeschichte hatte er jedoch offensichtlich keinerlei Interesse. »Da müssen Se die Vier nehmen. Rausfahren bis zur Leninallee, dann umsteigen inne Sechs, und wenn Se den Horizont vor lauter Beton nich mehr sehn, sind Se da.«

Hannas mehr als irritierten Blick bemerkte der Mann nicht mehr. Denn er hatte sich bereits umgedreht und stieg in die Straßenbahn, die gerade einfuhr. Es war die Linie, von der er gerade gesprochen hatte, im letzten Moment sprang Hanna in den Waggon.

Alle Sitzplätze waren belegt. Als die Bahn sich in Bewegung setzte, klammerte Hanna sich etwas umständlich an die Haltestange, die an der Waggondecke angebracht war. Dabei musste sie sich ganz schön strecken – für kleinere Menschen wie sie war die Stange viel zu hoch angebracht. Im Rückfenster der Straßenbahn sah sie, wie der Fernsehturm immer kleiner wurde. Jetzt würde er vermutlich aufs Bild ihrer Kamera passen.

Die Fahrt führte sie durch das sprudelnde Zentrum der Stadt. Die prächtigen Paradestraßen waren breit und baumgesäumt. Dichter Verkehr schlängelte sich darauf. Hanna hatte noch nie so viele Autos, Motorräder und Fahrräder auf einem Fleck gesehen. Überall hupte, knatterte und klingelte es. Die Bürgersteige waren belebt von Arbeiterinnen und Arbeitern, die nach Feierabend auf ihrem Weg nach Hause waren, von Kindern in Jungpionier-Uniformen sowie alten Herrschaften, die auf Bänken sitzend das Treiben auf der Straße mit Argusaugen beobachteten. In den Schaufenstern der vorbeiziehenden HO-Geschäfte wurden allerlei Waren angeboten, die man im heimatlichen Konsum vergebens suchte. Modische Kleidung, Elektronikgeräte, Delikatessen aus dem sozialistischen Ausland, hier schien es all das zu geben, was das hart arbeitende Konsumentenherz begehrte.

An der Leninallee stieg Hanna in die Sechs um. Das Stadtbild änderte sich allmählich. Die mehrstöckigen Mietshäuser, trotz teils prekären Bauzustands überaus stattlich, stammten nicht mehr aus der Vorkriegszeit. Am Rand der Stadt war man dabei, neue Bleiben für die Bürger aus dem Boden zu stampfen. Noch immer herrschte in der Deutschen Demokratischen Republik Wohnungsknappheit, obwohl der Krieg schon drei Jahrzehnte zurücklag. Wie klobige Pilze wuchsen praktische Plattenbauten in die Höhe, ohne Schnörkel, Zierde oder überflüssiges Beiwerk. Wie Bauklötze standen sie aufgereiht nebeneinander.

Als die Bahn die Endstation erreichte, stieg sie aus und blickte sich etwas unschlüssig um. Die Haltestelle, die mitten in einer dieser neuen Wohnbausiedlungen lag, war wie leergefegt, weshalb sie schließlich mit ihrem Koffer in der Hand einfach losstiefelte, in der Hoffnung, nicht in die vollkommen falsche Richtung zu laufen.

Nachdem sie an zahlreichen etwas niedrigeren Wohnblöcken vorbeigelaufen war und einige Nebenstraßen überquert hatte, erreichte sie den Clara-Zetkin-Weg. Vor der Nummer zwölf blieb sie stehen. Es war ein breiter Plattenbau, hinter dem die Abendsonne beinahe gänzlich verschwand. Hanna schaute hoch, zählte die Etagen. Elf Stockwerke waren es. Das Haus hatte drei Aufgänge, an den ersten beiden ging Hanna vorbei. Vor dem letzten Aufgang stand ein Mädchen in Hannas Alter. Ihre roten Haare waren zu einem langen Zopf geflochten, der über ihre Schulter hing. Ihr sommersprossiges Gesicht war pausbackig. Ohnehin schien sie etwas mehr auf den Hüften zu haben. Der Tellerrock, der ihr bis zu den Knöcheln ging, wirkte recht ausladend. Die grob gestrickte Wolljacke betonte ihre breiten, kräftigen Schultern. Sie trug ebenfalls einen Koffer in der Hand und blickte sich unsicher um.

Lächelnd trat Hanna an sie heran. »Hallo! Wartest du auf Frau Hübner?«

Die junge Frau nickte erleichtert. »Du auch?«

Ehe Hanna etwas erwidern konnte, schlenderten ein paar junge Männer in Jeansjacken mit aufgestellten Kragen an ihnen vorbei. Lässig hatten sie die Hände in ihre Hosentaschen vergraben. Ihre dunklen Haare fielen ihnen über die Schultern. Sie grinsten frech in ihre Richtung. Der eine spitzte seine Lippen und ließ einen provokanten Pfiff erklingen.

»Ah! Neue Post-Mädchen!«, rief ein anderer ihnen zu, wobei er das O ungewöhnlich langzog.

Während Hanna noch überlegte, welcher Akzent das wohl sein könnte, stellte die junge Frau neben ihr den Koffer ab und stemmte empört ihre Hände in die Hüften. »Für euch Post-Fräulein, kapiert?«

Die Jungs hielten inne und schauten die junge Frau erstaunt an, mit Widerworten hatten sie wohl nicht gerechnet. Dann lachten sie etwas verlegen. Einer von ihnen hingegen grinste anerkennend. Er hatte pechschwarzes, etwas kürzeres Haar, das ihm ins schmale Gesicht fiel, und markante Wangenknochen. Seine rechte Augenhöhle war auffallend lila gefärbt. Offensichtlich hatte sie vor nicht allzu langer Zeit die Bekanntschaft mit etwas Stumpfem gemacht, vermutlich einer Faust.

Auch Hanna huschte ein Lächeln über das Gesicht. Sie mochte die unverblümte Art der jungen Frau schon jetzt. Als die Männergruppe weitergezogen war, streckte Hanna ihr die Hand entgegen. »Ich bin Hanna Liebig.«

»Schomann, Barbara. Aber so nennt mich nur meine Mutter. Meine Brüder nennen mich Baby. Aber am liebsten werde ich Babs genannt.«

»In Ordnung, Babs«, erwiderte Hanna lachend.

»Entschuldige, ich rede immer so viel, wenn ich nervös bin.«

»Ich bin auch aufgeregt. Ist doch spannend, oder? Hier werden wir wohnen.« Hannas Blick wanderte die grau verputzte Häuserfassade hoch. Von hier unten sah es so aus, als würde das Haus bis in den Himmel hineinragen.

Auch Babs schaute nach oben, sie schien von der architektonischen Meisterleistung jedoch nicht so begeistert zu sein. »Sieht ganz schön trostlos aus. Nicht ein Blumentopf steht auf den Fenstersimsen.«

Da öffnete sich die Tür. Eine zierliche ältere Frau mit grau meliertem Dutt sah die beiden streng an. »Wollen Sie da draußen Wurzeln schlagen, oder warum stehen Sie noch hier?«

»Ich wusste nicht, wo ich klingeln soll«, entschuldigte sich Babs.

»Na, wo wohl! Hier!« Mit ihrem knöchernen Zeigefinger tippte die Frau auf ein kleines Schild, das neben einer der unzähligen Klingeln klebte. In engen Buchstaben stand dort das Kürzel HW.

»Ich bin Frau Hübner, eure Hauswartin«, sagte sie, während sie die beiden Frauen mit einer knappen Bewegung zu sich hereinwinkte. Schnell schlüpften Hanna und Babs durch die Tür und folgten ihr ein paar Stufen hinauf in den Hausflur. Zur Rechten gab es einen Fahrstuhl, an dem jedoch ein Schild baumelte. Wegen Wartung geschlossen stand darauf. Zur Linken wartete eine Treppe. Frau Hübner stand bereits auf der ersten Stufe, als sie den jungen Frauen bedeutete, ihr zu folgen. Hanna atmete kurz durch und hievte den Koffer etwas schwerfällig die ersten Stufen hinauf. Babs folgte ihr.

»Ich bin nicht eure Kammerzofe«, begann Frau Hübner die jungen Frauen aufzuklären. »Ich räume euch nicht den Müll hinterher und höre mir auch nicht eure Sorgen und Problemchen an.«

Hanna und Babs wechselten einen kurzen Blick, während sie die Treppen weiter hinaufstiegen. Sie hatten alle Mühe, mit ihren Koffern den schnellen Schritten der Hauswartin folgen zu können. »Ich bin für diesen Aufgang zuständig, in dem ausschließlich weibliche Angestellte des Post- und Fernmeldeamtes untergebracht sind.«

»Und in den anderen beiden Aufgängen? Wer wohnt da?«, hakte Babs etwas keuchend nach.

»Meine Liebe, das hat dich nicht zu interessieren.« Unbeirrt fuhr Frau Hübner fort: »Wöchentlich kontrolliere ich die Reinigung des Hausflurs sowie das Hausbuch. Ich dulde keine Unordnung in den Wohnungen, keine laute Musik, keinen übermäßigen Alkohol- und Tabakwarenkonsum. Und vor allen Dingen keinen Herrenbesuch nach 22 Uhr. Ich hoffe, da haben wir uns verstanden.«

Hanna und Babs nickten schnell und gehorsam, wobei sie sich die Zustimmungsbekundung auch hätten sparen können. Frau Hübner drehte sich nicht einmal um. Offensichtlich waren die Hausregeln für sie ohnehin nicht verhandelbar.

Als sie die fünfte Etage erreichten, blieb die Hauswartin endlich stehen. Babs ließ sofort ihren Koffer auf den Boden plumpsen, während Hanna nach Luft japste.

Frau Hübner überreichte jeder von ihnen einen Schlüssel und deutete auf die Wohnungstür, die rechts vom Flur abging. »Wenn ihr mir Ärger macht, seid ihr schneller wieder zu Hause, als ihr Bezirksabschnittsbevollmächtigter sagen könnt«, drohte sie noch. Dann stiefelte sie auch schon wieder die Treppe hinunter.

Hanna und Babs wechselten einen kurzen vielsagenden Blick, dann steckte Hanna den Schlüssel ins Türschloss. Als sie die Tür aufschob, blieb beiden der Mund offen stehen. Der Flur, der vor ihnen lag, war kaum zu betreten. Überall lagen Schuhe und Klamotten herum. Altpapier stapelte sich, zahlreiche Milch- und Weinflaschen waren in die Ecken gekullert. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Aus einem der abgehenden Zimmer drang lautstarke Musik.

Eine junge Frau kam aus der Küche. Ihre Haare waren kurz, ihr Rock noch kürzer. Ihre roten Lippen umschlossen den Filter einer Zigarette. Genüsslich zog sie an dem Glimmstängel, während sie mit hochgezogener Augenbraue ihre neuen Mitbewohnerinnen musterte. Dann, nachdem sie den Qualm ausgepustet hatte, setzte sie ein Lächeln auf. »Hi, ich bin Trudi. Willkommen in Berlin!«

Babs

Etwas steif saß Babs auf der Kante ihres neuen Bettes. Der weiße Bezug der Kissen roch nach Bleichmittel, die Matratze hingegen verströmte einen etwas muffigen Geruch. Ohnehin roch es fremd in dem Zimmer, das lediglich mit zwei Betten, zwei schmalen Kleiderschränken, einer Kommode sowie einem schmalen Schreibtisch neben dem Fenster ausgestattet war. Zu Hause hatte Babs dafür gesorgt, dass stets ein Zimmerfenster geöffnet war, durch das unentwegt der Duft der umliegenden Weizenfelder und der Blühwiese hereinströmte. Auch nach dem Vieh hatte es immer ein wenig gerochen, schließlich grenzte der Stall direkt an das Bauernhaus. Sie mochte den Geruch von Dung und getrocknetem Stroh. Schließlich war sie damit aufgewachsen. Der Duft gehörte zu ihrem Zuhause.

Ihre Eltern bewirtschafteten einen Hof in einem kleinen thüringischen Dorf, der schon seit Generationen in Familienbesitz war. Gegen die Verstaatlichung des Gutsbesitzes hatten sie sich erfolgreich wehren können, was hauptsächlich dem Verhandlungsgeschick ihres Vaters zuzuschreiben war. Allerdings mussten sie dafür doppelt so hart arbeiten, um in Konkurrenz zu den landwirtschaftlichen Genossenschaften bestehen zu können. Doch das machte ihnen nichts aus, der Hof war ihr ein und alles.

Babs schüttelte den Kopf, vertrieb den Gedanken an die Heimat schnell. Gegen den Wunsch ihrer Eltern hatte sie vor ein paar Wochen den Entschluss gefasst, nach Berlin zu ziehen und eine neue Arbeitsstelle als Briefträgerin anzutreten. Endlich einmal wollte sie unabhängig sein, fern der erdrückenden familiären Fürsorge, die das Zusammenleben auf dem Hof leider bestimmte. Ihre Mutter war eine rastlose und zupackende Frau, die zu allem ihren Senf dazugab, auch was die Belange ihrer jüngsten Tochter anging. Babs war zwar längst volljährig, doch ihre Mutter fühlte sich immer noch dazu bemüßigt, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun, zu tragen, zu essen, ja sogar zu fühlen und zu denken hatte. Doch auch Babs’ ältere Brüder waren nicht viel besser. Auch sie lebten noch im Bauernhaus, arbeiteten zusammen mit dem Vater auf dem Hof. Stets hatten sie »ihr Baby« im Auge behalten. Keinen Schritt hatte sie im Dorf unbesehen machen können. Eine Verabredung mit einem Jungen hatte sie deshalb noch nie gehabt. Wie denn auch, wenn bei den Festen zwei breitschultrige Kerle hinter ihr standen und jeden Jungen, der sich von ihren roten Haaren nicht abschrecken ließ, in die Flucht schlugen.

Doch das alles sollte sich nun endlich ändern. Deshalb kam es nicht infrage, dass sie einknickte, nur weil ihr Zimmer anders roch, als sie es gewohnt war. Diese Genugtuung wollte sie ihrer Mutter und ihren Brüdern nicht verschaffen. Außerdem trat sie ihr neues Leben ja auch nicht allein an. Auf dem gegenüberliegenden Bett lag Hannas Koffer. Mit der jungen Greifswalderin würde sie sich das Zimmer teilen, worüber Babs ziemlich froh war. Sie schien nett zu sein. Was Babs allerdings von Trudi halten sollte, der dritten Mitbewohnerin, die in der kleinen Zweiraumwohnung das Zimmer nebenan belegte, wusste sie noch nicht zu sagen. Sie hatte schon gehört, dass es in Berlin etwas ungezwungener zuging. Aber trotzdem hatte Trudis Anblick ihr erst einmal die Sprache verschlagen. Dabei war sie sonst nie um eine Antwort verlegen.

Hanna war noch einmal spazieren gegangen. Sie wollte die Umgebung erkunden, wie sie gesagt hatte, und den Abendhimmel über der Stadt mit ihrer neuen Kamera einfangen. Babs war nicht danach zumute, noch einmal rauszugehen. Sie war froh, dass sie den Weg vom Bahnhof in ihre neue Bleibe überhaupt gefunden hatte.

Sie stand auf, zog ihren Koffer zu sich heran und öffnete ihn. Ihre Kleider, allesamt aus robustem Leinenstoff oder Wolle und eher praktischen Schnitts, lagen darin akkurat zusammengelegt. Sie nahm jedes Kleidungsstück sorgsam aus dem Koffer heraus und platzierte es auf einen Bügel, den sie in ihren Kleiderschrank hängte. Ihre baumwollene weiße Unterwäsche verstaute sie im unteren Kommodenfach. In die Schublade darüber packte sie das Strickzeug, welches sie sich zur abendlichen Beschäftigung mitgebracht hatte. Auch das gerahmte Foto ihrer Eltern, das ihre Mutter ihr zum Abschied noch zugesteckt hatte, legte sie dazu. Auf keinen Fall wollte sie unter den strengen Augen ihrer Mutter einschlafen.

Ganz unten im Koffer lag eine Mappe mit Briefpapier. Ihrem Vater hatte sie versprochen, regelmäßig zu schreiben. Er war der Einzige in der Familie, der ihr nicht vorschrieb, was sie zu tun und wie sie zu sein hatte, weshalb sie zu ihm eine ganz besondere Verbindung hatte.

Sie zog einen frischen Bogen ihres Briefpapiers heraus und setzte sich an den Schreibtisch. Den Füllfederhalter, der an der Mappe klemmte, hielt sie zum Schreiben bereit. Doch so recht fiel ihr nicht ein, was sie zu Papier bringen könnte. Was sollte sie ihm auch schreiben? Etwa, dass sie auf der Fahrt hierher beim Umstieg beinahe im falschen Zug gelandet wäre, weil sie die Anzeigetafel nur überflogen hatte? Oder sollte sie ihm berichten, dass sie bei ihrer Ankunft am Bahnhof Friedrichstraße im Gedränge gestolpert und ihr Koffer mehrere Meter über den Bahnsteig gerutscht war? Oder dass sie in der Wohnsiedlung dreimal im Kreis gelaufen war, ehe sie den Clara-Zetkin-Weg gefunden hatte? Babs schüttelte den Kopf. Das konnte und wollte sie ihm nicht schreiben. Schließlich war er derjenige gewesen, der ihren Entschluss, nach Berlin zu ziehen, nicht als Schnapsidee abgetan hatte. Sie wollte ihn auf keinen Fall beunruhigen oder ihn gar dazu bringen, seine Meinung zu überdenken. Kurz zögerte sie noch, dann setzte sie den Füller aufs Papier. In geschwungener Schönschrift notierte sie Folgendes: Lieber Vati, ich bin gut angekommen.

Da wurde plötzlich die Zimmertür aufgerissen, Trudi stand im Türrahmen und strahlte sie an. »Wir gehen aus!«, trällerte sie so laut und schrill, dass Babs zusammenzuckte. Da der Füllfederhalter immer noch auf dem Papier ruhte, entstand ein kleiner, unschöner Tintenfleck.

Hanna drängelte sich hinter Trudi ins Zimmer. Sie war von ihrem Abendspaziergang zurück und zog sich nun ihren dünnen Mantel aus. »Aber ich habe noch nicht einmal ausgepackt.«

»Und ich muss morgen früh raus«, schob Babs schnell hinterher. Dabei hob sie ihre Schultern, so als würde es ihr leidtun. In Wahrheit hatte sie nur wenig Lust, das Zimmer an diesem Abend noch einmal zu verlassen.

»Papperlapapp!«, schmetterte Trudi ihrer beider Widerworte ab. »Ihr seid doch nicht nur zum Malochen in die Stadt gekommen.«

»Also, ich bin schon wegen der neuen Anstellung hier«, antwortete Babs sogleich. Dass sie außerdem zwischen sich und ihre Mutter einen gewissen Abstand bringen wollte, behielt sie lieber noch für sich.

Hanna legte ihren Kopf schief, sie schien über Trudis Worte länger grübeln zu müssen. Dann blickte sie zu Babs. »Na ja, anstoßen sollten wir schon, glaube ich.«

Babs blickte kurz auf den angefangenen Brief und rang mit sich. Vermutlich würde ihr ja doch nichts mehr einfallen. Sie nickte also. Während Trudi händeklatschend in die Luft sprang und dabei immer noch ziemlich grazil aussah, lächelte Hanna.

»Na dann! Schmeißt euch in Schale, und ab geht’s«

Hanna und Babs blickten sich gegenseitig an. Hanna trug ihr halblanges, haselnussbraunes Haar offen. Der Pony fiel ihr ins Gesicht. Ihre schlanken Beine steckten in einer gerade geschnittenen, beigefarbenen Bundfaltenhose, darüber trug sie eine blaue, eher burschikos wirkende Bluse. Sie schien sich in ihrem Körper nicht unwohl zu fühlen, sich aber auch nicht sonderlich um ihr Äußeres zu scheren.

Trudi bemerkte ihre irritierten Blicke und winkte sofort wieder ab. »Vergesst es, ihr seht hübsch genug aus.«

Trudi

Kaum eine halbe Stunde später betrat Trudi das Stille Lieschen, ihr Lieblingstanzlokal in Ostberlin, das kein bisschen still war. Ganz im Gegenteil. Je später der Abend war, desto trubeliger ging es in dem kleinen Etablissement im Souterrain eines Wohnhauses unweit der Warschauer Straße zu. Im Schlepptau hatte sie ihre beiden neuen Mitbewohnerinnen. Nummer sieben und acht, wie sie sie insgeheim nannte, weil sie sich Namen so furchtbar schlecht merken konnte. Und weil es oft überflüssig war, sich diese einzuprägen. Meist waren die Mädchen schneller wieder weg, als sie gucken konnte. Ob es an ihr lag oder an der Hauptstadt, die gerade junge Mädchen vom Lande in den ersten Wochen durchaus überfordern konnte, wollte sie gar nicht wissen.

Trudi passte in keine Schublade, erst recht nicht in eine, die das sozialistische System für Frauen wie sie vorgesehen hatte. Sie liebte die Unabhängigkeit, Pflichtbewusstsein ödete sie an. Zudem hatte sie ihren eigenen Kopf und trug ihr Herz auf der Zunge. Das waren alles Gründe, warum sie immer wieder aneckte und die Staatssicherheit vermutlich eine Akte über sie besaß. Doch Trudi machte sich nichts daraus, was die anderen über sie dachten. Sie lebte so, wie es ihr gefiel.

Allerdings war sie nicht gerne allein. Einsamkeit und Langeweile waren so gar nichts für sie. Da kam man nur auf trübe Gedanken, und die konnte Trudi noch weniger leiden als ungesüßten Muckefuck. Deshalb wohnte sie auch immer noch in dem Wohnheim, auch wenn Frau Hübner ihr mit ihren Regeln ganz schön auf die Nerven ging. Von ihren neuen Mitbewohnerinnen wollte sie sich an diesem Abend einen ersten Eindruck verschaffen. Ihnen auf den Zahn fühlen, ob es sich lohnte, sich ihre Namen zu merken. Deshalb hatte sie sie hierhergeschleppt.

Das Tanzlokal war trotz der späten Stunde brechend voll. Der kleine Raum, in deren Mitte Trudi nun kurz stehen blieb, war in gedämpftes Licht gehüllt. Es wurde geraucht, Bier in großen Krügen herumgereicht, Kurze gekippt und im Takt der Musik geschunkelt, welche eine Tanzkapelle auf der Bühne spielte, die nicht wesentlich größer zu sein schien als ein Badezimmerläufer. Es roch nach billigem Parfüm, Schweiß und würzigem Tabak – dem typischen Geruch des Ostberliner Nachtlebens! Trudi hatte ihn schon Hunderte Male gerochen. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und lauschte dem lauten Beat, dem Gelächter und Stimmengewirr. Das alles vermischte sich zu einem Geräuschbrei und kitzelte ein zart-flattriges Gefühl in ihrer Magengegend hervor. Sie genoss jeden Ton und jeden Laut, der in ihr Ohr drang. Es gab nichts Schlimmeres als Stille. Davon hatte sie in ihrem Leben genug gehabt. Bei ihr zu Hause war es immer leise zugegangen. Ihre Eltern hatten irgendwann aufgehört, miteinander zu sprechen. In einvernehmlicher Schweigsamkeit, die Trudi als Jugendliche schier um den Verstand gebracht hatte, lebten sie vermutlich immer noch nebeneinanderher. Viel Kontakt hatte sie zu ihren Eltern nicht mehr.

Trudi öffnete wieder die Augen und suchte den Blick ihrer Begleiterinnen, die sich ebenfalls umsahen. Die rundlichere Rothaarige wirkte dabei so, als würde sie gleich der Schlag treffen. Ihr Mund stand weit offen, ihre Augen blinzelten ungläubig im fahlen Licht der kleinen Scheinwerfer, die auf die Tanzfläche gerichtet waren. Als sie ein Paar entdeckte, das auf dem Parkett eng umschlungen tanzte, raffte sie ganz unwillkürlich den Kragen ihrer Strickjacke, die sie über ihrem Tellerrock trug, ein wenig fester zusammen. Dabei war es in dem Raum warm und ziemlich stickig. Trudi musste schmunzeln.

Als sie zwei Jahre zuvor nach ihrer Ausbildung in einem Postamt in Eisenhüttenstadt in die Hauptstadt gekommen war, um als Schreibkraft im Post- und Fernmeldeministerium zu arbeiten, hatte die Stadt sie mit ihrer Lebendigkeit sofort in den Bann gezogen. Hier in Ostberlin schien die Freiheit nur einen Steinwurf entfernt zu sein. An den Trubel hatte sie sich schnell gewöhnt, an die karge Mauer, die ihr den Blick nach Westen versperrte, jedoch nicht.

Die Augen des anderen Mädchens, das die braunen Haare kürzer und frech trug, spiegelten hingegen pure Neugier. Staunend blickte die junge Frau sich um, versuchte offenbar, alle Eindrücke in sich aufzusaugen. Sie hatte ihre Kamera mitnehmen wollen. Doch Trudi hatte ihr davon abgeraten. Niemand, der das Stille Lieschen besuchte, wollte sich hinterher auf einer Fotografie wiederfinden. Das Lokal war zwar nicht verboten, auch wenn der Schallplattenunterhalter nach Mitternacht hin und wieder auch Westmusik auflegte. Dennoch ging Trudi davon aus, dass die Staatssicherheit genau im Blick hatte, wer hier ein und aus ging. Vor der Tür drückten sich schon mal Männer in grauen Mänteln herum, deren Hüte tief ins Gesicht gezogen waren. Weitere Argumente wollte man da nicht noch zusätzlich liefern. Nun versuchte das Mädchen anscheinend, die Bilder im Kopf festzuhalten, wenn es sie schon nicht auf Fotopapier bannen durfte.

Trudi zeigte auf einen leeren Tisch in der hinteren Ecke des Lokals. Leichtfüßig schob sie sich durch die feiernde Menschenmenge, wie selbstverständlich machten ihr die Leute Platz. Ihre Begleiterinnen folgten ihr, auch wenn sie etwas mehr Mühe damit hatten, sich durch die Menge zu quetschen.

»Gefällt mir hier!«, rief die Braunhaarige gegen die Lautstärke an, als sie sich gesetzt hatten.

»Aber ganz schön voll«, schob die andere hinterher.

Trudi winkte ab. »Ihr müsst Samstagabend mal herkommen. Oder wenn eine richtig gute Combo spielt.«

»Wie? Hier passen noch mehr Leute rein?«, erwiderte die junge Frau im Rock erstaunt.

Trudi lachte kurz auf, blieb ihr aber eine Antwort schuldig. »Was wollt ihr trinken?«, fragte sie stattdessen.

Ihre Mitbewohnerinnen zuckten etwas ratlos mit den Schultern. »Ich weiß nicht, kannst du was empfehlen?«, fragte das Mädchen mit den kürzeren Haaren.

Ein breites Grinsen setzte sich auf Trudis Gesicht. Sie hatte gehofft, dass die Frage kam. Sofort sprang sie auf. »Wartet!«, rief sie ihren Mitbewohnerinnen noch zu, bevor sie Richtung Theke tänzelte.

Kurze Zeit später kam Trudi mit drei Gläsern zurück, die Flüssigkeit darin schimmerte gelb und rot.

»Was ist das?«, fragte die Zurückhaltende irritiert.

»Rote Mühle, ein Mixgetränk«, klärte Trudi sie auf. »Probiert mal!«

Gläserklirrend stießen sie an. »Auf Berlin!«, sagte die eine dabei, während die andere nickte und wiederholte: »Auf Berlin!«

»Auf Ostberlin!«, bestätigte Trudi augenzwinkernd und nahm einen großen Schluck. Die Rote Mühle schmeckte fruchtig und prickelte angenehm auf Trudis Zunge. Der Orangensaft war klar herauszuschmecken, genauso wie die Aprikose und der Brandy, der ein wenig im Rachen kitzelte. Die rote Farbe kam vom Rotwein, der dem Getränk die säuerlich prickelnde Krone aufsetzte. Sie liebte dieses Getränk. Ihre neuen Mitbewohnerinnen schienen noch nicht überzeugt zu sein. Während die Neugierige hüstelte, vermutlich vom Hochprozentigen, kippte die andere sich das Getränk in einem Zug hinunter, ohne eine Miene zu verziehen.

Die anderen beiden warfen ihr einen staunenden Blick zu. Doch das Landei zuckte nur mit den Schultern. »Was denn? Ich bin mit zwei Brüdern groß geworden.«

Trudi musste ehrlich lachen. Trotz ihrer etwas biederen Art war ihr das Mädchen irgendwie sympathisch. Genauso wie die Braunhaarige.

Diese stupste nun ihre Zimmergenossin an und deutete mit dem Kinn Richtung Tür. Trudi folgte ihrem Blick. Die Gruppe junger Männer, die hereintrat, erkannte Trudi sofort. Sie verdrehte die Augen. Doch auch für ihre Begleiterinnen schienen die Männer keine Unbekannten zu sein. Einer von ihnen – er trug seine schwarzen Haare etwas kürzer und hatte markante Gesichtszüge und ein Veilchen – lächelte kurz zu den Mädchen herüber. Trudi bemerkte, wie auch die Mundwinkel der Rothaarigen ganz unwillkürlich ein kleines bisschen nach oben wanderten.

»Ihr kennt die?«, fragte Trudi.

»Kennen ist wohl zu viel gesagt«, antwortete die junge Frau mit der frechen Frisur. »Aber heute vor dem Haus haben sie sich einen Spruch nicht verkneifen können. Zum Glück ist unsere Babs nicht auf den Mund gefallen.«

»Das sind die Jugos aus der B«, wusste Trudi und erntete von ihren Begleiterinnen einen perplexen Blick. »Gastarbeiter aus Jugoslawien. Kroaten, Slowenen, Mazedonier, Serben. Sie arbeiten auf der großen Baustelle am Alexanderplatz und wohnen im Aufgang direkt neben uns. Meiner Meinung nach kann man Frau Hübners Regeln allesamt in der Pfeife rauchen, aber hier stimme ich ihr zu. Von denen sollte man sich fernhalten.«

»Wieso?«, fragte die Greifswalderin unbedarft.

»Das sind Raufbolde. Zwielichtige Typen. Denen würde ich keinen Zentimeter über den Weg trauen«, warnte Trudi sie.

Noch etwas irritiert rümpften die Mädchen ihre Nasen, als Trudi das Thema wechselte. »So! Nun mal Tacheles. Was verschlägt euch hierher?«

»Na, die Arbeit«, antwortete die Rothaarige unbedarft.

Trudi hob kess die Augenbraue. »Ich glaube euch kein Wort!«

Die andere überlegte etwas länger. »Ich will was erleben«, sagte sie schließlich, und in ihren Augen lag wieder dieser Ausdruck von freudigem Eifer. »In Greifswald sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Nie ist was los. Nie passiert etwas Aufregendes. Aber hier, in der Hauptstadt, so dicht am Westen ist alles möglich. Zumindest habe ich das Gefühl.«

Trudi lächelte selig. »Dein Gefühl täuscht dich nicht.«

Die Braunhaarige erwiderte das Lächeln voller Vorfreude. Ihr war anzusehen, dass sie ehrlich neugierig auf diese Stadt war, was Trudi gefiel.

»Bei mir ist’s meine Familie«, wusste nun auch die Schüchternere zu antworten. »Ich liebe sie. Wirklich!«

Trudis Lächeln verkrampfte sich plötzlich, sie versuchte sich jedoch nichts anmerken zu lassen.

»Aber manchmal habe ich das Gefühl, sie erdrücken mich mit ihrer Fürsorge, sodass ich gar keine Luft mehr bekomme«, fuhr sie fort. »Dabei liebe ich die Landluft. Hier riecht es irgendwie überall nach …«, sie überlegte kurz, »… verkohlten Traktorreifen.«

»Stimmt, ist mir auch schon aufgefallen«, pflichtete ihr ihre Zimmergenossin grinsend bei. »Mich stört der Geruch nicht. Ich finde ihn irgendwie … städtisch.«

»Das ist ein Gemisch aus Teer und Bitumen, den sie zum Bau der Straßen und Bürgersteige verwenden«, wusste Trudi. »Im Sommer verströmt der einen etwas strengen Geruch. Aber man gewöhnt sich dran. Passt nur auf, dass ihr nicht hineintretet, der schwarze Mist wird bei Hitze weich und geht nie wieder von euren Schuhen ab.«

Die beiden nickten gehorsam. Dann begann die Braunhaarige zu erzählen: »Mein Vater hat mich in meiner Entscheidung, nach Berlin zu ziehen, unterstützt. Er sagt immer, dass man die besten Erfahrungen sammelt, wenn man jung und ungebunden ist.«

Trudis Lippen waren ein wenig schmal geworden, während sie weiter schweigend zuhörte.

»Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben«, fuhr das Mädchen fort. »Seitdem stehen mein Vater und ich uns noch viel näher.«

Die Rothaarige warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Dann wanderten die Blicke ihrer neuen Mitbewohnerinnen plötzlich zu Trudi, so als wäre sie nun an der Reihe, über ihre Familiensituation zu berichten.

Doch Trudi dachte nicht im Traum daran, sich den Abend vermiesen zu lassen. Stattdessen kippte sie den Rest ihres Getränkes hinunter und fragte schnell: »Soll ich noch eine Runde holen?«

Die Neugierigere lehnte dankend ab, während die andere aufsprang. »Ich helfe dir.« Trudi nickte einverstanden.

Gemeinsam schoben sie sich durch die Menge Richtung Theke. Es schien noch voller geworden zu sein. Die Tanzfläche platzte aus allen Nähten, die Musiker spielten ihrem Höhepunkt entgegen.

»Ist alles in Ordnung?«, rief ihre Begleitung ihr plötzlich von hinten ins Ohr.

Ohne auf die Leute um sich herum zu achten, blieb Trudi stehen und drehte sich um. »Ja, wieso?«

»Du hast gerade etwas traurig ausgesehen, als wir von unseren Familien sprachen.«

»Quatsch!«

»Doch!«

»Und wenn schon. Das geht dich nichts an«, entfuhr es Trudi eine Spur zu scharf. Der harte Ton tat ihr jedoch sogleich leid. Aufgrund der bedrückenden Situation in ihrem Elternhaus war in Trudi schon früh der Wunsch gewachsen, ihren eigenen Weg zu gehen, der alles andere als mit Eintönigkeit und Sprachlosigkeit gepflastert sein sollte. Der Weg hatte sie bis nach Ostberlin geführt, und sie hoffte, dass er sie noch ein Stück weiter bringen würde. Aber das und auch ihre gähnend langweilige Familiengeschichte behielt sie lieber für sich.

Der Rothaarigen war das schlechte Gewissen prompt anzusehen. »Oh, entschuldige. Ich dachte …« Doch weiter kam sie nicht.

Ein breitschultriger Kerl mit langen ungepflegten Haaren rempelte Trudi an. Auf ihren hohen Absatzschuhen verlor sie das Gleichgewicht und taumelte zur Seite. Ihre Begleiterin hielt zwei Gläser in der Hand, weshalb sie nicht eingreifen konnte. Der Schreck war ihr aber trotzdem ins Gesicht geschrieben. Ehe Trudi stürzte, tauchte wie aus dem Nichts plötzlich jemand auf und fing sie auf.

Blitzschnell rappelte sie sich wieder hoch und bedankte sich bei dem Mann, der sie geistesgegenwärtig aufgefangen hatte. Dann fuhr sie den Rempler an: »Kannst du nicht besser aufpassen?«

»Kannst du nicht woanders tratschen? Du blockierst den Weg zum Tresen«, konterte der ohne eine Prise schlechten Gewissens in der Stimme.

»Na hör mal! Wie redest du mit meiner Freundin?«, mischte sich die Rothaarige nun ein. »Du solltest dich lieber entschuldigen.«

»Das finde ich auch«, pflichtete ihr der Retter bei. Erst jetzt bot sich Trudi die Gelegenheit, ihn näher in Augenschein zu nehmen. Die grau melierten Haare trug er kurz und zu einem ordentlichen Scheitel gekämmt. Das teuer aussehende, gestärkte Hemd sowie der Duft seines Rasierwassers verrieten Trudi, das er aus dem Westen kam.

Auch der breitschultrige, langhaarige Kerl musterte den Westdeutschen. Er schien Respekt vor ihm zu haben, was vermutlich nicht nur an seinem Alter lag. Vielmehr strahlte der Mann eine gewisse Selbstsicherheit aus, die auch Trudi durchaus interessant fand. Der Rempler nuschelte irgendetwas vor sich hin, das sogar ein bisschen nach einer Entschuldigung klang. Dann zog er an ihnen vorbei Richtung Tresen.

»Darf ich Ihnen auf den Schreck ein Getränk spendieren? Einen Schaumwein vielleicht«, fragte sie nun der grauhaarige Mann mit einem Lächeln.

Doch ehe Trudi auf das Angebot eingehen konnte, mischte sich ihre neue Mitbewohnerin ein.

»Vielen Dank! Aber kein Bedarf. Von Männern haben wir heute genug. Stimmt’s?«

Normalerweise hätte sich Trudi die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ein Freigetränk zu erhaschen, noch dazu von einem Westdeutschen. Doch sie nickte der Rothaarigen schließlich zu. Tatsächlich verspürte sie größere Lust, mehr über ihre neuen Mitbewohnerinnen zu erfahren, als einem Mann schöne Augen machen zu müssen.

Sie ließen den Mann stehen und gingen weiter zum Tresen. »Hast du das ernst gemeint? Das mit der Freundin?«, fragte Trudi dabei neugierig.

»Klar! Wir wohnen doch jetzt zusammen. Wie Schwestern. Oder eben Freundinnen.«

Auf Trudis Gesicht legte sich ein leises Lächeln. Freundinnen, das klang gut. Sie überlegte kurz. »Babs, oder?«

Ihr Gegenüber nickte.

»Diesmal ’ne Brause?«, fragte Trudi weiter.

Erneut nickte Babs. »Ich glaube, Hanna würde sich freuen.«

Trudi lächelte. »Das denke ich auch.«

Hanna

So früh am Morgen tat sich die Sonne noch etwas schwer, über die Häuser der Stadt zu klettern, um durch das Fenster des kleinen Postamtes am Fernsehturm Hanna an ihrem neuen Arbeitsplatz zu begrüßen. Sie lief hinter Frauke her und hörte ihr aufmerksam zu.

»Die eingehende Post sammeln wir in diesen Kisten«, erklärte ihre neue Kollegin. »Standardbriefe und Postkarten gehören hier rein. Großbriefe, die später per Hand sortiert werden müssen, tust du in diese Kiste.« Sie gingen weiter zu einem Regal hinter einem Schalter, an dem gerade eine weitere Kollegin einen Kunden bediente. Sie hatte sich ihr als Margit vorgestellt. Kurz nickte sie Hanna zu, die den Gruß freundlich erwiderte. In den kleinen Fächern im Regal lagen gut sortiert allerhand Briefmarkenbögen, Postkarten, Formblätter sowie Umschläge in unterschiedlichen Größen. »Die Formulare für Einschreiben findest du hier«, fuhr Frauke erklärend fort. »Briefmarken sind hier. Achtung, die Bögen der Sondermarken dürfen maximal zweifach rausgegeben werden.«

Hanna nickte und versuchte sich alles zu merken, was nicht nur aufgrund der Fülle an Informationen ziemlich schwierig war. Die letzte Nacht steckte ihr noch in den Knochen.

Mit Babs und Trudi war sie noch eine ganze Weile im Stillen Lieschen gewesen. Die Mädchen hatten sich über allerhand ausgetauscht. So hatte Hanna erfahren, dass Trudi ihre Arbeit im Post- und Fernmeldewesen nicht sonderlich mochte, bereits mit zahlreichen Männern ausgegangen war und wohl schon immer ein wenig aus der Reihe tanzte. Von Babs hingegen wusste sie nun, dass der Hof, auf dem sie aufgewachsen war, ihrer Familie alles bedeutete, dass sie noch nie geküsst worden war und die Natur über alles liebte. Sie hatte alle Kartoffelsorten aufzählen und den Unterschied zwischen Pfingstrosen und Ranunkeln erklären können.

Hanna hatte von sich auch einiges preisgegeben. Dass sie jedes Jahr zum Todestag ihrer Mutter eine Kerze am Fenster entzündete, zum Beispiel. Oder dass sie noch nie einen richtigen Freund gehabt hatte. Zumindest keinen, mit dem sie sich eine Zukunft hatte vorstellen können.

Später, als die Vögel bereits ihren Morgengruß gezwitschert hatten, waren sie alle drei ineinander eingehakt nach Hause geschlendert. Und Hanna war es so vorgekommen, als ob sie die beiden schon ewig kennen würde.

Die Stimme ihrer Kollegin drang wieder in ihr Ohr. »Mhm, mal überlegen. Was musst du noch wissen.« Frauke hatte ein schmales Gesicht, war eher von kleiner Statur und wirkte auf Hanna bodenständig und selbstbewusst. »Ach so, ja. Wir nehmen auch Pakete an. Ist aber eher selten. Zu uns kommen ja doch eher die Besucher des Fernsehturms. Da schleppt niemand ein Paket her. Falls aber doch, findest du die Paketscheine im unteren Fach. Päckchen, die ins kapitalistische Ausland gehen, werden extra gesammelt. Aber das weißt du ja sicherlich, oder?«

Hanna nickte schnell. Die Staatssicherheit behielt sich vor, Post, die die DDR Richtung Westen verließ, gesondert zu prüfen. Wie diese Prüfung aussah, wusste sie natürlich nicht genau. Doch sie ahnte, dass die Pakete kaum sanft geschüttelt wurden, um deren Inhalt so zu erraten.

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