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Auch Fische können ertrinken

Als Buch hier erhältlich:

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Katharina steht an einem Wendepunkt. Die erfolgreiche Ärztin ist seit vielen Jahren glücklich verheiratet. Seit einiger Zeit jedoch bedrückt sie ein wachsendes Misstrauen ihrem Ehemann gegenüber. Gleichzeitig brechen alte Wunden aus ihrer Kindheit und Jugend auf. Ihre seelischen Probleme führen zu körperlichen Beschwerden. Atemprobleme machen ihr zu schaffen. Zudem wird sie von quälenden Gedanken bedrängt, die sich wie ein Karussell in ihrem Kopf drehen. Eine Auszeit im Schweizer Kurort D. soll ihr Klarheit und Linderung verschaffen. Doch dies kann ihr nur gelingen, wenn sie einen herausfordernden Weg zu sich selbst bewältigt.


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Seitenanzahl: 208
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013586

Leseprobe

1

Geworden

bin ich das

was ich als Kind schon

werden wollte

Ärztin

um zu helfen

vor allem meiner Mutter

mit ihrer Multiplen Sklerose

überzeugt

als Ärztin

immer gesund zu bleiben.

Ich war zwölf

als meine Mutter starb

jetzt bin ich selbst krank.

Versagerin, pochte es in mir.

Ver-sa-ge-rin.

Mit jedem Pulsschlag eine Silbe. Vor allem nachts, wenn es draußen still und dunkel war. Daniel schlafend neben mir. Unmöglich, mich in seinen Atemrhythmus einzuschmiegen, um wieder einzuschlafen. Zerschlagen stand ich am Morgen auf, fuhr gequält in meine Praxis. Vor der Eingangstür rasch mein professionelles Lächeln aufgesetzt. Mir bloß nichts anmerken lassen, weiterhin so tun, als sei alles in bester Ordnung. Zuwendend bleiben, mitfühlend, keine Mühe scheuen, damit die Patientinnen wieder gesund werden. Doch dann gerieten mir deren Namen und Krankheiten durcheinander. Einmal vergaß ich sogar einen Termin. Ein wichtiger wäre es gewesen, einer, an dem ich der Patientin die Ergebnisse von Ultraschall und Gewebeproben hätte mitteilen wollen. Müssen. Eine große Geschwulst an der Gebärmutter, was den eitrigen Ausfluss, die Schmerzen in der Beckengegend sowie ihre Gewichtsabnahme erklärte. Über meine Assistentin ließ ich mich entschuldigen und einen neuen Termin vereinbaren. Tags darauf verschlimmerten sich meine Atembeschwerden. Die Treppen hinauf zu unserer Wohnung schaffte ich kaum noch, mitten in der Nacht musste ich aufstehen, das Fenster öffnen, tief durchatmen, mich im Kutschersitz auf das Sofa setzen, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, damit sich mein Atem beruhigte.

Abhorchen mit dem Stethoskop, Röntgenaufnahmen, Computertomografie, Blutanalysen – sämtliche Untersuchungen, die ich dann doch bei Senta, meiner befreundeten Ärztin, machen ließ, blieben ohne Befund. Woher trotzdem diese Atembeschwerden?

Schulterzucken bei ihr und mir.

Meine Fassade, die ich zunächst noch mit Mühe aufrechterhalten konnte, begann zu bröckeln. Gleichzeitig überkam mich eine bedrückende Scham darüber, meinem Leben kaum mehr gewachsen zu sein.

Was nur rät eine Ärztin ihren Patienten, wenn sie ratlos ist?

Luftveränderung? Raus aus dem Alltagstrott, hinauf in die Berge, sich entspannen, gesund ernähren, spazieren gehen. Und vor allem: über das bisherige Leben nachdenken. War das noch früh genug mit meinen neunundfünfzig Jahren?

Eine Stellvertretung für meine Praxis fand ich überraschend schnell. Bis Daniel die Notwendigkeit begriff, dauerte es länger. Auf unbestimmte Zeit, unvorstellbar, Katharina, sagte er, den Tränen nah. In all den dreißig Ehejahren haben wir das noch nie gemacht.

Vor mir waren schon einige Ärzte nach D. gekommen. Allerdings um zu heilen, nicht um geheilt zu werden, wie ich es vorhatte. Der berühmteste von allen: Alexander Spengler. Ein politischer Flüchtling aus dem badischen Freiheitskampf, der schon bald nach seiner Ankunft 1853 erkannte, wie heilsam die Luft hier oben war. Insbesondere auch deshalb, weil keiner seiner einheimischen Patienten an Tuberkulose litt. Seine Vision, diese günstigen klimatischen Verhältnisse zur Behandlung der Schwindsucht zu nutzen, nahm immer konkretere Formen an. Die ersten Sanatorien entstanden, und so paradox es klingen mag: Der in Europa grassierende Tod durch Lungentuberkulose brachte dem Dorf Leben und Reichtum.

Als ich in D. aus dem Zug stieg, atmete ich vor allem Abgase ein, die in der sommerlichen Hitze meine Lungen noch heftiger malträtierten. Ich traute meinen Augen kaum, wie sich auf der Hauptstraße vor dem Bahnhof PW an PW reihte, zwischendurch immer wieder ein verschmierter Jauchewagen, dann ein mit Bauschutt voll beladener Laster, später ein riesiger Traktor samt Anhänger und Grasballenpresse.

Vor hundert Jahren roch es hier wohl meistens nach Pferdeäpfeln, dachte ich, während ich eine Lücke in der Autokolonne abwartete, um endlich die Straße zu überqueren. Katia Mann mit ihren Atembeschwerden fiel mir ein, von ihrer Mutter zu einer weiteren Lungenkur begleitet. Ich sah die beiden Frauen vor mir, in ihrer zweispännigen Kutsche, hörte Hufgeklapper, Pferdeschellen. Mutter Hedwig Pringsheim mit Tochter Katia Mann auf ihrem Weg hinauf zum Waldsanatorium.

Kann man sich in D. überhaupt noch aufhalten, ohne an die Manns zu denken? Und an den Argwohn, der ihnen nach der Veröffentlichung des Zauberbergs entgegenschlug? Nicht erst Thomas Mann, schon seine Schwiegermutter misstraute den im Waldsanatorium erstellten Diagnosen zutiefst. Zu vorschnell werde den Patienten eine Tuberkulose in die Lungen geschwätzt, und zwar jedem, der sich hier aufhalte. So auch ihrer Tochter, spottete Hedwig Pringsheim in einem Brief an einen befreundeten Publizisten und setzte gleich noch eins drauf: »Unter uns gesagt, mein Freund, ich halte D. für einen Schwindel.«

Schwindel.

Ich bin unschuldig am Tod deiner Mutter. Ganz sicher. Katharina, jetzt hör endlich mit deinen Vorwürfen auf.

Mein Vater hätte das noch so oft wiederholen können, es wäre eine dreiste Lüge geblieben. Eine von vielen.

Heute fahren wir nach Clairmont. Ich zeige dir das Internat, wo ich als Teenager war, um Französisch zu lernen. Französisch kann man immer brauchen. Einfach so, ein kleiner Ausflug mit dem Auto, hatte mir Tante Lucille erklärt. Wenig später meine Verbannung in genau dieses Internat, einmal sogar in den düsteren Karzer, um eine erneute Flucht zu verhindern. Der Ausflug war ein Vorwand für ihr Auskundschaften gewesen.

Noch in solche Gedanken versunken, stand ich plötzlich vor dem Hauseingang.

Wie vereinbart, lagen die Schlüssel im Zeitungsfach. Der größere mit dem Bart passte zur Haustür, die sich von selbst noch weiter öffnete, sobald man sie ein wenig aufgeschoben hatte. Ein paar Schritte weiter führte eine mit moosgrünem Teppich ausgelegte Treppe hinauf zu den Wohnungen. Ich war drauf und dran anzuklopfen, so scheu fühlte ich mich unversehens. Denn jetzt war er da, dieser Moment, dem so viel Ungemach vorangegangen war. Die Auseinandersetzungen mit Daniel, die Erklärungen in meiner Praxis, die zunehmende Verschlechterung meiner Atmung.

Im Flur empfing mich ein warmes orangefarbenes Licht, und sogleich durchströmte mich eine überraschende Zuversicht: Egal was in mir drinnen alles aufbrechen, egal welche Kapriolen das Wetter draußen schlagen wird, es wird mir guttun, eine Weile hier zu leben. Ganz für mich allein.

Ankommen, ausatmen. Mich ein wenig umschauen.

Was war das denn für eine skurrile Konstruktion, die dort von der Decke hing? Ein massives Joch aus dunkelbraunem Holz, ursprünglich für zwei Zugochsen gedrechselt, jetzt zu einer rustikalen Deckenlampe umgestaltet. In den Bögen, die früher auf den breiten Nacken der Ochsen lagen, waren zwei weiße Kugelleuchten eingepasst, rund und schön wie Vollmonde. Wenn das in der Decke nur stabil genug verankert ist, so direkt über dem Esstisch. Schrecklich, sollte die ganze Herrlichkeit genau in dem Moment, wenn ich morgens frühstücke …

Neben dem Esstisch ein Eckmöbel, auch aus dunklem Holz, das bis unter die Decke reicht. Der mittlere Teil mit einem offenen Regal, der untere und obere mit einer abschließbaren Tür. Hier verstaue ich meine Kostbarkeiten, vielleicht auch mein Tagebuch. Verstecken werde ich es nicht müssen, wie damals vor Tantelotte, die heimlich meine Sachen durchsuchte. Auf der Vorderseite meines Jugendtagebuches: ein farbiges Foto von einem Pferd, das mit seinen schwarzen Augen direkt in die Kamera schaut, auf der hinteren Umschlagseite ein Murmeltier mit einem Grasbüschel zwischen den Vorderpfoten. Ob ich einem begegnen werde, wenn ich in den kommenden Wochen die Täler durchwandere? Hören tut man sie ja schnell einmal, zu sehen jedoch sind sie nur ganz selten. Mit ihren Schreien, die sich wie Pfiffe anhören, warnen sie einander rechtzeitig vor möglichen Feinden. Dazu gehört eben auch der Mensch.

Meine Notizen könnten mir helfen, endlich darüber klar zu werden, woher meine Atembeschwerden rühren. So ohne jeglichen medizinischen Befund. Seelischen Dingen auf den Grund zu gehen, bin ich als Ärztin inzwischen kaum noch gewohnt. Meistens schlägt mir der Computer eine Diagnose mit den entsprechenden Therapien und Medikamenten vor, die zu den Symptomen einer Patientin passen könnten, und zwar unabhängig von jeglicher seelischer Befindlichkeit.

Mein Tagebuch. Gehört irgendwie zu mir. Schon als Kind vertraute ich ihm all die Dinge an, die ich sonst niemandem sagen wollte. Zum Beispiel, wie lieb ich meine Mutter hatte, jedoch viel zu selten bei ihr sein durfte. Wegen ihrer MS, die sie so schwächte. Oder wie froh ich war, wenn Tantelotte, bei der ich die meiste Zeit wohnen musste, für einige Tage nach Schalke zurückfuhr. Oder wenn ich mit Lorenzo meine Schokolade gegen seine Bazooka-Kaugummis tauschte. Solche Dinge, die eben kein Kinderkram waren. Dann notierte ich auch die Menschen und Dinge, die ich verabscheute. Zuoberst auf der Liste stand natürlich Tantelotte, dreimal hintereinander,

Tantelotte

Tantelotte

Tantelotte

darunter Staubsaugen, was ich immer zur Strafe tun musste,

rote Kuttelwürmer essen,

Beichten und Beten.

Nur als Beispiel. Lange her, vermutlich mit Auswirkungen bis heute. Sonst käme mir das wohl nicht sofort in den Sinn.

Die Küchenzeile sah tatsächlich genauso aus wie auf den Fotos des Vermieters. Zwei Kochplatten, helle Schranktüren, weiße Kacheln. Nichts, was das Auge beleidigte. An der anderen Wand ein großer Flachbildschirm, sodass man gemütlich vom Sofa aus fernsehen könnte.

Noch ein Blick ins Schlafzimmer. Auch hier war alles angenehm eingerichtet, kein Jesus am Kreuz, den ich immer als Erstes entferne, wenn ich irgendwo Urlaub mache. Keine geblümten Vorhänge, keine bestickten Lampenschirmbezüge, kein Gerümpel, das eigentlich in die Müllverbrennung gehörte.

Meine erste Nacht ohne Daniel stand bevor, meine erste Nacht in dieser neuen ungewohnten Umgebung, wo man jeden Laut wahrnimmt, zudem in einer Höhe über dem Meeresspiegel, an die sich ein Körper zuerst gewöhnen musste.

Am nächsten Morgen habe ich nachgezählt, fünfmal wurde ich wach, zweimal ging ich zum Klo, einmal musste ich mich im Kutschersitz hinsetzen. Jedes Mal dauerte es ziemlich lange, bis ich wieder einschlafen konnte. Ob Daniel allein im Bett schlief, jetzt, wo ich so weit weg war?

2

Als wäre nicht ich von ihm weggegangen, vielmehr so, als hätte Daniel mich verlassen. Während meiner ersten Tage in D. fühlte ich mich wie aus der Bahn geworfen. »Mutterseelenallein« hatte es meine Mutter einmal genannt. Zwölf war ich damals. Wir machten einen Ausflug nach Wildhaus. Bei der Talstation den Sessel zu greifen, hätte sie gerade noch geschafft, im Unterschied zu oben, wo man genau an der richtigen Stelle und noch während der Fahrt abspringen musste. Deswegen blieb ich mit meiner Mutter unten im Tal, während mein Vater, Tantelotte und mein Bruder mit dem Sessellift auf einen der Berge hinaufgondelten. Lange hielt ich es mit ihr auf der Bank jedoch nicht aus, denn ich wollte endlich einmal Zwinglis Geburtshaus besuchen, ein uraltes Haus, dessen Holzbalken sich in den fast fünfhundert Jahren schwarzbraun verfärbt hatten. Als ich zurückkam, schaute mich meine Mutter mit traurigen Augen an. Vor lauter Warten sei sie zwischendurch sogar eingenickt.

Mutterseelen…, sagte sie,

…allein, ergänzte ich zerknirscht.

Erst später verstand ich, dass sie sich nicht nur von mir, sondern auch von ihrem Mann im Stich gelassen gefühlt haben musste, der mit Tantelotte fröhlich auf dem Chäserrugg herumwanderte, picknickte, sie neckte, mit einem Grashalm an der Nase kitzelte, wenn sie nebeneinander im Gras lagen. So etwas in der Art hatte ich meiner Mutter einmal erzählt. Das hätte ich wohl besser unterlassen.

Mutterseelenallein sein, ohne eigene Kinder geboren zu haben, geht eigentlich nicht, sich einsam fühlen hingegen schon. Du hast es doch selbst so gewollt, redete ich mir zu. Es war dir wichtig, einmal für längere Zeit ganz für dich zu sein, von niemandem gestört, mit keinerlei Anforderungen von außen belästigt zu werden. Werd jetzt bloß nicht sentimental. Du bist kein kleines Kind mehr, das ständig jemanden um sich herum haben muss, liegst nicht mit Scharlach im Spital, isoliert, deine Mutter unerreichbar hinter einem Bullauge, eingelassen in der wuchtigen Tür deines Spitalzimmers.

In D. hatte ich plötzlich unendlich viel Zeit, jedoch kaum etwas zu tun. Einzig die Wohnung musste ich regelmäßig lüften. Das hatte mir die Hausdame, die die Zimmer wöchentlich reinigte, gleich zu Beginn beschieden. Zweimal am Tag gut durchlüften, damit sich hinter den kostbaren Möbeln oder zwischen den Kacheln im Badezimmer kein Schimmelpilz entwickelt. Wahrscheinlich kontrollierte sie es. Mich. Sie hatte eine hochsensible Nase, die sie bestimmt in meine Sachen steckte, wenn ich draußen spazieren ging. Also doch besser das Tagebuch einschließen?

Ansonsten unternahm ich nur wenig. Abends die Nachrichten schauen. Lesen? Teju Coles Buch Open City war das einzige, das ich mitgebracht hatte. Um mit seinem Protagonisten Julius durch New York City zu schlendern, am liebsten durch dieselben Straßen, in denen auch meine Nichte Tanja manchmal unterwegs war. Damit ich die Erkundungstouren des Protagonisten gut nachvollziehen konnte, hatte ich sogar einen Stadtplan von Manhattan dabei. Witzig, mein plötzlicher Einfall, dass der Unterschied zwischen Manhattan und D. ursprünglich gar nicht so frappant gewesen sein könnte, denn auch Manhattan hatte einst klein angefangen. Als Manna-hata des Stammes der Algonkin. Kleine, vereinzelte Hütten, mit viel Wald und Wiesen. In D. dazu noch hohe Berge. Doch was war mit dem Meer? Im Hotel zuhinterst in einem Seitental soll es Schaukästen mit eindrücklichen Informationen geben. So jedenfalls stand es im Tourismusprospekt.

Ich nahm das Elf-Uhr-Postauto. Die Endhaltestelle liegt auf gut zweitausend Metern über dem fernen Meer und damit oberhalb der Baumgrenze. Wer würde hier schon Fossilienfunde von Meerestieren vermuten. Die wenigsten Ausflügler jedenfalls, die, vom Hunger getrieben, achtlos an den Vitrinen in der Hotellobby vorbeihetzten. Ich allerdings blieb wie festgezurrt davor stehen und begann die Schautafeln zu lesen. In der Mitteltrias, vor undenkbaren zweihundertvierzig Millionen Jahren, habe der heutige Kanton Graubünden vollständig unter Wasser gelegen. Das gesamte Gebiet habe zu einem weiten Flachmeer mit Inseln, Sandbänken und Riffen gehört, hieß es weiter, sodass es damals aussah wie heute auf den Bahamas. Wie heute auf den Bahamas?

Schließlich sei eine Schicht von über tausendzweihundert Metern Sediment im flachen Meer abgelagert worden, eine ideale Voraussetzung für die Entstehung von Fossilien. Diese Fossilien wurden, völlig ohne ihr eigenes Dazutun, bei der späteren Alpenbildung in die Höhe gehoben.

Mit diesem urzeitlichen Fossilienlift also kamen die versteinerten Fische und Reptilien auf die Berge. Kein Wunder, fiel mir der Zoologieunterricht bei Lehrer Hartmann ein und wie wichtig es ihm gewesen war, dass wir uns zumindest zwei Namen von damals bedeutenden Fischen merken konnten: Schmelzschuppenfische und die langschnäuzigen Knochenfische.

Genau diese beiden entdeckte ich in einem der Schaukästen. Zumindest sorgfältig präparierte Reste davon, sodass ich sie tatsächlich als Fossilien erkennen konnte. Herr Hartmann lebt wohl längst nicht mehr.

Schmelzschuppenfische und langschnäuzige Knochenfische.

Von ihnen hatte ich auch dem Psychiater erzählt. In der geschlossenen Abteilung des Heims, in dem ich meine Tat verbüßte. Als Siebzehnjährige, mein Gott, ewig her, aber immer noch sehe ich Herrn Cotti deutlich vor mir. Wie ich ihn bat, sich ein wenig zur Seite zu neigen, damit ich an der kleinen Uhr auf dem Tisch hinter ihm erkennen konnte, wie lange es noch bis zum Ende der Stunde dauerte.

Ein süßlicher Duft aus Curry und Ananas lockte mich von den Vitrinen weg. Das Restaurant war fast bis auf den letzten Platz besetzt, ich aber war bestimmt die Einzige, die vorhin das urzeitliche Meeresrauschen gehört hatte.

Zuoberst auf der Menükarte stand »Riz Casimir«. Eines meiner Lieblingsessen aus Kindertagen. Das hatte ich auch in dem Restaurant in Clairmont bestellen wollen, als mich Tante Lucille in das Internat geködert hatte. Die Kellnerin hatte mich bloß schräg angeschaut, nicht einmal »Riz« hatte sie verstanden.

Für ein Wildgericht war es noch zu früh im Jahr, die Jagd begann gewöhnlich erst Anfang September. Daniel fiel mir ein, der das mit dem Bündner Wild schon immer für eine Mär gehalten hatte. Die meisten Hirsche, nur so zum Beispiel, sagte er, würden im großen Stil in Neuseeland gezüchtet, um sie nach Europa zu exportieren. Wild sei das Wild darum schon längst nicht mehr.

Ich entschied mich für Maluns, ein Gericht aus geraffelten Kartoffeln, in Mehl und Butter gedünstet, mit separatem Apfelmus sowie einem Stück Bergkäse. Dazu ein Glas Rotwein von den sonnigen Hängen des Bündner Rheintals, wie es auf der Karte hieß. War wenigstens der authentisch?

Einen Teil des Rückwegs wollte ich zu Fuß zurücklegen, für meine Gesundheit, außerdem um meine neuen Wanderschuhe auszuprobieren. Einlaufen, müsste ich eher sagen. Am besten nie mit frisch gewaschenen Socken. Verschwitzt und anschmiegsam sollten sie sein. Die miefigen Socken anziehen, wenn wir auf dem Zugerberg oder in Wildhaus wandern gingen. Oder im Glarnerland, wo es noch steiler war als überall sonst. Weshalb lässt man eigentlich Kinder nicht einfach draußen spielen, anstatt sie auf öde Wanderungen mitzuschleppen?

Ich war ungefähr eine Viertelstunde unterwegs, als sich der Weg nach links wandte. Gleichzeitig verebbte das Rauschen des Baches, als hätte mir jemand Watte in die Ohren gestopft. Knorrige frei liegende Wurzelausläufer zwischen üppigen Krautgewächsen und weißem Augentrost säumten den Pfad. Ein weicher Waldweg war es, der bei jedem Schritt leicht nachgab. So könnte ich ewig wandern, dachte ich, all die Stunden, Tage, Monate, Jahre, die ich in meiner Praxis zum Wohl meiner Patientinnen verbracht habe, endlich ausgleichen.

Wieder eine leichte Biegung nach links. Dahinter die böse Überraschung: ein steil ansteigendes Wegstück. Niemals werde ich das schaffen, durchfuhr es mich. Viel zu steil, ich dazu noch kaum akklimatisiert. Ich verlangsamte meine Schritte, kannte das sich bemerkbar machende beengende Gefühl in der Brust nur allzu gut. Die Beklemmung, die Atemnot. Bitte nicht hier oben, wo es mir doch gut gehen soll und die Luft so gesund ist. Schön gemächlich weitergehen, ermunterte ich mich selbst, versuchen, langsam einzuatmen, die Luft einen Moment lang anzuhalten, dann bewusst durch die leicht gepressten Lippen ausatmen. Die Verkrampfung der Bronchien verursachte jetzt einen stechenden Schmerz, beim Ausatmen ein pfeifendes Geräusch. Dann musste ich so stark husten, dass es mir beinahe hochkam.

Kein Handyempfang.

Die unendlich hohe Felswand neben mir unterband jede Funkverbindung. Ich rang nach Atem. Ausgerechnet jetzt musste ich an Daniel denken, wie er die ganze Zeit mit dieser Sibylle joggen geht. Benommen ließ ich mich auf einen Baumstrunk fallen. Muss ich hier sterben, ohne dass es jemand merkt? Jämmerlich ersticken? Mit zittrigen Händen durchwühlte ich meinen Rucksack nach dem Atemspray, schüttelte ihn, umfasste das Mundstück mit meinen Lippen, drückte einmal, zweimal, dreimal auf die Metallpatrone, atmete das Aerosol möglichst tief ein. Es ging nicht tief. Kutschersitz, hörte ich Senta sagen. Also: die Hände auf die Oberschenkel aufstützen, ruhig werden. Zwei Frauen, völlig in ihr Gespräch vertieft, näherten sich – gingen an mir vorbei. Hätten sie mich wahrgenommen, wenn ich schon tot auf dem Boden gelegen hätte? Zusammengesackt hinter dem Baumstrunk?

Allmählich spürte ich, wie der Druck auf meiner Brust nachließ und ich wieder freier atmen konnte. So schlich ich eher, als dass ich ging, die vor mir liegende Anhöhe hinauf. Was wohl Tantelotte zu meinem Gang gesagt hätte? Irgendwas auf Russisch. Ein Wort, das beschrieb, wie sich die deutschen Gefangenen in den sowjetischen Arbeitslagern fortbewegt hatten. Es beginnt mit P oder B, das weiß ich noch. Tantelotte war der Ausdruck vertraut, weil ihr Vater in einem solchen Lager Zwangsarbeit verrichten musste. Plenty, Penny – nein: Plenny Schritt, heißt es. Schleichend und langsam, um Kraft zu sparen. Überhaupt Tantelotte. Auch nach mehreren Ausflügen mit uns nach Braunwald sprach sie immer wieder von Braunau, als wäre ihr das viel geläufiger.

Ich schleppte mich also wie einst Tantelottes Vater den ansteigenden Waldweg hinauf. Oder wie damals die Nonnen im Internat. Sie allerdings schleppten sich nicht etwa deswegen so dahin, weil sie an Atemnot litten oder so unerträglich hart arbeiten mussten wie die deutschen Kriegsgefangenen in den sowjetischen Lagern. Ihre Bürde bestand darin, sich immer neue Gräueltaten auszudenken, mit denen sie die Schülerinnen quälen konnten. Karzer war lediglich eine dieser demütigenden Strafen. Zum Beispiel dann, wenn ein Mädchen sich mit einem Jungen des anderen Internats getroffen hatte, die beiden zusammen auf einer Bank saßen, miteinander redeten, dabei von der nachspionierenden Nonne entdeckt wurden.

Nach ein paar wenigen Schritten, die mir kaum noch Probleme bereiteten, erreichte ich den Waldrand und trat in die pralle Sonne. Obwohl es von hier aus wahrscheinlich nur noch abwärtsginge, nahm ich lieber das Postauto, das jede halbe Stunde hier durchfuhr. Lange würde es deshalb nicht dauern, bis das nächste kam, und Zeit hatte ich ohnehin in Hülle und Fülle. Bei der Haltestelle setzte ich mich auf die Bank, den Rucksack auf meinen Knien, und wartete. Wartete wie damals in Wildhaus, als mein Vater von den am Himmel dröhnenden Militärflugzeugen schwärmte, viel lieber jedoch Starfighter beobachten würde, die meine Mutter hingegen sofort als Witwenmacher disqualifizierte. Als fliegende Särge, die zuhauf lichterloh brennend in den Bäumen hängen blieben. Der Streit eskalierte, meine Mutter lief zu Höchstform auf. So mutig hatte ich sie seither nie mehr gesehen. Ihre zunehmende Krankheit ließ nur noch abnehmenden Mut zu.

Erinnerungen. Mein Alleinsein in dieser Bergwelt hob sie aus den Tiefen meiner Seele. Ist der Vergleich mit den Fischen, die als Fossilien wie von selbst an die Oberfläche hinaufbefördert wurden, zu weit hergeholt?

3

Wollte er vielleicht hier, genau an dieser Stelle, wo ich jetzt stand und auf das Kirchlein hinunterschaute, Julika in den Schoß beißen? Wie ein Hund. Was ihm jedoch wegen ihres Manchesterrocks nicht gelang. Ich hörte es beinahe, wie Julika versuchte, ihren Ehemann zu besänftigen. Komm, Anatol, sagte sie, lass das. Es erinnerte sie ein wenig an Theater, wie sich Stiller da benahm, zudem näherten sich auf der Promenade zwei fremde Spaziergänger. Schließlich lag Stiller wie ein Toter in Julikas Manchesterschoß, nun ohne zu schluchzen, plump, wie ein befriedigter Mann. 

Auch jetzt näherten sich zwei Fußgänger, als müsste die Szene von damals wiederholt werden. Julika und Anatol Stiller auf der Wiese bei der Hohen Promenade. Den Zauberberg kannte man hier, aber Stiller? Mit Julikas Aufenthalt in dem Lungensanatorium, wo sie, nach dem ersten Entsetzen, alles gar nicht mehr so fürchterlich fand. Der Tod ging nämlich nicht als knöcherner Sensenmann umher, fand sie, nein, es wurde nur Gras gemäht. Vom Balkon ihrer Jugendstilveranda aus sah sie Eichhörnchen die Lärche hinaufhuschen, und es roch nach Heu. Stiller war zu Besuch gekommen, um seiner lungenkranken Ehefrau mitzuteilen, dass er mit seiner Geliebten für einige Wochen nach Paris fahren wolle. War dann doch zu feige, es ihr zu sagen. Führte später auch seinen Plan nicht aus. Wollte einfach so nicht mehr wegfahren.

Kannte man hier den Roman? Oder nur den Zauberberg, auf den man lieber verzichtet hätte, Nobelpreisträger hin oder her. Das Buch, ein Welterfolg, habe dem guten Ruf des Ortes massiv geschadet, gerade deswegen so sehr geschadet, weil es ein Welterfolg war. Tochter Erika Mann wurde in Sippenhaft genommen, sie und ihr Kabarett Die Pfeffermühle mit einem Auftrittsverbot belegt. Auch das ein Ausdruck davon, dass man Rücksicht nahm auf die vielen kaufkräftigen, nazifreundlichen Deutschen, die damals überall im Ort ihre Hakenkreuzfahnen hissten?

Das zwiespältige Verhältnis zu Thomas Mann war mir auch auf dem nach ihm benannten Weg von der Schatzalp hinunter nach D. aufgefallen. Zehn mickrige Messingtafeln mit Zitaten aus dem Zauberberg entlang des Weges, unkommentierte Sätze, nichts darüber hinaus. Schäbig, fand ich. Man will an den Schriftsteller erinnern und doch wieder nicht.

Mein Blick schweifte den Abhang hinunter und blieb an einem der seltenen Häuser mit einem Giebeldach hängen. Das Haus Etania, ein imposantes Gebäude mit sechs Stockwerken, davon zwei im Bereich des Steildachs. Die Fassade war in einem dezenten Gelb gehalten, das mich in dieser hellen Sommerstimmung an Vanilleeis erinnerte. Links davon ein kleineres Gebäude, nur zweistöckig, in derselben Vanillefarbe, jedoch mit einem Flachdach. Etania war zunächst eine Heilstätte für jüdische Lungenkranke gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg zudem eine Erholungsstätte für geschwächte Überlebende des Holocaust.

Ich wandte mich um, schaute zum Schiahorn hinauf. Die zahlreichen Verbauungen, die nach schweren Lawinenniedergängen errichtet worden waren, sollten Etania endlich vor erneuten Beschädigungen schützen. Nicht wie damals, ausgerechnet an einem Schabbat. Die gewaltigen Schneemassen verstopften das Gebäude bis in die zweite Etage hinauf, zerstörten auch die darin befindliche Synagoge sowie Gebetsbücher. Die beschädigte Thora wurde gemäß der religiösen Gesetze auf dem jüdischen Friedhof bestattet. Menschen blieben zum Glück unverletzt.

Da sich D. nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wenig bemühte, alle Hakenkreuzsympathisanten sofort auszuweisen, hielten sich noch immer etliche Nazis und Juden gleichzeitig in D. auf, vielleicht sogar, da das Etania über zu wenig Plätze für alle erholungsbedürftigen Holocaustüberlebenden verfügte, in anderen Sanatorien, auf derselben Bettenterrasse, Seite an Seite.

In meinem Kopf sträubte sich etwas dagegen, mir das vorzustellen.

4

Noch immer schlief ich schlecht. Und vermisste Daniel, obwohl er sicher ständig mit dieser Sibylle joggen ging. Vorher schon, jetzt bestimmt noch häufiger. Nur ein Training für den New-York-Marathon, sagte ich laut vor mich hin. New York. Ich musste aufpassen, dass es mir den Genuss an Teju Coles Buch nicht verdarb, das ich auch deswegen las, um meiner Nichte Tanja in Gedanken nahe zu sein, die seit Kurzem in Manhattan an einem Forschungsprojekt beteiligt war.

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