×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Aus Dunkelheit und Eis - Das Erwachen«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Aus Dunkelheit und Eis - Das Erwachen« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Aus Dunkelheit und Eis - Das Erwachen

hier erhältlich:

Jahrhundertelang hat das Eis ihn gefangen gehalten, jetzt ist der gefürchtete Kriegsgott Knox von Iviland endlich frei. Nur noch dreiundzwanzig unsterbliche Gegner trennen ihn von seinem Ziel: Er muss siegen und die Erde für seinen König gewinnen. Doch die selbstbewusste Vale London durchkreuzt seine Pläne. Der Anblick ihres Körpers verführt Knox und weckt seinen starken Beschützerinstinkt. Dann macht ein magisches Schwert Vale seiner ebenbürtig. Mit einem Mal muss Knox sich entscheiden: für die Freiheit leben oder für die Liebe sterben.

»Ich liebe diese Welt … Das ist Gena Showalter in Bestform.« SPIEGEL-Bestsellerautorin J.R. Ward

»Diese Serie ist meine neue Obsession!« SPIEGEL-Bestsellerautorin Christine Feehan


  • Erscheinungstag: 19.08.2019
  • Aus der Serie: Aus Dunkelheit Und Eis
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750225
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Jill Monroe, Weltmeisterin im Brainstorming!

Danke für all die fantastischen Dinge, die du tust.

Aber am meisten danke dafür, dass du die beste Freundin bist, die ein Mädchen sich wünschen kann.

1026 AA (After Alliance – nach dem Bündnis)

An: Mitglieder der All War Alliance

Willkommen im 103. All War.

Wir freuen uns zu verkünden, dass ein neues Reich entdeckt worden ist, von seinen Bewohnern bezeichnet als Terra, Midgard oder Erde. Die nächste Schlacht steht bevor.

Das darf man sich nicht entgehen lassen!

Dort warten: bewohnte und unbewohnte Territorien, reich an Ressourcen. Ein Klima und ein Terrain für jeden Geschmack. Riesige Wasserflächen – salzig und süß. Berge. Ebenen. Sümpfe. Wälder. Eisfelder und Wüsten. Ob man Tiere bevorzugt oder Pflanzen – ein endloser Vorrat an Nahrung ist vorhanden.

Diese Welt ist ein überragender Preis, aber nur einer von euch wird das Recht gewinnen, sie zu regieren.

In einer Woche beginnt der Kampf auf Leben und Tod, dem Sieger gehört Terra.

Im Augenblick gibt es achtunddreißig neununddreißig zur Schlacht anerkannte Reiche in unserem Bündnis. Ein einziger Repräsentant jedes Reiches muss per Portal nach Terra reisen. (Daten und Koordinaten angefügt, Anlage A.) Wählt weise, denn euer Krieger muss sich allen anderen im Zweikampf stellen.

Der Kämpfer darf einen Gegenstand aus seiner Heimat mitbringen. NUR EINEN. Keine Ausnahmen.

* Übernatürliche Fähigkeiten durch Genetik/Spezies/Zucht zählen nicht als Waffe.

* Ein »zusammengehörendes Paar« ist erlaubt.

Die Regeln sind einfach:

(1) Sobald sie Terra betreten haben, dürfen die Kämpfer das Reich nicht verlassen, ehe der Krieg beendet ist.

* Zeit spielt keine Rolle.

(2) Eine monatliche Versammlung der Kämpfer ist Pflicht. (Siehe Anlage B.)

(3) Krieger können zurücktreten, indem sie sich das Mal der Schande in die Stirn schneiden und sich mit dem ihnen zugeteilten Vollstrecker für den Rücktransport in Verbindung setzen.

* Königinnen und Könige der teilnehmenden Reiche sind für die Bestrafung der Entehrten selbst verantwortlich.

* Die Entehrten können sich dem Krieg nicht wieder anschließen, und ihnen ist die Teilnahme an jeder anderen Schlacht untersagt.

(4) Nach einer Tötung werden dem Kämpfer die Kräfte verliehen, die zur Aktvierung und Verwendung der gewählten Waffe seines Opfers notwendig sind.

* Eine Tötung geschieht durch Enthauptung, Entfernen des Herzens und/oder durch Verbrennen des Körpers zu Asche.

(5) Nichts und niemand sonst darf nach Terra entsandt werden. Es ist euch erlaubt, mit eurem Kämpfer in Verbindung zu treten, um (a) zu erfahren, wie es im Krieg steht, und (b) ihn zu unterweisen.

Wer gegen die Regeln verstößt, wird gejagt, gefasst und von den Vollstreckern bestraft.

Möge das beste Reich gewinnen.

Fröhliche Kriegstage!

Hoher Rat der All War Alliance

Prolog

AD 701, menschliche Zeitrechnung

103. All War, Monat 5

Terra

Fünfundzwanzig Kämpfer standen zwischen Knox of Iviland und dem Sieg.

Er wartete auf einem Plateau im Gebirge, in jeder Hand einen Dolch fest umklammert. Schatten umhüllten ihn, eisige Winde peitschten um seine nackte Brust. Einer seiner unzähligen Ausbilder hatte ihm einmal gesagt, er wäre so kalt und tückisch wie die eisige Welt, die ihn gerade umgab.

Damit hatte der Ausbilder nicht unrecht.

Über die Jahrhunderte hatten Knox andere Soldaten aus dem Reich Iviland als sadistisch bezeichnet, als barbarisch und gnadenlos. Auch sie hatten recht behalten. Aber nicht ihr Leben. Jeder von ihnen war einen qualvollen Tod gestorben, durch seine Hand. Zur Übung.

Wer ein Leben voller Gewalt führt, findet ein Ende voller Gewalt. Säht man die Saat des Leidens, erntet man ebendies. Eines Tages würde Knox das gleiche Schicksal ereilen wie seine Opfer, er konnte dieser gefürchteten Vorsehung nicht entgehen.

Vielleicht fand er schon heute Nacht sein Ende – in der Nacht der Versammlung.

In elf Minuten und dreiundvierzig Sekunden würden grüne und violette Lichter den Himmel erhellen, und die nächste Versammlung der Kämpfer würde beginnen. Eine Zeit, die den scherzhaften Beinamen »Check-in« trug.

Man meldet sich an, und man hilft anderen dabei, sich abzumelden.

Säure überzog das Innere seiner Brust, verätzte ihn, aber nicht ein Wort oder eine Tat verrieten sein Leid. Für Kämpfer war die Außenwirkung lebenswichtig. Ein Anzeichen von Schwäche, und man wurde zum Ziel des Tages.

Eine Versammlung dauerte eine Stunde, fand einmal im Monat statt und half dabei, den Krieg schneller voranzutreiben. Die Teilnahme war Pflicht, jeder Kämpfer des Terran All Wars war gezwungen, die eisige Tundra aufzusuchen, sogar die Feiglinge und Verstecker.

Kam man auch nur eine Sekunde zu spät, wurde man disqualifiziert. Ein Schicksal, schlimmer als der Tod. Man wurde in dem Fall von einem Vollstrecker gejagt, dem es oblag, einen aufzuspüren und alle besonderen Fähigkeiten auszuschalten – die des Kriegers und die seiner Waffe. Das alles gelang ihm aufgrund einer geheimnisvollen Tätowierung.

Vor dem Krieg erhielt jeder Kämpfer eine permanente Markierung. Die Tinte erlaubte es dem Vollstrecker, sich jederzeit und an jedem Ort mit den Teilnehmern in Verbindung zu setzen. Angeblich erleichterte das dem Hohen Rat die Aufgabe, für einen fairen Krieg zu sorgen. Knox hatte diesbezüglich seine Zweifel und vermutete, die Tinte könne noch viel mehr. Da er das Mal auf seiner linken Schulter trug – einen Baum in einem Kreis –, konnte er nichts dagegen tun. Er war so verwundbar wie alle anderen auch.

Die Tätowierung zu entfernen half nicht. Die Tinte drang einem ins Blut. Auch vor dem Vollstrecker wegzurennen würde nichts helfen. Wenn er einen erwischte – und er erwischte einen immer –, hackte er einem die Gliedmaßen ab und nagelte, was vom Körper übrig blieb, an eine Eismauer in Sichtweite der Versammlung. Während man noch am Leben war.

Man diente dann nur noch als abschreckendes Beispiel.

Wenn sich die Gliedmaßen neu bildeten, entfernte der Vollstrecker sie wieder. So oft es nötig war. Hingerichtet wurde man erst, wenn ein Sieger feststand.

Manchmal stellten sich die Kämpfer vor einer Versammlung gegenseitig Fallen, damit die anderen zu spät kamen und somit ausschieden. Das war auch der Grund, aus dem Knox sein Versteck hoch auf einer Klippe zwischen Gesteinsbrocken und Bäumen noch nicht verlassen hatte. Letzten Monat war es Zion of Tavery gelungen, ihn in einer Eisgrube festzusetzen. Nur wie durch ein Wunder hatte Knox es doch noch geschafft, herauszuklettern und, acht Sekunden ehe es zu spät war, die Schwelle zu übertreten.

Die meisten seiner Gegner standen schon auf einer Lichtung unter ihm versammelt, gefangen gehalten von Wänden aus Energie. Die Krieger selbst blieben trotzdem sichtbar. Sie waren mit Waffen beladen und verspotteten sich gegenseitig.

»Hoffentlich hast du deinen letzten Tag auf Terra genossen.«

»Dein abgetrennter Kopf wird sich prächtig auf meinem Kaminsims machen. Ich muss nur daran denken, mir einen Kamin zu besorgen.«

»Ich brauche ein neues Motivationslied für mein Training – deine Schreie dürften da gut passen.«

Der Terran All War hatte vor fünf Monaten begonnen, und die Feindseligkeiten loderten mit jedem Tag heißer. Die Kämpfer hatten nur eine einzige Sache gemeinsam – sie hassten Knox, Zion und Bane of Adwaeweth.

Verständlich. Knox war unvergleichlich gnadenlos, ein vierfacher Sieger, der bereits drei Männer ausgelöscht hatte. Zion und Bane hatten ebenfalls jeder drei getötet. Einer Handvoll weiterer Kämpfer war ein einziger Todesschlag gelungen.

Wie viele Kämpfer werden mich angreifen, wenn die Versammlung beendet ist?

Letzten Monat hatte er zwölf auf einmal abwehren müssen und hätte dabei fast einen Arm verloren. Er fürchtete sich vor dem Tag der Versammlung … und gleichzeitig konnte er es kaum abwarten.

Eine Stunde lang würde sich der Vollstrecker telepathisch mit dem Hohen Rat in Verbindung setzen, ihn darüber informieren, wer überlebt hatte und wer gestorben war, und in dieser Zeit war es verboten, Blut zu vergießen. Kräfte und Waffen, die übersinnliche Fähigkeiten besaßen, waren dann deaktiviert. Knox würde nicht mehr über die Schulter sehen und mit einem Hinterhalt rechnen müssen. Er könnte planen oder sogar kurz schlafen oder sich stumm über die Mitglieder des Hohen Rates aufregen, die es sich in ihren opulenten Anwesen gut gehen ließen, während ehrenhafte Männer und Frauen dazu gezwungen waren, Entsetzliches zu tun, um neue Territorien für einen König oder eine Königin zu gewinnen, die ebenso abscheulich waren wie die Mitglieder des Rates.

Ich hasse den Hohen Rat. Er herrschte über diese Könige und Königinnen, während er angeblich unparteiisch war, was den Ausgang der All Wars betraf. Knox vermutete, dass ein ums andere Mal dabei betrogen worden war, aber eine solche Anschuldigung über die Lippen zu bringen bedeutete eher früher als später seinen Tod. Er hatte wieder und wieder gesehen, wie gute Soldaten unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen waren, nachdem sie es gewagt hatten, die Wahrheit auszusprechen.

Darüber konnte er sich später Sorgen machen. Jetzt überleben, später gedeihen.

Sobald die Versammlung vorbei wäre, würde das Kampfverbot aufgehoben sein. Von einem Augenblick zum nächsten wären die Kräfte aller Kämpfer wieder aktiviert, und sie würden in Aktion treten. Es würde Opfer geben.

Noch acht Minuten und achtundzwanzig Sekunden bis zum Check-in.

Knox sah sich auf dem Schlachtfeld um, konnte seine Beute aber noch nicht entdecken. Er drehte den Kopf nach links, nach rechts, knackte mit den Knochen und dehnte seine Muskeln, um sich vorzubereiten. Ich werde nicht zögern. Ich werde tun, was ich tun muss, wenn ich es tun muss.

Sein Blick blieb an dem Vollstrecker hängen, dem man Terra zugeteilt hatte. Er war bekannt als Seven, die Nummer sieben. Jeder Vollstrecker hatte nur eine Kennzahl statt eines Namens. Eins bis zehn. Je höher die Nummer, desto grausamer das Individuum. Jede Kennzahl wurde von Hunderttausenden Männern und Frauen getragen.

Seven trug einen schwarzen Kapuzenmantel, sein Gesicht lag in der Dunkelheit verborgen. Wie in der Legende vom Gevatter Tod trug er eine Sichel bei sich.

Knox hatte Mitgefühl mit diesen Händlern des Todes, wusste, dass sie Sklaven waren, genauso wie er, ihre Vergangenheit voller Gewalt wie seine, aber er war noch nie einem begegnet, der bereit gewesen wäre, gegen seine Befehle zu verstoßen, auch nicht, wenn es um die Sicherheit eines anderen Lebewesens ging. Sie wurden schon als Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen und wuchsen heran, um als Armee des Hohen Rats zu dienen, eine scheinbar unschlagbare Macht, die dafür sorgte, dass jedes Reich jedem Erlass gehorchte, egal wie groß oder klein.

Einige Vollstrecker besaßen selbst besondere Kräfte, andere nicht. Man konnte einen besiegen, auch zwanzig, aber die ganze Truppe zu überwältigen war unmöglich. Es gab einfach zu viele. Sie waren einander und ihren Anführern unerschütterlich treu ergeben, und man konnte sich weder vernünftig mit ihnen unterhalten noch sie von ihrer gewählten Aufgabe abbringen.

Noch sechs Minuten, vierzehn Sekunden.

Hinter Knox knirschte das Eis. Seine Muskeln zogen sich zusammen, sein Körper machte sich zum Angriff bereit. Jemand näherte sich.

Er benutzte seine Fähigkeit, die Schatten zu kontrollieren, zwang die Dunkelheit, sich aus dem Boden zu erheben und ihn in schweren Wellen zu umgeben, bis er eins mit der Landschaft geworden war. Diese besondere Gabe hatte ihm schon unzählige Male das Leben gerettet.

Er konnte die Schatten sogar zum Wirbeln bringen und einen Strudel erschaffen, der seine Gegner Hunderte Meter von ihm fortschleuderte.

Er war wachsam … wartete, bereit …

Endlich tauchte Shiloh of Asnanthaleigh auf.

{Keine Feindseligkeit und keine Bedrohung festgestellt.}

Während des zweiten All War, an dem Knox teilgenommen hatte, hatte er einen Eyaer entwickelt, einen knallharten Kampfinstinkt mit einem einzigen Zweck: sein Überleben zu sichern. Dafür war es nicht einmal notwendig, dass er gut lebte.

Trotz dieser Absicherung durch seinen Instinkt vertraute Knox niemandem – niemals – und verhielt sich immer wachsam.

Shiloh blieb neben Knox stehen. Er wirkte vorsichtig, während er die Lichtung überblickte.

Knox hatte in Gedanken eine Akte für jeden Kämpfer angelegt, zu der er ständig Details hinzufügte. Er hielt darin fest, wer wen umgebracht hatte, wer welche Waffen und welche übernatürlichen Kräfte besaß, das bevorzugte Klima, Liebhaber, mögliche zukünftige Liebhaber und wer Allianzen gebildet oder einander Rache geschworen hatte.

Verschiedene Fakten über den zwei Meter zehn großen Mann rasten ihm durch den Kopf. Kommt aus einem stark bewaldeten Reich. Geschickt mit Schwertern und Dolchen. Vermeidet den Kampf, wenn Unschuldige in der Nähe sind. Einfühlsam für das Leid anderer.

Als Heimat-Waffe hatte sich der Asnanthaleighling besondere Kontaktlinsen ausgesucht, die es ihm erlaubten, durch alles zu blicken, auch durch Knox’ Schatten.

Ich will sie. Ich nehme sie mir.

Geduld.

»Hallo, mein Freund.« Shiloh redete in einer Sprache, die Knox nie gelernt hatte, doch ein Gerät, das man ihm ins Ohr implantiert hatte, übersetzte jedes Wort. Dank des technischen Fortschritts, den jedes neu eroberte Reich mit sich brachte, trug jeder Kämpfer ein ähnliches Gerät, das sich automatisch aktualisierte.

»Ich bin nicht dein Freund«, antwortete Knox. »Wenn du mir vertraust, und sei es nur für einen Augenblick, wirst du es bereuen.« Das war keine Drohung, sondern Fakt.

Vor dem Krieg hatten ihre Könige ein Abkommen geschlossen – Knox und Shiloh sollten zusammenarbeiten, bis sie als letzte Kämpfer übrig waren. Eine noch nie da gewesene Entwicklung. Die meisten Ander-Reicher verachteten Ivilandier und bezeichneten sie als »Kanalratten«. Diese Beleidigung war nicht unverdient. Um der toxischen Atmosphäre an der Oberfläche ihres Reiches zu entfliehen, hatten die Bewohner sich in den Untergrund zurückgezogen, wo sie seither lebten. Ihr Anführer war Ansel, der König der Kanalratten. Er hielt sein Wort nur, wenn es ihm passte.

Kurz bevor Knox nach Terra aufgebrochen war, hatte Ansel ihm befohlen: Bring Shiloh um, sobald du es für nötig hältst.

Wenn die Zeit gekommen war, würde Knox zuschlagen, und er würde heftig zuschlagen, getrieben von einer Kraft, die stärker war als er selbst.

Doch hier war das Beste an der Sache: Egal, wie Ansels Befehl lautete, Knox hätte alles getan, um seinen eigenen Plan voranzubringen. Einige Männer besaßen moralische Grenzen, die sie nicht übertraten. Knox fand die Vorstellung von moralischen Grenzen verwirrend. Nicht alles zu tun, um zu gewinnen? Einfach nur dumm.

»Gestern habe ich Ammarie geköpft«, fuhr Shiloh fort, trotz der Warnung von Knox. »Sie hat mich angegriffen. Ich habe mich einfach nur selbst verteidigt, aber …«

Knox brachte seine Liste auf den neuesten Stand. Vierundzwanzig Kämpfer standen zwischen ihm und dem Sieg. »Schuldgefühle sind sinnlos. Du hast überlebt.« Shiloh hatte auch die Obhut über einen mystischen Pfeil und Bogen gewonnen, bekannt als »Der Blutdurstige«. Der Pfeil jagte seinem Ziel nach wie ein wärmesuchendes Geschoss und wurde mit jedem Opfer immer schneller und wilder.

Ich will ihn. Ich nehme ihn mir.

Bald …

Shilohs Schultern sackten zusammen. »Sie hatte eine Tochter.«

Knox ballte die Hände zu Fäusten. Ignorier den Schmerz. »Von ihrer Familie zu erfahren war dein zweiter Fehler. Du kannst nicht zulassen, dass dir die Angehörigen eines anderen Kriegers mehr bedeuten als deine eigenen.« Bitterkeit schwang in jedem seiner Worte.

»Wenn das mein zweiter Fehler war, was war mein erster?«, fragte Shiloh.

»Angehörige zu haben. Familie und Freunde sind eines von beidem: Anker, die dich vor Sorge hinabziehen und dich ablenken, oder ein Druckmittel, das andere gegen dich verwenden können.«

Mit Letzterem kannte Knox sich persönlich aus. Früher einmal hatte er eine Tochter gehabt.

Oh, ja. Früher.

Ein Segen und ein Fluch.

Ein scharfer Schmerz aus Leid und Trauer durchfuhr ihn und hinterließ eine Spur der Zerstörung. Eines Tages würde Knox sie rächen und den König von Iviland umbringen – und zwar so, dass es wehtat. Ansel war es, der ihn zum Kämpfen gezwungen hatte. Er war es, der erlaubt hatte, dass sein kleines Mädchen starb, während er seine »Pflicht« erfüllte.

Jetzt benutzte Ansel die Aussicht auf Freiheit, um Knox zu manipulieren. Gewinne fünf All Wars in meinem Namen und ich befreie dich von deinen Sklaven-Bändern.

Diese Bänder lagen um seinen Hals, seine Handgelenke und seine Fußknöchel. Auf jedem Wirbel seines Rückens trug er ein X. Aber ob Ring oder X, jedes Mal war mit einer mystischen Tinte gezeichnet, ähnlich der, die der Hohe Rat verwendete, um den Lebensbaum zu schaffen. Diese besondere Tinte zwang Knox dazu, alles zu tun, was Ansel verlangte, ohne Ausnahme.

Knox blieb keine andere Wahl, als weiterzumachen, so als hätte der König die Wahrheit gesagt. Was sollte er sonst tun?

Wenn Ansel gelogen hatte … Er biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte. Wenn Knox den fünften Krieg gewann – diesen Krieg – und nicht befreit wurde …

Ein noch schärferer Schmerz durchfuhr ihn so tief, dass er nicht wusste, ob er sich je davon erholen konnte. Ich werde einfach einen anderen Weg finden müssen, um meine Freiheit zu erlangen.

Sobald er den Sieg erringen würde, musste Ansel sterben. Dringend. Noch jahrhundertelang sollten die Leute sich Geschichten erzählen, in denen sie über die Grausamkeit von Knox staunten.

Fast lächelte er, die Vorfreude in ihm tanzte mit der Wut.

Konzentrier dich. Gefühle jeder Art würden ihn nur ablenken. Ablenkung konnte sein Tod sein.

»Wie kannst du so kaltherzig sein, was den Tod einer anderen betrifft?«, fragte Shiloh.

»Weil ich leben will und die innere Einstellung dabei alles bedeutet. Man zögert, Freunde umzubringen, auf Feinde stürzt man sich begierig. Diese Leute sind unsere Feinde.«

Mit jeder Sekunde erschöpfter wirkend, rieb Shiloh sich mit der Hand über das Gesicht. »Das ist mein erster All War. Ich wusste, dass es hart wird, aber ich bin der stärkste Krieger meines Reiches, und ich habe geglaubt, ich kann einfach … alles. Ich habe mich geirrt.«

»Du klingst, als freutest du dich darauf, zu sterben. Gute Nachrichten. Dabei helfe ich dir gerne.«

»Da bin ich mir sicher, aber ich will nicht sterben. Ich will auch niemanden umbringen.«

»Ah, verstehe. Du möchtest lieber dein ganzes Volk leiden lassen.«

Shiloh starrte ihn düster an.

Für das »Privileg«, am All War teilnehmen zu dürfen, musste der Regent eines Reiches dem Hohen Rat Tausende Kinder überlassen. Die genaue Anzahl hing davon ab, wann der Kämpfer ausschied. Je schneller man ausgelöscht wurde, desto mehr musste das Reich zahlen. Um den Krieg aber ganz aufzugeben, mussten die Regenten noch mehr Kinder überbringen.

Bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag waren sie, Jungen wie Mädchen, nur noch Vieh, Güter, die dazu erzogen wurden, Vollstrecker zu werden.

Nur dem Reich des Gewinners wurde eine Ausnahme von diesem Erlass zugestanden.

»Mein Volk leidet bereits«, sagte Shiloh. »Unser Reich ist überbevölkert.«

Iviland war ebenfalls überbevölkert, jeden Tag wurden Unsterbliche geboren oder erschaffen. Neue Reiche wurden dringend gebraucht.

Sobald früher ein neues Reich entdeckt worden war, hatten sich mehrere Armeen auf den Weg gemacht, um in das unbekannte Gebiet einzufallen. Schlachten wurden geschlagen, in denen die Eindringlinge hofften, die Kontrolle an sich zu reißen. Gewalt hatte sich ausgebreitet und letztendlich alles zerstört, bis die Länder unbewohnbar waren.

Unter dem Vorwand, zukünftige Stätten zu schützen, hatten die Regierungen den Hohen Rat gegründet und den All War ins Leben gerufen – eine laufende Schlacht zwischen genau einem Repräsentanten aus jedem Reich, für die das neue Land zum Austragungsort wurde.

In den letzten paar Monaten hatten die Menschen von Terra angefangen, sich zu wehren und Fallen auszulegen. Zunächst hatte das kein Problem dargestellt, aber an einem Tag wie dem heutigen war es eines. Die Bewohner waren nicht an die Gesetze der Versammlung gebunden. Andererseits besaßen sie auch keine übersinnlichen Fähigkeiten und waren den Unsterblichen nicht gewachsen.

Knox hatte an diesem Tag kein Anzeichen einer menschlichen Armee bemerkt. Vielleicht waren sie vor Angst geflohen? Für sie waren die Kämpfer wie Götter.

Ihm hatten sie den Spitznamen Loki gegeben – »böser Trickster«. Eine Bezeichnung, die Knox mit Stolz trug.

»Als ich eine Frau getötet habe, die ich respektierte, ist ein Teil meiner Seele gestorben«, sagte Shiloh und riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Warum können die Reiche nicht ohne Blutvergießen eine Vereinbarung treffen?«

»Gier.« Was sonst?

Eine Bewegung am Abhang des Berges. Knox ließ seinen Blick über das Eis wandern – endlich. Zion. Ein fast zwei Meter großer Mann – wie Knox selbst – mit dunklen Haaren, breiten Schultern und einem Körper, gestählt durch die brutalsten Schlachtfelder, ohne einen Anflug von Weichheit. Ebenfalls wie Knox selbst.

Doch im Gegensatz zu ihm weigerte Zion sich, die Waffen zu benutzen, die er gewonnen hatte. Gründe unbekannt. Diese Entscheidung ärgerte Knox, auch wenn sie für seine Zwecke hilfreich war. So eine Verschwendung.

Er schloss die Hände fester um seinen kostbarsten Besitz – die Dolche, die er seinem ersten Opfer abgenommen hatte. Ihre Klingen waren gezackt, an den Spitzen befand sich ein Haken, und ihre Griffe waren Schlagringe aus Messing. Mit einem einzigen Schlag konnte er schneiden, hacken und zermahlen.

Zion erreichte den Anmeldepunkt und breitete die Arme aus, als wolle er sagen: Hier bin ich, kommt und holt mich. In seine Arme eingelassen waren Juwelen, jeder in einem besonderen Muster, so kühn wie der Mann selbst. An seinen Händen befanden sich mit Stacheln besetzte Metallhandschuhe, mit denen er alles durchschlagen konnte.

Ich will sie. Ich nehme sie mir.

Das heutige Ziel ist bestimmt.

Die Vorfreude stieg wieder in ihm auf und verdoppelte sich noch einmal, brannte in Knox, wurde mit jeder Sekunde heißer. Zion war ein Krieger, den er nur zu gerne niederstrecken würde.

»Komm.« Knox sprang von seinem Hochsitz, ließ sich fallen und landete nur wenige Meter vom Anmeldepunkt entfernt. Auch wenn der Aufprall ihn erschütterte, ging er ohne zu straucheln vorwärts. Unter seinen Stiefeln knirschte der Schnee.

Shiloh sprang ebenfalls und beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten.

Als sie durch die unsichtbare Mauer traten, die sie auf der Lichtung einschloss, spürte Knox die vertraute und verhasste Vibration vom Scheitel seines Kopfes bis zu den Sohlen seiner Füße. Seine Fähigkeit, die Schatten zu kontrollieren, war soeben neutralisiert worden.

»Wie nett von dir, dass du dich uns anschließt«, sagte Bane, so eingebildet und herablassend wie immer.

Wie die meisten Adwaewethianer hatte er helles Haar, goldene Augen – und hielt ein Monster in seinem Leib gefangen. Wenn die Kreatur die Kontrolle über seinen Körper übernahm, änderte sich seine Erscheinung. Er wurde selbst zu einer Bestie, unvergleichlich entsetzlich, unvergleichlich stark, und entwickelte einen Appetit auf Blut. Nichts und niemand war vor ihm sicher.

Banes größte Schwachstelle war das Licht. Adwaeweth war ein düsteres Reich, in Finsternis gehüllt und ohne eine Sonne. Genau aus diesem Grund war eine Brille die Waffe seiner Wahl. Wie Shilohs Kontaktlinsen erlaubte diese Brille es ihm, alles zu sehen.

Knox lüpfte einen unsichtbaren Hut. »Freut mich, dass du deine Eier zu Hause gelassen hast.«

Als Bane besagte Eier in die Hand nahm und eine anzügliche Grimasse schnitt, erhoben die anderen ihre Stimmen in einem Chor aus Beleidigungen.

»Mögest du heute einen blutigen Tod sterben, Knox.«

»Ich werde dir das Herz nicht nur herausreißen. Ich werde es essen.«

»Ich hoffe, du bist bereit für ein paar innere Verzierungen, Murk.«

»Murk« war eine weitere Beleidigung für Ivilandier, aber nur solche wie Knox, die die Schatten kontrollierten. Man hatte ihn schon als Schlimmeres bezeichnet, doch jede Art von Beleidigung brannte wie Säure in seinen Ohren.

Ignorier sie.

»Wo sind Major und Cannon?« Emberelle of Loandria wedelte mit ihrer täuschend zierlichen Hand, um auf die ganze Gruppe zu zeigen. Die Ringe an ihren Fingern glitzerten im Mondlicht. Mit Haar wie Schneeflocken, Haut von blassem Blau, Augen, die ebenso grün und violett leuchteten wie die Lichter am Himmel, und spitz zulaufenden Ohren sah sie zerbrechlich wie Glas aus. Eine Täuschung. Von allen Frauen war sie die tödlichste.

»Ich habe Major erledigt«, antwortete Ronan of Soloria, nicht gerade stolz, aber auch nicht unbedingt reuevoll.

Knox fügte seiner Gedankenakte eine Notiz hinzu. Jetzt standen noch dreiundzwanzig Kämpfer zwischen ihm und dem Sieg.

»Was ist mit Cannon?«, fragte Ronan. »Ist er tot?«

Ein Schweigen breitete sich aus, als niemand sich für den Tod des Kriegers verantwortlich erklärte.

In Knox’ Gedanken zählte eine Uhr weiter die Sekunden herunter. Noch zweiunddreißig Sekunden, bis Cannon of Dellize den heutigen Check-in versäumte.

Dreißig … zwanzig … zehn … fünf …

Immer noch keine Spur von dem Mann. Drei … zwei …

Der Boden erbebte. Die Versammlung der Kämpfer hatte begonnen.

Nur noch zweiundzwanzig Krieger stehen mir im Weg.

Von seiner Position außerhalb des Kreises aus rammte Seven ein Ende seiner Sichel in das Eis. Der Boden bebte noch stärker, und aus der geschwungenen Klinge ergoss sich ein Schwall aus Funken, der auf die Kämpfer herabregnete.

»Möchte sich jemand freiwillig für einen gnadenvollen Tod melden?«, fragte Zion beiläufig. Er konnte sich nicht dazu durchringen, gegen das schöne Geschlecht zu kämpfen, und versuchte immer wieder, einen richtigen Kampf zu vermeiden. »Mein Angebot ist nur bis zum Ende unseres Treffens gültig.«

Die Haare in Knox’ Nacken stellten sich auf. Er sah sich um … Celeste of Occisor warf ihm ein aufforderndes Lächeln zu.

Er verzog das Gesicht. Versucht sie sich einzuschmeicheln? Unmöglich!

Auch wenn sie bereits einen All War gewonnen hatte, hatte er sie nie für eine Bedrohung gehalten. Sie schien keine besondere Fähigkeit zu besitzen, die im Krieg nützlich wäre, nur das Talent zu verführen. Soweit er wusste, waren drei Männer ihrem Charme erlegen, und jeder von ihnen hatte eine übernatürliche Fähigkeit besessen, die Celeste zu ihrem eigenen Vorteil genutzt hatte. Von den dreien war nur noch einer am Leben – Ranger of Jetha.

Zion und Bane hatten die anderen umgebracht, und Knox hatte sich oft gefragt, ob Celeste ihnen dabei geholfen hatte.

Ein weiterer Krieger – Gunnar of Trodaire – warf ihm tödliche Blicke zu und rückte näher an Celeste heran. Eine vierte Eroberung? Wer hatte Zeit für das ganze Drama?

Emberelle trat in Knox’ Sichtlinie, um ihm in einer Parodie eines Lächelns die Zähne zu zeigen. »Willst du dir ein Date erschleimen, Murk? Mein Schwert ist nämlich daran interessiert, deine Innereien besser kennenzulernen. Hast du Lust, sie einander vorzustellen?«

Zähneknirschen.

Dunkelheit schlüpfte über das Eis und lenkte ihn ab. Er hatte im ganzen Gebirge Schatten abgestellt, die seine Wächter waren. Dieser hier hatte die Lichtung betreten, war wie ein Geist durch ihn hindurchgeglitten und hinterließ ein Bild, das sich in seine Gedanken einbrannte. Knox erstarrte. Hunderte Menschen hatten die nördliche Grenze übertreten. Sie rannten, rannten, immer näher und näher, die Schwerter erhoben.

»Wikinger«, brüllte er. Ein Wort, das in der All-Sprache »Ureinwohner« bedeutete.

Die anderen Kämpfer verstummten, als Fußstapfen wie Donner durch die Berge hallten. Kampfgeschrei wurde laut.

»Sie sind gekommen, um ihre Gefallenen zu rächen«, sagte Bane, vor Eifer stand ihm beinahe Schaum vor dem Mund.

»Beende die Versammlung«, richtete Zion seinen Befehl an Seven. »Wenn die Energie-Mauer fällt, aktivieren sich unsere Kräfte, die unserer Körper und die unserer Waffen. Wenn nicht, sind die Sterblichen im Vorteil.«

Der Wind blies die Kapuze des Vollstreckers nur ein kleines Stück zurück, aber es reichte aus. Knox erhaschte einen Blick auf ein makelloses Gesicht, in dem die Wut kochte. Auf die Kämpfer?

Seven verhielt sich still, und die Funken stoben weiter aus seiner Sichel.

Die Energie-Mauer blieb bestehen.

»Dann müssen wir zusammenarbeiten.« Nun also doch eine kurzzeitige Allianz. Knox drückte die Schultern durch. »Bildet vier Reihen zu je fünft, jede in eine andere Richtung zeigend.«

»Also ein Quadrat?«, fragte Emberelle. Ihr Tonfall deutete an, dass sie ihn für einen Idioten hielt.

»Tu es einfach«, fuhr er sie an. »Bleibt so nahe wie möglich bei dem Vollstrecker.«

Die Krieger nahmen rasch ihre Stellung ein, die Waffen bereit. Knox stand zwischen Zion und Bane und musterte den näher kommenden Feind. Fast alles Männer, keiner über einen Meter achtzig groß. Sie hatten sich Lehm ins Gesicht geschmiert, Wut funkelte in ihren Augen. Um ihre Körper hatten sie Felle geschlungen. Ihre muskulösen Staturen waren wie für den Kampf gemacht. Einige trugen Helme, die aus Eisen geschmiedet waren.

Knox kam nicht umhin, das Heer zu respektieren. Diese Soldaten verteidigten ihr Heimatland und beschützten ihr Volk. Aber sie bedrohten den All War, deshalb durften sie nicht verschont werden.

»Zwanzig Sekunden«, rief er.

»Frauen, zieht euch in die Mitte unserer …«

Die betreffenden Kriegerinnen unterbrachen Zion mit Drohungen, ihm die Hoden abzuschneiden.

»Wenn du wissen möchtest, wie ich dich umbringen werde, Knox«, sagte Bane mit einem kalten Lächeln, »sieh zu, wie ich die Wikinger töte.«

»Wie niedlich«, antwortete er trocken. »Du glaubst, du wirst die Nacht überleben.« An alle gerichtet zählte er die Zeit herunter. »Noch fünf Sekunden bis zum Aufprall. Vier. Drei. Zwei.« Er machte sich gefasst …

Die Wikinger durchbrachen die Mauer.

Knox duckte sich, wich einem Schwertschlag auf seine Kehle aus, wirbelte herum, richtete sich auf – und schlug dem Angreifer einen Dolch in die Flanke. Seine Dolche hatten keine besonderen Kräfte und erfüllten ihre gewöhnliche Funktion.

Als die Waffe aus dem Körper des Mannes glitt, hingen Stücke der Leber an ihrem Haken. Ein schmerzerfülltes Grunzen vermischte sich mit dem makabren Chor aus Stöhnen, Jaulen und Fluchen.

Er wirbelte wieder herum und erstach zwei weitere Sterbliche. Als ihr warmes Blut sich auf ihn ergoss, vergaß er alles, was nicht Teil der Schlacht war. Das Adrenalin gab ihm Energie, schickte sein Herz auf eine Achterbahnfahrt, und die Welt um ihn herum schien beinahe stillzustehen. Er stach, rammte seine Ellenbogen, trat aus. Zu seinen Füßen stapelten sich schon bald die Leichen. Mehr Blut spritzte in alle Richtungen. Mehr innere Organe wurden zerfetzt, als sie auf seine Dolche trafen.

Jeder Wikinger, der es wagte, sich Seven zu nähern, fiel sofort in Ohnmacht, ohne ihn auch nur zu berühren. Guter Trick.

Lachend sammelte Bane ein fallen gelassenes Schwert ein und erstach zwei Männer mit einem einzigen Hieb.

Mit einer seiner beiden Hände, an denen er Metallhandschuhe trug, hob Zion einen Wikinger an der Kehle hoch. Mit der anderen schlug er so fest zu, dass seine Faust auf der anderen Seite des Mannes wieder herauskam.

Ein weiterer Wikinger schlich sich von hinten an den Taverianer an, nur ein Augenzwinkern davon entfernt, einen Treffer zu landen. Knox stürzte sich auf ihn, durchhackte sein Handgelenk, und Schwert und Hand plumpsten gemeinsam auf den Boden.

»Ich werde dir nicht danken«, sagte Zion zu ihm, während er einem Gegner die Kehle durchschnitt.

»Würde ich auch nicht annehmen«, antwortete Knox. Stich um Stich. Er beendete das Leben eines weiteren Angreifers mit zwei Stößen ins Herz.

Sie sind mir nicht gewachsen, obwohl ich die Schatten nicht beschwören kann.

Ein Schrei übertönte alle anderen. Die Wikinger verließen rennend den Kreis, um gleich darauf einen neuen, größeren um die Kämpfer zu bilden. Dann trat ein blutbespritzter Mann nach vorn. Kurz vor der unsichtbaren Mauer blieb er stehen. Er war der größte seiner Mitstreiter und der Einzige, der einen gehörnten Helm trug. Narben überzogen eine Seite seines Gesichts, und ein dichter schwarzer Bart bedeckte seinen Kiefer. Er trug eine fellgefütterte Tunika zu Hosen aus Schafsleder, nichts davon schützte seine lebenswichtigen Organe.

In einer Hand hielt er den Stab von Clima, Cannons Waffe.

Knox erstarrte. Wenn es dem Wikinger gelungen war, Cannon nach dem Check-in umzubringen, nahm er jetzt am All War teil, war unsterblich geworden und hatte die Fähigkeit erlangt, den Stab zu aktivieren, ohne dabei auf Sevens Todesliste zu landen. Und da er nicht innerhalb des Versammlungskreises stand, blieb der Stab aktiv.

Im All War bedeutete der richtige Zeitpunkt alles.

Das Heer der Wikinger teilte sich in der Mitte und erlaubte es zwei Männern, einen kopflosen, blutenden Leib näher heranzuschleifen. Ein frischer Toter. Sie ließen ihre Last fallen, und jemand anderes warf den Kopf hinterher, sodass er in den Kreis rollte. Cannons leblose Augen starrten ins Nichts, seine Miene war in Entsetzen verzogen.

Flüche und Drohungen sprudelten aus den Kämpfern hervor, manche warfen sich sogar gegen die unsichtbare Mauer, prallten aber daran ab.

»Ihr seid in unser Land eingefallen und habt unsere Männer getötet, weil ihr uns nicht gefürchtet habt.« Der Mann mit dem gehörnten Helm hob das Kinn, seine Haltung strotzte vor Stolz und Kraft. »Ich bin Erik, der Witwenmacher, und ich werde euch lehren, uns zu fürchten.«

Erik of Terra. Ein neuer Name für Knox’ Liste der Kämpfer. Dreiundzwanzig Krieger stehen mir im Weg.

Der Anführer der Wikinger hob den Stab hoch in die Luft und rammte ihn dann ins Eis. Der Boden unter ihnen bebte so gewaltig, dass Schneemassen von den Bergspitzen stürzten. Innerhalb von Sekunden zog ein arktischer Blizzard auf, ein heulender Wind, der mit Tausenden von Nägeln und Glasscherben um sich zu peitschen schien.

Als Nächstes wuchs ein Hügel aus Eis unter Knox’ Füßen – und dann verschluckte er seine Füße. Er trat aus … versuchte zu treten, aber er konnte nicht. Es dauerte nicht lang und seine Stiefel waren völlig unter Eis verborgen.

Panik raubte ihm den Atem, als das Eis sich weiter ausbreitete, höher, höher, an seinen Waden entlangkroch, an seinen Knien vorbeiglitt, und immer noch konnte er es nicht aufhalten. Das Eis kroch allen Kämpfern die Beine hinauf, sogar die des Vollstreckers.

Knox kämpfte stärker, kämpfte mit all seiner Macht. Sein Oberkörper – bedeckt. Seine Schultern … der Hals. Schock setzte ein. Besiegt? Von einem viel schwächeren Terraner? Nein!

Grunzen und Stöhnen füllten seine Ohren, die anderen Kämpfer wehrten sich ebenso wild wie er gegen ihr entsetzliches, eisiges Grab.

Als das Eis ihm bis ans Kinn reichte, konnte er sich nicht mehr bewegen.

Das ist nur ein kleiner Rückschlag, mehr nicht. Ich werde ihn überwinden, und ich werde mich rächen. Dann wuchs das Eis ihm über das Gesicht, begrub ihn in sich, sodass er zwar noch bei Bewusstsein war, aber völlig machtlos.

1. Kapitel

Gegenwart

Irgendwo im nördlichen Polarkreis

»Dafür werden Köpfe rollen.«

Mit schmerzenden Schultern, müde und bis auf die Knochen durchgefroren, ließ Vale London ihren zehntausend Pfund schweren Rucksack fallen, lehnte sich an eine Wand aus Eis und sah sich um – ein Meer aus Schnee, durchbrochen von Bergen und Gletscherspitzen, die aussahen wie Meereswellen, die zu Eis erstarrt waren, ehe sie zusammenbrechen konnten. Minus zwanzig Grad kalter Wind peitschte um sie, der Schreie von Schmerz und Hilflosigkeit mit sich zu tragen schien.

»Meinst du in echt oder nur bildlich gesprochen?« Ihre geliebte Pflegeschwester Magnolia »Nola« Lee ließ ihren Rucksack ebenfalls fallen, setzte sich darauf und legte sich eine dicke Flanelldecke um die Schultern. »Bei dir kann man nie wissen. Du bist nicht umsonst als toughe Straßenkämpferin bekannt.«

Vale genoss den Geschmack von süßer brauner Butter, der ihre Zunge überzog. Irgendwann in ihrer kindlichen Entwicklung hatten sich die Sinneswahrnehmungen in ihrem Gehirn miteinander gekoppelt, und sie hatte eine starke Form der Synästhesie entwickelt. Sie hörte Geräusche wie jeder andere, aber sie konnte sie dazu noch schmecken. Buchstaben registrierte sie außerdem als Farben, und Zahlen erschienen als dreidimensionale Landkarte in ihrem Kopf.

Je ausgefeilter das Geräusch, desto vielschichtiger der Geschmack.

»Bildlich … vielleicht«, antwortete sie und seufzte dann. »Wenn ich unseren Bergführer das nächste Mal sehe, kann er froh sein, wenn er danach noch gehen kann. Oder wenigstens kriechen.« Dieses Stück Dreck hatte ihnen verdorben, was der herrlichste Urlaub ihres Lebens hätte werden sollen.

Verflixt, Nola konnte diese Art Stress wirklich nicht gebrauchen. Das Mädchen arbeitete in zwei Vollzeitjobs. Wenn sie nicht gerade backte und ihre Waren in den Büros der Gegend verkaufte, schrieb sie auch noch Anleitungen für die Dating-Rubrik der Website Oklahoma Love Match.

Vale hatte gehofft, noch einmal richtig auf die Pauke hauen zu können – oder vielleicht eher zum ersten Mal –, ehe sie und Nola sesshaft wurden und ihr Schickimicki-Gourmet-Donut-Geschäft eröffneten, Schrägstrich Catering-Service, Schrägstrich Veranstaltungsort für Speed-Dating und Jungesellinnenabschiede. Vale würde den Papierkram übernehmen, und Nola wollte hinter dem Ofen und dem Tresen ihre Pflicht tun.

Und okay, schon gut. Vielleicht konnte man sagen, dass ein Teil der Situation ihre Schuld war und nicht nur die des abwesenden Bergführers. Sie hatte die Ausflüge bei den billigsten Anbietern gebucht, in der Hoffnung, bei ihrem begrenzten Budget mehr unternehmen zu können.

Gut, Qualität wäre wie immer besser gewesen als Quantität. Das hatte sie jetzt verstanden. Wie wäre es also mit einer Pause, Welt?

Wenn man bloß durch die Zeit reisen könnte …

Vor drei Wochen waren Nola und sie in Jukkasjärvi, Schweden, angekommen. Fünf Tage lang hatten sie Abenteuer im Überfluss erlebt. Dann waren sie zu einem Road-Trip nach Russland aufgebrochen und in den Chibinen gewandert, begleitet von einem ungefähr dreißig Jahre alten Guide, der ihnen ein abgefahrenes Erlebnis versprochen hatte. Die Temperatur hatte sich als frostig erwiesen, aber es hatte nur wenig Schnee gelegen und kein Eis. Eine Fülle an Bäumen war aufgetaut, ihre Blätter voll und grün genug, um es mit frisch polierten Smaragden aufnehmen zu können. Sie sahen aus, als wären sie mit Diamantstaub bepudert. Hier und da sprudelte ein fröhlicher Fluss dahin, und atemberaubende Wasserfälle stürzten in kristallklare Seen hinab.

Irgendwie war ihr Trio von einem Augenblick zum nächsten vom Weg abgekommen, und es hatte sie in dieses eisige Ödland verschlagen.

Ihren Weg zurückzuverfolgen hatte nicht geholfen, in alle Richtungen erstreckte sich eine nicht enden wollende Eiswüste. Schließlich hatte sie eine Fußspur zu einer gemütlichen Hütte geführt, wo Vale und ihre Schwester die letzten zwei Wochen verbracht hatten. Am ersten Tag war der Wanderführer aufgebrochen, um die Gegend zu erkunden, und seitdem nicht wieder zurückgekehrt.

An diesem Morgen waren sie gezwungen gewesen, eine schwere Entscheidung zu treffen: Sollten sie in der Wärme ihres Unterschlupfes bleiben und so langsam verhungern oder sich aufmachen, um Hilfe zu finden, und dabei vielleicht (schnell) erfrieren?

Wie ihre Pflegemutter immer sagte: Wenn ihr das Wunder erleben wollt, auf dem Wasser zu gehen, müsst ihr zuerst aus dem Boot steigen.

Das plötzliche Heimweh versetzte Vale einen Stich. Die Welt war ein traurigerer Ort ohne Carrie, auch bekannt als Care Bear.

Da sie dringend eines von diesen Wundern brauchten, hatten Vale und Nola sich in das Schneezeug geworfen, das sie erst vor ein paar Tagen in einer Truhe gefunden hatten. Seltsamerweise hatte die Kleidung ihnen genau gepasst, als wäre sie ihnen auf den Leib geschneidert. Dieser Zufall hatte Vale misstrauisch gemacht, sicher, aber letztendlich waren ihr das Wie und Warum egal gewesen, nur das Ergebnis zählte. Nola und sie waren am frühen Morgen aufgebrochen und hatten sich meilenweit durch den Schnee geschleppt.

Jetzt stand der Sonnenuntergang kurz bevor. Bisher hatten sie nicht das leiseste Anzeichen von Leben gefunden, und Vale machte sich langsam Sorgen.

Langsam? Oh, bitte. Sie hatte sich jede Sekunde jedes Tages Sorgen gemacht, seit dieser Albtraum angefangen hatte.

Ich bin noch nicht bereit zu sterben.

Sie hatte ihr Leben jahrelang auf Eis gelegt, hatte studiert und nebenher verschiedene Jobs gehabt. Gerade jetzt, da sie ihren Business-Abschluss der University of Oklahoma – Go Sooners! – in der Tasche hatte, ohne sich dafür verschuldet zu haben, sollte sie ins Gras beißen? Nein! Völlig inakzeptabel.

Und zu sterben in dem Wissen, auch für den Tod ihrer Schwester verantwortlich zu sein? Niemals.

»Es tut mir leid«, sagte sie, von Schuld überwältigt. Trotz des erstklassigen Gesichtsschutzes brannten ihre Nase und Lungen beim Atmen.

»Es ist alles meine Schuld, und ich kann nicht teilen, das weißt du.« Nolas Atem bildete keine Dampfwolken mehr in der Luft. Ein schlechtes Zeichen. Ganz schlecht. »Ich habe mich so gut gefühlt, dass ich dich gedrängt habe, immer mehr Aktivitäten auf den Reiseplan zu setzen.«

Ihre Schwester litt an Fibromyalgie. Nolas überaktive Nerven konnten jederzeit extreme Müdigkeit auslösen, Schmerzen am ganzen Körper und geschwollene Gelenke. Ein Cocktail aus Medikamenten half dabei, die Symptome zu lindern, aber eine Heilung gab es für die Erkrankung nicht.

»Tut mir leid, Schwesterchen, aber die Wanderung war meine Idee.« Anscheinend hatte sie es nicht so mit dem Entspannen. Jedes Mal, wenn sie zur Ruhe kam, dachte sie über die Lawine der Verantwortung nach, die auf sie zugerast kam, und sie geriet in Panik. Was keinen Sinn ergab. Sie träumte schon seit Jahren davon, diesen Donut-Laden zu eröffnen. Na ja, okay, ihre Träume hatten mehr mit Nolas Glück zu tun als mit ihrem eigenen, aber komm schon! Nola glücklich zu sehen sollte auch Vale glücklich machen. Trotzdem, um zu versuchen, ihre Panik zu verbergen, hatte sie dafür gesorgt, dass sie einfach nicht mehr zur Ruhe kamen. »Die Schuld liegt bei mir, und damit hat es sich.«

»Schön. Wir machen halbe-halbe.« Nola tat so, als würde sie sich die Haare auflockern. »Wenn wir sterben, sterben wir eben, aber wenigstens sehen wir dabei süß aus.«

»Mädchen. Wir sehen so was von süß aus.« Sie trugen glatte Mäntel, Daunenjacken, Thermo-Unterwäsche, Fleece-Leggings, Schutzbrillen, Gesichtsmasken, Mützen und Handschuhe, mehrere Paar Wollsocken und Wanderstiefel mit Eisstollen. »Wir könnten eine ganze Biker-Gang aus den Flanellsachen zaubern.«

»Oder das Herz eines Yeti gewinnen, der einen Fetisch für Südstaatenmädchen hat.«

»Wenn er nicht lieber zuerst unsere Herzen frisst … in Teig ausgebacken, mit etwas geschmolzener Butter dazu.« Ihr lief das Wasser im Munde zusammen. »Ich frage mich, wie kurz gebratener Yeti schmeckt.«

»Wenn du jetzt anfängst, dir die Zähne zu lecken, während du mich ansiehst … fühle ich mich vielleicht nicht mehr so schuldig, wenn ich mich frage, ob deine Leber besser zu einem guten Rotwein oder einem Sixpack Billigbier passt.«

»Du kennst meine Kater. Lass das mit der Leber und nimm lieber das Lendenstück.« Sie gab sich einen Klaps auf den Hintern.

Nola musste lachen, verstummte dann aber, als ein bitterer Wind sie beide beinahe umwarf. »L…lenk mich v…von der Kälte ab, dann l…liebe ich dich für immer.« Ihre Lippen waren blau, und ihre Zähne klapperten noch lauter.

»Du liebst mich bereits für immer.« Genau wie Vale ihre Nola liebte, die tollste Person der Welt. Ich würde Himmel und Erde für sie in Bewegung setzen. »Aber ich bin großartig, wahrscheinlich die Allergroßartigste, also nehme ich mich dieser übermenschlichen Aufgabe an. Sag mir, was dir an der Reise am besten gefallen hat.«

»Einfach a…alles.« Nola rutschte auf ihrem Rucksack herum und konnte sich ein schmerzerfülltes Wimmern nicht verkneifen. Dann fuhr sie fort, als wäre alles in Ordnung: »B…bis auf das Verlassenwerden, den Hunger und die U…unterkühlung natürlich.«

»Solche Kleinigkeiten.« Hilflosigkeit trommelte auf Vale ein. Unterdrücken, weitermachen. »Wir haben alles auf unserer VE-Liste abgehakt.« VE – vorm Erwachsensein. »Wir haben die Nordlichter bestaunt.«

Das Zähneklappern verlangsamte sich, und Nola sagte: »Wir haben über Nacht an einem Ausflug mit dem Hundeschlitten teilgenommen, nach dem ich sofort, wenn ich zu Hause bin, einen Hund aus dem Tierheim adoptieren will.«

»Wir haben Eisskulpturen erschaffen. Nur zu deiner Information: Mein Klops war besser als dein Klops.«

»Das stimmt. Oh! Wir waren auch in der heißen Therme und haben dabei Champagner getrunken.«

»Und als Letztes: Wir sind durch den Polarkreis gewandert.«

»Bleibt nur noch ein Punkt auf der Liste.«

»Sich in einen gut aussehenden Einheimischen zu verknallen«, sagten sie einstimmig.

Nola fügte grinsend hinzu: »Ich dachte, da wäre was zwischen mir und unserem Bergführer, bis er uns hier zum Sterben allein gelassen hat und so. Aber selbst dann war er besser als die meisten meiner letzten Online-Dates. Erklärst du mir bitte mal, warum so viele moderne Männer vollkommen Fremden ungewünschte Bilder ihrer Genitalien schicken und warum sie es mit so viel Stolz tun?«

»Weil wir Frauen natürlich sofort in einen sexuellen Wahn mit Schaum vor dem Mund und allem verfallen, wenn wir auch nur einen Blick auf die Manneskraft irgendeines Typen erhaschen. Logisch.«

»Natürlich! Das muss es sein. Und natürlich ist es sooooo schmeichelhaft, wenn so ein Ekel noch nachhakt und im Gegenzug ein Tittenbild will. Und ich denke mir dann nur: Ja, sicher, hier hast du deine Belohnung dafür, dass ich mich übergeben musste.«

Sie kicherten.

»Aber«, sagte Nola weiter.

»Oh, nein. Kein Aber.« Ihre Schwester war eine hoffnungslose Romantikerin und Optimistin. Nola glaubte daran, dass jeder eine zweite, dritte und vierte Chance verdient hatte – deswegen war sie auch so gut darin, ihre Ratgeber-Kolumne zu schreiben. Wie man seinen Schwarm auf sich aufmerksam macht und so weiter. Vale dagegen war Realistin.

Sie hatte nicht aus Prinzip etwas gegen Beziehungen, aber sie war auch nicht offen dafür. Jeder Mensch war von Haus aus fehlerhaft. Irgendwann enttäuschten sie einen alle – und sie verließen einen. Also lebte sie nach einem Kodex: Sei immer die, die verlässt, nie die, die verlassen wird. Und ja, sie wusste, dass dieser Kodex mit den Verlustängsten aus ihrer Kindheit zu tun hatte. Na und? Ängste hatte man aus einem guten Grund. Von Haus aus fehlerhaft, nicht vergessen. Die meisten Leute konnte man getrost abschreiben.

Nola und Carrie waren die Ausnahmen. Ihre Mom auch … bis sie an einer Gehirnblutung gestorben war und den Lauf von Vales Leben damit für immer verändert hatte.

Früher war ihr Dad eine Ausnahme gewesen. Aber kurz nach der Beerdigung ihrer Mutter war er abgehauen und hatte Vale verlassen, die daraufhin in eine Pflegefamilie nach der anderen geschoben wurde. Er hatte ihr nie geschrieben oder angerufen oder sie besucht, sodass sie sich immer gefragt hatte, was mit ihr nicht stimmte, warum niemand lange bei ihr bleiben wollte.

Gefahr. Vermeiden! Dieser Gedanke hielt nur an einer Station – Depressionshausen.

Weiter im Text. Vale hatte keine Geduld für Quatsch und glaubte, dass Happy Ends nur eine Illusion waren. Je länger Familien, Freunde oder Paare zusammenblieben, desto besser lernten sie einander kennen und desto klarer sahen sie den Müllhaufen im Herzen der geliebten Person. In Beziehungen wurde immer jemand verletzt.

Rein und raus.

Vale hatte Dates, aber sie gestattete es sich nie, etwas Ernstes mit einem Mann anzufangen. Und ehrlich gesagt hatte auch keiner je etwas Ernstes mit ihr gewollt. Sie musste eine enorme Energie aufwenden, um so zu tun, als wäre sie lieb und nett, und das stresste sie, was sie noch reizbarer, unverblümter und aggressiver machte.

Es gab unter den Lebenden keinen Mann, der bereit war, sich die Arbeit zu machen, um sie zu kämpfen, und das konnte sie ihnen nicht vorwerfen. Sie war auch nicht bereit, um irgendeinen Mann zu kämpfen.

»In letzter Zeit ist mein Liebesleben genau wie ein Privatjet«, sagte Nola.

»Ach ja? Wie das?«

»Ich habe keinen Privatjet.«

Sie lachte. Lustiges Mädchen. »Komm. Lass uns noch ein Stück weitergehen, ehe wir uns ein Nachtlager suchen.« Ihre Körper brauchten Wärme, und Bewegung würde ein paar Scheite ins Feuer werfen.

Nola stand strauchelnd auf, und sie halfen einander, sich die Rucksäcke aufzusetzen, ehe sie weitermarschierten. Vale schleppte die meisten Vorräte, während ihre Schwester Decken und Medikamente trug, aber trotzdem raubten ihr jedes Mal die Schuldgefühle den Atem, wenn Nola vor Anstrengung stöhnte oder schnaufte.

Okay. Noch eine Ablenkung, kommt sofort. »Ich vermisse Carrie«, sagte sie.

Mit dreizehn Jahren waren Vale und Nola beide einer Frau zugeteilt worden, die sich um »schwierige« Fälle kümmerte – junge Mädchen mit irgendeiner Art von Gebrechen. Carrie hatte mehr getan, als ihnen ihr Heim und ihr Herz zu öffnen. Sie hatte ihren Schützlingen beigebracht, sich selbst zu lieben und wie man aufblühte.

Vale, Süße, glaubst du, ein Zwanzigdollarschein ist weniger wert, wenn er schmutzig und zerknittert ist? Auf gar keinen Fall! Du bist vielleicht ein bisschen grobkantig, aber du bist immer noch unschätzbar wertvoll.

Carrie und ihre Weisheiten. Der Spruch von der Kartoffel, dem Ei und der Kaffeebohne hatte Vale immer am besten gefallen.

In kochendem Wasser wird die Kartoffel weich und das Ei hart, aber die mächtige Kaffeebohne verändert das ganze Wasser. Lasst euch von schwierigen Zeiten nicht weich oder hart machen, Mädchen. Steht auf und ändert etwas an der Situation!

Nola nickte, und ihre Augen glänzten voller Zuneigung. »Wenn sie hier wäre, würde sie ein Festmahl auftischen. Schneekuchen. Matsch-Omelette. Eis-Speck. Hagel-Brötchen mit Schneesturm-Sauce.«

Vale grinste, auch als der Hunger an ihrem leeren Magen nagte. Aber das Grinsen wurde schnell von einem bebenden Kinn abgelöst. Letztes Jahr hatte Carrie einen schweren Herzinfarkt erlitten und sich nie wieder davon erholt.

Ihr Tod hatte ein Loch in Vales Herz hinterlassen. »Ich erinnere mich ganz lebhaft an den Tag, an dem ich bei ihr eingezogen bin. Damals habe ich nach Gefängnisregeln gelebt. Du weißt schon: Gleich am ersten Tag zeigen, wer hier der Boss ist. Also habe ich selbstverständlich Carries Wohnzimmer zerlegt, die Möbel umgeworfen und alles, was aus Glas war, kaputtgeschlagen.«

»Selbstverständlich.«

»Als ich fertig war, hat sie mich ganz ruhig gefragt, ob ich meinen Sweet Tea lieber auf Eis oder heiß mag.«

Carrie nachahmend, die immer sehr etepetete gewesen war, sagte Nola: »Sei immer eine Lady – so lange, bis du eine Landmine sein musst.«

Carrie war immer nur dann explodiert, wenn es darum ging, ihre Mädchen zu beschützen.

Noch ein Schwall Heimweh. Na toll! Jetzt brauchte Vale eine Ablenkung von der Ablenkung.

Während sie sich weiter vorwärtskämpften, fragte sie: »Wie wollen wir den Donut-Schuppen jetzt eigentlich nennen?«

Bisher hatten sie sich The Donut Bar oder Drunkin’ Donuts überlegt, weil ihr süßes Gebäck von Cocktails inspiriert war, aber beide Namen waren bereits vergeben.

»Was ist mit Happy Hour Donuts?«, fragte Nola.

»Niedlich, aber das vermittelt nicht gerade das Bild von Gourmet-Gebäck.«

»Ach, frick.«

Frick – Carries liebster »Fluch«. »Wir könnten es uns einfach machen und bei Lee and London bleiben«, sagte Vale.

»Ich liebe es, aber dann weiß niemand, was wir verkaufen.«

»Vielleicht nicht am Anfang, aber Werbekampagnen können dabei helfen, dass wir bekannter werden.«

»Also, wenn wir etwas in die Richtung machen, warum nicht … ich weiß auch nicht … Lady Carrie’s?«

»Määädchen. Ich weiß, wir sind schick und alles, aber ich glaube, ich habe gerade einen Frauenständer bekommen. Lady Carrie’s ist perfekt

»Na, streu mir Zucker auf den Po und nenn mich einen Donut. Haben wir soeben unseren Laden getauft?«

Vale wollte gerade antworten – als sie auf einem Eisberg vor sich etwas entdeckte. Da war etwas an ihm … etwas Merkwürdiges. Aber was genau? Sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.

»Ich gehe vor und kundschafte die Gegend aus.« Ihr Herzschlag beschleunigte sich im selben Rhythmus wie ihre Beine, als sie die Entfernung überwand. Ein perfektes, knapp zwei Meter hohes Loch war in den Abhang gegraben worden. Es führte in einen Tunnel, der nach oben im Eis verschwand. Eindeutig von Menschenhand geschaffen. Was befand sich darin? Oder besser noch, wer befand sich darin?

Sie bebte vor Vorfreude. Wenn der Tunnel in eine Höhle führte – egal, ob bewohnt oder nicht –, dann konnte sie Nola schon jetzt statt später vor den Elementen schützen.

»Warte hier«, sagte sie, als ihre Schwester den Eisberg erreichte. »Ich gehe rein und …«

»Nichts da, tut mir leid. Wir gehen zusammen rein.«

»Was, wenn da drinnen ein wildes Tier ist, das nur darauf wartet, dass eine Mahlzeit auf zwei Beinen hereinspaziert kommt?« Mhmm. Mahlzeit.

»Dann bist du das Hauptgericht und ich das Dessert.«

Stures Mädchen. »Schön.« Vale zog ein langes Stück Seil aus ihrem Rucksack hervor, knotete ihrer Schwester ein Ende um das Handgelenk und das andere um ihr eigenes. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass Nola in ihren Tod stürzte, während sie dabei war. Als Nächstes nahm sie die Eispickel heraus. Zwei für jede von ihnen. »Wir werden auf eine Höhle oder einen Abhang stoßen. Was auch immer zuerst kommt.«

Nachdem sie ihren Rucksack wieder richtig aufgesetzt hatte, schwang sie ihre Axt und schob sich auf ihren mit Spikes besetzten Stiefeln mehrere unsichere Schritte vorwärts. Dann schwang sie die andere Axt und machte einige weitere kleine Schritte. Sie wiederholte die Bewegungen immer wieder von vorne, langsam und gleichmäßig. Nola tat es ihr nach.

Je höher sie kletterten, desto dunkler wurde es in der Schlucht und desto mehr protestierten ihre Muskeln.

Tropf, tropf. Tropf, tropf.

Ironischerweise schmeckte der anhaltende Chor von Wassertropfen nach geschmolzenem Vanilleeis an einem Sommertag. Wie Hoffnung. Hoffnung schenkte ihr Kraft. Höher, höher. Noch höher.

»Ich bin mir nicht sicher … ob ich … viel weiterkann«, sagte Nola, vor Erschöpfung schwer atmend.

Als eine zarte, warme – na ja, wärmere – Brise über ein Stück ihrer freien Haut strich, keuchte Vale auf. »Du kannst. Du wirst. Jetzt beweg deinen kleinen Zuckerhintern.«

Der Tunnel machte eine Biegung nach rechts und …

Plötzlich befand sich vor ihnen ein leiser Lichtschimmer. »Da vorne ist etwas!« Sie kletterte schneller, kam immer näher.

Der Lichtschein weitete sich aus, als der Tunnel langsam gerader wurde … und sich in eine Höhle öffnete. Die Rettung! Riesige Säulen aus Eis stützten eine Kuppeldecke, die wenigstens zweieinhalb Meter hoch war. Zwischen den Säulen war genug Platz, um sich auszubreiten und es sich bequem zu machen.

Zitternd ließ Vale ihr Werkzeug und ihren Rucksack fallen und half ihrer Schwester dann über den Rand.

Als Nola sich japsend auf den Boden sinken ließ, zog Vale die Holzscheite und Zündspäne aus ihrem Rucksack und benutzte ein Streichholz, um Feuer zu machen. Sofortige Hitze. Oh, köstliche Hitze. Rauch stieg in Schwaden auf, und Vale legte die Schutzbrille und die Gesichtsmaske ab.

»Danke, danke, tausendmal danke.« Nola tat es ihr gleich, streifte ihren Kopfschutz ab und gab darunter ein Gesicht preis, das so perfekt aussah, als wäre es retuschiert. Dunkle Augen, eine zierliche Nase und volle Lippen wie die eines Fotomodells, alles von brauner Haut umgeben und gekrönt von glatten schwarzen Haaren.

Und das Beste war: Innerlich war sie genauso schön wie äußerlich. Sie hatte etwas Besseres verdient als die Tragödie und das Unglück, das sie hatte durchleben müssen. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie noch ein Baby war. Da sie sonst keine lebenden Verwandten hatte, war sie ins System übergegangen.

Mit ihren Äxten und dem Seil improvisierte Vale eine Wäscheschnur, an der sie ihre Mütze und ihren Mantel zum Trocknen aufhängte.

Nachdem sie ihre Sachen ebenfalls dort ausgebreitet hatte, runzelte Nola die Stirn und deutete auf eine der Wände. »Ist das … Eis-Graffiti?«

»Lass uns nachsehen.« Sie trat näher an die Wand heran.

Oh, hallo, Schönheit. Über die ganze Länge der Wand waren Bilder ins Eis geschnitzt worden – wie alte Hieroglyphen oder so etwas. Sie stellten irgendeine Schlacht dar. Zwanzig Männer und vier Frauen hielten verschiedene Waffen empor. In der Nähe stand eine verhüllte Gestalt, die eine Sichel umklammerte. Der Tod vielleicht?

Ein kopfloser Körper lag auf dem Boden ausgestreckt und trennte die Krieger von einer Gruppe kleinerer Männer. Vale schauderte. Ein Mann – ein Monster? – hatte einen Stab hoch in die Luft erhoben.

Tropf, tropf, tropf.

Der Geschmack nach Vanilleeis wurde stärker und reizte ihren Hunger. »Irgendwer muss hier leben oder wenigstens manchmal vorbeisehen. Wir sind vielleicht in der Nähe der Zivilisation. Ich sehe mich nach weiteren Hinweisen um.«

»Pass auf dich auf.«

»Wie wäre es, wenn ich mich stattdessen bewaffne und auf alles gefasst bin?« Sie griff nach einer Axt, ehe sie an dem Kunstwerk entlangschritt, bis sie die letzte Säule erreichte … und eine weitere Kammer betrat.

Dort wartete niemand, aber sie fand noch mehr Schnitzereien. Beeindruckt von den feinen Details, ging sie einige Schritte in den Raum hinein – nur um innezuhalten. Unmöglich! Weitere Säulen standen in der neuen Höhle. Sie bildeten ein perfektes Quadrat, nur dass diese Säulen nicht wie die anderen waren. Sie glänzten, waren dabei, zu schmelzen, und sie hatten … Sie …

Ich kann unmöglich sehen, was ich zu sehen glaube.

Ihr Puls hämmerte, und ein kalter, klebriger Schweiß überzog ihren Nacken. Jede Säule enthielt einen Menschen. Zwanzig Männer, vier Frauen.

Mit ihren ein Meter siebenundsiebzig war sie es gewohnt, die Leute zu überragen. Diese Gestalten überragten sie. Sie schienen verschiedenen Ethnien anzugehören – und Spezies? Eine Frau hatte blaue Haut und spitze Ohren. Einer der Männer besaß Flügel. Ein weiterer hatte so etwas wie Kiemen, die an den Seiten seines Halses abstanden.

Das war nicht echt, ganz bestimmt. Es konnte nicht echt sein. Vielleicht war sie auf eine Art gefrorenes Wachsmuseum gestoßen – für Leute wie Vale, die Sci-Fi- und Fantasy-Romane verschlangen und jeden Film und jede Serie konsumierten, in denen es irgendwie um Magie, die Zukunft oder Dystopien ging.

Was auch immer der Zweck war, sie hatte recht behalten: Die Zivilisation – und die Rettung! – war nah. Und eine Auszeichnung für die Firma, die für dieses Meisterwerk verantwortlich war. Noch nie hatte Vale solch lebensechte Figuren gesehen – und die Körper! Jeder der Männer könnte in einem Porno mitspielen. Nicht, dass sie so etwas je gesehen hätte, hust, hust.

Wenn Touristen diesen Ort besuchten, bekamen sie für ihr Geld richtig was geboten. Kommt her, kommt her, seht die eingefrorenen Barbaren und ihre Konkubinen. Obwohl die Frauen ehrlich gesagt ebenso blutrünstig wirkten wie die Männer.

Als Vale tiefer in die Höhle hineinging, schienen verschiedene Augenpaare ihr zu folgen. Gruselig. Kurz hinter den Säulen fiel ihr Blick auf etwas, was wie der Stab aussah, den sie in den Schnitzereien entdeckt hatte. Den in der Hand des gehörnten Mannes.

Im Gegensatz zu allem anderen war der Stab nicht von Eis bedeckt. Er stand allein, keine Spur von dem Mann.

Neugierig streckte sie die Hand aus …

Ein starker Windstoß warf sie zurück, und sie prallte gegen eine der Säulen. Elektrische Impulse schossen über ihre Haut, Sterne tanzten ihr vor den Augen, und die Luft wich ihr aus den Lungen.

Knack, knack. In einigen der Säulen entstanden Risse.

Frick! Hoffentlich hieß es nachher nicht, wer es kaputt gemacht hat, muss es bezahlen.

In Ordnung, vergiss den Stab. Sie richtete sich auf unsicheren Beinen auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Krieger. Doch, eindeutig Krieger. Sie standen in verschiedenen Kampfposen da, hielten Waffen, und ihre Mienen waren auf verschiedene Weise vor absoluter, alles verzehrender Wut verzogen.

Vales Blick streifte einen schwarzhaarigen Mann, nur um sich gleich wieder auf ihn zu richten. Er strahlte genug Macht aus, um … einfach jeden zu zerstören. Und er war so schön, dass einem das Herz stehen blieb. Die Art Schönheit, die einem den Atem raubte und die Gedanken, und er ließ einem die Unterwäsche in Flammen aufgehen.

Ein Blick reichte aus, und sie war sich sicher, er hatte ihren Eisprung ausgelöst.

Er war purer Sex, grob und ursprünglich, wild und animalisch, seine Männlichkeit wie eine spürbare Berührung auf ihrer Haut.

Niemand, real oder ausgedacht, war so sexy. Nicht einmal Legolas, der Standard, an dem sie jeden Mann maß.

Diese Statue besaß die bedrohliche Aura eines gnadenlosen Eroberers, strahlte gleichzeitig eisige Kälte und kochende Hitze aus, seine harte Miene versprach zugleich Orgasmen, die den Erdboden zum Beben brachten, und einen qualvollen Tod. Seine Augen leuchteten heller als die blauesten, kostbarsten Saphire. Sie waren eingerahmt von langen, geschwungenen Wimpern, die an schwarzen Samt erinnerten, schön und urzeitlich zugleich.

So viele Widersprüche. So faszinierend.

Seine Wangenknochen schienen wie aus Granit gemeißelt, und seine Lippen … Halleluja. Seine Lippen waren voll, tiefrot und wie zum Küssen gemacht. Sein Kinn war quadratisch, sein Kiefer scharfkantig und mit Stoppeln bewachsen.

Ihr Blick kehrte zurück auf seine Lippen, angezogen wie ein Magnet, und ihre Finger folgten und zeichneten ein geschwungenes Muster auf das Eis – nicht nur irgendein Muster.

Ugh. Sie hatte ein Herz gemalt. »Ich glaube, jedes Leben ist wie ein Buch, und meine Geschichte ist gerade viel interessanter geworden«, sagte sie zu ihm.

Er trug kein Oberteil, und sie entdeckte tätowierte Ringe an seinem Hals und seinen Handgelenken. Ein großer Teil seiner muskulösen Schultern war bedeckt von einem Lebensbaum in einem Kreis. Tatsächlich trugen all die erstarrten Männer und Frauen diese Lebensbaum-Tätowierung irgendwo auf ihren perfekten Körpern.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Sexgott. Oder Krieger. Er hielt zwei Dolche an Griffen, die gleichzeitig Schlagringe waren. Hosen aus einem schwarzen Material, das wie Leder aussah, bedeckten seine untere Hälfte, und eine silberne Gürtelschnalle ruhte auf seinen Kronjuwelen – ein Stück Moderne, während alles andere an ihm wie die Ausstattung eines altertümlichen Kämpfers wirkte.

»Zu schade, dass du nicht nackt bist.« Er …

Vale zuckte zusammen. Überraschende Wendung. Er hatte gerade geblinzelt.

Das konnte nicht sein … auf keinen Fall. Während ein Teil von ihr schon immer geglaubt hatte, dass die alten Sagen auf Wahrheit beruhten, Aliens und Geister unter den Menschen wandelten und es Magie wirklich gab, hatte sie trotzdem Schwierigkeiten, zu akzeptieren, was sie soeben gesehen hatte. Was sie glaubte, gesehen zu haben.

Sie war nicht verrückt – meistens jedenfalls. Sie hatte nur noch nicht genug Beweise gefunden, um ihre Vermutung zu untermauern. Deshalb konnte er nicht geblinzelt haben. Und diese meerwasserblauen Augen konnten sie nicht anstarren, voller Herausforderung, und sie auffordern, noch näher zu treten.

Er merkte nicht, dass sie vor ihm stand. Er konnte überhaupt nichts merken. Weil er nicht lebendig war.

Er konnte nicht lebendig sein.

Oder?

2. Kapitel

Knox kämpfte mit all seiner Kraft gegen das Eis, tat sein Äußerstes, indem er seinen Körper immer wieder vorwärtsrammte, dann zurück, dann wieder vor. Seit seiner Gefangennahme hatte er nicht aufgehört, dagegen zu kämpfen, und hatte sich wegen der inbrünstigen und andauernden Anstrengung die Knochen mehrfach gebrochen, die Muskeln gerissen. Schmerz brannte jede Sekunde jedes Tages in ihm.

Er hätte an die Gefangenschaft gewöhnt sein sollen. Ehe er nach Terra gekommen war, hatte er mehr als elfhundert Jahre unter Ansels Kontrolle verbracht.

Hier und jetzt blieb ein Problem bestehen: Knox war von feindlichen Soldaten umgeben. Wenn er es nicht schaffte, als Erster die Freiheit zu erlangen, musste er sterben. Kein Zweifel.

Mit jeder Faser seines Daseins wehrte er sich gegen die Möglichkeit einer Niederlage. Bring die Gegner um, gewinn den Krieg.

Er musste gewinnen, musste nach Iviland zurückkehren. Wenn Ansel sein Wort hielt und Knox von seinen Sklaven-Bändern befreite, und sei es nur für eine Sekunde, würde die ganze königliche Familie unter Schreien sterben. Durch meine Hand.

Endlich würde Knox seinen Frieden finden. Wahren Frieden. Auch die anderen Sklaven würde er befreien. Nie mehr sollte man sie verspotten, lächerlich machen und so behandeln, als hätten sie dieses entsetzliche Schicksal verdient, nie wieder würde man ihnen erzählen, die All Wars hätten ihnen einen Lebenssinn gegeben.

Wenn nicht …

Musste er eben einen anderen Weg finden.

Die Sklaven-Bänder stellten das größte Problem dar. Einmal, als er noch ein Junge war, hatte er versucht, die Tätowierungen abzuziehen. Aber die Tinte war ihm bereits ins Blut gedrungen, und die Markierungen waren nachgewachsen. Aber er wollte es wieder versuchen und wieder, jedes Mal mit einer anderen Waffe. Er wollte es versuchen, bis er etwas fand, das funktionierte, oder er starb.

Die nächste Waffe hatte er sich bereits überlegt.

Während die Jahrhunderte verstrichen waren, hatte er Zeit gehabt, sich alles zu überlegen – trotz des ständigen Luftmangels, der ihn anhaltend benommen gemacht hatte. Carrick of Infernia war ein wohlbekannter Prinz seines Feuer-Reiches. Ein Prinz durch Gewalt, nicht durch Geburt. Er gehorchte keinen Befehlen außer seinen eigenen.

Carrick hatte Tätowierungen, die denen von Knox glichen. Und doch schienen Carricks Markierungen ihm zu helfen, statt ihn zu behindern. Irgendwie konnte er mit ihnen ein Kraftfeld schaffen, das ihn umgab. Er besaß einen speziellen Dolch, mit dem er sein Opfer von innen heraus verbrennen konnte, indem er das Blut in den Adern des anderen in Lava verwandelte.

Knox hatte vor, diesen Dolch zu erringen und ihn gegen sich selbst zu richten. Solange er die Macht besaß, ihn zu aktivieren, war nicht einmal er – der Dolchträger – gegen seine Kräfte immun. Vielleicht konnte die Lava das Gift verbrennen, das ihn an Ansel fesselte. Und dann konnte Knox eine weitere Waffe verwenden, um sein Blut wieder zu normalisieren.

Theoretisch würde er dabei heilen. In Wirklichkeit konnte er dabei sterben.

Das Risiko ist es wert. Ein dunkles Wesen schien in ihm zu leben und zu atmen – der Puppenspieler, der an seinen Strängen zog. Dieses Wesen hatte nur einen einzigen Zweck, eine Aufgabe, von der es sich nicht abbringen ließ: Rache zu üben für Knox’ Tochter.

Ihr Name war Minka, und sie war gezeugt worden, nachdem Knox seinen ersten All War gewonnen hatte.

Als Belohnung für den Sieg hatte Ansel ihn aus seinem Dienst entlassen, auch wenn er sich geweigert hatte, die Sklaven-Bänder zu entfernen. Auf gewisse Weise hatte Knox immer gewusst, dass der König von ihm verlangen würde, in die Schlacht zurückzukehren. Er hatte nur nicht geahnt, dass der Bastard Zeit schindete und wartete, bis Knox Zuneigung zu jemandem entwickelte, egal zu wem, damit man ihn besser kontrollieren konnte.

Damals war es Knox egal gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben durfte er essen, schlafen und kämpfen, wann immer er es wollte. Und auch wenn er dabei nie unachtsam wurde, weil ihm das Misstrauen ins Blut übergegangen war, war jeder Tag wie ein Geschenk gewesen, jede Nacht eine Offenbarung. Er hatte mit mehr Frauen geschlafen, als er sich erinnern konnte.

Womit er nicht gerechnet hatte? Man hatte seine Geliebten dafür bezahlt, mit seinem Kind schwanger zu werden.

Er hatte aufgepasst, und trotzdem war es einer Frau gelungen. Oder vielleicht hatte sie gelogen, und ein anderer Mann hatte Minka gezeugt. Trotzdem hatte Knox nicht vor, die beiden im Stich zu lassen. Und dann hatte die Mutter das kleine Mädchen in seiner Obhut gelassen und war gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

In dem Augenblick, in genau der Sekunde, in der er das wunderschöne Neugeborene in seinen Armen hielt und die kleinen Finger des Mädchens sich um einen von seinen legten, war sein Herz so voller Liebe angeschwollen, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Minka war auf jede Weise perfekt gewesen, so weich, so zart, und er hatte geschworen, dieses Wunder, das man ihm geschenkt hatte, auf ewig zu schätzen.

Sie war sein größter Schatz gewesen – und man hatte sie ihm genommen.

Kurz nach ihrem zweiten Geburtstag hatte Ansel beschlossen, sein »Ass« wieder in den Dienst zu nehmen. Tu es, oder das Mädchen stirbt.

Knox hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um einen zweiten All War zu gewinnen. Bis zur heutigen Zeit erzählte man sich ehrfürchtig von seiner Grausamkeit.

Der Krieg hatte sechzehn Jahre gedauert. Während er gekämpft hatte, um ein weiteres Königreich für Iviland zu gewinnen, war seine kostbare Minka bei einer Familie aufgewachsen, die Ansel ausgewählt hatte. Snobs aus der Oberschicht, die das unschuldige Kind behandelten, als wäre es weniger als nichts.

Sobald Knox nach Hause zurückkehrte, fand er heraus, dass seine Tochter vor ein paar Monaten weggelaufen war. Niemand hatte sie finden können.

Aber ich habe es geschafft. Ich habe meinen süßen Engel gefunden.

Sie war an die Oberfläche geflohen, wohin andere keinen Schritt zu setzen wagten, wo gesetzlose Kriminelle herrschten, die Verzweifelten quälten, während ihr Verstand langsam von Gift zersetzt wurde. Einen Ort, an den Ansel seine Soldaten nicht zu schicken wagte.

Die Dinge, die man ihr angetan hatte, ehe sie ihren letzten Atemzug tat …

Ich habe zum Abschied ein lächelndes Kleinkind geküsst und umarmt und bin zu einem toten Teenager zurückgekehrt.

Wut und Trauer kochten in ihm hoch. Tränen stiegen ihm in die Augen und gefroren sofort, bis er nichts mehr sehen konnte. Konzentrier dich. Gefühle halfen ihm hier nicht weiter. Er musste sehen, um zu entkommen. Genauer gesagt, er musste sehen, um als Erster zu entkommen.

Einatmen, ausatmen. Er blinzelte, bis die Eisschicht dünner wurde und schmolz. Dann versuchte er, seine Schultern gegen das Eis zu rammen. Rammen, rammen. Ein tiefes Knurren grollte in seiner Brust, sein Schmerz wurde mit jedem Mal ungleich schlimmer. Egal. Nichts konnte sich mit dem Schrecken messen, den er bereits erlitten hatte.

Und dann, plötzlich, trat eine umwerfend schöne Frau in seinen Weg und machte ihn vor Schreck regungslos.

Sie war kein Teil des Krieges, aber sie war hier. Wie kann sie hier sein? Warum war sie hier? Wer war sie? Tausend weitere Fragen rasten ihm durch den Kopf, er geriet ins Straucheln.

Sie war erst der zweite Mensch, der das Eisgefängnis betreten hatte, seit … jeher. Erik of Terra, einst ein Wikinger-König – noch immer ein Wikinger-König? –, musste Maßnahmen getroffen haben, mit denen er Eindringlinge fernhielt.

Jahrhundertelang hatte Erik sie einmal im Monat besucht. Er hatte nie eine Versammlung verpasst. Wusste er, warum er sich gezwungen fühlte, so oft zurückzukehren, oder dass es ihn davor bewahrte, disqualifiziert zu werden? Er konnte nicht wissen, dass er Teil eines Krieges war, jeder in dieser Höhle entschlossen war, seine Heimat zu gewinnen, oder dass er die anderen Kämpfer umbringen musste. Sonst hätte er es längst getan.

Am Anfang hatte Knox erwartet, dass eine Armee von Vollstreckern durch ein Portal kommen und die erstarrten Krieger befreien würde, damit der Krieg fortfahren konnte. Nach ein paar Dekaden wurde ihm klar, dass der Hohe Rat sich nicht einmischen konnte, denn so hätten die Verlierer-Reiche die Möglichkeit, die Eignung des Siegers infrage zu stellen.

Nach einer Ewigkeit hatte das Eis angefangen zu schmelzen. Risse durchzogen sechzig Prozent der Säulen. Hatte die ständige Benutzung den Stab von Clima geschwächt, oder hatten die Wetterbedingungen sich drastisch verändert? Vielleicht beides.

Und jetzt wandelte ein Mensch unter ihnen. Warum?

»Ich verliere ja wohl meinen dreimal verfluchten Verstand«, murmelte sie. Sein Übersetzer übertrug die Worte für ihn.

So eine tiefe, heisere Stimme. Seine Muskeln zogen sich zusammen, eine ungewollte – und inakzeptable – Reaktion.

Durch qualvolles Konditionieren hatte er seinen Körper darauf trainiert, während des Krieges begehrenswerte Frauen einfach zu übersehen. Zu viele Männer hatten im Bett einer Verführerin ihren Tod gefunden. Ein Kämpfer wusste nie, wem er vertrauen konnte und wen man bezahlt hatte, um ihn abzulenken.

Wenn Knox’ Konditionierung doch einmal versagte, löschte er die Ablenkung einfach aus. Keine Gnade, keine Probleme.

Beschütz das Mädchen. Sie ist notwendig … für den Moment.

In seinen Gedanken hallte seine Widerrede. Nein. Nein! Der Eyaer konnte diese Frau nicht als notwendig für sein Überleben erachten. Die? Sie war ein kleines Büschel aus nichts, nicht einmal groß genug, um sie als menschlichen Schild zu benutzen.

Außerdem brauchte Knox niemanden. Wollte niemanden. Bis auf …

Während die Frau ihn in träger Faszination musterte, verstärkte sich das Zusammenziehen seiner Muskeln. Sein Blut erhitzte sich. Aber konnte man ihm das wirklich vorwerfen? Sie war anders als alle anderen Frauen, die er bisher gesehen hatte, mit einem exquisiten, feinen Gesicht und faszinierenden Haaren. Seidene Wellen, die obere Hälfte schneeweiß, die untere rabenschwarz. Und ihre Haut … blass und makellos, wie gemacht dafür, von einem Mann liebkost zu werden.

Wie zart war sie? Wie warm?

Würde sie erröten, wenn er sie berührte?

Er presste die Zunge gegen seinen Gaumen. Wenn er sie berührte? Als stünde das schon fest.

Ihre Augen waren eine erstaunliche Mischung aus Bernstein und Smaragd, umrahmt von breiten Kajalstrichen und endlos langen Wimpern, schwarz wie Onyx. Tiefrote Lippen in perfekter Herzform waren die süßeste Versuchung.

Ihre Kleidung … so anders als der Stil, den man trug, als man ihn eingefroren hatte. Wie sehr hatten die Welt und ihre Bewohner sich verändert?

Ihre Fingernägel waren in tiefstem Schwarz lackiert, und um jeden Knöchel hatte sie seltsame Symbole tätowiert, wie Ringe aus Tinte.

Gehörte sie einem terranischen König?

Knox erstarrte, wütend und verwirrt, wie sehr er sich ihrer bewusst war.

Zwischen den Kriegen hatte er sich zu Frauen hingezogen gefühlt, die leise waren, zärtlich, reserviert. Oder wenigstens zu solchen, die so taten. Die »obere Klasse«. Das angeblich Beste vom Besten. Ladys. Seine bevorzugten Bettpartnerinnen hatten für alles gestanden, was ihm als Kind gefehlt hatte, alles, was angeblich zu gut für ihn war.

Was ihn am fassungslosesten machte – diese hochklassigen Frauen hatten ihn nie wirklich befriedigt. Er hatte zu viel Angst gehabt, die Kontrolle zu verlieren und ihnen aus Versehen wehzutun oder ihre zarten Gefühle zu verschrecken.

Andererseits hatte er auch nie befriedigt sein wollen. Seine Umgebung aus den Augen zu verlieren konnte ihn selbst in Zeiten des Friedens alles kosten.

»Wenn wir in einem Buch oder Film wären, wärest du ein in der Zeit eingefrorener Krieger, und das hier wäre der Anfang einer leidenschaftlichen Liebesaffäre«, sagte die Terranerin. »Schade, dass du nur ein Kunstwerk bist. Obwohl, auch da gibt es mögliche Geschichten. Wenn du auf einer echten Person basierst, will ich seine Nummer, denn du, Schätzchen, bist ein echt heißer Feger.« Ihre grünbraunen Augen wanderten langsamer über ihn, als wollte sie ihn ausloten.

Sie ging um ihn herum, jeder Schritt eine Offenbarung aus Anmut und fleischlicher Lust.

»Aber diese blauen, blauen Augen«, sagte sie, ehrfürchtig klingend, »ich schwöre, die verfolgen mich.«

Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, fester und fester. Ein Knurren grollte tief in seiner Brust.

Wenn sie trotz seines Trainings diese Wirkung auf ihn hatte, musste sie sterben. Sie musste sterben, bevor einer der anderen Kämpfer entschied, sie gegen ihn zu verwenden.

Beschützen. Notwendig.

Er brüllte etwas Obszönes, der Klang seiner Stimme wurde durch das Eis gedämpft.

»Moment. Hast du mich gerade angeschrien?« Sie leckte sich ihre roten, roten Lippen. »Ich schmecke Whiskey und Honig, mit einem Schuss Sahne, also muss ich eindeutig etwas gehört haben. Aber du kannst keine Geräusche von dir geben, weil du nicht lebendig bist. Ich muss etwas anderes gehört haben. Ja, ja. Etwas anderes.«

Sie hörte einen Schrei und schmeckte Whiskey und Honig? Knox verstand nicht, wie das miteinander zusammenhing.

Vergiss ihre Merkwürdigkeiten. Er schmiedete einen Plan.

Erst würde er sich befreien – noch heute –, selbst wenn er Gliedmaßen verlieren musste, um erfolgreich zu sein. Es war kein Versammlungstag, keine unsichtbare Wand war um sie herum errichtet, und alle Waffen waren aktiviert.

Knox würde den Stab von Clima packen, um sicher zu sein, dass der Wikinger-König ihn nicht ein zweites Mal benutzen konnte, und dann würde er Carrick umbringen. Wenn diese Ziele erfüllt waren, würde er so viele Krieger wie möglich töten … und dabei auch die Säulen zerstören. Das ließ sich nicht ändern. Irgendwann würde dabei die Höhle über ihm einstürzen. Beim ersten Anzeichen von Ärger wollte er die Frau mit den seltsamen weißen und schwarzen Haaren in Sicherheit bringen und herausfinden, warum sie für ihn »notwendig« war.

Ja. Perfekter Plan, keine Fehler.

Als Nächstes brachte er seine Opfer in Reihenfolge. Nach Carrick – Zion, Bane, Ronan und Ranger. Die anderen konnten in willkürlicher Folge sterben, ihre Waffen und die Bedrohung, die sie darstellten, hatten keine so hohe Priorität. Aber vielleicht würde Knox auch Shiloh als Letzten auslöschen, wie es der Waffenstillstand verlangte.

Mach schon, mach schon. Zuerst musste er sich befreien. Knurrend kämpfte er … kämpfte so stark, stärker … aber das Eis hielt weiter stand.

Schritte hallten zu ihm herüber, als eine zweite Frau den Gang betrat. Eine dunkelhaarige Schönheit mit einer zerbrechlichen Aura, wie Knox sie immer bevorzugt hatte, und doch wanderte sein Blick zurück zu der anderen Frau. Zu der wilden.

»Vale!« Die Neue presste sich eine Hand auf ihr Herz. »Sind da Menschen drinnen gefangen?«

Vale? Er stammte aus einem Reich mit drei Vales oder Sonnen. Valina, die Sonne, die wärmte. Valtorro, die Sonne, die erleuchtete. Und Valeique, die Sonne, die lenkte. Welche würde seine notwendige Frau sein? Seine Wärme, sein Licht oder seine Lotsin?

»Diese gruseligen Dinger?« Vale stemmte eine Hand in die Hüfte. »Nee. Das sind Statuen. Irgendeine Touristenattraktion, denke ich. Männer und Frauen kommen aus aller Welt hierher, um sich die gefrorenen Sex-Muffins anzusehen.«

Ihre Jacke – so dünn sie auch sein mochte – verhinderte, dass er die Größe ihrer Brüste erkennen konnte. Hautenge schwarze Hosen schmiegten sich an ihren Unterleib, betonten ihre trainierten Beine, die er gerne …

Leere deine Gedanken. Ignorier die Sehnsucht.

»Statuen? Ja, das macht schon mehr Sinn. Aber Sex-Muffins?« Die Brünette kicherte.

»Ach, meine süße Nola Lee, es wäre dir wohl lieber, wenn ich sie ›lebensgroße Frauenständer-Figuren‹ nenne … oder wie? Na gut, du hast recht, die Beschreibung gefällt mir auch besser. Sieh dir die hier mal an.« Sie deutete mit dem Daumen in Richtung von Knox. »Rindfleisch Güteklasse A.«

Vale und Nola. Verstanden. Ihre Zuneigung zueinander war offensichtlich. Er hatte solche Beziehungen bei anderen schon gesehen, sie aber noch nie aus erster Hand erlebt. Er hatte sie nie aus erster Hand erleben wollen. Beziehungen machten einen schwach, sie machten einen verletzlich.

Nola näherte sich Zion und keuchte auf. »Okay, ja. Sex-Muffin ist vollkommen richtig. Ich habe diesem hier gerade in die Augen gesehen und bin ziemlich sicher schwanger davon. Mit Zwillingen.«

Als Vale sich ihr anschloss, rammte Knox seine Schulter noch fester gegen das Eis. Er wollte sein Weib weiter entfernt von diesem Wüstling, nicht näher. Wenn der andere Mann …

Risse entstanden vor Knox’ Gesicht und vereitelten ihm die Sicht. Er hielt schockiert inne. Triumphierend. Endlich, zum Glück, eine Entwicklung, die ihm zugutekam.

Risse bedeuteten, die Freiheit erwartete ihn.

3. Kapitel

Von einem wilden Drang überwältigt, kämpfte Knox härter und noch härter. Kann nicht aufhören, kann nicht aufhören.

»Du hattest recht, Vale.« Die Brünette malte ein Herz auf Zions vereiste Brust. »Wir haben es geschafft. Wir haben überlebt. Wir sind in der Nähe der Zivilisation. Rettung ist mehr als nur ein Traum. Sie ist eine echte Möglichkeit.«

Rettung. Hatten die zwei sich in den Bergen verlaufen und waren nur zufällig über das Gefängnis gestolpert?

Die Risse verhinderten, dass Knox den Gesichtsausdruck von Vale erkennen konnte, und er wollte wirklich dringend ihren Gesichtsausdruck sehen.

»Denkst du auch, was ich denke?«, sagte sie, eher besorgt klingend als erleichtert. »Das Festmahl des Jahres!«

»Lass uns ganz groß auftischen und unsere Servietten – also unsere Schals – zu Schwänen falten.«

»Wie wäre es stattdessen, wenn wir daraus Fäuste mit erhobenem Mittelfinger basteln?« Als die andere Frau lachte, sagte sie: »Also, was steht heute Abend auf dem Speiseplan, Frau Chefköchin?«

»Du kannst dich auf einen wahren Gaumenschmaus freuen. Heute Abend servieren wir exklusiv eine Dose fermentierten Hering an einem Spiegel aus Kotze höchstwahrscheinlich. Als vegetarische Alternative hätten wir eine köstliche Handvoll Schnee.«

»Mhmm. Und was gibt es zum Nachtisch? Luftkekse?«

Als die zwei Frauen um eine Ecke verschwanden, musste Knox ein protestierendes Brüllen herunterschlucken. Lass sie gehen. Egal, wohin sie ging, er konnte sie finden.

Immer wieder warf er sich gegen das Eis. Die Risse … wurden länger. Auf einmal konnte er die Hände einen Zentimeter bewegen, vielleicht zwei.

Mehr brauchte er nicht.

Knox entfesselte alle seine Kräfte. Kopfstöße, Schulterrammen. Treten. Den Griff fest um seine Dolche geschlossen, hackte, hackte, hackte er auf das Eis ein. Neue Wellen von Schmerz wuschen über ihn hinweg, aber was sollte es. Der Sieg stand kurz bevor!

Minuten verstrichen, vielleicht auch Stunden. Dünne Eisscherben fielen zu Boden und ließen ihm mehr Raum. Noch mehr. Er verdoppelte seine Anstrengung, neue Risse bildeten sich, alte Risse weiteten sich, schufen ein prächtiges Labyrinth – bis der Block vor seinem Gesicht nachgab und auf den Boden stürzte.

Zum ersten Mal seit Jahrhunderten strich ihm eine sanfte Brise über das Gesicht. Er schloss die Augen, genoss die Süße der Berührung und atmete tief und lange ein. Sauerstoff durchströmte seine Lungen und stach wie mit Nadeln auf ihn ein.

Noch ein Eisblock fiel, dann ein weiterer. Bald schon rollte er seine Schultern und stöhnte vor Wonne. Oh, wie herrlich war es, sich ungehindert zu bewegen.

Nervenenden kribbelten, als sie wieder zum Leben erwachten, sein Blut rauschte mit neuer Lebenskraft. Er sah sich nach den verbliebenen Säulen um. Niemand sonst hatte sich befreien können – noch nicht.

Leise Schritte erregten seine Aufmerksamkeit. Die Frauen hatten die Höhle betreten und waren abrupt stehen geblieben, als sie ihn sahen, die Münder weit aufgesperrt. Der Duft von Jasmin und Heckenkirsche umnebelte seine Sinne, spielte mit seiner Selbstkontrolle – Vales Duft?

Er zeigte auf sie, zum Teil in Ekstase, zum Teil gequält. »Du bleibst.« Die Worte rieben an seiner ungenutzten Kehle wie Sandpapier, seine wunden Schleimhäute brannten. Wie alle anderen Kämpfer war er unsterblich und heilte zu schnell, um bleibenden Schaden zu nehmen, aber das bedeutete nicht, dass er seine Verletzungen deshalb weniger spürte. »Nicht wegrennen.«

»Du redest.« Sie sperrte den Mund abwechselnd auf und klappte ihn dann wieder zu. Schock schimmerte in ihren Augen, die goldenen Flecken darin wirkten wie geschmolzen. »Du redest, und du bist lebendig. Du bist lebendig, und du bist echt.«

Aus der Nähe, ohne das Eis zwischen ihnen, war sie noch umwerfender. Eine Schönheit ohnegleichen.

»Wie ist das möglich?« Nola klang hysterisch. »Du kannst nicht echt sein. Du … kannst einfach nicht …« Sie streckte die Hand aus, um nach Vales zu greifen. »Er kann nicht echt sein. Unterkühlung führt zu Halluzinationen, oder?«

Unter dem Protest seiner schmerzenden Muskeln trat Knox das letzte Stück Eis von sich und durchquerte die Höhle bis zum Stab von Clima. Zerstöre ihn und bring Carrick of Infernia um. Doch sein Instinkt hielt ihn zurück, sobald er an Carrick vorbeikam. Bring ihn um. Bring ihn sofort um. Die Gelegenheit kannst du dir nicht entgehen lassen. Und nachdem er gesehen hatte, wie der Abwehrschutz um den Stab Vale fast außer Kraft gesetzt hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob es ihm selbst besser ergehen würde.

Vale zerrte Nola auf den Ausgang zu und sagte: »Wir müssen verschwinden. Sofort.«

Sie wollte ihn verlassen, nachdem er ihr befohlen hatte zu bleiben?

Autor