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Apfelglück am See

Als Buch hier erhältlich:

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Apfelkuchenduft und große Glücksmomente

Morgens genießt die junge Konditorin Anne am liebsten den Sonnenaufgang und kostet den Moment der Stille am azurblauen Chiemsee aus, bevor sie mit ihrem Großvater die kleine Bäckerei am See öffnet. Dort gibt es gerade nur ein Thema: den Pralinen-Einbrecher. Jemand warnt die Anwohner vor einem Einbruch und hinterlässt einen Brief und Pralinen. Anne findet das Ganze zunächst sehr amüsant – bis sie selbst in die braunen Augen des Pralinen-Einbrechers schaut und allzu gern mit ihm Apfelkücherl backen möchte.

Am Chiemsee ist man dem Himmel der Backkunst ein Stück näher!

Eine verträumte Konditorin und ein romantischer Einbrecher helfen dem Glück auf die Sprünge

Für Leserinnen von Anne Barns und Kristina Günak


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903627

Leseprobe

Für Oma & Janosch

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Kapitel 1

»Einmal Chiemsee-Spezialfrühstück mit Milchkaffee«, sagte ich lächelnd, rückte die Pfingstrosen beiseite und setzte das Tablett ab, auf dem sich allerlei Köstlichkeiten türmten.

Melonenscheiben fächerten sich auf, ringsum Berge von Himbeeren, Heidelbeeren und Kirschen; Bananenscheiben und Weintrauben drängten sich dicht an dicht, um die verbleibenden Lücken in der Schüssel auszufüllen. Neben einem Schälchen Vanillepudding thronte ein großzügiger Klacks Sahne auf einem Stück Apfelkuchen, und auf einem Holzbrett reihten sich verschiedene Käsesorten aneinander, daneben Salami, Frischwurst und Schinken. Eine Marmeladenauswahl stand in kleinen Gläschen bereit, und neben einem weich gekochten Ei zierten ein paar Scheiben Räucherlachs kunstvoll gerollt die Frischkäseschale.

Zufrieden betrachtete ich, was mein Opa in der Küche gezaubert hatte. »Lass es dir schmecken, Hilde!«

»Mmmmh«, machte sie nur, und ich lehnte mich mit einem Lächeln an einen der kleinen Tische. Mein Blick glitt über das Wasser.

Die Wellen glitzerten in der Morgensonne, sanft schwappten sie gegen den Steg. Ich liebte die Morgenstunden am Chiemsee, den Duft von Kaffee und das warme Holz des Bootsstegs unter meinen nackten Füßen. Um diese Uhrzeit war es ruhig. Die benachbarten Cafébesitzer stellten gerade erst ihre Stühle auf und wischten den Tau von den Tischen. Urlauber waren um diese Zeit noch nicht am Ufer unterwegs, nur die üblichen Stammgäste hatten es sich in unseren Korbsesseln auf dem Steg gemütlich gemacht. Sie lauschten dem Plätschern der Wellen, lasen Zeitung und fingen die ersten Sonnenstrahlen auf.

»Sogar ein Stück Apfelkuchen ist dabei. Sieht der gut aus …« Hilde klopfte sich zufrieden auf den runden Bauch. »Anne, Kindchen … Wenn du so weitermachst, bricht auf meinem Stammplatz bald der Steg durch.«

»Keine Angst«, kam es prompt vom Nachbartisch. Dort saß Opa in seinem alten, abgewetzten Trachtenjanker und lachte. »Anne hatte den Kuchen eine Dreiviertelstunde im Ofen. Falls Kalorien drin waren, sind die jetzt alle tot.«

»Exakt!« Ich nickte grinsend. »Habe von den kleinen Biestern keine mehr gesichtet.«

Ein Nicken von Opa, als ich ihm eine Tasse Tee hinschob. Seine spärlichen Haare, die sich rund um die Glatze reihten, waren ein wenig zerknautscht von dem Kissen, an dem er lehnte.

Als Hilde sich vorbeugte, landete fast ihr Ellenbogen im Camembert. »Im Ernst. Eigentlich wollte ich diese Woche längst schon mit Trennkost anfangen. Bärbel hat mir neulich erzählt, dass da was in der … na … sag mir … diese Zeitschrift mit dem … Wie heißt die doch gleich …? Jedenfalls … Die Berühmten machen das auch alle, das funktioniert!«

»Anne!« Opa blinzelte gegen die Sonne. »Hast du gehört? Hilde will das nächste Mal den Kuchen und die Schokolade getrennt serviert bekommen.«

»Hilde.« Seufzend drückte ich ihre Hand. So energisch und selbstbewusst Hilde manchmal auftrat, die Speckröllchen an ihrem molligen Bauch – die ich so liebte und die ihr ausgezeichnet standen – kratzten immer mal wieder an ihrem Stolz, wenn sie irgendeine Hochglanzzeitschrift in die Finger bekam.

Opas Blick war eindringlich. »Kalorien zu zählen macht nicht dünn, es macht traurig.«

»Hach, ihr habt ja recht.« Hilde löffelte ein wenig Vanillepudding aus ihrem Schälchen. »Man muss sich ab und zu doch mal was Ungesundes gönnen.«

Ups. Das hätte ich an ihrer Stelle nicht gesagt. Ich schielte zu Opa – und musste nicht lange warten.

»Jetzt mach mal ’nen Punkt!« Empört drehte er sich um und kniff die mächtigen Augenbrauen zusammen. In ihrer grauen Widerborstigkeit gaben sie seinem runden, gutmütigen Gesicht etwas Markantes. »Wenn unser Frühstück nicht gesund ist, welches denn dann! Obst! Frische Beeren, Äpfel, Birnen, Kirschen, Bananen, Melonen! Biowurstwaren, Biolachs, selbst gemachtes Sauerteigbrot aus siebzig Prozent Vollkorn! Eier von Nachbars Hühnern! Marmeladen nach Omas Rezept, Honig vom Imker um die Ecke. Schonend gepresster Apfelsaft von unseren Bäumen! Spinnen kann man aber auch!«

»Schon gut, Opa«, flüsterte ich und warf ihm einen belustigten Blick zu.

»Lass Hilde fasten, wenn sie will«, meldete sich Andi mit tiefer Stimme hinter einer Zeitung, zwei Tische weiter. Von ihm konnte ich nur die braun gebrannten Ellenbogen erspähen. »Dann bleibt ja mehr für mich übrig.«

»Das ist die richtige Einstellung.« Zufrieden verschränkte Opa die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück in seinen Korbsessel. »Hast du gehört, Hilde, was der Andi gesagt hat?«

Die Zeitung senkte sich, Andi grinste uns über den Regionalteil hinweg an. Es war gerade erst halb neun, für seine erste Fahrt mit der Chiemseebahn hatte Andi, der als Schaffner arbeitete, noch ein wenig Luft. Seit ein paar Monaten frühstückte er vor Arbeitsbeginn regelmäßig im Café, um die Leere im Haus nicht aushalten zu müssen, die der Tod seines Ehemannes mit sich gebracht hatte. »Mein Navi ändert sogar inzwischen von sich aus die Route, wenn mein Magen knurrt. Ich lande dann immer bei euch.«

»Sag das noch mal, aber laut«, brummte Opa. »Die Hilde hat ihr Hörgerät wieder nicht eingeschaltet.«

»Freilich hab ich das.« Energisch biss sie in eine Melonenscheibe.

»Hilde hat bestimmt schon wieder …«, setzte Opa an, doch weit kam er nicht.

»Schluss jetzt«, sagte ich entschieden. »Themenwechsel, ihr Lieben. Bevor einer weint. Außerdem ist der Tag viel zu schön zum Streiten.«

Für einen Moment setzte ich mich auf den Boden, ließ die nackten Füße ins Wasser baumeln und hielt mir die Hand über die Augen, um sie vor der tief stehenden Morgensonne zu schützen. Hier, von unserem Steg aus, hatten wir einen fantastischen Blick auf die Herreninsel. Zwischen den Bäumen, die in Reih und Glied Spalier standen, blitzte hell das Schloss hervor.

»Wo ist denn eigentlich Bärbel?«, fragte ich Hilde nach einer Weile und drehte mich zu ihr um. Die beiden sah man sonst nur im Doppelpack. Dicke Freundinnen, und das seit siebzig Jahren.

»Das frage ich mich ehrlich gesagt auch.« Hilde zuckte die Achseln, ihr Blick schweifte in Richtung Hafen. »Sie war noch nie zu spät. Du kennst doch Bärbel, man kann die Uhr nach ihr stellen.«

»Vielleicht ist sie krank?«, meinte Opa. »Aber dann hätte sie dich doch bestimmt angerufen?«

»Wir … hatten gestern eine kleine Meinungsverschiedenheit.« Hildes Lippen wurden schmal. »Es ging um die Reklamation meiner … Ach, ist ja auch egal. Vielleicht ist sie mir noch böse, schließlich bin ich mit dem Thema rabiater umgegangen, als sie es tun würde.«

Das würde mich nicht wundern. Hildes Blutdruck stieg um einiges schneller als der von Bärbel, allerdings glätteten sich bei ihr auch schnell wieder alle Wogen. »Hoffentlich ist nichts passiert«, sagte ich und sah sie über meine Schulter hinweg an.

»Na, hör mal, Kindchen.« Hilde lachte. »Unkraut vergeht nicht. Und Bärbel und ich sind besonders zäh. Wie Giersch und Löwenzahn, in etwa dieses Kaliber.«

»Dann bin ich ja beruhigt.« Lächelnd beobachtete ich eine Biene, die sich auf unserem Blumenschmuck niedergelassen hatte. »Ich werde trotzdem nachher mal bei Bärbel vorbeifahren. Sicherheitshalber.«

»Du hast heute so viel um die Ohren, Anne. Dafür bleibt doch gar keine Zeit.«

Gelassen lächelte ich ihr zu. »Dann nehme ich mir Zeit!«

»Ist dein Vater eigentlich schon in der Arbeit?«, fragte Hilde. »Ich möchte mit ihm sprechen. Er muss dringend meine Alarmanlage auswechseln.«

»Ja, den hast du knapp verpasst.« Das Wasser umspielte meine Füße. Mit einem wohligen Seufzen beobachtete ich ein Blesshuhn, das offenbar im seichten Wasser ein Nest gebaut und sich zum Brüten niedergelassen hatte. »Der hat momentan einfach viel Stress.«

»Kein Wunder, diese Einbruchserie … Da wird er ordentlich zu tun haben.« Hilde spießte ein paar Himbeeren auf und tunkte sie in den Joghurt.

»Heute ist wieder ein Artikel dazu drin.« Andi wedelte mit der Zeitung. »Aber zumindest kein neuer Einbruch.«

»Die armen Familien«, seufzte Hilde. »Stehen plötzlich mit nichts da. Und die Täter sind auf und davon.«

»Wir könnten doch Spenden sammeln«, schlug ich vor. »Klar, es lässt sich nicht alles ersetzen. Aber eine kleine Starthilfe wäre doch fürs Erste nicht schlecht.«

»Gute Idee!« Opa setzte sich kerzengerade auf, seine Wangen färbten sich ein wenig rosa. Bei Plänen wie diesen war er sofort dabei. »Ich stelle eine Spendendose im Café auf.«

Hilde winkte ab. »Die verstaubt in irgendeiner Ecke, das bringt nichts.«

Da kam mir eine Idee. »Dann ein Spendenverkauf?«

Opas Augen begannen zu leuchten. »Au ja! Und den Erlös bekommen die Familien. Kuchen, Steinofenbrot, Marmelade, Kompott! Wir könnten auch Überraschungstüten packen, eine kleine Zusammenstellung für ein Picknick. Pro Tüte dann eine Spende …«

»Wär’s geselliger nicht schöner?«, warf Andi ein. »Bierausschank, fröhliches Beisammensein?«

»Ein Fest!« Opa war offensichtlich Feuer und Flamme. Wie immer, wenn es darum ging, Feierlichkeiten und Events zu organisieren. »Natürlich!« Begeistert klatschte er in die Hände.

Auch Hilde und ich nickten eifrig. Für Feste war jeder im Ort zu haben. Nicht zuletzt deshalb nannte ich Prien mit Stolz mein Zuhause.

»Der Weißgerber Hubert leiht uns bestimmt Bierbänke und ein paar Pavillons«, meinte ich. »Die stellen wir dann an der Landzunge auf.«

Mit einem Lächeln lehnte sich Opa zurück. »So machen wir’s!«

»Gibt’s dann auch eure Apfel-Grapefruit-Marmelade?«, fragte Andi.

»Selbstverständlich gibt’s die!«, rief Opa. »Unser gesamtes Sortiment. Sogar den Apfelessig und die Apfelbutter.«

»Haben die Einbrecher nicht auch bei den Sallers zugeschlagen?«, nuschelte Hilde kauend. Die Finger wischte sie sich an der Serviette ab. »Die Saller-Oma hat mir erzählt, die haben ihnen die komplette Wohnung ausgeräumt, während sie im Garten den Achtzehnten von ihrem Jüngsten gefeiert haben.«

Opa nickte. »Sie haben sogar dieses Ding gestohlen – na, wie heißt es doch gleich? Das ihr blinder Sohn braucht, um Texte lesen zu können … Schämen sollten sie sich! Die Sallers haben die Verordnung vom Arzt bei der Krankenkasse eingereicht, aber die Bewilligung dauert so lang.«

»Es geht übrigens noch ein anderer Einbrecher um!« Mit vielsagendem Blick klopfte Andi auf einen Artikel in seiner Zeitung. »Der Pralinen-Einbrecher. Schaut mal, er hat es sogar auf die Titelseite geschafft.«

»Klaut Pralinen, oder was?«, fragte Opa.

Hilde verzog keine Miene, aber ihre Augen funkelten belustigt. Sie leckte sich die Marmeladenfinger ab. »Seid vorsichtig, Anne. Nicht dass er es auch auf eure Marmeladen abgesehen hat.«

»Keine Sorge«, brummte Opa. »Wir werden uns einen Safe für die Marmelade zulegen.«

»Und Papa schickt uns dann noch ein paar seiner Securitymänner, die davor Wache halten«, kicherte ich.

»Die Marmeladenritter.« Opa lachte. »Nicht schlecht. Ich werde es deinem Vater vorschlagen. Vielleicht hilft es gegen die schlechte Laune, die er seit ein paar Tagen hat.«

»Was ist denn nun mit dem Pralinen-Einbrecher?«, fragte ich neugierig.

Andi versenkte seine Nase in der Zeitung. »Sie schreiben, er klaut nichts und rührt nichts an. Nicht einmal Fenster schlägt er ein. Stattdessen hinterlässt er auf dem Fensterbrett eine Schachtel Pralinen und einen Brief, unterzeichnet mit Der Pralinen-Einbrecher. Fünf Adressaten bis jetzt.«

»Einen Brief?«, wiederholte ich. Hörte sich nach einer süßen Idee an.

»Eine Rechnung für die Pralinen wahrscheinlich.« Opa grinste.

»Nein, es ist …«

»Lies doch mal vor!«, forderte Hilde energisch. »Was schreibt denn unser rasender Reporter?«

»Also … Bla, bla … Hier wird einer der Polizisten dazu zitiert. Er sagt: Sie erzählten davon, ja, manche von ihnen hielten uns eventuell sogar noch das verschlossene Kuvert unter die Nase, doch sobald einer von uns fragte, ob wir einen Blick hineinwerfen durften, schoben sie es schnell in ihre Taschen zurück. Auf Nachfragen schwiegen sie beharrlich. Doch eines erstaunte uns am meisten: Sie lächelten. Alle. Es schien beinahe so, als sei ihnen der Einbrecher durch ein paar handgeschriebene Zeilen ein Freund geworden.«

Ich hätte es vor Opa, Hilde und Andi niemals zugegeben, aber allein die kurze Beschreibung berührte mich.

»Da erlaubt sich jemand einen Scherz, jede Wette«, meinte Opa achselzuckend.

»Niemals!«, widersprach ich sofort. »Glaubt ihr nicht, da steckt mehr dahinter?«

»Ach!« Opa winkte ab.

»Vielleicht jemand, der die Welt ein Stückchen besser machen möchte.« Ich nickte, um meine eigenen Worte zu bestätigen. »Oder er sucht mithilfe dieser Briefe seine große Liebe!«

»Ganz bestimmt«, brummte Andi. »Drei Adressaten sind angeblich schon über achtzig.«

»Vielleicht ist es ein älterer Herr.« Hilde kicherte. »Wenn er im hohen Alter so topfit ist, darf er gern mal auf meinen Balkon klettern und sich vorstellen.«

»Sieh an, die Hilde!« Opa pfiff durch die Zähne und grinste.

»Spannend hört es sich auf alle Fälle an.« Tropfen flogen, als ich die Füße schwungvoll aus dem Wasser zog und aufsprang. Jeder meiner Schritte hinterließ Wasserflecken auf dem Holz. Neugierig lugte ich über Andis Schulter. »Ich wüsste zu gern, was in dem Brief steht. Es hört sich nach einem kleinen Abenteuer an.«

»Das ist typisch für dich.« Opa seufzte. »Erinnerst du dich noch? Als du ein kleines Mädchen warst, haben dich die Leute immer gefragt, was du werden willst, wenn du mal groß bist. Und du hast immer gesagt: Sherlock Holmes.«

»Das stimmt.« Ich musste lächeln. Papa hatte mir früher immer Geschichten von Sherlock Holmes erzählt. Kindgerecht natürlich – und vermutlich waren sie alle erfunden. Sherlock Holmes und der verschwundene Schokokeks zum Beispiel. Ich hatte die Geschichten geliebt, das Ratespiel und die Spannung. Mit offenem Mund hatte ich Papas Erzählungen gelauscht. Und Sherlock Holmes zog so beneidenswert schnelle Schlüsse, dass ich wusste: Er würde jeden noch so kleinen Krümel des Schokokekses wiederfinden! Tagelang hatte ich Papa angebettelt, damit er mich mit zur Arbeit nahm. Da saß ich dann schon als Vierjährige in der Serviceleitstelle meines Vaters, starrte fasziniert auf die vielen Bildschirme der Überwachungskameras und sah den Sicherheitsfachkräften nach, die auf Alarmverfolgung gingen. Alle auf der Suche nach dem Schokokeks, zumindest in meiner Fantasie.

»Hereinspaziert, setzen Sie sich!«, rief Opa sofort, als ein junger Mann den Steg betrat. Wild verstrubbelte dunkle Haare, entspanntes Lächeln und Jogginghose. »Machen Sie es sich gemütlich. Unsere Karte, bitte schön.«

Das Strahlen im Gesicht meines Großvaters ging mir zu Herzen. Einen neuen Gast zu begrüßen war Chefsache, da blühte er auf.

»Danke.« Lächelnd nickte er in die Runde. Er quetschte sich zwischen Hildes Rollator und Opas Beinen hindurch, ließ sich am hintersten Tisch nieder und klappte die Karte auf.

»Wer sind denn die Familien, die Pralinen bekommen haben?«, fragte Opa, kam an seinen Tisch zurück und rückte seinen Korbsessel ein wenig schräg, um sich gegen die tief stehende Sonne zu schützen. »Womöglich kennen wir jemanden.«

»Das wäre gut«, gab ich zu. »Zu gern würde ich den Brief mal lesen. Es klingt so, als wäre der Einbrecher ein sehr interessanter Mensch. Sensibel und kreativ.«

»Ach! Der Typ verarscht uns doch alle mit seinen Pralinen.« Andi winkte ab. »Einbrecher ist Einbrecher, irgendwo ist da ein Haken. Dein Vater wird ihn schon irgendwann auf frischer Tat ertappen. Oder die Polizei. Der Typ könnte gefährlich sein.«

»Ja, da hat der Andi recht.« Opa setzte einen ernsthaften Blick auf und nickte. »Nicht auszudenken, was alles passieren könnte! Am Ende beschenkt er noch eine sechste Familie mit Pralinen! Gemeingefährlich, der Mann.«

»Wenn ihr mich fragt: Jemand, der anderen Leuten Pralinen und einen Brief ins Haus legt, hat heftig einen an der Klatsche«, gab Andi zurück. »Egal, was drinsteht.«

»Ist doch eine süße Idee«, klinkte ich mich wieder ein und erntete einen verständnislosen Blick von Andi. »Jetzt schau nicht so. Vielleicht ist es auch ein kleiner Scherzkeks, der die Leute aufmuntern will.«

»Wir sind am Chiemsee, unter dem weiß-blauen bayerischen Himmel!« Andi breitete die Arme aus und sog die frische Luft ein. »Wer müsste uns schon aufheitern?«

»Annes Vater wäre so ein Kandidat. Der würde sich über einen Brief mit netten Worten bestimmt freuen.« Opa sah Andi nachdenklich an. »Dir hat er auch nicht gesagt, welche Laus ihm plötzlich über die Leber gelaufen ist, oder? Momentan ist seine Laune nicht zum Aushalten.«

Andi nahm einen Schluck Kaffee. »Jürgen? Ja, der ist momentan wirklich ein wenig gereizt.«

»Das stimmt allerdings«, pflichtete ihm Hilde bei. Genüsslich schob sie sich eine Gabel mit Apfelkuchen in den Mund und leckte sich den Zucker von den Lippen.

»Er hat Stress«, versuchte ich zu erklären und seufzte tief. Opa müsste das eigentlich wissen. »Seid nicht so hart mit ihm, er arbeitet momentan von morgens bis abends.« Doch insgeheim gab ich Opa recht. Papa war seltsam, schon seit einer Woche oder länger. Aber das wollte ich nicht mit den Stammgästen besprechen. In letzter Zeit wirkte mein Vater so verschlossen. Als hätte er die Rollläden hinter seinen Pupillen zugezogen und sie nicht wieder geöffnet, das würden die Schulkinder meiner besten Freundin Julie vermutlich sagen. Ich wünschte mir sehr, mein Vater würde sie auch nur einen kleinen Spalt aufziehen, vorsichtig hindurchspähen oder zumindest gelegentlich ein paar Sonnenstrahlen hineinlassen. Doch hinter diesen Augen blieb es dunkel.

»Oh, so spät schon!« Andi warf einen Blick auf seine Armbanduhr und kippte den Rest seines Kaffees hinunter, gefolgt von dem letzten Bissen Sauerteigbrot. Er kaute noch, als er uns zuwinkte und über den Steg in Richtung Hafen verschwand. »Ich muss zur Arbeit!«, schallte es – wegen des belegten Brots recht verhalten – herüber. »Bis morgen!«

»Bis morgen!«, riefen Opa und ich unisono, Hilde winkte nur mit vollem Mund. »Als deine Mutter so alt war wie du, sah sie dir sehr ähnlich, Kindchen«, sagte Hilde kauend und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Sehr sogar.«

»Ja?«, fragte ich und blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken, die sich in meine Augen stahlen.

»Sie war auch genauso ruhig wie du, genauso herzensgut, hatte aber auch genau dasselbe Blitzen in den Augen, wenn sie neugierig war. Wenn sie nicht gerade in Afrika wäre, dann ginge sie der Spur des Pralinen-Einbrechers sofort hinterher. Davon bin ich fest überzeugt.«

»Immer den Pralinen nach.« Opa nickte lächelnd.

»Entschuldigung?«, rief der junge Mann am hintersten Tisch laut.

Zurückhaltend hob er den Arm und winkte, die Karte lag noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch. Er selbst hatte sich lässig im Korbsessel zurückgelehnt, seine braun gebrannten Arme ruhten auf den Lehnen, seine Sonnenbrille auf dem Tisch. Also hatte sich doch endlich mal ein Tourist so früh in unser Café getraut.

»Ja?« Der laue Sommerwind strich mir durchs Haar. Ich kam ein paar Schritte näher, ans hinterste Ende des Steges. »Was darf’s denn sein?«

»Ich … wollte eigentlich wegen der Preise fragen.« Seine tiefbraunen Augen sahen von der Karte hoch. »Es stehen keine dabei. Ist doch nicht etwa nur für die gehobene Gesellschaft?«

Unsere Blicke trafen sich, er grinste schief. Es war jene Art von Grinsen, das sich hinter einer coolen Fassade versteckte, dahinter aber längst bis über beide Ohren reichte. Eines, das ansteckend war. Hochansteckend.

»Das ist das Konzept des Café Apfelglück«, erklärte ich und strahlte ihn an. »Der Markt Prien unterstützt dieses Projekt finanziell. Jeder bezahlt, was er kann und möchte. Das dürfen Sie nach dem Essen völlig frei entscheiden.«

»Ach? Das heißt …« Er klappte den Mund auf und zu, wieder spielte ein halbes Lächeln in seinem Mundwinkel.

»Es soll jedem die Möglichkeit geben, hier zu frühstücken«, sagte ich. »Wir haben Gäste, die sehr wenig verdienen. Die bezahlen manchmal auch gar nichts. Besserverdiener gleichen das wieder aus.«

»Oh.« Ein anerkennendes Nicken, dann lehnte er sich noch ein Stückchen weiter zurück. Gerade so weit, dass ich die kleine Narbe entdeckte, die sich über sein Kinn zog. Der Stuhl wippte leicht unter seinem Gewicht, als er die Arme hinter dem Kopf verschränkte. »Eine tolle Sache.«

»Die Leute freuen sich.«

»Ach, übrigens …« Er warf einen Blick über die Schulter, scannte den Steg. »Jürgen Spötzl ist nicht zufällig zu sprechen?«

»Leider nein.« Mein Vater war längst aufgebrochen, im Café erkundigte sich selten jemand nach ihm. Was wollte er wohl von ihm? Nachdenklich musterte ich den jungen Mann und blieb an seinen dunklen Augen hängen. Länger, als es in diesem Moment nötig gewesen wäre. Vielleicht hatte er einen Auftrag für meinen Vater? Widerstrebend fügte ich in formellerem Ton hinzu: »Aber Sie erreichen ihn in der Securityfirma Spötzl, Dahlienweg 17

Er winkte ab. »Nicht so wichtig. Mal sehen, vielleicht treffe ich ihn woanders.«

»Wie Sie meinen.« Lächelnd nahm ich die Speisekarte entgegen. »Was darf ich bringen?«

»Einen Cappuccino, bitte. Und das Waldbeeren-Sommerfrühstück.«

»Gerne.« Gerade hatte ich mich umgedreht, da rappelte sich Opa von seinem Korbsessel auf und strich sich ächzend über den Rücken.

»Ich mach das!«, rief er mir am anderen Ende des Steges bereits zu. »Sonst roste ich hier noch ein.«

Das Holz knarrte unter meinen Füßen, als ich auf Opa zulief. »Ich kann wirklich schnell …«, setzte ich an, doch Opa schüttelte vehement den Kopf.

»Du«, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger gegen meinen Bauch, »du musst noch Frühstückspakete ausliefern. Zweimal Chiemsee-Spezial, einmal das Brezen-Glück und einmal das große Pärchen-Frühstück mit Sekt.«

Himmel, ja! Um ein Haar hätte ich es vergessen. Der junge Mann verwirrte mich mehr, als ich hätte zugeben wollen. Entschuldigend lächelte ich in die Runde.

»Also!« Ich winkte auch in Hildes Richtung. Schnell bückte ich mich über Andis Tisch, stapelte sein benutztes Geschirr und hob es hoch. »Bin dann mal weg. Und Hilde – mach dir keine Sorgen, ich werde bei Bärbel vorbeischauen.«

Sie nickte mir zu. »Das ist lieb von dir.«

»Bring ihr ein Frühstück mit!«, rief Opa. »Mit extra Himbeeren, die liebt sie.«

»Mach ich«, versprach ich.

»Und lass dich nicht entführen. Vom romantischen Einbrecher.« Hilde kicherte. »Aber falls du ihn triffst, lass dir ein paar Pralinen geben. Notfalls helfe ich dir auch, sie aufzuessen!«

»Ich dachte, du machst dir Sorgen, dass der Steg unter dir durchkracht?«, zog Opa sie auf. Mit einem Grinsen ging er in Deckung, als Hilde drohend den Löffel hob.

»Lass dich nicht ärgern.« Ich knuffte sie mit der freien Hand freundschaftlich in die Seite. »Also … Der junge Mann bekommt einen Cappuccino und das Beerenfrühstück. Bis später!«

»Warte!«, rief Opa. Gemächlich zog er den Trachtenjanker aus und warf ihn über die Lehne seines Sessels. Mit steifen Beinen folgte er mir den Steg entlang. »Um wie viel Uhr kommt denn deine Freundin Julie hier an?«

»In drei, vier Stunden etwa.«

»Will sie was essen? Sie muss doch Hunger haben nach der langen Fahrt!«

Ich lächelte nur. Opas Gastfreundschaft war von nichts und niemandem zu überbieten. »Das ganze Haus ist bis unters Dach voller Essen«, rief ich und steuerte mit einem letzten Winken die Bäckerei an, wo sich Opas und meine Wege trennten. »Da werden wir doch was finden.«

Aus den Augenwinkeln sah ich Opa nach seiner Schürze greifen, als eine junge Mutter mit zwei Kindern die Glocke am Verkaufstresen läutete. Dann verschwand ich mit Andis Geschirr im Hintereingang.

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Kapitel 2

Nur eine Viertelstunde später hatte ich mir Sandalen angezogen, Bärbels Frühstück vorbereitet und es mit den restlichen Paketen in den Fahrradkorb geladen. Der Fahrtwind blies mir die Haare aus dem Gesicht, und ich trat ordentlich in die Pedale, um all den Leckereien nicht mehr Zeit in der Wärme zuzumuten als nötig.

Schnaubend und pfeifend kam mir die Chiemseebahn entgegen. Über hundert Jahre war sie schon alt – nein, Moment, Opa würde schimpfen, deshalb: Tatsächlich waren es stolze hundertdreiunddreißig Jahre –, lackiert in einem satten Tannengrün. Dampf stob in die Höhe, die Räder ruckelten auf den Schienen. Die meisten Waggons waren um diese Zeit leer, doch bereits in einer Stunde würde die alte Dampfstraßenbahn etliche Touristen vom Bahnhof zum See transportieren.

»Servus, Anne!«, rief Andi, der, bereits in der Schaffneruniform, geschickt von einem Waggon zum nächsten sprang – und ich grüßte zurück.

Ein Haus nach dem nächsten peilte ich an. Übergab Pakete, stellte die Tageskarte von morgen vor und hielt den einen oder anderen Plausch. Ich liebte es, unseren Kunden Frühstückspakete auszuliefern. Ob Rentner, Berufstätige oder junge Mütter – alle Augen leuchteten, sobald sie das Paket öffneten. Ein königlicher Start in den Tag. Auch die Frühstückspakete besaßen keine festen Preise. Opa hielt seit Jahren an diesem Modell fest, obwohl wir kaum Gewinn erzielten. Doch wie er immer sagte: Er war nicht Bäcker geworden, um reich zu werden, sondern um Menschen glücklich zu machen.

Ein Blick in den Fahrradkorb verriet mir schließlich, dass ich noch ein Päckchen auszuliefern hatte. Meine Bremsen quietschten, dann kam ich vor einem kleinen, von Wind und Wetter verwitterten Holzhaus zum Stehen, das meine Lieblingskundin mit ihrer unverkennbaren Liebe zu Elefanten gestaltet hatte. Hortensien zierten den Vorgarten, eine ganze Herde aus Stein gemeißelter Elefanten lugte unter ihren Blüten hervor. Manche so groß wie ein Hühnerei, andere beinah wie eine Katze. Das Fenster neben der Eingangstür war weit geöffnet, ein Porzellanelefant zierte das Fensterbrett, und eine Grünlilie streckte ihre Blätter der Sonne entgegen.

»Bärbel?«, rief ich.

Stille. Vögel zwitscherten im Garten, in der Ferne hörte ich die Chiemseebahn pfeifen. Dass Bärbel unterwegs war und ein Fenster offen ließ, sah ihr nicht ähnlich. Vor allem, wenn die Polizei Serieneinbrüche in Prien meldete.

Ich schnappte mir das Frühstückspaket und lugte durch die Gardine ins Wohnzimmer. Hinter dem durchbrochenen Stoff erkannte ich schemenhaft eine Gestalt. Liegend. Auf dem Sofa. »Bärbel?«, probierte ich es ein zweites Mal. Hoffentlich war sie wohlauf.

»Ha?«, kam es schlaftrunken zurück. Ihre Stimme war müde und rau. »Wer ist da?«

»Ich bin’s, Anne!«

»Tür ist offen!«

Meine Schritte hallten durch den Flur, als ich eintrat. Bärbels Haus sprühte vor Charme. Wer es betrat, zog erst einmal den Kopf ein, um sich nicht an der oberen Kante des Türrahmens zu stoßen. Ein Hobbit-Haus, hatte Hilde immer gesagt und gelacht. Vermutlich wirkte es deshalb so eng, weil Bärbel es schaffte, auf einem Quadratmeter mehr Dekofiguren aufzustellen als andere Menschen in drei Stockwerken. Am liebsten Elefanten: aus Holz, aus Porzellan, aus Plüsch. Sie sammelte sie. Hundertachtundzwanzig Stück besaß sie, das hatte sie mir einmal verraten – und jeder davon trug einen Namen. So vergesslich Bärbel auch war, die Namen der hundertachtundzwanzig Elefanten vergaß sie nie. Behauptete sie zumindest. Nachprüfen konnte ich es ja schlecht, weil niemand wusste, ob da eben Elmar auf dem Kachelofen saß oder Heinz-Günther.

Und da war schon der erste – aus Plüsch. Beinahe so groß wie ein dicker Dackel, glänzende, dunkle Knopfaugen und ein stilles Lächeln auf dem Baumwollgesicht. Ein blaues Samtsäckchen baumelte an seinem Rüssel. Er saß direkt im Hausflur, nur eine Handbreit hinter dem Fußabstreifer. Ob das nun der hundertneunundzwanzigste war?

»Dir ist wohl ein Elefant zugelaufen«, rief ich durch den Flur.

»Ach ja?«, kam es nun aufgeräumter aus dem Wohnzimmer zurück. Ihr Grinsen war unüberhörbar.

»Soll ich ihn hereinbitten?«

»Hier ist jeder willkommen.« Das Sofa knarrte, vermutlich stemmte sie sich gerade hoch.

Ich setzte den Elefanten auf die Frühstücksbox, zog mir ein Paar Gästehausschuhe über – rosa Puschen! – und trat ins Wohnzimmer.

»Um Himmels willen!« Erschrocken stürzte ich auf Bärbel zu.

»Ach, Anne.« Sie lachte. Glücklicherweise. Auch wenn sie mit all diesen blauen Flecken und dem eingegipsten Fuß nicht so wirkte, als wäre alles in Ordnung. »Jetzt tu doch nicht so, als wäre ich tot.«

Ich zeigte auf den Gipsfuß. »Gebrochen?«

»Keine Ahnung. Offenbar schon.« Bärbel zuckte die Schultern.

»Der Arzt wird doch was gesagt haben?«

»Er hat das Röntgenbild hochgehalten und gesagt: Das sieht nicht gut aus. Und ich hab geantwortet: Macht nichts, wenn es Ihnen nicht gefällt. Zwingt Sie ja keiner, es in Ihrem Wohnzimmer aufzuhängen.«

»Bärbel!« Grinsend schob ich ihr ein Kissen hin.

»Ach!« Falten gruben sich in ihre Wangen, als sie lächelte.

»Hast du dich geprügelt?«, fragte ich schmunzelnd.

»Was denn sonst.« Sie lachte. »Du kennst mich doch, bei mir fliegen schnell die Fäuste.«

Wenn ich mir Bärbel, diese zierliche kleine Frau mit dem feenhaften silbernen Haar – meist zu einem langen Zopf geflochten –, vorstellte, wie sie drei Männer zu Boden streckte …

»Im Ernst«, sagte ich besorgt. »Hast du Schmerzen?«

»Ich bin dreiundachtzig, Anne.« Sie schmunzelte. »Da zwickt immer irgendwas. Und heute eben ein bisschen mehr.«

Ernst sah ich sie an. »Was ist denn passiert? Und wann? Gestern?«

»Heute Nacht. Eigentlich wollte ich nur zur Toilette. Wie immer, dreimal pro Nacht – meine Blase ist schließlich auch schon dreiundachtzig Jahre alt. Wenn sie ein Waschbecken wäre, hätte sie jeder vernünftige Handwerker schon vor fünfzig Jahren grundsaniert.«

Ich lächelte milde. »Bist du gestürzt?«

»Mir war so schwindelig. Vermutlich die Hitze. Als junges Mädchen …« Sie drückte meine Hand und sah mich vielsagend an. »In deinem Alter habe ich den Sommer geliebt. Aber jetzt macht mir die Hitze dann doch schon zu schaffen.«

»Viel trinken, Bärbel.«

Sie zwinkerte mir zu. »Sag ich auch immer. Aber mein Hausarzt meint, das macht meine alte Leber nicht mehr mit.«

»Wasser!«, rief ich und schüttelte den Kopf.

Sie grinste nur spitzbübisch. »Jaja. Dann kann ich gleich auf der Toilette übernachten.«

Mitfühlend betrachtete ich ihren Gipsfuß. »Du bist ja echt böse aufgekommen.«

»Man fühlt sich so hilflos«, gab sie zu. »Ich konnte den Fuß ja nicht einmal bewegen. Den Hausnotruf hatte ich auf dem Nachtkästchen vergessen. Dem Himmel sei Dank, dass … er … mich gefunden hat.«

Ich stockte. »Du hast den Notruf nicht mitgenommen?«

Ein Hauch von Rot, das ich nicht näher einordnen konnte, schien über ihre faltigen Wangen zu huschen, und sie wandte den Blick ab.

»Und – wer ist dieser Er?«, fragte ich irritiert. »Sag bloß, du hast einen Verehrer? Der mitten in der Nacht mit einem Strauß roter Rosen auftaucht?«

»Anne.« Ihr rügender Blick traf mich. »Jetzt werde nicht albern.«

Ha, da war es! Das Gesicht, das Bärbel für gewöhnlich aufsetzte, wenn sie beim Karteln das Ass in der Hand hielt. »Ich kenne diesen Blick«, sagte ich grinsend.

»Quatsch. In meinem Alter hat man mit der Gesundheit schon genug Probleme, da muss man sich nicht auch noch einen Mann antun.«

Schweigend sah ich sie an.

»Ist doch wahr. Diese Generation Mann glaubt noch immer, Frauen seien vom lieben Gott dazu gemacht worden, zu putzen und zu kochen.« Ihre Augenbrauen wanderten nach oben, schelmisch grinste sie mich an, dann flüsterte sie: »Und ich mag viel lieber essen als kochen!«

»Apropos!« Lächelnd hob ich die Pappschachtel auf, die ich vor Schreck auf dem Boden abgesetzt hatte, und entfernte den Deckel.

»Frühstück!« Bärbels Augen leuchteten. »Ich habe wirklich einen riesigen Hunger! Ach … Anne …« Umständlich wälzte sie sich zur Seite, ihr knochiger Arm zeigte in Richtung Garderobe. »Könntest du geschwind … In meiner Jackentasche ist der Geldbeutel …«

»Nichts da!«, widersprach ich. »Geschenk des Hauses! Für verletzte Lieblingskunden haben wir immer ein Frühstück.«

»Nein, nein, nein …«

»Doch.« Mit sanfter Konsequenz schob ich sie aufs Sofa zurück, von dem sie sich hochstemmte, dann nickte ich in Richtung Küche. »Ich hole dir Besteck, ja?«

Sie nickte schicksalsergeben. »Links, die erste Schublade …«

Während ich wenig später in der Besteckschublade kramte, schien Bärbel sich bereits aufgesetzt und auf die Himbeeren gestürzt zu haben.

»Mmmmh, frische Himbeeren … Der Himmel auf Erden …«, hörte ich sie murmeln.

»Du bist übrigens die Meisterin der Ablenkungsmanöver«, rief ich und schlurfte vorsichtig zurück ins Wohnzimmer, denn die pinken Puschen an meinen Füßen waren ein paar Nummern zu groß, und ich musste abermals einem Elefanten ausweichen.

»Ach so?« Sie ließ gerade eine weitere Himbeere in ihrem Mund verschwinden, schloss genüsslich die Augen und kaute. Ihr verschmitztes Lächeln zeigte mir, dass sie genau verstand, wovon ich sprach.

Ich ging vor dem Sofa in die Hocke, hob die Augenbrauen und streckte ihr das Besteck entgegen. »Raus mit der Sprache, Bärbel. Wer ist dieser mysteriöse Er, der nachts in deiner Wohnung Erste Hilfe leistet?«

»Also gut.« Mit einem Seufzen schnitt sie eine Semmel auf. »Er ist mein Enkel. Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen. Er ist nach all den Jahren wieder einmal in Prien und wollte mich spontan besuchen.«

»Wie schön!«

»Ich wollte nur nicht …« Sie zögerte. »… wollte nicht, dass jemand etwas davon erfährt. Unsere Familienverhältnisse sind nicht ganz einfach, musst du wissen.«

»Von mir erfährt niemand etwas. Versprochen.« Lächelnd zupfte ich das Kissen unter ihrem Gipsfuß zurecht, das bereits von der Couch zu rutschen drohte. »Sitzt du bequem?«

»Alles gut, lieb von dir.«

»Du Arme.«

»Das wird schon wieder.« Sie stupste mir mit dem Finger gegen die Nase. Mit Butterfingern, vermutlich vom Wurstbrot. »Unkraut vergeht nicht.«

»Giersch und Löwenzahn, ich weiß.« Belustigt schüttelte ich den Kopf.

»Zeig mal.« Eine Gabel Rührei verschwand in ihrem Mund. Dann griff sie nach dem Plüschelefanten und sah ihn liebevoll an. »Was für ein süßer Kerl. Das ist wirklich lieb von dir, Anne.«

Irritiert sah ich sie an. »Der ist nicht von mir.«

»Nein?«

»Der lag im Flur.«

»Muss ich jetzt überall Zettel aufhängen: Elefant zugelaufen?«

»Unbedingt. Und wenn sich niemand meldet, bringe ich das Kerlchen ins Tierheim«, scherzte ich und grinste.

Bärbel musterte den Elefanten prüfend. »Er sieht nicht so aus, als würde er jemandem gehören.«

Das stimmte. Zunächst einmal war er trocken. Kein Babysabber, kein Schlamm vom Spielen im Dreck. Er hatte keine Schrammen, keine aufgeplatzten Nähte, nichts. Und dabei waren es doch die kleinen Schrammen, die das Leben erst vollständig machten. Eine von Opas Weisheiten: Wer keine Schrammen hat, hat nicht gelebt.

Dieser hier schien noch auf der Suche nach liebevollen Händen zu sein, er roch geradezu herzzerreißend einsam, nach Fabrik und Färbemitteln und neuem Stoff.

»Gut, dass Andi nicht da ist«, sagte ich. Der hätte vermutlich grinsend die Augen verdreht und Bärbel daran erinnert, dass sie für Kuscheltiere längst zu alt war.

»Laut Andi bin ich zu alt dafür?« Bärbels Lächeln wirkte irgendwie triumphierend. »Das sagen die Leute, nicht wahr? Sie sagen viel, wenn der Tag lang ist.«

»Entschuldige.« Ich wurde rot. Kuscheltiere waren ihr bestimmt immer ein Trost gewesen. Sie hatte schon so lange niemanden mehr, in dessen Armen sie nach einem erfüllenden Tag glücklich einschlief.

»Ehrlich gesagt …« Bärbel senkte ihre Stimme auf ein Flüstern. »Ehrlich gesagt amüsiert es mich ja. Das Kopfschütteln, der verständnislose Blick, das leise ts, ts, ts … Als müsste es mir peinlich sein, dass ich glücklich bin! Glück! Peinlich!«

»Beneidenswert.«

»Der Körper wird zerbrechlicher, wenn man alt wird. Der Rücken biegt sich nach vorn, die Knochen klappern.« Sie lachte laut. »Aber die Haut wird dicker. Man bekommt ja ein dickes Fell, liebe Anne. Was denkst du, was mir mittlerweile alles am Allerwertesten vorbeigeht, was mich früher zum Weinen gebracht hätte?« Mit der Gabel angelte sie nach ein paar Jostabeeren.

»Habe ich eine Chance, das zu lernen, bevor ich dreiundachtzig bin?«, fragte ich schmunzelnd.

»Hoffentlich.«

»Süß ist er ja.« Lächelnd zupfte ich dem Plüschtier einen Faden vom Rüssel.

»Hast du Kuscheltiere, Anne?«, fragte Bärbel.

»Irgendwo auf dem Dachboden …«, setzte ich an, doch ich brach ab, als ich Bärbels Blick auffing.

»Du hast deine Kindheit auf den Dachboden verbannt?« Sie grinste.

Vermutlich hatte ich das. Ich hatte in meiner Kindheit mit Plüschtieren gespielt, ihnen Geheimnisse erzählt und die Erlaubnis gegeben, in meiner Abwesenheit alle Schokoladenvorräte zu plündern. Heute gab ich widerwillig zu, dass es einen ganz anderen – und auf der Waage deutlich sichtbaren – Grund hatte, warum die Schokolade so schnell verschwand.

»Weißt du noch, wie du als kleines Mädchen bei mir zu Besuch warst und dir Sorgen gemacht hast, als ich einen kleinen Teelöffel ganz ohne Begleitung eines erwachsenen Esslöffels in die Spüle werfen wollte?«

»Bärbel!« Ich musste lachen.

»Oder wie du deinen Vater gebeten hast, das Auto umzuparken, weil es neben einem so grimmig aussehenden Lastwagen stand?«

Natürlich erinnerte ich mich.

»Denkst du nie daran?«, fragte sie weiter.

»Doch, schon.« Gedanken wie diese ploppten ab und zu wie selbstverständlich in meinem Kopf auf. Sie sagten Hallo – wie gute Bekannte – und verschwanden wieder. »Als Erwachsener …«, setzte ich an. Als Erwachsener tut man das nicht, hatte ich sagen wollen. Doch Bärbels Blick war so ernst, dass ich nicht weitersprach.

»Als Erwachsener solltest du dir nichts nehmen lassen, was als Kind ganz selbstverständlich war.«

»Du meinst …«

»Ich rede von großen Träumen, Anne.« Sie lächelte und strich dem Elefanten über den Kopf. »Wer sich Kuscheltiere ausreden lässt, der lässt sich auch die Träume der Kindheit nehmen.«

Darauf wusste ich erst einmal nichts zu erwidern.

Nachdenklich strich sie dem Elefanten über den Kopf. »Wie nennen wir ihn denn?«

»Vielleicht hat er einen Ausweis dabei?«, scherzte ich und löste die feinen Schnüre, die das Säckchen zusammenhielten. Schwer wog es in meiner Hand.

»Anne …« Bärbel wirkte ein wenig nervös, doch da zog ich bereits das Päckchen Pralinen heraus.

»Oh«, machte ich. Und mit einem Seitenblick auf ihr peinlich berührtes Lächeln schob ich es schnell von mir. »Entschuldige bitte. Sollte das dein Geheimnis bleiben?«

»I wo.« Tapfer lächelte sie weiter, doch ich spürte, dass ich irgendeine Grenze überschritten hatte.

»Tut mir wirklich leid.«

»Nein, nein.« Bärbel drückte meine Hand.

»Ich frage nicht weiter.«

Sie seufzte. »Schon gut, Anne. Anscheinend ist es vom Pralinen-Einbrecher. Hast du von ihm gehört?«

Ich nickte nur. »Du denkst, er hat den Elefanten durch die offene Tür in den Flur gesetzt?«

»Scheint so.« Bärbel zog das Kuscheltier näher zu sich und kramte in dem kleinen Säckchen. »Müsste da nicht … Ah, da ist er ja.« Sie strich den Brief glatt. Ein wenig zerknittert war er, und durch die Form des Pralinenpäckchens hatte er eine Biegung bekommen.

»Er weiß von deiner Vorliebe für Elefanten.«

»Berührend, nicht?« Sie lächelte und knibbelte mühsam am Klebestreifen, um das Kuvert zu öffnen. »Er scheint seine Pralinen nicht einfach wahllos zu verteilen. Offenbar interessiert er sich tatsächlich für die Menschen, die sie bekommen.«

»Hat das nicht ein bisschen was von einem … Stalker?«

»Anne, Herzchen!« Bärbel lachte und ließ für einen kurzen Moment das Kuvert sinken. »Bei mir stehen haufenweise Elefanten im Vorgarten. Da muss er nicht viel stalken, das sieht er schon von der Straße aus. Und außerdem – wer sagt denn, dass es ein Fremder ist? Vielleicht ist er hier aus dem Ort und kennt die meisten Leute.« Wieder pfriemelte sie an dem Klebestreifen herum. »Mit diesem Ding hier könnte man ein Regal an die Wand kleben.«

»Hübsch ist er ja.«

Bärbel sah auf. »Der … Elefant?«

»Ach, Bärbel.« Freundschaftlich knuffte ich sie in die Seite und lachte. »Den Einbrecher kann ich nicht beurteilen.«

»Ah … endlich …«

Das Papier raschelte, sie faltete den Brief auf. Ein Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht, ein Hauch von Wangenröte gesellte sich dazu. Ihr Blick flog nur so von Zeile zu Zeile. Mit jedem Wort blinzelte sie schneller, um ihre feuchten Augen vor mir zu verstecken. Unweigerlich sah ich zur Seite.

»Ähm.« Sie räusperte sich schließlich und nahm einen Bissen Räucherlachs. »Bist du … mir böse, wenn ich ihn dir nicht zeige?«

»Natürlich nicht!«

Sie schwieg einen Moment, doch in ihrer Miene lag nichts Verlegenes. Vielmehr hatten ihre Augen einen Glanz bekommen, der mir vorher nicht aufgefallen war. »Ich habe ehrlich gesagt schon darauf gewartet, dass der Pralinen-Einbrecher auch bald zu mir kommt.«

»Ja?«

»Bei meiner besten Freundin war er auch. Vor drei Tagen schon.«

»Hilde?«, fragte ich fassungslos.

»Ja.«

»Wirklich?« Unfassbar, dass Hilde sich nichts hatte anmerken lassen.

»Oje, habe ich da was ausgeplaudert? Kein Wunder, dass Hilde euch nichts erzählt hat. Diese Briefe zeigt man nicht gerne her. Sie sind persönlich.«

»Du hast Hildes Brief gelesen?«

Bärbel nickte. »Er ging mir sehr zu Herzen.« Sie holte tief Luft und sah mich an. »Auch der hier. Er führt dich an Orte deines Herzens, die du vergessen geglaubt hast. In diesen Briefen geht es um den Sinn des Lebens. Dass man an seine Träume glauben und in vollen Zügen leben soll, allen Problemen und Ängsten zum Trotz. Er schreibt, dass die wahren Schätze im Leben die Menschen sind, die uns am Herzen liegen. Und dass wir jede Sekunde mit ihnen genießen sollen. Das Leben kann so schnell vorbei sein.«

»Das … klingt ein bisschen, als hätte er einfach eine Seite aus einer Frauenzeitschrift rauskopiert?«, fragte ich und grinste.

»Im Gegenteil. Er benutzt keine Floskeln, sondern stellt Vermutungen an, wie es mir wohl in meinem Leben gehen könnte. Aber genau das macht es so persönlich. Seine Menschenkenntnis ist beeindruckend, schließlich kennt er ja nur meinen Vorgarten … Dabei bleibt er sehr zurückhaltend und höflich – trifft aber …« Sie wischte sich die Augen, um eine kleine Träne aufzufangen, die über ihre Wange kullerte. »… trifft aber genau ins Schwarze.«

»Das klingt wirklich schön«, sagte ich leise. Mein Blick lag auf ihren eisblauen Augen, die nun so viel wärmer wirkten. Bärbel war eine willensstarke, quirlige Frau. Doch in diesem Moment schien sie mir so zerbrechlich wie nie. Eigentlich sollte ich die Klappe halten. Aber …

»Warum steckt er die Nachrichten nicht einfach in den Briefkasten?«, rutschte es mir schließlich doch heraus.

»Er warnt auch davor, leichtsinnig Türen und Fenster offen zu lassen. Und mahnt, Alarmanlagen regelmäßig zu testen, ob sie auch zuverlässig funktionieren. Wenn man denn welche hat. Sonst kann sich das Leben ganz schnell ändern.«

»Das klingt fast so, als wäre es eine Aktion der Polizei im Ort.«

Bärbels zartes Lächeln kam von innen, ihr Blick suchte den meinen. »Das würde ich auch sagen, wenn ich den Brief nicht gelesen hätte. Hinter diesen Zeilen stecken keine Floskeln, dahinter versteckt sich ein Mann, der vom Leben gebeutelt ist, das sage ich dir. Einer, der sich aus tiefstem Herzen wünscht, dass es anderen Menschen gut geht.«

»Du wirst ja fast poetisch«, sagte ich und lächelte unsicher.

»Danke für das Frühstück, Anne.« Bärbel schob sich den letzten Bissen Käse in den Mund, nickte mir dankbar zu und fasste nach meiner Hand. »Jetzt halte ich dich aber nicht mehr auf. Ich weiß, du hast noch so viel zu tun.«

Das hatte ich tatsächlich. Blumengießen bei Susi, die seit einer Woche im Urlaub war, vier Torten verzieren und Julie abholen. Himmel, die würde schon in zwei Stunden am Bahnhof ankommen.

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Kapitel 3

»Anneeeeeee!«, quietschte Julie quer über den Bahnsteig. So laut, dass der Herr vor ihr zusammenzuckte und sich die Ohren rieb.

Ich lachte, streckte beide Hände in die Luft und winkte.

Gut gelaunte Stimmen flirrten durch die Luft, der Priener Bahnhof leuchtete in der Sonne. Das Licht reflektierte gleißend hell auf den Schienen, die in der Ferne immer kleiner wurden und sich irgendwo vor der bläulich schimmernden Bergkette am Horizont verloren.

Julie strahlte, als sie sich einen Weg durch die Menschentraube bahnte. Ihr schulterfreies, mintgrünes Strandkleid wehte im warmen Wind. Ton in Ton dazu ihr Nagellack, wie ich bereits von Weitem erkennen konnte. Typisch Julie. Umständlich kletterte sie über ein paar Koffer, quetschte sich zwischen einem Grüppchen Raucher hindurch und wedelte sich den Qualm aus dem Gesicht.

»Acht Monate!«, rief sie und fiel mir schon um den Hals. Durch den riesigen Trekkingrucksack auf ihren Schultern mit ein bisschen mehr Schwung als geplant. »Wir haben uns Ewigkeiten nicht gesehen!«

»Länger!« Genauer gesagt so lang, dass ihr weißblonder Pferdeschwanz um mehr als eine Handbreit hatte wachsen können. Er reichte ihr schon über die Brust. Grinsend drückte ich sie an mich. Es war schön, die beste Freundin endlich wiederzusehen. Und Julie war mir in Hamburg ans Herz gewachsen wie eine Schwester. Sie roch nach Deo – vermutlich hatte sie sich im Zug erst frisch eingenebelt. Für einen Moment glaubte ich, sie tief durchatmen zu hören, doch vielleicht täuschte ich mich auch.

Ich entließ sie aus meiner Umarmung. »So schön, dass du da bist.«

»Oh, du hast mir ein wenig Tortencreme zum Probieren mitgebracht.« Mit einem verhaltenen Grinsen zeigte sie auf mein T-Shirt, wo sich ein beträchtlicher Klecks Buttercreme seinen Weg in die Fasern gebahnt und einen noch größeren Fettfleck hinterlassen hatte.

»Oje.«

»Sieht lecker aus.« Sie stupste mit dem Finger hin und probierte. »Mmmh. Sehr gut.«

»Julieeee!«, rügte ich sie lachend und hakte mich bei ihr unter.

Verstohlen musterte ich sie von der Seite. Irgendetwas in ihrem Blick gab mir zu denken. Da lag ein Schatten über ihren eisblauen Augen. Mir war, als trüge sie die gut gelaunte Julie heute nur wie eine Maske. So aufgedreht hatte ich sie bis jetzt nur einmal erlebt: als sie ihren Eltern am Telefon die glückliche Tochter vorgespielt hatte, nachdem sie durch das erste Staatsexamen gerasselt war. »Komm, wir bringen erst einmal deine Sachen zu mir, dann kannst du eine echte Prinzregententorte probieren, nicht nur die Cremespritzer.«

»Hach, ich freu mich so, hier zu sein.« Julies blonder Pferdeschwanz flog, als sie sich umsah. Menschen standen in Grüppchen herum und lachten ausgelassen, das Pfeifen der Chiemseebahn drang über die Gleise herüber. »Hier ist ja richtig Stimmung.« Sie lächelte, doch es war nur ein halbes Lächeln.

»Müde siehst du aus. Du bist früh aufgestanden heute, oder?«

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