×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Ausgeblutet«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Ausgeblutet« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Ausgeblutet

hier erhältlich:

Quer durch die USA verschickt ein Wahnsinniger Briefe mit einem tödlichen Virus. Selbst vor dem FBI macht er nicht Halt. Ist Profilerin Maggie O'Dell auch infiziert? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Gelingt es, das Virus und den anonymen Täter aufzuhalten, ehe eine Epidemie ausbricht? Während die Ärzte verzweifelt nach dem richtigen Impfstoff suchen, muss Maggie aus ihrer Isolationszelle heraus ein psychologisches Profil des Killers erstellen, um ihn zu überführen. Denn während seine ersten Opfer bereits qualvoll verblutet sind, tauchen ständig neue grauenvolle Briefe auf ...


  • Erscheinungstag: 01.12.2008
  • Aus der Serie: Maggie O'dell
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862781904
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Lake Victoria

Uganda, Afrika

Waheem blutete bereits, als er das dicht besetzte Motorboot bestieg. Er presste sich das durchnässte Tuch zusammengeknüllt gegen die Nase und hoffte, dass die anderen Passagiere nichts bemerken würden. Der Bootsbesitzer, ein Mann von der Insel, den sie Pastor Roy nannten, hatte ihm vorher noch geholfen, den rostigen Käfig mit den darin eingesperrten Affen in die letzte freie Ecke zu schaffen. Doch kaum zwei Kilometer von der Küste entfernt fiel Waheem auf, wie Pastor Roy immer wieder seine Frau anblickte, die mit einem verkrampften Lächeln auf das Blut sah, das inzwischen auf Waheems Hemd tropfte. Der Pastor machte den Eindruck, als würde er es schon bereuen, dass er Waheem den letzten freien Platz angeboten hatte.

„Auf diesen Inseln leiden offensichtlich viele unter Nasenbluten“, bemerkte Pastor Roy. Es klang eher wie eine Frage, so als wolle er Waheem die Gelegenheit geben, es zu erklären.

Waheem nickte ihm zu und tat, als hätte er Schwierigkeiten, ihn zu verstehen. Er hatte ihn sehr gut verstanden, hütete sich aber, es zu zeigen. Die nächsten zwei Tage würde weder ein Bananen- noch ein Kohlenfrachter die Insel ansteuern, deshalb war er froh über die glückliche Fügung, dass der Pastor und seine Frau ihm erlaubt hatten, auf ihrem Schiff mitzufahren, vor allem mit diesem Affenkäfig. Doch er wusste, die Fahrt von Buvuma Island nach Jinja würde vierzig Minuten dauern, deshalb wollte er den Priester nicht dazu ermuntern, die Gelegenheit zu einer langen Predigt über Jesus zu nutzen. Alle anderen waren vor ihm an Bord geklettert, sodass Waheem nur noch der Platz ganz vorn am Gang geblieben war. Der Mann sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, er müsse auf der Fahrt über den See eine weitere Seele retten.

Außerdem wirkten die anderen im Boot – eine traurige Ansammlung von Frauen mit barfüßigen Kindern und einem blinden alten Mann – viel eher so, als müssten sie errettet werden. Bis auf das Nasenbluten und einen plötzlich einsetzenden pochenden Kopfschmerz fühlte sich Waheem jung und stark, und wenn die Dinge so liefen wie geplant, dann würden er und seine Familie bald reich sein und sich eine eigene Shamba kaufen, statt sich für andere den Rücken krumm zu schuften.

„Gott sei mit uns!“, rief der Priester, der offensichtlich gar keine Ermutigung benötigte. Er steuerte das Boot mit einer Hand, mit der anderen machte er eine ausholende Geste, mit der er die sie umgebenden Inseln in der Ferne umfasste, und begann mit seiner Predigt.

Die anderen Passagiere neigten den Kopf fast automatisch, als die Stimme des Mannes ertönte. Diese Art von Ehrerbietung sahen sie womöglich als das Mindestmaß an Gegenleistung für die Überfahrt auf dem Schiff des Pastors an. Waheem senkte ebenfalls den Kopf, beobachtete aber hinter dem an die Nase gepressten Tuch weiterhin unauffällig seine Umgebung und versuchte dabei, den Gestank nach Affenurin ebenso zu ignorieren wie das gelegentlich an seinem Kinn hinuntertropfende warme Blut. Er musterte die Augen des blinden Mannes. Seine weißen getrübten Linsen bewegten sich hin und her, während seine dünnen Lippen zuckten. Es war aber nur ein undeutliches Murmeln von ihm zu hören, vielleicht ein Gebet. Eine Frau neben Waheem hielt ihre Jutetasche, die sich von allein zu bewegen schien und nach nassen Hühnerfedern roch, fest geschlossen. Alle waren sehr ruhig, bis auf die drei kleinen Mädchen, die schaukelnd hinten im Boot saßen. Sie sangen leise ein Lied. Sogar die drei waren sich trotz ihrer Verspieltheit offensichtlich bewusst, dass sie den Sermon des Priesters besser nicht stören sollten.

„Gott hat euch nicht vergessen, ihr Kinder“, fuhr Pastor Roy fort, „und ich ebenfalls nicht.“

Waheem warf unauffällig einen Blick auf die Frau des Priesters. Sie schien sich überhaupt nicht von der Predigt ihres Mannes beeindrucken zu lassen. Während sie vorn im Boot neben ihm saß, rieb sie sich ihre nackten weißen Arme mit einer farblosen Flüssigkeit aus einer Plastikflasche ein und unterbrach die Prozedur alle paar Sekunden, um die Tsetsefliegen aus ihrem langen, seidigen Haar zu zupfen.

„Die Inseln des Lake Victoria sind bevölkert mit Ausgestoßenen, Armen, Kriminellen und Kranken.“ Pastor Roy machte eine kurze Pause und nickte Waheem zu, als wolle er ihm zu verstehen geben, dass er ihn nicht zu jenen zählte. „Doch ich sehe nur die Kinder Jesu, die noch darauf warten, von ihm errettet zu werden.“

Waheem würde dem Priester nicht widersprechen. Er sah sich nicht als einen von Buvumas ausgestoßenen Kranken, von denen es eine Menge gab. Dass man dort jemandem begegnete, der irgendwelche Verletzungen oder offene Wunden hatte, war keine Seltenheit. Für viele waren die Inseln eine letzte Zuflucht. Doch nicht für Waheem. Er war in seinem Leben nicht einen Tag krank gewesen, jedenfalls bis gestern Abend nicht, als er sich hatte übergeben müssen.

Erst nach Stunden hatte es wieder aufgehört. Allein bei der Erinnerung daran wurde ihm übel. An den Anblick des Erbrochenen mit dem ganzen Blut darin wollte er lieber nicht mehr denken. Er hatte schon befürchtet, seine Eingeweide mit herausgewürgt zu haben. So hatte es sich jedenfalls angefühlt. Und jetzt dieser hämmernde Kopfschmerz und dieses nicht enden wollende Nasenbluten. Er schob sein Tuch zurecht und versuchte eine Stelle zu finden, die noch nicht durchtränkt war. Ein paar Tropfen fielen auf seine staubigen Füße, und er musste plötzlich auf die glänzenden Lederschuhe des Priesters starren. Er fragte sich, ob der Mann ernsthaft glaubte, irgendjemanden retten zu können, ohne seine Schuhe zu beschmutzen.

Egal. Waheem interessierte lediglich, seine Affen rechtzeitig nach Jinja zu bringen, wo er diesen Amerikaner treffen wollte, einen Geschäftsmann, der ebenfalls mit solch glänzenden Lederschuhen herumlief. Der Typ hatte Waheem ein Vermögen versprochen. Zumindest für Waheem war es ein Vermögen. Der Amerikaner wollte ihm für jeden Affen mehr Geld zahlen, als Waheem und sein Vater sonst in einem Jahr verdienen konnten.

Er wünschte, er hätte noch mehr gefangen, aber es hatte fast zwei Tage gedauert, um diese drei zu bekommen, die er zusammen in diesen Metallkäfig gequetscht hatte. Wenn man sie jetzt sah, würde man es nicht für möglich halten, was die für einen Ärger gemacht hatten. Aus Erfahrung wusste Waheem, was für scharfe Zähne Affen besaßen und dass sie das Gesicht eines Mannes innerhalb von Minuten in Stücke fetzen konnten, nachdem sie ihm den Schwanz um den Hals geschlungen hatten. Das hatte er in den nur zwei Monaten gelernt, in denen er für Okbar, den reichen Affenhändler aus Kampali, tätig gewesen war.

Der Job war gut gewesen, aber da hatte man auch Netze und Betäubungsgewehre gehabt, die Okbar zur Verfügung stellte und mit denen es ganz einfach ging. Waheems Hauptaufgabe hatte darin bestanden, die kranken Affen abzutransportieren, die der britische Tierarzt aus den Lieferungen aussortiert hatte, Lieferungen mit Hunderten von Affen, die zu einem Frachtflugzeug geschafft wurden, das dann Versuchslabors in Großbritannien und den USA belieferte.

Der Tierarzt ging davon aus, dass Waheem die Affen mitnahm, um sie zu töten. Aber Okbar nannte das eine „frevelhafte Verschwendung". Deshalb befahl er Waheem, die armen kranken Affen, statt sie zu töten, auf eine der Inseln im Lake Victoria zu bringen und dort laufen zu lassen. Manchmal, wenn Okbar Lieferschwierigkeiten hatte, schickte er Waheem auf die Insel, damit er ein paar von den kranken Affen holte. Oft fiel das den Tierärzten gar nicht auf.

Aber jetzt war Okbar verschwunden. Seit Monaten hatte ihn niemand mehr gesehen. Waheem hatte keine Ahnung, wohin er gegangen war. Eines Tages war sein kleines verdrecktes Büro in Jinja plötzlich leer gewesen. All die Aktenschränke, der Metallschreibtisch, die Betäubungsgewehre und Netze, alles war verschwunden. Kein Mensch wusste, was mit Okbar passiert war. Und Waheem hatte seinen Job verloren. Nie würde er das enttäuschte Gesicht seines Vaters vergessen. Die anderen mussten wieder auf die Felder gehen und viele Stunden am Tag arbeiten, um den Verlust auszugleichen, der durch das fehlende Einkommen Waheems entstanden war.

Dann erschien eines Tages dieser Amerikaner in Jinja und erkundigte sich nach Waheem, nicht nach Okbar, sondern nach Waheem. Irgendwie hatte er von den Affen erfahren, die auf die Insel geschafft worden waren, und genau die wollte er haben. Er würde den höchsten Preis zahlen. „Aber es müssen genau diese Affen sein“, hatte er Waheem erklärt, „von der Insel, auf der ihr die aussortierten hingebracht habt.“

Waheem konnte sich nicht vorstellen, warum jemand so scharf auf kranke Affen war. Er warf einen Blick auf die zusammengesunkenen und in dem rostigen Metallkäfig eingezwängten Gestalten. Aus ihren Nasen floss dicker grünlicher Schleim. Sie glotzten ausdruckslos vor sich hin, nahmen weder Futter noch Wasser an. Trotzdem vermied es Waheem, ihnen direkt in die Augen zu sehen, da er nur allzu genau wusste, wie gut ein Affe zielen konnte, selbst ein kranker, wenn er einem in die Augen spuckte.

Der Affe musste gespürt haben, dass Waheem ihn beobachtete, denn plötzlich umklammerte er die Gitterstäbe und begann zu kreischen. Waheem störte der Lärm nicht. Er war das gewohnt. Verglichen mit dieser unheimlichen Ruhe vorher war es eher normal. Doch der zweite stimmte nun mit ein, woraufhin die Frau des Priesters sich aufrichtete und herüberstarrte. Dieses aufgesetzte Lächeln war von ihrem Gesicht verschwunden. Waheem fand nicht, dass sie ängstlich oder beunruhigt wirkte, sondern lediglich ziemlich angewidert. Er machte sich Sorgen, dass der Priester die Affen womöglich über Bord werfen könnte, oder – noch schlimmer – Waheem gleich hinterherspringen ließ. Wie die meisten Inselbewohner konnte er nicht schwimmen.

Das Kreischen der Affen mischte sich mit dem Pochen in seinem Kopf, und Waheem glaubte, das Boot würde schwanken. Ihm wurde übel, und er befürchtete, sich wieder übergeben zu müssen. Erst da bemerkte er, dass sich auf der ganzen Vorderseite seines Hemds ein riesiger rot-schwarzer Fleck ausgebreitet hatte. Und es blutete immer weiter. Er schmeckte es, und es lief ihm den Rachen herunter. Er schluckte und begann zu husten, dabei versuchte er, die Blutklumpen zurückzuhalten, aber erfolglos. Ein paar davon bekleckerten die Lederschuhe des Priesters.

Waheem blickte hektisch hin und her, vermied es aber, den Mann anzusehen. Alle starrten zu ihm herüber. Sie würden beschließen, ihn aus dem Boot zu werfen. Er hatte gesehen, wie sie sich bei den Worten des Priesters verbeugt hatten. Sie würden zweifellos alles tun, was er verlangte. Sie waren zu weit von den Inseln entfernt. Er würde untergehen.

Plötzlich wedelte der Priester mit der Hand vor Waheems Nase. Waheem zuckte zusammen und wich zurück. Erst als er sich wieder etwas aufrichtete, sah er, dass Pastor Roy ihn nicht über Bord stoßen wollte. Stattdessen hielt er ihm ein weißes Taschentuch hin, blitzsauber und mit wunderschönen Stickereien am Rand.

„Hier, mein Sohn, nimm es“, sagte der Priester sanft, diesmal nicht im Ton einer Predigt, die an alle gerichtet war. Als Waheem nicht reagierte, zeigte er auf das durchtränkte, tropfnasse Tuch. „Deins ist bereits aufgebraucht. Hier, nimm es, du brauchst es nötiger als ich.“

Waheem blickte sich schnell auf dem kleinen Boot um. Noch immer beobachteten ihn alle, und auf dem Gesicht der Pastorenfrau zeichnete sich inzwischen offene Wut ab. Sie hatte den Blick aber nicht auf Waheem gerichtet, sondern sah ihren Mann vorwurfsvoll an.

Der Rest der Überfahrt verlief ruhig, bis auf den leisen Gesang der kleinen Mädchen. Von ihren Stimmen wurde Waheem in einen traumähnlichen Zustand versetzt. Einmal glaubte er, er könne seine Mutter vom nahenden Ufer rufen hören. Er sah alles nur noch verschwommen, und in den Ohren hallte der Schlag seines Herzens wider.

Als das Boot im Hafen anlegte, fühlte sich Waheem schwach und benommen. Diesmal musste Pastor Roy den Käfig allein tragen, während Waheem hinter ihm her durch die Menge stolperte, Frauen mit Körben und Jutetaschen, herumstehende Männer, Fahrradfahrer, die sich einen Weg um sie herum bahnten.

Der Priester stellte den Käfig ab, und Waheem brummte ein Danke, das sich mehr wie ein Stöhnen anhörte. Noch bevor sich der Priester zum Gehen gewandt hatte, fiel Waheem auf die Knie, würgte und übergab sich, beschmutzte dabei die glänzenden Lederschuhe mit schwarzem Erbrochenem. Als er sich den Mund abwischen wollte, bemerkte er, dass Blut aus seinen Ohren tropfte, und sein Rachen hatte sich wieder mit dicken schwarzen Brocken gefüllt. Er spürte die Hand des Priesters auf seiner Schulter und erkannte dessen Stimme kaum wieder, als er nach Hilfe rief. Die ruhige Überlegenheit des Mannes, der sonst lange Predigten hielt, war verschwunden, und stattdessen hörte man ihn panisch schreien.

Mit einem Mal wurde Waheem von Krämpfen befallen. Er zuckte mit den Armen und trat mit den Beinen aus, ohne sich noch kontrollieren zu können. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er schnappte nach Luft, würgte, konnte nicht mehr schlucken. Dann schien etwas tief in seinem Innern in Bewegung zu geraten. Er glaubte fast zu hören, wie seine Eingeweide auseinandergerissen wurden. Aus allen seinen Leibesöffnungen strömte das Blut. Er fühlte keinen Schmerz, nur großes Entsetzen. Das Entsetzen über den Anblick des vielen Bluts und die Gewissheit, dass es sich um sein eigenes handelte, war größer als jeder Schmerz.

Eine Menge bildete sich um ihn herum, aber er sah alle nur verschwommen. Auch die Stimme des Priesters wurde jetzt zu einem entfernten Summen. Waheem konnte ihn nicht mehr sehen. Und er sah auch nicht den amerikanischen Geschäftsmann mit den dicken Handschuhen, der nach Waheems rostigem Affenkäfig griff und dann einfach damit verschwand.

2. KAPITEL

Zwei Monate später

Freitag, 28. September 2007, 8 Uhr 25

Quantico, Virginia

Maggie O'Dell beobachtete ihren Chef, Assistant Director Cunningham, wie er seine Brille zurechtrückte und den Karton voller Donuts, der vor seinem Büro stand, mit Argusaugen betrachtete, als wäre der Entschluss, zuzugreifen, eine Entscheidung auf Leben und Tod. Fairerweise musste sie einräumen, dass der Leiter der Verhaltensforschungsabteilung immer so aussah, wenn er seine Entscheidungen fällte. Es war sein typischer Gesichtsausdruck, der ihr seit jeher vertraut war. Dieses ernste Pokergesicht mit den Falten auf der Stirn und um seine durchdringend blickenden Augen. Und die Art, wie er sich mit dem Zeigefinger auf die dünne, fast unsichtbare Oberlippe tippte.

Er stand dort mit durchgedrücktem Rücken und leicht gespreizten Beinen, die gleiche Haltung, die er einnahm, wenn er seine Glock abfeuerte. Kaum eine halbe Stunde nach acht hatte er bereits die Ärmel seines vorbildlich gebügelten Hemdes aufgerollt, aber peinlich genau und ordentlich umgeschlagen. Schlank und durchtrainiert, könnte er wahrscheinlich das ganze Dutzend Donuts verspeisen, ohne dass es sich auf seinen schmalen Hüften bemerkbar machte. Lediglich sein grau meliertes Haar gab einen Hinweis auf sein Alter. Maggie hatte gehört, er könne spielend zwanzig Kilo mehr stemmen als seine Rekruten, obwohl er um die dreißig Jahre älter war als sie. Also konnten es wohl nicht die Kalorien sein, die sein Misstrauen hervorriefen.

Maggie blickte an sich herunter. In vieler Hinsicht hatte sich ihr Erscheinungsbild dem ihres Bosses angepasst. Gebügelte Hosen, ein kupferfarbenes Kostüm, das mit ihrem rötlichen Haar und den braunen Augen harmonierte, aber nicht zu auffällig war, eine aufrechte Haltung, die Selbstbewusstsein verriet.

Manchmal, das wusste sie, übertrieb sie ein bisschen. Alte Gewohnheiten legte man schwer ab. Vor zehn Jahren, als aus der Medizinstudentin Maggie ein Special Agent geworden war, hing ihr Überleben in der Branche davon ab, inwieweit sie sich in die Gruppe der männlichen Kollegen einfügen konnte. Keine verrückte Frisur, wenig Make-up, maßgeschneiderte Kostüme, aber nicht zu figurbetont. Zwar war das FBI keine Behörde, die Frauen für ihre Attraktivität bestrafte, doch Maggie wusste sehr genau, dass man so etwas dort auch nicht gerade belohnte.

In letzter Zeit hatte sie allerdings bemerkt, dass ihre Kleidung ein bisschen locker an ihr herunterhing, nicht notwendigerweise ein Resultat ihres übertriebenen Versuchs, ihre Figur zu verbergen, sondern eher der Stress. Seit Juli hatte sie ihr Fitnessprogramm ziemlich gesteigert, vom Fünfkilometerlauf auf sechs Kilometer, dann weiter bis auf acht. Manchmal drohten ihr die Beine zu versagen, aber sie zwang sich, weiterzumachen. Ein klarer Kopf war das bisschen Muskelkater schon wert. Das redete sie sich jedenfalls ein.

Doch es ging nicht nur um Stress, sondern mehr um all die Fälle, die sich in den letzten Monaten so angesammelt hatten und ihr das Hirn vernebelten. Auf ihrem Schreibtisch stauten sich die Akten, und ein Fall im Besonderen, vom Juli, kletterte immer wieder an die oberste Stelle in diesem Stapel: ein ungelöster Mord in einer Toilette des O'Hare International Airport von Chicago. Ein Priester war erstochen worden, ein Priester namens Michael Keller, der Maggie schon seit vielen Jahren beschäftigt hatte.

Keller gehörte zu den sechs Pfarrern, die unter Verdacht standen, Jungen sexuell zu belästigen. Innerhalb von vier Monaten waren alle sechs ermordet worden, und jeder nach dem gleichen Schema. Der Mord an Keller im Juli war der Letzte. Maggie wusste aus erster Hand, dass der Killer für immer mit dem Töten aufgehört hatte, dass er es versprochen hatte. Sie sagte sich auch, dass man nicht erwarten konnte, einen klaren Kopf zu haben, wenn man mit Mördern Geschäfte machte.

Das war die dunkle Seite dieses Nebels. Auf der hellen, oder zumindest der anderen Seite, gab es etwas, oder besser gesagt jemanden, der ihre Gedanken zu sehr beherrschte. Jemanden namens Nick Morrelli.

Sie schob sich an Cunningham vorbei, griff nach einem mit Schokolade überzogenen Donut und biss hinein.

„Normalerweise schnappt mir Tully die mit Schokolade immer vor der Nase weg“, sagte sie, als Cunningham sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Aber dann nickte er, als würde ihm ihre Erklärung einleuchten.

„Wo ist er denn überhaupt?“, wollte sie wissen. „Er hat in einer Stunde einen Gerichtstermin.“

Eigentlich lag es ihr nicht, ihre Kollegen zu kontrollieren, aber wenn Tully nicht hinging, um seine Aussage zu machen, dann blieb es an ihr hängen, und heute wollte sie ausnahmsweise frühzeitig gehen. Sie hatte nämlich Pläne fürs Wochenende. Sie und Detective Julia Racine wollten wieder einen Ausflug nach Connecticut machen. Julia, um ihren Vater zu besuchen, und Maggie, um sich mit einem gewissen Gerichtsanthropologen namens Adam Bonzado zu treffen, der hoffte, Maggie von den Blumensendungen mit Karten, E-Mails und Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter ablenken zu können, mit denen sie ein äußerst hartnäckiger Nick Morrelli in den vergangenen fünf Wochen bombardiert hatte.

„Der Gerichtstermin ist verlegt worden“, erklärte Cunningham, als Maggie schon fast wieder vergessen hatte, worüber sie eigentlich sprachen. Es musste ihr wohl anzusehen sein, denn Cunningham fuhr fort: „Tully hatte eine wichtige familiäre Angelegenheit zu regeln.“

Cunningham entschied sich für einen Donut mit Guss. Während er seinen Blick immer noch prüfend auf den Inhalt der Schachtel gerichtet hielt, fuhr er fort: „Du weißt ja, wie das ist, wenn Kinder in die Pubertät kommen.“

Maggie nickte, aber eigentlich wusste sie es nicht. Ihre Familienpflichten beschränkten sich auf einen weißen Labrador Retriever namens Harvey, der ganz zufrieden war, wenn er zweimal täglich gefüttert und möglichst oft hinter den Ohren gekrault wurde und wenn ihm ein Plätzchen am Fußende ihres riesigen Bettes gehörte. Heute Nachmittag würde er ausgestreckt und glücklich auf dem Lederrücksitz von Julia Racines Saab liegen und es genießen, dass er dabei sein durfte.

Sie fragte sich, welche Erfahrungen Cunningham in dieser Beziehung hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr Boss jemals wegen einer „familiären Angelegenheit“ zu spät gekommen wäre. Nach den zehn Jahren, die Maggie mit ihm zusammenarbeitete, wusste sie nichts über die Familie des stellvertretenden Leiters. Auf seinem aufgeräumten Schreibtisch fanden sich keine Fotos, nichts in seinem Büro gab irgendwie Aufschluss. Es war ihr bekannt, dass er verheiratet war, sie hatte aber seine Frau nie kennengelernt. Maggie wusste noch nicht einmal ihren Namen. Es war nun mal so, dass sie nicht zu denselben Weihnachtsfeiern eingeladen wurden, geschweige denn, dass Maggie überhaupt zu irgendwelchen Weihnachtsfeiern ging.

Cunningham behandelte sein Privatleben als genau das, was es war – privat. Und in vielerlei Hinsicht handhabte Maggie es genauso. Auf ihrem Schreibtisch standen ebenfalls keine Fotos. Während ihrer Scheidung hatte sie auf ihrer Arbeitsstelle nie ein Wort darüber verloren. Wenige Kollegen wussten überhaupt, dass sie verheiratet gewesen war. Diesen Teil ihres Lebens trennte sie vom Job. Das musste sie tun. Aber für Greg, ihren Exmann, stellte das einen Beweis für die Lage der Dinge dar, ein weiterer Grund für die Scheidung.

„Wie kannst du jemanden lieben und einen so wichtigen Teil deines Lebens aussparen?“

Darauf hatte sie keine Antwort gehabt. Sie war nicht in der Lage gewesen, es ihm zu erklären.

Manchmal wurde ihr klar, dass sie diese Unterscheidung nicht einmal besonders gut beherrschte. Sie wusste nur, dass sie als jemand, der kriminelles Verhalten analysierte und kategorisierte, jemand, der täglich dem Bösen nachjagte, der Stunden damit verbrachte, sich in den Kopf von Killern hineinzuversetzen, diesen Teil seines Lebens vom Privaten trennen musste, um nicht zu zerbrechen. Das schien ein geeignetes Oxymoron zu sein: etwas trennen, um ganz zu bleiben.

Sie fragte sich, ob Cunningham das seiner Frau hatte erklären müssen. Wenn ja, war er offensichtlich mit seiner Argumentation erfolgreicher gewesen als Maggie. Ein Grund mehr, um sich seine verschlossene Art anzueignen.

Nein, Maggie wusste nicht, wie Cunninghams Frau hieß und ob er Kinder hatte, welches sein Lieblings-Footballteam war und ob er an Gott glaubte. Und das war es auch, was sie an ihm bewunderte. Letztendlich konnte man umso weniger verletzt werden, je weniger die anderen von einem wussten. Das war eine der seltenen Möglichkeiten, Schaden von sich abzuwenden, etwas, das Maggie sehr schmerzlich hatte erfahren müssen, etwas, das sie leider nur zu gut gelernt hatte. Nach ihrer Scheidung hatte sie niemanden mehr zu dicht an sich herangelassen. Es war nicht notwendig, Privat- und Berufsleben zu trennen, wenn es kein Privatleben gab.

„Warte.“ Cunningham umfasste Maggies Handgelenk, bevor sie ein zweites Mal abbeißen konnte.

Er warf seinen Donut auf den Tresen und zeigte in die Schachtel. Maggie erwartete schon, eine Kakerlake oder ähnlich Schreckliches zu sehen. Stattdessen erblickte sie lediglich die Ecke eines weißen Umschlags ganz unten am Boden des Kartons. Durch das Loch eines Donuts konnte sie Teile einer Blockschrift erkennen. Unter den Agents war eine Schachtel mit Donuts ein beliebtes Geschenk, wenn man jemandem zu irgendwas gratulieren wollte. Wenn sich also darin eine Karte in einem Umschlag befand, sollte das niemanden beunruhigen.

„Weiß einer von euch, wer diese Schachtel mit den Donuts gebracht hat?“, erkundigte sich Cunningham laut genug, sodass jeder ihn hörte, bemühte sich jedoch, die Sorge, die Maggie in seinem Blick lesen konnte, nicht durchklingen zu lassen.

Einige hoben die Schultern, manche murmelten ein „Nein". Alle machten mit ihrer Arbeit weiter. Hier gehörte keiner zur schüchternen Sorte. Wenn einer von ihnen es verdient hätte, hätte er sicher die Anerkennung entgegengenommen. Aber wer auch immer diese Schachtel mit dem Gebäck gebracht hatte, war wieder gegangen, und diese Erkenntnis verursachte bei Cunningham ein nervöses Zucken im linken Auge.

Er zog einen Kuli aus seiner Brusttasche und schob ihn in das Loch des Donuts, um ihn vorsichtig anzuheben und den Brief freizulegen. Maggie kam es verdächtig vor, dass man ihn unter die Donuts gelegt hatte, sodass er erst gefunden würde, wenn fast alles bereits aufgegessen wäre. Plötzlich hatte sie einen bitteren Geschmack im Mund. Es war nur ein Bissen, sagte sie sich. Dann fragte sie sich sofort, wie viele ihrer Kollegen bereits mehrere davon gegessen hatten.

„Manchmal schickt jemand aus einer anderen Abteilung eine Schachtel mit einer Gratulationskarte“, bemerkte sie in der Hoffnung, dass sich ihre Annahme als richtig herausstellen würde.

„Das hier sieht nicht nach einer Gratulationskarte aus.“ Cunningham hob mit spitzen Fingern eine Ecke des Briefes an.

MR. F.B.I.-AGENT stand da auf der Mitte des Umschlags in einer Schrift, als hätte ein Erstklässler sich im Schreiben von Blockschrift geübt.

Cunningham legte den Umschlag so vorsichtig auf den Tresen, als habe er etwas Zerbrechliches in der Hand. Dann trat er einen Schritt zurück und blickte sich wieder um. Ein paar Agents warteten vor dem Fahrstuhl. Cunninghams Sekretärin Anita nahm den Hörer des Telefons ab, als es klingelte. Niemand achtete auf den Chef, dem man, abgesehen von winzigen Schweißtröpfchen auf der Oberlippe, die aufkommende Panik nicht anmerkte.

„Milzbranderreger?“, fragte Maggie leise.

Cunningham schüttelte den Kopf. „Der Umschlag ist nicht versiegelt. Nur die Lasche eingeschoben.“

Der Fahrstuhl klingelte und lenkte beide kurz ab.

„Für eine Bombe ist er zu flach“, stellte Maggie fest.

„An der Schachtel ist auch nichts befestigt.“

Ihr fiel auf, dass sie redeten, als versuchten sie ein harmloses Kreuzworträtsel zu lösen.

„Was ist mit den Donuts?“, fragte Maggie schließlich. Der eine Bissen lag ihr wie ein Stein im Magen. „Meinst du, sie sind vergiftet?“

„Könnte möglich sein.“

Ihr Mund wurde trocken. Sie hoffte, ihr Verdacht würde sich als ungerechtfertigt erweisen. Es könnte ein Scherz unter Kollegen sein. Das schien eigentlich naheliegender, als dass ein Terrorist sich Einlass nach Quantico verschafft hatte und bis in die Abteilung für Verhaltensforschung vorgedrungen war.

Nachdem Cunningham beschlossen hatte, den Brief zu öffnen, dauerte es nur zwei Sekunden – vielleicht auch drei –, bis er die Lasche vorsichtig mit einem Buttermesser herausgezogen hatte. Wieder nur mit spitzem Zeigefinger und Daumen zog er das darin liegende Papier heraus. Es war einmal in der Mitte gefaltet und zu beiden Seiten noch einmal etwa einen Zentimeter eingeschlagen.

„Apothekerfaltung“, bemerkte Maggie, und wieder zog sich ihr der Magen zusammen. Cunningham nickte. In Zeiten vor den praktischen Plastikschachteln hatten die Apotheker Medizin in einfaches weißes Papier gelegt und so gefaltet, dass Pillen oder Puder nicht herausrutschten, wenn man den Umschlag öffnete. Maggie war es nur aufgefallen, weil sie das von dem Anthrax-Killer-Fall gelernt hatte. Jetzt fragte sie sich, ob sie nicht zu voreilig gewesen waren, den Umschlag einfach zu öffnen.

Cunningham nahm das Papier, ohne die Faltung an den Seiten zu öffnen, und schob die Enden ein Stück zusammen, um zu sehen, was sich darin befand. Kein Puder oder irgendwelche anderen Stoffe. Maggie sah lediglich dieselbe Blockschrift, mit der auch der Umschlag beschrieben war, diese merkwürdige Handschrift, die wie die eines Kindes aussah.

Cunningham öffnete das Papier mit seinem Kugelschreiber. Es waren kurze, einfache Sätze, untereinander angeordnet.

Cunningham warf einen Blick auf seine Armbanduhr, dann sah er Maggie an. „Wir brauchen ein Bomben- und ein Sondereinsatzkommando“, sagte er vollkommen beherrscht. „Wir sehen uns in fünfzehn Minuten draußen am Eingang.“ Dann drehte er sich um und ging in sein Büro zurück, so lässig, als würde er sich auf einen ganz alltäglichen Einsatz vorbereiten.

3. KAPITEL

Reston, Virginia

Abrupt trat R. J. Tully auf die Bremse und setzte damit hinter sich eine Kettenreaktion in Gang. Reifen quietschten. Der Yukonfahrer, der ihn gerade überholt hatte, zeigte ihm den Mittelfinger, bevor ihm klar wurde, dass auch er vor der roten Ampel warten musste.

„Dafür kann ich nichts“, sagte Tullys Tochter Emma, die auf dem Beifahrersitz saß. Mit beiden Händen umklammerte sie ihren Becher mit Latte von Starbuck's, der Deckel saß immer noch fest, kein Tropfen war verschüttet worden.

Tully warf einen Blick auf seinen Kaffee, den er in die Becherhalterung an der Konsole gestellt und von seinem Deckel befreit hatte, um die Sahne reinzugießen. Er hasste es, aus Bechern mit diesen Antikleckerdeckeln zu trinken. Aber vielleicht würde das Saubermachen ihn ja in Zukunft dazu motivieren. Der Kaffee hatte sich überall im Auto verteilt, inklusive auf seiner Hose.

„Natürlich ist es nicht deine Schuld, warum sollte es?“, erwiderte er, hielt aber den Blick weiter auf den Yukonfahrer gerichtet, der ihn im Rückspiegel anstarrte. Wollte er Tully zu einem kleinen Rennen herausfordern? Irgendwann würde er einem solchen Idioten gern mal die FBI-Marke unter die Nase halten. Vor allem jetzt, wo der Typ vor der Ampel festsaß und auf Grün wartete, genauso wie die Wagen hinter ihm, die er geschnitten hatte.

Tully sah zu Emma hinüber, die aus dem Seitenfenster starrte und an ihrem Latte nippte, statt zu antworten. „Warum sagst du denn so was?“, wollte er erneut wissen.

„Na ja, du kommst zu spät zur Arbeit, weil du mich zur Schule bringen musst.“ Sie zuckte die Schultern, ohne ihn anzusehen. „Deshalb hast du's eilig. Aber es ist nicht meine Schuld, dass du zu spät kommst.“

„Der Idiot hat mich geschnitten“, entgegnete Tully und hätte fast hinzugefügt, dass das nichts damit zu tun hatte, dass er in Eile war. Und ganz sicher war es auch nicht seine Schuld. Glücklicherweise hielt er rechtzeitig den Mund. Wann waren sie denn in dieses Spiel gegenseitiger Schuldzuweisungen verfallen? Mit seiner Exfrau hatte er es die ganze Zeit betrieben, aber jetzt stellte Tully fest, dass er das gleiche Ritual mit seiner Tochter angefangen hatte, so als wäre die Verhaltensweise schon genetisch programmiert und bedurfte lediglich eines kleinen Anstoßes von außen.

„Natürlich ist es nicht deine Schuld, Süße“, sagte er schließlich. „Du weißt doch, dass es mir nichts ausmacht, dich zur Schule zu fahren. Ich tu's wirklich gern, aber ich hätte es einfach nur lieber schon früher erfahren.“

„Andrea ist krank geworden. Das hab ich dir sofort gesagt, als ich es wusste.“ Sie warf ihm einen Blick zu, als wolle sie ihn davor warnen, sie herauszufordern.

Er verkniff sich jede Erwiderung. Zufrieden fuhr sich Emma durch ihr blondes Haar, das ihr ständig über die Augen fiel. Tully verkniff sich eine Bemerkung. „Das ist eben mein Stil“, erklärte sie ihm jedes Mal, wenn er etwas darüber sagte. Sie hatte wunderschöne blaue Augen. Die sollte sie nicht verstecken. Trotzdem schwieg er jetzt, um zu vermeiden, dass sie wieder die Augen verdrehte und genervt seufzte, so wie immer, wenn er einen Kommentar dazu abgab.

Die Ampel schaltete auf Grün. Tully nahm den Fuß von der Bremse und versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht war der Yukonfahrer ja gar nicht der Grund dafür, dass er sich so gehetzt fühlte. Die Beziehung zwischen Emma und ihm war ziemlich angespannt. Sie befand sich im Abschlussjahr. Ständig beteuerte sie, unter welchem Stress sie stand. Dabei hatte er eher den Eindruck, dass sie eigentlich nur ausgehen, mit ihren Freunden im Einkaufszentrum herumhängen oder ins Kino gehen wollte.

Es frustrierte ihn, dass sie die Schule nicht ernst nahm, sich nicht um ihre Zensuren kümmerte und, ja, aufs College gehen wollte. Jedes Mal wenn er ihr Broschüren mit den Aufnahmebedingungen der Unis mitbrachte und auf ihren Schreibtisch legte, packte sie ihre Brautmoden- und Glamourmagazine darüber. Für sie waren die Vorbereitungen für ihren Auftritt als Brautjungfer zur Hochzeit ihrer Mutter interessanter, als ein Stipendium für die Universität ihrer Wahl zu gewinnen.

Manchmal erinnerte sie ihn so sehr an Caroline. Und es war auch nicht gerade hilfreich, dass sie ihrer Mutter mit zunehmendem Alter immer ähnlicher wurde, mit ihrer hellen Haut, dem blonden Haar und den saphirblauen Augen, mit denen sie ihn schon fast rein instinktiv zu manipulieren verstand. Das Einzige, was sie von Tully geerbt hatte, war ihre Größe und die schlanke Figur.

Er war froh, wenn diese Hochzeit endlich vorüber und überstanden war. Nur noch eine Woche. Vielleicht würde er es ja überleben. Er brauchte keinen Psychologen, der ihn darauf hinwies, dass ihm diese überschwängliche Freude seiner Tochter angesichts der neuen Heirat ihrer Mutter nicht nur schwer im Magen lag, weil sie darüber ihr Studium vergaß.

Tully nahm es Caroline nicht übel, dass sie noch einmal heiratete. Das hatte nichts mit ihrer Scheidung zu tun. Die lag bereits Jahre zurück, so viele Jahre, dass er sie schon nicht mehr zählte. Nein, es war diese unbestimmte Angst, dass er seine Tochter an das neue Familienleben seiner Exfrau verlieren würde.

Direkt nach der Scheidung hatte Caroline ihre Tochter zu ihm geschickt, um ungestört ihr neues Leben in Angriff nehmen zu können und nicht an das alte erinnert zu werden. Zumindest war es die Erklärung, die Tully ständig im Kopf hatte. Nun waren alle wegen der Hochzeit fürchterlich aufgeregt und erwarteten wie selbstverständlich, dass Tully wie immer ihr Fels in der Brandung war. Es passte ihm überhaupt nicht, dass er so zuverlässig war und immer zur Stelle und dass alle davon ausgingen, dass es wieder so sein würde.

Er blickte auf seine Uhr. Zuverlässig und zur Stelle, aber zu spät. Es schien allerdings nur ihn zu stören, vor allem, dass er zu spät war. Sogar als er seinen Boss, Assistant Director Cunningham, angerufen hatte, um Bescheid zu sagen, dass er sich verspäten würde, hatte er einen leicht ungeduldigen Unterton in dessen Stimme wahrgenommen, dass Tully es für nötig befand, deswegen anzurufen.

„Das müsste alles nicht sein“, sagte Emma und brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück.

Sie warf sich das Haar aus dem Gesicht, wandte sich ihm zu und sah ihn wieder mit diesem hoffnungsvollen Blick des kleinen Mädchens an, das alles richtig machen wollte. In den letzten vier Jahren hatten sie eine Menge zusammen durchgestanden, und sie hatte recht, da sollten sie nicht so feindselig miteinander umgehen. Wieder mal reagierte sie vernünftiger, rückte ihm den Kopf zurecht und erinnerte ihn daran, was wirklich wichtig war. Nein, sie sollten sich tatsächlich nicht streiten oder sich gegenseitig beschuldigen. Er befürwortete ebenfalls einen Waffenstillstand.

Er seufzte und parkte lächelnd vor der Schule ein. Doch bevor er ihr gestehen konnte, dass sie recht hatte und er sie liebte, sagte sie: „Ich wäre nicht auf Andrea angewiesen, wenn du mir ein eigenes Auto kaufen würdest. Dann wäre alles viel einfacher.“

Also darum ging es. Tully versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als Emma ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Sie rutschte vom Sitz nach draußen, den Rucksack in einer Hand, den Latte in der anderen, nachdem sie all seine Hoffnungen auf einen Waffenstillstand zerstört hatte.

4. KAPITEL

Elk Grove, Virginia

Was sie sah, gefiel Maggie überhaupt nicht. Die Adresse befand sich mitten in einer ruhigen Gegend mit gepflegten Bungalows, die von riesigen Eichen und hübschen Gärten umgeben waren. Es hätte jeder beliebige Vorort sein können. Warum hatte er sich ausgerechnet diesen ausgesucht?

Ein rotes Fahrrad mit Quasten am Lenker lag in der Auffahrt. Zwei Häuser weiter harkte ein grauhaariger Mann Blätter zusammen. Am Ende der Straße parkte ein Umzugswagen, und eine Frau lief vor zwei Männern mit einem Sofa her.

Nein, das gefiel Maggie ganz und gar nicht.

Warum sollte einer in so einem verschlafenen Vorort eine Bombe hochgehen lassen? Am frühen Vormittag würden nur Vorschulkinder, ihre Aufsichtspersonen und ein paar Rentner zu Hause sein.

Hatte er das mit „Eure Kinder sind nirgends mehr sicher“ gemeint?

Vielleicht war es die Absicht dieses Bombenlegers, die Unschuldigen, die Wehrlosen zur Zielscheibe zu machen. Wollte er ihnen damit sagen, dass er keine Skrupel kannte, vor nichts haltmachte? Dass er überall zuschlagen konnte und auch würde? Klar war, sie konnten die Sicherheitsmaßnahmen auf Flughäfen, in der Untergrundbahn und auf Bahnhöfen verschärfen, doch es war unmöglich, jeden Wohnort in der Gegend zu überwachen.

„Das gefällt mir nicht“, sagte Cunningham.

Sie standen mit einem weißen Lieferwagen, der mit seinem orange-blauen Logo einer Installationsfirma vollkommen unauffällig aussah, an der Bordsteinkante. Hinten im Laderaum saßen drei FBI-Techniker am Computer und hämmerten auf die Tastatur ein, während sie die Monitore an der Wand im Auge behielten, die ihnen vier verschiedene Perspektiven des besagten Hauses zeigten. Die Kameras, die diese Bilder übertrugen, steckten an den Helmen des Einsatzkommandos, das gerade in Position ging. Ein Wagen gleichen Fabrikats und mit dem gleichen Logo parkte hinter ihnen. Einen Block weiter stand ein Wagen der Stadtreinigung, in dem das Team zur Bombenentschärfung wartete.

Maggie rückte ihre mit roten Blumen gemusterte Jacke zurecht, die ihr nicht gehörte, aber perfekt über die kugelsichere Weste passte. Sie hatte das Ding in einem der Schränke im Hauptquartier gefunden, in dem sich eine skurrile Sammlung von Kleidungsstücken befand, mit denen man sich gut tarnen konnte. Während das kupferfarbene Jackett förmlich schrie: Achtung, FBI-Agentin klopft an deine Tür!, hoffte sie, mit diesem Blümchenmuster eher willkommen zu sein. Jedenfalls wenn ihre Waffe sich nicht darunter abzeichnete.

Sie rückte ihr Schulterholster mit der Smith & Wesson zurecht. Ihre Kollegen hatten sich vor Jahren mit einer Glock auf den neuesten Stand gebracht, aber Maggie blieb bei ihrem alten Dienstrevolver. In Situationen wie dieser musste sie immer wieder daran denken, dass es völlig egal war, was für eine Waffe sie trug. Die kugelsichere Weste war auch keine große Hilfe, wenn sie es mit Sprengstoff zu tun hatten. Typen, die Einladungen an Polizisten schickten, taten das gewöhnlich, weil sie gern ein paar von ihnen in die Luft sprengen wollten.

Cunningham hatte alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die möglich waren. Unglücklicherweise waren sie nicht in der Lage gewesen, die Häuser in der Umgebung zu räumen. Ihnen lief die Zeit davon.

Maggi sah auf ihre Armbanduhr: 9 Uhr 46. Wieder ließ sie ihren Blick über die Nachbarhäuser schweifen – so gut das durch die schwarz getönten Scheiben möglich war.

Bestimmt hielt er sich hier auf.

Beobachtete alles.

Wartete.

Vielleicht hatte er einen Zünder bei sich.

„Was ist mit dem Umzugswagen?“, wollte Maggie wissen.

„Zu offensichtlich“, winkte Cunningham ab, ohne den Monitor aus den Augen zu lassen.

„Manchmal ist das Offensichtliche eine gute Tarnung.“

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, und sie überlegte, dass es vielleicht nicht so klug gewesen war, ihm seine eigenen Worte unter die Nase zu reiben. Er sah wieder zu den Monitoren, hantierte aber an dem Mikrofon, das an seinem Kragen steckte. „Überprüft den Umzugswagen“, sagte er ins Mikro.

Innerhalb von Sekunden sah Maggie, wie ein Agent in braunem Overall mit demselben Logo der Installationsfirma hinter ihnen aus dem Lieferwagen stieg. Er ging zum Umzugswagen hinüber und verglich mit einem Blick auf sein Klemmbrett, das er in der linken Hand hielt, die Adressen der beiden Häuser davor. Er unterhielt sich immer noch mit dem Fahrer des Lkws, als Cunningham, wie ein nervöser Schachspieler, der darauf brannte, den nächsten Zug zu tun, auf einen der anderen Monitore deutete.

„Können wir schon irgendwas im Haus erkennen?“, erkundigte sich Cunningham bei einem der Techniker, der unentwegt auf der Tastatur herumtippte.

Maggie warf einen Blick zu dem Monitor hinüber, den Cunningham so interessiert betrachtete. Irgendwo hinter dem besagten Haus trug ein Beamter des Sondereinsatzkommandos einen Helm, auf dem eine Wärmekamera montiert war. Die Infrarotsensoren konnten Körperwärme erfassen und beispielsweise aus einer Person auf einem Sofa und dem Sofa ein differenziertes Bild erstellen. Warme Objekte erschienen weiß, kalte dagegen schwarz. Alles über zweihundert Grad zeichnete sich rot ab. Die Feuerwehr benutzte solche Kameras, um Überlebende in mit Rauch gefüllten Gebäuden zu finden.

In diesem Fall erhofften sie sich einen Überblick darüber, wie viele Personen – ob nun Opfer, Geiseln oder Bombenleger – sie da drinnen erwarteten.

„Kleine Wärmequelle im ersten Zimmer“, sagte der Techniker und deutete auf den Bildschirm, als der erste weiße Umriss hell aufleuchtete. Wenige Sekunden später tippte er die Koordinaten der zweiten Wärmequelle ein. „Vielleicht ein Schlafzimmer. Die Person liegt.“

Sie warteten. Cunningham beugte sich über die Schulter des Technikers und schob seine Brille zurecht. Maggie saß im Hintergrund, wo sie ein Auge auf die Monitore werfen und gleichzeitig den Umzugswagen beobachten konnte. Der Agent winkte dem Fahrer gerade dankend zu, lief aber um den Wagen herum zur offenen Ladefläche, während er das Theater mit der Adressenüberprüfung weiterspielte.

„Das ist alles?“, fragte Cunningham den Techniker. „Nur zwei Wärmequellen?“

„Sieht so aus.“

Cunningham sah aus dem Fenster, dann zu Maggie, während er sich die Jacke zuknöpfte – ein abgetragenes Tweedjackett, das er im selben Schrank gefunden hatte wie Maggie ihre Blümchenjacke.

„Bereit?“, fragte er, nahm sich eine Handvoll Werbeflyer und rückte seine Glock im Schulterhalfter zurecht.

Sie ließ noch einmal ihren Blick über die anderen Häuser gleiten.

Sie nickte. „Bereit“, erwiderte sie dann und folgte ihm, als er aus dem Wagen stieg.

5. KAPITEL

Washington D.C.

Artie ließ die Limousine auf einem öffentlichen Parkplatz stehen, wo das Nummernschild der Kommunalverwaltung keine große Aufmerksamkeit erregte. Er lernte schnell und würde nicht das Risiko eingehen, dass man ihn wegen falschem Parken oder bei einer Verkehrskontrolle schnappte. So wie es Ted Bundy passiert war. Der Typ entgeht einer Verurteilung wegen Mordes, flieht aus dem Gefängnis und wird dann in einem VW-Bus mittags um eins auf dem Davis Highway in Pensacola, Florida, erwischt. Einem aufmerksamen Polizisten war der orangefarbene VW-Bus aufgefallen. Er hatte das Nummernschild überprüft und festgestellt, dass der Wagen in Tallahassee gestohlen worden war.

Artie kannte so was. Wusste von solchen Bagatellen, die Killern passierten. Und er lernte daraus. Keine Aufmerksamkeit erregen. Deshalb stellte er den SUV ab und ging zu Fuß weiter. Das Laufen machte ihm nichts aus. Er hatte eine gute Kondition, obwohl er keinen Sport trieb. Er lebte praktisch von Fast Food. Das Hotel war nur ein paar Blocks entfernt. Er erreichte es, als gerade alle in den Reisebus stiegen. Perfektes Timing.

Diese Tour zu den Sehenswürdigkeiten Washingtons hatte er bereits ein paarmal mitgemacht. Es war eine großartige Gelegenheit, seine Sammlung zu erweitern. Während dieser Zwanzigkilometertour konnte er leicht DNA-Proben von Leuten aus allen Teilen des Landes zusammenbekommen. Letztes Mal hatte er das Glück gehabt, ein langes rotes Haar von einer Frau mit einem Seattle-Seahawk-Sweatshirt zu ergattern.

Nachdem der Fahrer seinen Pass an sich genommen hatte, suchte sich Artie einen Platz am Gang, wo auf der anderen Seite ein Paar mittleren Alters saß. Sie sagten nur „Hallo“, und schon hatte er sie als Leute aus dem Nordosten identifiziert, vielleicht aus New Hampshire. Anhand der Dialekte die Herkunft zu erraten war ein Spielchen, das er gern betrieb.

„Woher kommen Sie denn?“, erkundigte er sich freundlich.

„Aus Hanover in New Hampshire“, erwiderten beide gleichzeitig.

Er lächelte zufrieden.

„Und Sie?“

„Aus Atlanta“, sagte er diesmal. Er wählte immer eine Stadt, die so groß war, dass niemand davon ausging, er würde eine Tante oder einen Cousin kennen. Dann klappte er seine Reisebroschüre auf, um die Unterhaltung zu beenden. Mehr hatte er gar nicht wissen wollen, eigentlich nur die Bestätigung dafür, dass er recht hatte.

Die beiden verstanden den Wink, obgleich er spürte, dass sie ihn am liebsten noch mehr gefragt hätten. Er konnte die unterschiedlichsten Charaktere darstellen. Wenn er wollte, trat er als äußerst charmanter Zeitgenosse auf. Das hatte zur Folge, dass die Leute sich gern mit ihm unterhielten. Manchmal ließ er es auch zu. Es war eine gute Übung. Manchmal dachte er sich die Lügen schneller aus, als sein Gegenüber Fragen stellen konnte. Aber heute war er nicht in der Stimmung. Es gab andere Dinge, auf die er sich konzentrieren musste.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. In wenigen Minuten würde das FBI den Vorort stürmen, weil sie irgendwo einen großen Knall erwarteten. Und er war kilometerweit weg. Artie fand den Plan einfach genial, auch wenn er leider nicht dabei sein konnte. Er hatte aber eine gute Vorstellung von der ganzen Prozedur. Sie brachten sicher eine Spezialeinheit und ein Team zur Bombenentschärfung mit. Allerdings würden sie nicht auf das vorbereitet sein, was sie erwartete. Sie dachten so geradlinig. Das, was geschehen würde, schien geradezu eine gerechte Strafe dafür, dass ihnen das nicht klar war.

Er schob seinen vollgestopften Rucksack auf den Sitz neben sich. Normalerweise wirkte das auf etwaige Nachzügler abweisend, solche Touristen, die meinten, wenn sie allein eine Rundfahrt machten, könnten sie irgend so einen anderen Versager volllabern, der ebenfalls allein reiste.

Gerade als er an Versager dachte, kam eine Frau von dieser Sorte den Gang entlang auf ihn zu. Er erkannte es an ihrem umherwandernden Blick auf der Suche nach einem Gleichgesinnten, während sie nach einem Sitzplatz Ausschau hielt. Sie trug ein rotes Sweatshirt mit aufgestickten Schmetterlingen und verblichene Bluejeans und hatte eine riesige schwarze Handtasche dabei, die wie eine Satteltasche aussah. Als sie den Kopf in seine Richtung drehte, wandte sich Artie ab, blätterte in der Broschüre und tat wieder so, als würde er interessiert darin lesen, obgleich er diese Tour bereits in- und auswendig kannte.

Sie glitt auf den Sitz vor ihm. In der Fensterscheibe konnte er beobachten, wie sie die Tasche auf ihrem Schoß absetzte und begann, darin herumzuwühlen. Kurz darauf hörte er das leise Knipsen einer Nagelschere. Die nervöse Energie einer Versagerin, die einer Situation hilflos ausgeliefert ist, dachte er sofort.

Wie unhöflich. Was war nur mit den allgemeinen Umgangsformen los? Die Leute kämmten sich die Haare in der Öffentlichkeit, kratzten sich an intimen Körperteilen, bohrten in der Nase und schnitten sich die Nägel. Aber ihm gefiel das, seit er wusste, wie er sich diese schlechten Angewohnheiten zunutze machen konnte.

Artie holte ein Taschentuch aus seinem Rucksack und ließ wie zufällig seine Broschüre fallen. Während er sie mit einer Hand aufhob, wischte er mit dem Papiertuch, das er in der Hand verborgen hatte, über den Boden. Er knüllte es zusammen und steckte es in die Büchertasche, ohne dass jemandem auffiel, wie er die gesammelten Fingernägel verstaute.

Dann lehnte er sich sehr zufrieden zurück. Die Fahrt hatte noch nicht einmal begonnen, und schon konnte er einen Erfolg verbuchen und hatte ein paar Vorräte für die Zukunft gesammelt. Erneut blickte er auf seine Uhr und grinste breit. Ja, es sah so aus, als würde dies ein guter Tag werden. Ein sehr guter Tag.

6. KAPITEL

Elk Grove, Virginia

Maggie hatte die Hand unter der Jacke, ihre Fingerspitzen lagen auf dem Kolben der Smith & Wesson, als die Tür geöffnet wurde. Das musste ein Irrtum sein oder eine brillante Inszenierung. Das kleine Mädchen, das ihnen die Tür öffnete, konnte nicht viel älter als vier, höchsten fünf Jahre alt sein.

„Ist deine Mom zu Hause?“, fragte Cunningham, und er klang nicht das kleinste bisschen überrascht. Seine Stimme hörte sich warm und freundlich an, so wie die eines Mannes, der selbst ein Kind in diesem Alter hatte.

Maggie versuchte den Raum dahinter zu erfassen. Ihr Blick fiel zuerst auf einen lärmenden Fernseher, dann auf diverse Kissen, schmutziges Geschirr und überall herumliegendes Spielzeug.

In dem Zimmer herrschte das reine Chaos, aber es waren die Spuren von Nachlässigkeit, und es sah nicht nach einer Geiselnahme aus.

Genauso erbärmlich wirkte das Mädchen. In ihren Mundwinkeln klebten Krümel auf Resten von Erdnussbutter und Konfitüre. Ihr langes Haar hing ihr unordentlich ins Gesicht, und die Kleine strich es sich nach hinten, um die Besucher besser sehen zu können. Sie trug einen pinkfarbenen Pyjama mit Gesichtern von Cartoonfiguren, die jetzt mit Flecken übersät waren.

„Wollen Sie was verkaufen?“ Maggie ahnte, dass die Kleine diese Frage wohl öfter stellte, sie klang gut einstudiert, und auch das abweisende Stirnrunzeln fehlte nicht.

„Nein, Kleine, wir verkaufen nichts“, erwiderte Cunningham. „Wir wollten nur mit deiner Mom reden.“

Das Mädchen blickte über die Schulter zurück, ein Zeichen, dass die Mutter tatsächlich zu Hause war.

„Wie heißt du denn?“, erkundigte sich Cunningham, während Maggie sich unauffällig an ihm vorbei zum Eingang schob.

Sie konnte zwei Türen erkennen, die eine stand offen und führte in ein Bad. Das Zimmer zur Rechten war verschlossen. Sie erinnerte sich an das Bild auf dem Computermonitor, das eine zweite Wärmequelle auf der anderen Seite angezeigt hatte.

„Ich heiße Mary Louise, aber eigentlich darf ich mit niemandem reden.“

Das kleine Mädchen war jetzt abgelenkt und musterte Maggie. Die war im Umgang mit Kindern nicht so geübt wie Cunningham, und irgendwie spürten Kinder das auch immer.

Hunde schienen ja in der Lage zu sein, sofort jeden zu erkennen, der sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlte, um sich dann besonders von demjenigen angezogen zu fühlen, als ob sie versuchen würden, ihn für sich zu gewinnen. Mit Hunden wurde Maggie fertig. Bei Kindern dagegen fühlte sie sich völlig hilflos.

Aus dem Kopfhörer in ihrem rechten Ohr hörte sie einen der FBI-Techniker „Neun Minuten noch“ flüstern und sah sich nach Cunningham um. Er tippte sich ans Ohr, um ihr zu signalisieren, dass er die Nachricht ebenfalls empfangen hatte. Ihnen lief die Zeit davon. Maggies Instinkt riet ihr, das kleine Mädchen einfach zu schnappen und wieder zu verschwinden.

„Schläft deine Mom, Mary Louise?“ Cunningham deutete auf die verschlossene Tür.

Mary Louise wandte sich zu dem Zimmer um, auf das Cunningham zeigte, und Maggie schlüpfte hinter ihr ins Haus.

„Ihr geht es nicht so gut“, gestand das kleine Mädchen. „Ich hab auch Bauchschmerzen.“

„Oh, das tut mir aber leid.“ Cunningham strich ihr tröstend über den Kopf. Das Ablenkungsmanöver wirkte. Mary Louise blickte sich nicht einmal nach Maggie um, die auf Zehenspitzen durch den Raum schlich und dabei alles um sich herum, von den Zeitschriften, die auf dem Kaffeetisch lagen, den verstreuten M&Ms auf dem Teppich bis hin zum Plastikkruzifix an der Wand, registrierte. Sie hielt nach Drähten Ausschau. Über den Lärm der Zeichentrickserie im Fernsehen versuchte sie irgendwelches Summen oder ein Klicken zu hören. Sie schnüffelte sogar, ob es nach Schwefel roch.

„Vielleicht kann ich ja dir und deiner Mom helfen“, sagte Cunningham zu dem Mädchen, das zu ihm aufsah und nickte.

Maggie bemerkte, dass die Kleine nahe daran war, in Tränen auszubrechen, und sich auf die Unterlippe biss, um es zu verhindern.

Diese Geste kannte sie noch aus ihrer eigenen Kindheit, und sie fand es schrecklich, dass Erwachsene heute noch immer diesen dummen Trick mit „Große Mädchen weinen nicht“ benutzten.

Aber es war nicht zu übersehen, dass Cunningham das Vertrauen von Mary Louise gewonnen hatte. Sie griff nach seiner Hand. „Mom ist wirklich ganz krank“, sagte sie mit einem unterdrückten Schluchzen und wischte sich schnell über die Nase. Dann zog sie Cunningham zur Tür.

In diesem Moment hörte Maggie erneut die Stimme in ihrem Ohr: „Noch vier Minuten.“

Autor