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Am Ende des Seils

Als Buch hier erhältlich:

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Liebe und Tod an der Eigernordwand – und eine außergewöhnliche Frau, die ihrer Zeit voraus ist

Oberbayern, 1936: Die junge Lehrerin Hedi hat die Leidenschaft fürs Bergsteigen von ihrem verstorbenen Vater geerbt. Zusammen mit ihm und den beiden Brüdern Thomas und Anderl, den Söhnen eines guten Freundes ihres Vaters, hat Hedi bereits viele Gipfel und Wände der Alpen bezwungen.
Als sie eines Morgens in der Zeitung liest, dass eine natürlich ausschließlich männliche französische Seilschaft im Juli 1936 zum ersten Mal die Eigernordwand, die in Fachkreisen als das »letzte Problem der Alpen« bezeichnet wird, durchsteigen will, ist sie wie elektrisiert. Sie sieht die Chance, der Welt zu zeigen, dass eine Bergsteigerin nicht weniger kann als ihre männlichen Kollegen. Gemeinsam mit Anderl, Thomas und derem Bekannten Hias stellt sie sich der Herausforderung – doch nicht nur der Berg birgt viele Gefahren. Das politische Klima im Land ist angespannt, und als Hedi und Thomas sich endlich näherkommen, scheint ihr Glück nur von kurzer Dauer ...


  • Erscheinungstag: 21.11.2023
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004289

Leseprobe

Frauen am Berg sind der Ruin des Alpinismus.

Paul Preuß, Bergsteiger, 18861913, aus »Damenkletterei«, 1912

Karfreitag, 10. April 1936

Von Schliersee her näherte sich eine schwarze Wolkenwand. Hedi beschleunigte ihr Tempo. Zug um Zug zog sie sich an der Felswand höher. Bis zum Gipfel war es nicht mehr weit. Die kleine Kapelle dort würde ihr vor dem Gewitter Schutz bieten. Doch nun wurde es binnen weniger Minuten so dunkel, als hätte jemand im Tal das Licht abgeschaltet. Und dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Die Temperatur stürzte jäh ab. Hedi kletterte weiter, legte immer mehr Höhenmeter zurück, bis der Regen in Schneeflocken überging. Wind und Eiskristalle schnitten ihr ins Gesicht. Dort hinten – die Felsnase! Sie querte zu dem Unterschutz und kauerte sich darunter. Den Rucksack hielt sie wie einen Schild vor sich. Während Windböen und Schneeflocken über sie hinwegwehten, fragte sie sich wieder, warum sie sich das überhaupt antat. Warum saß sie jetzt nicht in der warmen Stube und las ein gutes Buch?

Im Nachhinein hätte sie nicht sagen können, wie lange sie den Naturgewalten ausgesetzt gewesen war. Irgendwann hörte das Gewitter so schlagartig auf, wie es begonnen hatte, und über dem Wendelstein zeigte sich wieder ein zartes Blau. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen ließen den Schnee wie Diamantsplitter glitzern. Ihre Finger fühlten sich leblos an, ihre Zehen taub. Dennoch stieg sie weiter. Als sie schließlich unversehrt auf dem Gipfel stand, fiel ihr die Antwort auf ihre Frage wieder ein: Bergsteigen bedeutete für sie Freiheit, Freiheit und Verbundenheit mit der Natur. Über ihr das grenzenlose Firmament, vor ihr in der lichtblauen Weite die Chiemgauer Alpen, der Wilde Kaiser, das Karwendelgebirge – alle Berge wie ein einziges Meer aus weißen, zerklüfteten Gipfeln. Und unter ihr die Welt mit all ihren Problemen, die von hier oben klein und unbedeutend erschienen.

Übermütig streckte sie die Arme dem klaren Blau entgegen und stieß einen Jodler aus. Dann ließ sie sich am Fuß des verwitterten Holzkreuzes nieder. Voll inneren Friedens schloss sie die Lider. Die Sonnenwärme, diese Stille, das Gefühl, dem Schöpfer all dieser Schönheiten so nah zu sein!

In dieser Stimmung verweilte sie, bis die Kirchenglocken in Bayrischzell mahnend läuteten. Schließlich stand sie auf und zündete in der Gipfelkapelle zum ersten Todestag ihrer Eltern zwei Kerzen an.

Bevor sie sich an den Abstieg machte, warf sie noch einen Blick zurück. Unter dem Gipfelkreuz hatte Thomas sie zum ersten Mal geküsst. Wie lange war das her! Doch selbst heute noch spürte sie manchmal seine Lippen auf ihren.

Eineinhalb Stunden später radelte Hedi von der Talstation der Wendelstein-Bahn nach Hause. Wie frisch gewaschen lag Bayrischzell vor ihr. Die Schindeldächer der Bauernhäuser glänzten in der Mittagssonne. Von den Höfen drang ihr der vertraute Geruch von Milch und Dung in die Nase.

Sie radelte durch den Ort, in dem sonntägliche Ruhe herrschte, vorbei an den zwei Gasthäusern und der Kirche, die ihren spätgotischen Turm wie einen mahnenden Finger in den wolkenlosen Himmel streckte. Hinter Liesl Grubers kleinem Laden bog sie rechts ab in den Wiesenweg zum Hof ihrer Großeltern. Dort stiegen die beiden gerade vom Traktor, mit dem sie zur Kirche gefahren waren.

Auf dem faltigen Gesicht ihrer Großmutter breitete sich ein Strahlen aus. »Da bist du ja wieder, Kind. Wir haben uns schon Sorgen gemacht wegen des Gewitters.«

Hedi lachte. »Halb so schlimm.«

»Wie war deine Andacht auf dem Gipfel?«

»Schön, wie immer.«

Hedis Großvater, der zu Ehren des Feiertages sein altsilbernes Charivari an der Lederhose trug, zwinkerte seiner Enkelin wissend zu. »Wie hat deine Mutter oft gesagt: Auf den Bergen ist Freiheit. Der Hauch der Grüfte steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte.«

Hedi lächelte versonnen. »Schiller. Die Braut von Messina. Das hat sie immer zu Vater gesagt, wenn er in die Berge ging.«

Der alte Landauer nickte. »Sie war eine gebildete Frau, deine Mutter. Genau wie du.«

»Aber Hedi hat auch sehr viel von ihrem Vater«, warf Hedis Großmutter mit zärtlichem Lächeln ein und bekreuzigte sich. »Unser Alois war auch lieber in der Natur als in der Kirche.«

Hedi wunderte sich oft, wie gut die beiden den Tod ihres einzigen Sohnes verkraftet hatten – wobei ihnen der feste Glaube an Gott geholfen haben mochte.

»Wann reisen die beiden Brüder aus Köln an?«, wechselte sie das Thema.

»Gegen sechzehn Uhr.« Johanna Landauer wedelte mit der schwarz behandschuhten Hand. »Bis dahin haben wir noch genug Zeit, die beiden Zimmer herzurichten.«

»Das habe ich schon heute Morgen gemacht, bevor ich losgegangen bin.«

Die Bäuerin tätschelte ihrer einzigen Enkelin die Wange. »Danke, du bist ein gutes Madl.« Dann rückte sie ihr schwarzes Hütchen über dem weißen Nackenknoten gerade und straffte sich. »In einer Stunde können wir essen.«

Nachdem Hedi sich frisch gemacht hatte, verweilte sie einige Minuten in innerer Einkehr vor dem Bild ihrer Eltern, das auf ihrer Frisierkommode stand. An diesem Tag vor einem Jahr waren sie auf ihrer allerersten Urlaubsfahrt mit ihrem ersten, nagelneuen Auto hinterm Brenner aus der Kurve geschleudert worden. Beide waren noch am Unfallort gestorben. Auch heute noch fühlte sich ihr Tod für sie unwirklich an. Wie vieles hätte es noch zu sagen gegeben! Energisch schüttelte sie den Kopf und ging hinunter in die Küche.

Während des Essens erfuhr Hedi all die Neuigkeiten, die auf dem Kirchplatz an diesem Morgen die Runde gemacht hatten. Als ihre Großeltern sich zum Mittagsschlaf hinlegten, setzte sie sich vors Haus in die Sonne. Im Tal herrschte Feiertagsstille, nur in den Obstbäumen zwitscherten ein paar Spatzen. Die Osterglocken und Hyazinthen in den Blumenkästen, der zartgrüne Schimmer auf den südseitigen Hängen – alles kündigte den nahenden Frühling an. In der Luft lag eine Leichtigkeit, ein belebendes Prickeln – so als würde bald etwas passieren, das ihr Leben in neue Bahnen lenken würde. Lächelnd schlug Hedi die Zeitschrift des Alpenvereins auf. Auf der vierten Seite blieb ihr Blick an einer Überschrift hängen:

DIE EIGERNORDWAND – DAS LETZTE PROBLEM DER ALPEN

Hedis Herzschlag beschleunigte sich. Sie begann zu lesen:

Auch in diesem Jahr will sich wieder eine Seilschaft der schwierigen Aufgabe stellen, als erste die Eigernordwand zu durchsteigen. Die bisher gescheiterten Versuche scheinen eine italienische Viererseilschaft nicht davon abzuhalten, im Juli einen Versuch zu wagen, die Wand zu bezwingen. Sollte ihr der Durchstieg tatsächlich gelingen, werden die Italiener bei den Olympischen Spielen im August in Berlin mit einer Goldmedaille rechnen können. Ein erfolgreicher Durchstieg wird von der Fachwelt jedoch noch stark angezweifelt …

Hedi ließ die Zeitung sinken. Die Eigernordwand … Es war der Traum ihres Vaters gewesen, dieses Problem der Alpen als Erster zu lösen – zusammen mit ihr sowie Thomas und Anderl Leitner, seiner eingeschworenen Viererseilschaft. »Dann zeigst du der Welt, dass auch eine Frau das schaffen kann!«, hatte er gesagt. Doch dazu war es nicht mehr gekommen.

Hedi schluckte. Und nun sollten andere ihnen zuvorkommen? Plötzlich floss ihr Blut schneller durch die Adern, ihre Gedanken überstürzten sich. Wenn es erst einmal einer Seilschaft gelingen würde, die Wand erfolgreich zu durchsteigen, wäre der Nimbus der Eigernordwand für immer gebrochen.

»Griaß di, Hedi!« Eine munter klingende Männerstimme riss Hedi aus ihren Überlegungen.

Sie zuckte zusammen, sah hoch und blinzelte verwirrt. Gerade noch hatte sie an ihn gedacht!

»Was starrst du mich denn so an?«, fragte Anderl Leitner verunsichert, während er sein Fahrrad an die Hauswand lehnte.

Seine störrischen Haare waren zerzaust, und seine geröteten Wangen verrieten, dass er die Strecke von Schliersee hierher in einem Höllentempo hinter sich gebracht hatte. Hedi lächelte. Ganz gleich, was Anderl tat, er tat es mit ungebremster Kraft.

In seiner Lederhose und dem Sonntagsjanker kam er breitbeinig auf sie zu. Niemand hätte beim Anblick seiner gedrungenen Gestalt vermutet, dass er flink und leicht wie ein Gamsbock im Hochgebirge klettern konnte.

»Ich habe gerade an dich gedacht«, antwortete sie, während sie auf der Holzbank zur Seite rückte.

»Wie komm ich denn zu dieser Ehre?«

Sie lachte. »Was machst du hier? Ich dachte, du wärst heute Nachmittag mit Lena zusammen.«

»Die ist mit ihren Eltern bei Verwandten, und ich bin auf dem Weg nach Kiefersfelden, einen Spezi besuchen. Da dachte ich, ich schau mal kurz bei euch vorbei.«

»Mit dem Fahrrad?«

»Mein Motorroller wollte mal wieder nicht anspringen.«

»Magst du ein Schnapsl?« Hedi zeigte auf die Kruke mit dem Obstler, die auf dem Fensterbrett stand.

Anderl grinste verwegen. »Da sag ich nicht Nein.«

Sie stand auf und holte zwei Stamperl. Als sie wieder vors Haus trat, nickte Anderl ihr anerkennend zu. »Fesch schaust aus in dem rosa Dirndl. Wenn ich nicht schon eine Freundin hätt …«

»Was dir alles so auffällt …« Lachend tat sie seine Worte ab und schenkte ein. »Mach die Komplimente lieber deiner Lena.«

Anderl verzog sein Gesicht mit der leicht aufwärts strebenden Nasenspitze und den vielen Sommersprossen. »Ich weiß, ich weiß … Die Komplimente sollte ich sowieso lieber Johannes überlassen. Der kann sich besser ausdrücken, und als größter Hallodri im Tal versteht er auch mehr davon.« Nachdem er den Obstler in einem Zug hinuntergekippt hatte, fügte er hinzu: »Apropos Brüder … Thomas kommt übernächstes Wochenende.«

Thomas … Allein der Name ließ Hedi innerlich zusammenzucken. Hastig trank sie das Glas aus. Dann sah sie Anderl betont desinteressiert an. »Übernächstes Wochenende? Deine Mutter hat doch nächstes Wochenende Geburtstag.«

»Da passt es dem Herrn Vermessungsingenieur aber nicht.«

Sie räusperte sich, um ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Wie geht es ihm denn in Berlin?«

»Gut, denke ich. Er lässt ja nicht viel von sich hören.«

»Das ist bestimmt ein gutes Zeichen.« Sie blickte hinüber zur Rotwand, als gäbe es da etwas Interessantes zu entdecken.

»Heute ist doch der Todestag deiner Eltern«, sagte Anderl nach ein paar Schweigesekunden.

Hedi nickte stumm.

»Tut es noch weh?«

Berührt von seiner Einfühlsamkeit lächelte sie ihn liebevoll an. »Ich war heute Vormittag auf dem Wendelstein und hab in dem Kirchl zwei Kerzen angezündet.«

»So gehört es sich.«

Bevor sich die Trauer wieder in ihr Herz schleichen konnte, wechselte sie rasch das Thema: »Eigernordwand … Sagt dir das was?«

Anderl zog die weißblonden Brauen zusammen. »Freilich. Wie kommst du jetzt darauf?«

»Weißt du noch, dass mein Vater sie mit uns zusammen angehen wollte?«

»Natürlich.« Er senkte den Kopf und fuhr sich mit der Rechten durch sein rotes Haar. »Ich denk noch oft an deinen Vater. Ich hab ihm viel zu verdanken. Ohne ihn wär ich heute wohl ein Laufbursche im Hotel oder vielleicht Senner, aber kein examinierter Bergführer. Er hat mir so viel beigebracht und mir damals die ersten Kunden besorgt.«

Hedi zeigte auf die Zeitschrift, die neben ihr auf der Bank lag, und erzählte ihm von dem Artikel. Dann rückte sie auf die Sitzkante vor. »Sag mal, Anderl, was hältst du davon, wenn wir die Eigernordwand machen würden? Bevor die Italiener sie uns wegschnappen. Zum Beispiel im Juni. Wärst du dabei?«

»Wer ist wir?«

»Na, du, ich und … und Thomas. Unsere eingespielte Seilschaft.« Mit klopfendem Herzen hielt sie inne, selbst erschrocken über diesen forschen Vorschlag.

Anderls wasserblaue Augen leuchteten auf. »Das finde ich gut. Wir drei, so wie früher. Im Andenken an deinen Vater. Ich weiß nur nicht …«

»Ob Thomas …?« Zweifelnd sah sie ihn an.

»Genau. Aber fragen kostet ja nix. Wenn er in vierzehn Tagen kommt, sprech ich ihn drauf an. Eigentlich müssten ihm die Berge inzwischen fehlen.« Er streckte ihr seine Rechte entgegen. »Schlag ein! Ich bin dabei.«

Ostersamstag, 11. April – Freitag, 17. April 1936

Das Wetter blieb über Ostern und in den darauffolgenden Tagen schön. Bayrischzell füllte sich mit Touristen, auch auf dem Landauer Hof waren vier der zehn Pensionszimmer belegt. Erst am Ende der Woche, nachdem alle Gäste abgereist waren, kam Hedi wieder zur Ruhe. Und zum Nachdenken. Sie saß mit einem Glas Roten auf dem Balkon vor ihren beiden Zimmern und ließ die Woche Revue passieren. Es machte sie stolz, dass die Gäste ihr wieder für ein paar Tage ihr Leben anvertraut hatten. Die meisten waren ehemalige Kunden ihres Vaters, die wussten, dass sie von ihm eine gute Ausbildung bekommen hatte. Trotzdem bevorzugten die Männer meist männliche Bergführer. In die alpinen Fähigkeiten der Frauen hatten die wenigsten Vertrauen. Und Frauen kamen kaum zum Klettern in die Berge.

Das muss sich ändern, sagte sich Hedi entschlossen. Wir bergsteigenden Frauen müssen viel stärker in die Öffentlichkeit treten. Gedankenverloren führte sie das Weinglas an die Lippen. Aus dem Kamin drang der Geruch von verbranntem Holz in ihre Nase. Er mischte sich mit dem harzigen Duft der Fichten, die oben am Waldrand standen. Während sie den Zweigelt über die Zunge rollen ließ, wanderten ihre Gedanken dorthin, wo sie eigentlich nicht hinsollten. Die samtene Luft erinnerte sie an die glücklichsten Sommerabende ihres Lebens. In einer Woche würde Thomas kommen. Ob sie ihn wiedersehen würde?

Leise seufzte sie in sich hinein. Wie lange schon kannte sie die drei Leitner-Brüder! Den waghalsigen Anderl, der von Kindheit an im Schatten seiner beiden älteren Brüder stand, den ernsten und in sich gekehrten Thomas und den schönen Johannes, der bei den Madln nichts anbrennen ließ. Hedis Vater und der alte Leitner waren Jugendfreunde gewesen. Irgendwann hatte ihr Vater Thomas und Anderl eingeladen, mit ihm und ihr zusammen Gipfeltouren zu unternehmen. Als sie im Herbst 1934 die Nordwand der Grandes Jorasses zusammen gemacht hatten, war zwischen ihr und Thomas etwas entstanden, das über eine Seilkameradschaft hinausgegangen war. Diese Anziehung war mit jeder neuen Begegnung stärker geworden. Ihr erster Kuss auf dem Wendelstein … Zärtlichkeiten am Waldrand … Leidenschaft … und schließlich der jähe Abschied. Sollte sie den Eiger tatsächlich mit ihm zusammen machen? Würden sie dort anknüpfen können, wo sie aufgehört hatten? Wollte sie das überhaupt? Sie wusste nur, was sie nicht wollte: noch einmal so leiden wie vor einem Dreivierteljahr, als er gegangen war.

Während Hedi all diese Gedanken durch den Kopf gingen, senkte sich die Nacht übers Tal. Am blauschwarzen Himmel leuchteten abertausend Lichter auf, und Hedi war zumute, als würde jedes einzelne ihr aufmunternd zublinken.

Samstag, 18. April 1936

Am Samstagmorgen zeigte sich ein wolkenloser Himmel über Bayrischzell, der Hedi für einen unruhigen Schlaf entschädigte. Die Morgensonne überzog die Berglandschaft mit goldenem Schein, und die Vögel zwitscherten um die Wette. Nachdem Hedi die Hühner gefüttert hatte, machte sie sich zurecht. Das lichtblaue Dirndl brachte ihre weiblichen Formen zur Geltung, ein wenig Wimperntusche vertiefte das Enzianblau ihrer Augen, und der roséfarbene Lippenstift ließ ihren Mund schimmern. Zuletzt noch fünfzig Bürstenstriche, und ihre Locken fielen wie Seide über ihre Schultern. Mit zwei Kämmen steckte sie sie seitlich aus dem Gesicht. Danach drehte sie sich vor dem mannshohen Spiegel einmal um sich selbst. Die Frau, die sie sah, gefiel ihr.

»Nimm den Traktor«, sagte ihr Großvater, als er ihr das Geschenk für die Leitner-Wirtin in die Hand drückte. »Sag herzlichen Glückwunsch und dass das Geschenk stellvertretend für deine Eltern ist.« Hedi legte das von ihrem Großvater gezimmerte Holzbrett mit dem selbst geräucherten Speck, Honig und Vogelbeerschnaps auf den Traktorsitz neben den Blumenstrauß, den sie bei der Gruber-Liesl gekauft hatte.

Das Leitner Hotel lag an einem Wiesenhang oberhalb des Schliersees. Es war eines der größten im Ort.

»Schaust du auch mal wieder rein?«, fragte Moni, die hinter der Rezeption stand, erfreut. Die beiden kannten sich schon seit der Schulzeit.

»Die Wirtin hat doch heute Geburtstag«, entgegnete Hedi.

»Die Familie sitzt draußen. Der Johannes ist auch da«, fügte Moni mit verschwörerischem Blick hinzu.

Wie alle Madln im Ort hatte auch sie es auf den ältesten der Leitner-Brüder abgesehen. Aber Johannes hatte sich bisher auch von der hübschen Moni nicht einfangen lassen. Obwohl er schon Mitte dreißig war und seine Mutter sich sehnlichst einen Enkel wünschte, wollte er sich auf keine Frau festlegen.

Hedi ging durch den holzgetäfelten Flur mit den stattlichen Geweihen an den Wänden zur Hintertür, die in den Biergarten führte. Die Leitners saßen am Stammtisch unter der Linde, über der bereits ein grünlicher Schimmer lag. Alle sahen Hedi überrascht entgegen, und Johannes sprang auf. Wieder einmal dachte Hedi, welch schöner Mann er doch war. Groß, schlank, blond mit männlichen Gesichtszügen und strahlend blauen Augen.

»Hedi! Ich hatte gehofft, dich heute zu sehen!« Er küsste sie auf beide Wangen und trat einen Schritt zurück. »Wie hübsch du wieder ausschaust! Wie der Frühling höchstpersönlich.«

»Hedi! Welch eine Überraschung!« Maria Leitner umarmte Hedi. Auch ihr Mann Quirin hieß sie herzlich willkommen und Anderl warf ihr eine Kusshand zu. Nur Evas Begrüßung fiel verhaltener aus. Mit dünnem Lächeln sagte die älteste der vier Geschwister: »Grüß dich, Hedi.«

Nachdem Hedi das Geschenk überreicht hatte, kam im Nu eine Kellnerin und brachte eine neue Karaffe Roten.

»Wie geht es deinen Großeltern?«, erkundigte sich Maria.

Hedi mochte die mütterliche, sanfte Frau. »Sie sind gesund und kommen zurecht. Es war sicher eine gute Entscheidung, nach dem Tod meiner Eltern die Bauernschaft aufzugeben. Inzwischen kümmert sich Großvater nur noch um die Hühner und seine Bienen und Großmutter um die Gäste. Und in meiner schulfreien Zeit helfe ich ihnen natürlich.«

»Wenn du nicht gerade in den Bergen herumsteigst«, ergänzte Anderl zwinkernd.

»Genau.« Hedi lachte und wandte sich an Johannes. »Wie geht es dir denn? Dich sieht man ja nur noch selten im Tal.«

Johannes stieß den Zigarettenrauch in die klare Luft. »Im Braunen Haus gibt es viel zu tun.«

Mit einem Mal war es mucksmäuschenstill am Tisch. Alle senkten den Blick.

Hedi räusperte sich. »Singst du noch?«

»Freilich! In München gibt es einen neuen Club, in dem viele Parteigenossen verkehren. Dort trete ich mit meinen eigenen Liedern auf und mit denen der Comedian Harmonists. ›Veronika, der Lenz ist da‹ ist immer noch ein Kassenschlager.«

»Dass deine Parteigenossen die Comedian Harmonists mögen …«, wunderte sich Hedi. »In der Gruppe sind doch auch jüdische Sänger.«

»Waren. Die jüdischen Mitglieder sind inzwischen emigriert, und die arischen Sänger treten jetzt unter dem Namen Meistersextett auf.«

»Dass man hier in Deutschland Menschen Berufsverbote erteilt, nur weil sie anderen Glaubens sind, finde ich einfach unmöglich«, sagte Eva mit blitzenden Augen.

»Nun ja …« Johannes öffnete das silberne Zigarettenetui mit seinen eingravierten Initialen und wollte gerade weitersprechen, als eine Stimme sagte:

»Griaß di God.«

Hedi zuckte zusammen. Diese raue Stimme hätte sie unter tausend anderen sofort erkannt.

»Thomas? Was machst du denn hier?«, rief Anderl erstaunt aus.

»Bub! Dass du doch noch gekommen bist!« Maria streckte die Arme nach ihrem zweitältesten Sohn aus.

»Grüß dich, Thomas.« Johannes stand auf und klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Du wolltest doch erst nächste Woche kommen.«

»Setz dich, Bub«, sagte Maria eilfertig und zeigte auf den freien Platz.

Nachdem Thomas seinen Vater, Anderl und Eva begrüßt hatte, setzte er sich Hedi genau gegenüber.

Die Begrüßungszeremonie hatte Hedi Zeit gegeben, sich wieder zu fangen. Immer noch hatte Thomas eine Wirkung auf sie, der sie sich nicht entziehen konnte. Seine imposante Größe, seine markanten Gesichtszüge, das pechschwarze Haar, das er aus der Stirn gekämmt trug, die dicht bewimperten seegrünen Augen … Er war ein Mann, der Kraft und Sinnlichkeit ausstrahlte. Und dieser Mann saß ihr nun völlig unerwartet gegenüber und sagte kühl: »Griaß di, Hedi.«

Das Herz schlug ihr im Hals, sein Blick ging ihr durch und durch. Seinem distanzierten Verhalten nach schien er jedoch nicht sonderlich erfreut zu sein, sie hier im Kreis seiner Familie zu sehen.

»Grüß dich, Thomas«, erwiderte sie mit belegter Stimme.

Thomas wandte sich wieder den anderen zu. »Wie ihr seht, hat es doch noch geklappt.«

»Ich habe sowieso nicht verstanden, wieso du ursprünglich nicht konntest. Feiert man in Berlin keine Geburtstage?«, fragte seine Schwester spitz.

»Bist du mit dem Zug gekommen?«, wechselte Johannes schnell das Thema.

»Mit dem Motorrad.« Thomas griff in seine braune, abgewetzte Lederjacke und zog eine Packung Eckstein hervor.

Johannes hob die Brauen. »Ist das nicht sehr unkomfortabel?«

»Für ein Auto reicht’s noch nicht.« Thomas ließ sein Feuerzeug aufschnappen, zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch scharf aus.

»Obwohl du in Berlin mehr verdienst als in München?«, fragte sein Vater, während er ihm von dem Zweigelt einschenkte. »Ich dachte, du wärst dort der stellvertretende Chef.«

Thomas ging über diesen Einwand hinweg, hob sein Glas und lächelte seiner Mutter zu: »Auf dich, Mutter.«

»Danke, mein Bub.« Maria nickte ihm herzlich zu. »Dass du gekommen bist, ist mein schönstes Geschenk. Soll ich dir eine Brotzeit herrichten lassen? Du hast bestimmt Hunger nach der langen Fahrt.«

»Danke, jetzt noch nicht.« Thomas trank einen Schluck, zog an seiner Zigarette und sah Hedi an. »Und wie geht es dir?« Seine Frage klang eher höflich als ehrlich interessiert.

»Ähm … gut.« Hedi spürte ein Zittern in sich. Thomas’ unerwartetes Auftauchen riss sie in einen Strudel von Gefühlen, die sie längst überwunden zu haben glaubte.

»Und deinen Großeltern?«

»Ebenso«, erwiderte sie knapp. Sein kühles Verhalten verletzte sie. Und mit einem Mal bäumte sich alles in ihr auf. War das Band, das sie einst so eng verbunden hatte, tatsächlich für immer zerrissen? Ganz abgesehen von ihrem kurzen Liebesverhältnis waren sie über viele Jahre hinweg Teil einer eingeschworenen Seilschaft gewesen, hatten sich am Berg gegenseitig ihr Leben anvertraut!

»Wie gefällt es dir in Berlin?«, fragte sie mit herausforderndem Blick.

»Viel Arbeit.«

»Ich beneide dich«, sagte Johannes. »Die Stadt soll ja geradezu pulsieren. Die vielen Vergnügungsstätten, keine Sperrstunde. Da kann München nicht mithalten.«

»Und dann auch noch die vielen Paraden der Nationalsozialisten«, entgegnete Thomas ironisch. »Überall ist die NSDAP gegenwärtig.«

»Ich finde diesen Mann einfach schrecklich«, schaltete sich Eva hitzig ein und schlug nach einer Fliege, die sich auf ihr Weinglas setzen wollte. »Wie gut, dass wir hier im Tal von diesem ganzen Theater nichts mitbekommen.«

»Vorsicht, Eva, wir haben einen glühenden Verehrer Hitlers in unserer Mitte«, sagte Anderl grinsend mit Blick auf Johannes.

»Für mich ist es immer noch völlig unverständlich, warum unser Bruder in die Partei eingetreten ist und dort Karriere machen will«, sagte Eva abfällig, wobei sie Zuspruch heischend ihren Vater ansah, dessen erkorener Liebling sie war. Doch der alte Leitner streute sich gerade eine Prise Schnupftabak auf seinen Handrücken und bemerkte ihren Blick nicht.

Johannes zog an seiner Zigarette und schwieg.

Seine Mutter seufzte. »Ich finde das alles ein bisschen beängstigend.«

»Ich auch«, pflichtete ihr Mann ihr mit düsterer Miene bei, schnupfte energisch und musste niesen.

»Es geht das Gerücht um, dass hier im Sudelfeld, nur fünf Kilometer von uns entfernt, schon bald ein SS-Ferienheim entstehen soll«, sagte Maria mit besorgter Miene.

»Gott bewahre!«, rief Eva entsetzt aus. »Dann hätten wir die hier direkt vor unserer Haustür.«

»Die Menschen lieben Hitler.« Johannes lächelte freundlich in die Runde. »Die Deutschen sehen ihn als Retter aus der Arbeitslosigkeit, Inflation und dem Hunger des vergangenen Jahrzehnts. Und er …«

»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, unterbrach sein Vater ihn barsch mit einer seiner geliebten Volksweisheiten. »Hitler ist erst drei Jahre an der Macht und neue Besen kehren gut.«

»Auf alle Fälle gibt er dem Land nach dem politischen Wirrwarr der Weimarer Republik wieder eine Richtung. An Politikern übt halt jeder gern Kritik.« Johannes nickte Thomas auffordernd zu. »Nun erzähl mal was über das Berliner Nachtleben.«

Thomas drückte seine Zigarette aus. »Es ist turbulent und vielfältig.« Und während er über Tanzpaläste, Nachtclubs und Varietés sprach, fragte sich Hedi, ob er dort auch selbst verkehrte. Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Thomas liebte die Stille der Natur, genau wie sie.

Die Unterhaltung wurde von einer Kellnerin unterbrochen. »Frau Leitner, der Bürgermeister und zwei Gemeinderatsmitglieder wollen Ihnen gratulieren. Soll ich sie in den Garten führen?«

»Wir gehen in die Stube«, entschied Quirin und stand auf, genau wie seine Frau und seine Tochter. Bevor er sich umdrehte, sah er Anderl mahnend an. »Du musst heut noch den Zaun reparieren.«

»Mach ich, Vater.«

»Ich habe auch noch was zu erledigen«, sagte Johannes rasch und erhob sich ebenfalls. »Wann beginnt die Feier heute Abend?«

»Gegen sechs«, antwortete seine Mutter. Sie nickte Hedi auffordernd zu. »Du bist hoffentlich auch dabei. Schließlich gehörst du quasi zur Familie.«

Hedi rang sich ein Lächeln ab. »Vielen Dank, aber ich kann heute Abend leider nicht.« Den ganzen Abend in der Gesellschaft von Thomas zu verbringen, der sie offensichtlich links liegen ließ, war für sie unvorstellbar.

Als nun auch Thomas den Gartenstuhl zurückschob, hielt Anderl ihn am Jackenärmel fest. »Bleib sitzen. Wir haben noch was zu besprechen. Hedi, du und ich.«

Thomas zog die schwarzen Brauen zusammen.

Hedi schluckte. Ergab es überhaupt noch Sinn, mit ihm über ihre Idee zu reden? Momentan konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihm wieder eine Seilschaft zu bilden.

»Hedi will im Juni die Eigernordwand machen«, erzählte Anderl, nachdem die anderen sich entfernt hatten.

»Die Eigernordwand?« Thomas sah Hedi an, als würde er sie zum ersten Mal an diesem Vormittag bewusst wahrnehmen. »Wie kommst du denn darauf?«

Sie erzählte ihm von dem Artikel in der Zeitschrift des Alpenvereins. »Und da mein Vater immer davon geträumt hat, dieses letzte Problem der Alpen als Erster zu lösen, möchte ich den Italienern zuvorkommen.«

»Alois wollte mit Hedi zusammen der Welt beweisen, dass es auch eine Frau schaffen kann«, fügte Anderl hinzu. »Und wir sollten dabei sein. Ich hab schon zugesagt. Jetzt ist es an dir …«

Thomas atmete tief durch, trank sein Glas Roten aus und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Hedi kannte diese Geste: So drückte er Zurückhaltung aus. Schließlich fand sein Blick zu ihr zurück, und zum ersten Mal las sie in ihm wieder etwas von der Wärme, mit der er sie früher angesehen hatte.

»Ich kann gut verstehen, dass du den Traum deines Vaters erfüllen möchtest«, begann er mit seiner rauen, eher leisen als lauten Stimme. »Aber ist das Risiko nicht zu groß? Vor zwei Jahren mussten drei Männer aus Sachsen nach einem Sturz aufgeben, und vergangenes Jahr starben zwei Münchner dort an Erschöpfung im Schneesturm. Wenn ihr mich fragt, ist die Wand noch nicht bereit.«

Anderl lachte auf. »Noch nicht bereit … Das ist doch Schmarrn! Ein Berg oder eine Wand müssen bezwungen werden, ob sie wollen oder nicht.«

»Was hat uns Hedis Vater beigebracht?« Thomas sah seinen Bruder eindringlich an. »Der Berg hält immer noch die Trumpfkarte. Er gewährt nur dann Erfolg, wenn er bereit dazu ist. Aber abgesehen davon …« Er legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich zu Hedi vor. »Die Eigernordwand ist extrem schwierig. Nicht nur weil sie so steil ist. Sie ist bekannt für Wetterstürze, Lawinen und Steinschlag. Außerdem hat sie Eisfelder. Wir drei sind Felskletterer. Wir haben nur wenig Erfahrung im Eis. Glaubt mir. Das ist Mord. Und erst recht im Juni, wenn noch Sturzbäche und Steinlawinen unterwegs sind. Da muss man am Eiger ja noch mit Schnee rechnen.« Er lehnte sich wieder zurück und fügte hinzu: »Außerdem bekomme ich im Juni keinen Urlaub.«

Anderl zuckte mit den Schultern. »Dann machst du einfach krank.«

»Das mach ich ganz bestimmt nicht«, erwiderte Thomas mit Nachdruck.

»Ich habe im Juni auch noch keine Sommerferien«, sagte Hedi. »Aber ich werde meinen Direktor bitten, mir für diese Expedition ein paar Tage freizugeben.«

»Oder wir machen die Wand im Juli oder August«, schlug Anderl vor.

Hedi drückte den Rücken durch. »Ich will doch den Italienern zuvorkommen.«

Anderl tippte sich an die Stirn. »Stimmt, die machen sie ja im Juli. Und Anfang August sind die Olympischen Spiele in Berlin. Da können wir nicht riskieren, dass die Goldmedaille für den Bergsport an Italien geht. Die möchte ich in den Händen halten. Also müssen wir wohl oder übel Mitte bis Ende Juni in die Wand.«

»Darf es auch die Adlerplakette vom Deutschen Reichsausschuss für Leibesübungen sein?«, fragte Thomas ironisch.

Hedi schlug die Augen gen Himmel. »Olympische Spiele! Eine Goldmedaille ist mir so was von egal. Vielleicht finden die ja auch gar nicht statt. Ich habe gelesen, dass das Pariser Komitee zur Verteidigung der olympischen Idee und die amerikanische Menschenrechtsbewegung den Boykott der Olympischen Spiele fordern. Wegen des nationalsozialistischen Geistes, der in Deutschland herrscht, der sich gegen Schwarze und Juden wendet.«

»Und ich hab gelesen, dass man mehr Nationen und mehr Sportler denn je bei den Spielen erwartet«, konterte Anderl mit kindlich-trotziger Miene.

»Ich denk darüber nach«, sagte Thomas schließlich in das knisternde Schweigen hinein.

Hedis Herz machte einen Sprung. Und während sie ihm zusah, wie er mit seinen schönen Händen eine Zigarette anzündete und ihm dabei eine schwarze Strähne in die Stirn fiel, ging eine Welle von Zärtlichkeit durch ihr Herz. Sie wusste noch genau, wie weich sich sein Haar unter ihren Fingern angefühlt hatte, wie seine Haut gerochen hatte, nach Sandelholz und Zitrone, wie warm und fest sein Mund auf ihrem gelegen hatte, sein gestählter Körper an ihrem … Und mit einem Mal erkannte sie: Sie liebte Thomas immer noch.

Diese jähe Erkenntnis jagte ihr einen riesigen Schrecken ein. Doch gleichzeitig spürte sie dieser Liebe nach, ließ ihre Wärme durch ihren Körper strömen und fühlte sich nach langer Zeit wieder lebendig. Da schaute sie hoch und bemerkte seinen Blick. Seine Miene war ausdruckslos, doch seine seegrünen Augen verrieten seinen inneren Aufruhr. Ein paar Augenblicke lang lagen ihre Blicke ineinander. Dann stand Thomas abrupt auf. Mit der Zigarette im Mundwinkel sagte er: »Ich bring mal mein Gepäck ins Haus. Wegen des Eigers sag ich euch Bescheid.«

Hedi war, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen. Warum war er jetzt wieder so abweisend? Nein, so wollte sie ihn nicht gehen lassen!

»Wie lange bleibst du?« Die Frage sprang ihr wie von selbst über die Lippen.

Er nahm die Zigarette aus dem Mund. »Bis morgen Nachmittag.«

Sie brachte ihr schönstes Lächeln zustande, das ihre perfekten Zähne zeigte und Grübchen in ihre Wangen zauberte. »Ich habe dich noch gar nicht gefragt, ob es dir in Berlin gefällt.«

»Doch, hast du.«

Tapfer schluckte sie seine Antwort herunter. »Ich meine, ob dir die Berge fehlen.«

»Ich arbeite viel.«

»Machst du noch Sport?«

»Boxen.«

»Du boxt?« Anderl riss die Augen auf. »So richtig? Wie Max Schmeling?«

Da lachte Thomas zum ersten Mal. Wie sehr sie dieses tiefe, warme Lachen liebte!

»Nicht wie Schmeling, aber es geht voran. Das Boxen stählt die Arm- und Schultermuskulatur, die man ja auch beim Klettern braucht.«

Die plötzlich entspannte Stimmung verlieh Hedi Mut, um mit verschmitztem Blick zu fragen: »Dann trainierst du also quasi schon für die Eigernordwand?«

Ihre Blicke trafen sich. Wieder zog sich der Moment in die Länge. Thomas’ Blick glitt langsam über ihr Gesicht, und sie glaubte, in seinen Augen etwas von der Zärtlichkeit vergangener Zeiten zu lesen. Dann jedoch wurde seine Miene wieder abweisend. »Hedi, ich brauche Zeit. Wie gesagt – ich melde mich.« Mit diesen Worten warf er den Rucksack über die Schulter, drehte sich um und ging aufs Hotel zu.

Sie widerstand dem Drang, ihm nachzublicken. Hilflos sah sie Anderl an. Der legte den Arm um sie und meinte zuversichtlich:

»Das wird schon. Ich sag dir Bescheid, sobald er was von sich hören lässt.«

Nach ihrem Besuch bei den Leitners fuhr Hedi nach Fischbachau. Der kleine Ort lag nur wenige Kilometer von Schliersee entfernt. Sie musste unbedingt mit Erika reden. Von Kindheit an hatten sie Freud und Leid miteinander geteilt. Als sie vor dem alten Pfarrhaus mit der verblassten Lüftlmalerei und dem großen Garten anhielt, wurde ihr sofort leichter ums Herz. Sie sprang vom Traktor und öffnete das quietschende Gartentor. Wie immer bei schönem Wetter stand die Haustür offen, und der köstliche Duft von warmem Topfenstrudel stieg ihr in die Nase. Die Holzdielen knarrten vertraut, als sie den langen Flur betrat. Im nächsten Moment erschien auch schon Amalie Angerer in der Küchentür.

»Hedi! Wie schön, dass du uns auch mal wieder besuchst!«, rief sie überrascht aus. »Kommst viel zu selten in der letzten Zeit.«

»Grüß Gott, Frau Angerer.« Hedi umarmte sie. »Sie wissen doch, die Schule und der Hof … Ich wollte zur Erika. Ist sie da?«

»Oben in ihrer Stube. Die wird sich freuen.«

Hedi stieg die ausgetretenen Holzstufen hinauf in den ersten Stock. Erika empfing sie schon am Treppenabsatz – klein, rundlich, mit exaktem schwarzem Pagenschnitt und großen schwarzbraunen Augen, in denen Erstaunen stand.

»Wie schaust du denn aus?«, fragte Erika in ihrer direkten Art. »Du bist ja ganz blass um die Nase.«

»Na, so schlimm wird’s wohl nicht sein«, erwiderte Hedi leicht pikiert. »Kann ich reinkommen?«

Sie ließ sich in den Schaukelstuhl fallen, der vor der geöffneten Balkontür stand. Mit einem Mal fühlte sie sich erschöpft.

Ihre Freundin setzte sich auf den Schreibtischhocker. Aus der Tasche ihrer weiten Hose zog sie eine Schachtel Ramses. »Willst du auch eine?«

»Nicht jetzt.«

In aller Ruhe zündete sich Erika eine Zigarette an und blies den Rauch mit genießerischer Miene durchs offene Fenster. Hedi war dankbar, dass sie ihr Zeit ließ, zur Ruhe zu kommen. So schwiegen die beiden eine Weile und hörten den Vögeln zu, die in den Obst- und Holunderbäumen munter zwitscherten. Schließlich sagte Hedi:

»Ich habe Thomas gerade gesehen.«

»Nur gesehen oder auch gesprochen?«

»Auch gesprochen.«

»Der wollte doch erst in einer Woche kommen.«

»Er hat’s sich anders überlegt. Seine Mutter hat sich natürlich riesig gefreut.«

»Und?«

Hedi seufzte tief, bevor sie Erika von dem Besuch bei den Leitners erzählte. »Thomas hat mich kaum beachtet. Nur zweimal hatte ich kurz den Eindruck, dass es hinter der kühlen Fassade anders aussehen könnte. Aber …«

»Und du?«, unterbrach Erika sie.

»Ach Erika, plötzlich ist alles wieder da. All die Gefühle, die Sehnsucht, das Bedürfnis, ihn zu berühren. Warum sind wir Frauen nur immer so gefühlvoll? Oder können sich die Männer nur besser verstellen?«

»Frag mich nicht. Männer sind für mich ein großes Geheimnis.« Erika schnippte die Asche in eine kleine Zinnschale. »Aber was Thomas angeht, kann ich sein Verhalten sogar verstehen. Du hast ihn ganz schön zurückgewiesen am letzten Abend, bevor er nach Berlin gegangen ist. Vielleicht ist er immer noch verletzt.«

»Dazu hat er ganz bestimmt keinen Grund«, begehrte Hedi auf. »Wer ist denn in einer Nacht- und Nebelaktion weggezogen? Ich oder er? Mir erst einen Tag vor seiner Abreise gestehen zu wollen, dass er eine Stelle in Berlin angenommen hat …! Wir waren monatelang ein Liebespaar!«

»Stimmt, das war wirklich nicht die feine englische Art. Aber vielleicht hatte er einen Grund dafür. Du hast ja hinterher nicht mehr mit ihm reden wollen. Stattdessen hast du auf dem Dorffest den ganzen Abend mit Johannes getanzt.«

Hedi senkte den Kopf. »Das habe ich später ja auch bereut. Obwohl Thomas auf seinen Bruder nie eifersüchtig war.«

»Aber vielleicht auf den Guggenberger Willi, mit dem du auch ganz schön geschäkert hast.«

»Willi! Der interessiert mich doch heute gar nicht mehr. Und mit Johannes versteh ich mich halt gut. Er ist ein Freund für mich, genau wie Anderl.«

»Kann eine Frau Johannes überhaupt als Freund betrachten – so fesch, wie der ausschaut?«

»Ich ja. Für mich war Thomas immer der Attraktivere. Es kommt ja nicht aufs Äußere an. Thomas und ich … Da war eine Seelenverwandtschaft. Und meinerseits ist da heute leider immer noch sehr viel Anziehung.«

»Seht ihr euch noch mal?«

»Nein. Er fährt morgen wieder zurück. Aber er will sich überlegen, ob er mit Anderl und mir zusammen die Eigernordwand macht.«

»Wie bitte?«

»Das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Also …« In wenigen Sätzen teilte Hedi ihrer Freundin ihren Plan mit.

Erika griff sich an die Stirn. »Seid ihr deppert? Die Eigernordwand? Im Juni? Und überhaupt … Da haben sich doch schon andere die Zähne dran ausgebissen. Das ist Selbstmord!«

Hedi setzte sich aufrecht hin. »Nun übertreib mal nicht. Wir sind keine Anfänger. Denk dran, wie viele Gipfel und Wände wir mit meinem Vater gemacht haben!«

»Das war doch aber alles nichts gegen die Eigernordwand. Die wird nicht umsonst als letztes Problem der Alpen bezeichnet.«

»Aber mein Vater …« Hedis Blick verlor sich mit wehmütigem Ausdruck im blauen Himmel.

»Der wollte bestimmt nicht, dass du dich umbringst.«

»Wahrscheinlich wird eh nichts draus, weil Thomas nicht mitmacht.«

Erika zuckte mit den Schultern, und Hedi zündete sich nun doch eine Zigarette an. Sie schwiegen eine Weile.

»Gestern habe ich Karl Huber in der Bücherei in Miesbach getroffen«, sagte Erika nach einer Weile.

Erleichtert über den Themenwechsel sah Hedi sie erwartungsvoll an. »Und?«

»Wie immer war er nett und freundlich und lustig, aber ich glaube, im Innern ist er ein tieftrauriger Mensch.«

»Kein Wunder bei dem Vater. Direktor Huber ist halt ein unangenehmer Zeitgenosse.«

»Karl wirkt auf mich ziemlich einsam. Außer seiner Mutter, seiner Musik und seiner Arbeit hat er nicht viel Abwechslung. Keine Freunde, keine Freundin …«

»Na ja, er ist ja gerade erst zwei Monate aus Augsburg zurück. Vielleicht hat er sich nach den vielen Jahren noch nicht wieder richtig hier eingelebt.« Hedi sah ihre Freundin forschend an. »Aber wie ich dich kenne, willst du das jetzt ändern, oder?«

Erika lachte schallend. »Vielleicht. Ich finde, er sieht ziemlich gut aus, er ist intelligent und einfach sehr liebenswürdig. Und in den Jahren in Augsburg ist er männlicher geworden. Früher war er ja eher so ein Milchbubl.« Sie beugte sich Hedi entgegen. »Stell dir vor! Er fährt jede Woche einmal nach München. Für Opernbesuche, Konzerte und Liederabende … Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir das ja mal zusammen machen könnten. Zuerst war er überrascht, ja fast erschrocken.« Erika kicherte belustigt, dann fuhr sie munter fort: »Aber dann schien er gar nicht so abgeneigt zu sein. Ich glaube, er ist sehr schüchtern. Deshalb muss ich die Initiative ergreifen.«

»Was du ja auch bereits getan hast.«

»Ich versteh gar nicht, dass er noch nicht verbandelt ist. Als Poststellenleiter in Miesbach ist er doch eine gute Partie.«

»Vielleicht ist er besonders wählerisch. Oder seine Mutter besonders eifersüchtig, sodass sie jede Bindung zu verhindern weiß. Weißt du nicht mehr? Schon früher war Karl als Muttersöhnchen bekannt.«

»Na ja, mal sehen.« Erika drückte ihre Zigarette aus. »Ich könnte mir durchaus vorstellen, etwas mit ihm anzufangen.«

Hedi lachte. »Wirklich? Obwohl die Männer für dich ein Geheimnis sind?«

»Ich finde, Karl ist anders. Ich kann mich mit ihm sehr gut unterhalten. Fast wie von Frau zu Frau.«

»Na, dann versuch mal dein Glück. Aber denk dran, wenn das mit euch was werden sollte, bekommst du meinen Vorgesetzten zum Schwiegervater.«

Erika winkte lässig ab. »Den würde ich mir schon erziehen.«

»Da wünsch ich dir jetzt schon gutes Gelingen«, erwiderte Hedi trocken und wechselte das Thema. »Sag mal, was macht eigentlich deine Jugendarbeit?«

Erika wies mit dem Kinn auf den Schreibtisch, der überlief von Papieren und Büchern, und erwiderte zwinkernd: »Zum Leidwesen des hiesigen Pfarrers – sprich meines Vaters – werde ich mich diesbezüglich zukünftig anders orientieren.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, die christliche Jugendarbeit wird doch immer mehr zu einem Teil der Hitlerjugend und des Bundes Deutscher Mädchen. Sporttreiben oder Musizieren dürfen wir ja nicht mehr, wir sind ausschließlich für die religiöse Erziehung zuständig. Und wer an der christlichen Jugendarbeit teilnehmen will, muss vorher eine HJ- oder BDM-Veranstaltung besucht haben. Damit die Jugendlichen schon indoktriniert vom nationalsozialistischen Gedankengut zu uns in den Gemeindesaal kommen und so gegen unsere – eventuell negative – Beeinflussung gefeit sind.« Erikas dunkle Augen sprühten Feuer. Und sie war längst noch nicht fertig. »Stell dir vor! Gestern war doch tatsächlich eine Aufsichtsperson des BDM bei unserem Jugendtreffen, die mal sehen wollte, ob es da auch mit rechten Dingen zugeht. Und sie hat mich ganz subtil davor gewarnt, zukünftig etwas anderes als ausschließlich Bibelstunden abzuhalten.«

»Und?«

»Ich hatte Glück. Wir haben tatsächlich gerade in der Bibel gelesen.« Erika lachte bitter auf. »Aber das ist nicht, was ich will. Das, was ich schon als Lehrerin an politischer Aufklärung nicht vermitteln kann beziehungsweise darf, möchte ich den Mädchen bei der Jugendarbeit hier mitgeben: Vorsicht und Kritik gegenüber den Nationalsozialisten.«

»Erika, das ist gefährlich«, sagte Hedi mit eindringlichem Blick.

Ihre Freundin winkte ab. »Immer mehr meiner Schülerinnen und auch der Madln hier im Tal treten in den BDM ein und kommen nicht mehr zur Jugendarbeit. Der Beitritt zur Hitlerjugend und zum BDM ist zwar offiziell noch keine Pflicht, aber das verbreitet sich unter den Jugendlichen wie eine Seuche. Dem will ich gegensteuern. Die Madln müssen wissen, dass diese beiden Organisationen Erziehungsanstalten der Nazis sind. Mit ihnen will man ein neues deutsches Volk heranziehen, in dem Frauen nichts als Kinder gebären und den Männern ein trautes Heim schaffen sollen. Das kann doch nicht sein! Weißt du, was Hitler vergangenes Jahr auf dem Nürnberger Frauenkongress verkündet hat? Ich hab’s erst gestern in einer dieser nationalsozialistischen Schriften hier gelesen. In etwa: Die Gleichberechtigung der Frau besteht darin, dass sie in den ihr von der Natur bestimmten Lebensgebieten jene Hochschätzung erfährt, die ihr zukommt. Mit diesen von der Natur bestimmten Lebensgebieten sind Ehe, Kinder und Küche gemeint. Gleichberechtigung! Das ist doch ein einziger Schmarrn! Und genau das will ich den Mädchen in meiner christlichen Jugendarbeit vermitteln.« Erika schnaubte verächtlich durch die Nase, bevor sie Hedi die Zigarettenpackung entgegenhielt. »Auch noch eine?«

»Ja.« Hedi ließ sich von ihr Feuer geben und sah den Rauchkringeln nach, die aus dem Fenster wehten. Dabei suchte sie nach Argumenten, um ihre Freundin von deren Plan abzubringen. Schließlich begann sie ruhig: »Das, was du vorhast, ist aufrührerisch. Du weißt, wie die mit ihren Gegnern umgehen.«

»Aber irgendwas muss man doch dagegen tun!«

Hedi nahm einen tiefen Zug. »Ich finde es klüger, das Selbstbewusstsein der Mädchen und jungen Frauen zu stärken, statt gegen die Ideologie der Nationalsozialisten anzukämpfen. Dann erkennen sie letztendlich selbst, welch untergeordnete Rolle ihnen die Nationalsozialisten in diesem neuen deutschen Volk zubilligen. Wobei man gerechterweise sagen muss, dass es bis zur Freiheit der Frauen weltweit sowieso noch ein weiter Weg ist.«

»Und wie können wir diesen Weg verkürzen?«

»Hier bei uns vielleicht durch den hochalpinen Bergsport.«

Erika riss die Augen auf. »Wie meinst du das denn?«

»Schau … In den Großstädten haben Frauen viel mehr Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln und ein anderes Leben zu führen als das der Ehefrau und Mutter – trotz nationalsozialistischer Erziehung. Aber wir leben nun mal hier in den Bergen.«

»Aber was hat das Klettern im Fels damit zu tun? Ganz abgesehen davon, dass es gefährlich ist. Da kann es um Leben und Tod gehen.«

Hedi lachte. »Sich zu befreien ist immer ein Abenteuer auf Leben und Tod. Das hochalpine Bergsteigen lehrt, dass man vieles schaffen kann, wenn man es wirklich will.« Hedi rückte auf die Sesselkante vor und sah Erika eindringlich an. »Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hat es Frauen gegeben, die im Bergsteigen die Möglichkeit gesehen haben, sich gegen die damals gängige Rollenvorstellung zu wehren. Denn beim Bergsteigen lernten sie zum ersten Mal Gefühle wie Unabhängigkeit und Freiheit kennen. Um nicht abzustürzen, mussten sie nur an sich selbst denken und ihre Pflichten als Ehefrau, Mutter und Hausfrau zurückstellen. Dadurch gewannen sie mehr Selbstbewusstsein. Glaub mir, dieses Selbstbewusstsein ist zusammen mit dem Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit die wichtigste Voraussetzung dafür, die Lehre der Nationalsozialisten kritisch zu betrachten. Wenn wir den Mädchen und Frauen dazu verhelfen, können wir langfristig viel mehr bewirken, als wenn wir die Ziele dieser Partei schlechtmachen. Deshalb möchte ich auch nach den Osterferien mit meinen Schülerinnen regelmäßig in die Berge steigen, statt im Turnunterricht Bodenturnen oder Gymnastik zu machen.«

Erika sah mit nachdenklicher Miene zum Fenster hinaus. Dann kehrte ihr Blick zu Hedi zurück. »Denkst du etwa an die Gründung eines alpinen Frauenvereins? Irgendwann hast du schon mal davon gesprochen.«

Hedi seufzte. »Das wäre mein Traum. Nach dem Vorbild des Ladies’ Alpine Clubs in London, der 1907 gegründet wurde und zu dem Männer keinen Zugang hatten.« Sie sah ihre Freundin bedeutsam an. »Weißt du eigentlich, dass wir Frauen zu den meisten Sektionen des Deutschen Alpenvereins immer noch keinen gleichberechtigten Zutritt haben? Das ist doch unglaublich!«

Erika drückte entschlossen die Zigarette aus. »Darüber werde ich nachdenken.«

Sonntag, 19. April 1936

Das schöne Wetter hielt sich auch noch am Sonntag. Erst gegen Abend zogen Wolken auf, die für die neue Woche einen Wetterwechsel ankündigten. Nachdem Hedi ihren Unterricht für die erste Woche nach den Osterferien vorbereitet hatte, setzte sie sich zu ihrer Großmutter nach draußen. »Wo ist denn Großvater?«, fragte sie.

»In der Stube. Er hört Die Fledermaus von Johann Strauss«, antwortete Johanna, ohne von ihren klappernden Stricknadeln aufzublicken. »Wie gut, dass wir unser altes Radio noch nicht gegen einen dieser neuen Volksempfänger eingetauscht haben. Die senden ja fast nur nationalsozialistische Propaganda.«

Hedi zeigte auf das Strickzeug. »Was strickst du da?«

»Handschuhe für dich. Im Hochgebirge kann es auch im Frühling noch eisig sein.«

Hochgebirge? Hedi dachte sofort an den Eiger. Hatte ihre Großmutter etwa den sprichwörtlichen siebten Sinn? Dann war dies der Zeitpunkt, ihr von ihrem Plan zu erzählen.

»Da wir gerade vom Hochgebirge reden …«, begann sie zögerlich.

Nachdem Hedi berichtet hatte, legte Johanna ihr Strickzeug in den Schoß und hob langsam den Blick. »Die Eigernordwand?« Ihre Stimme war erst kaum mehr als ein Flüstern. Dann straffte sie sich. Ihr Blick gewann an Stärke. »Sollen wir dich etwa auch noch verlieren?«

Erschrocken über die jähe Reaktion ihrer Großmutter griff Hedi nach Johannas knochiger Hand und drückte sie. »Reg dich nicht auf. Vielleicht wird ja gar nichts draus. Nur …« Sie seufzte. »Erinnerst du dich? Vater und ich hatten das schon länger vor.«

Die Großmutter entzog ihr die Hand und schüttelte energisch den Kopf. »Das war ein Traum. So wie unser Alois viele Träume hatte. Er hatte bestimmt nicht wirklich vor, sein eigenes Fleisch und Blut in den Tod zu schicken.«

Wider Willen musste Hedi lachen. »Wie das klingt! Als würde man beim Klettern zwangsweise den Tod finden. Meine Eltern zum Beispiel sind mit dem Auto verunglückt.«

»Ach, Madl …« Johanna ließ die Schultern fallen und seufzte aus tiefstem Herzen. »Überleg dir das noch mal. Ich hab kein gutes Gefühl dabei. Und bitte … Sag dem Großvater erst mal noch nichts.«

Als Hedi nach dem Abendessen auf dem Balkon noch eine Zigarette rauchte, bemerkte sie einen Bartgeier, der über dem Landauer Hof kreiste. Wie ein Scherenschnitt zeichnete er sich vor dem wolkenverhangenen Abendhimmel ab. Bedrückt zog Hedi die Schultern zusammen. Das Bild erschien ihr wie eine in den Himmel geschriebene Vorwarnung.

Vielleicht sollte sie die Eigernordwand doch nicht machen. Was, wenn ihr dabei tatsächlich etwas zustoßen würde? Konnte sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren, ihre Großeltern allein zurückzulassen? Sie hatten nur noch sie. Lena, die jüngere Schwester ihres Vaters, lebte schon seit Jahren in England. In den 20er-Jahren hatte sie einen Engländer kennengelernt, der wie viele seiner Landsleute zum Bergsteigen ins Tal gekommen war.

Als Hedi später im Bett lag, ließen die Gedanken sie nicht einschlafen. Vielleicht wird Thomas ja absagen, sagte sie sich schließlich. Ohne ihn würde sie den Durchstieg der Wand nicht wagen. Denn wenn Anderl ohne Kunden unterwegs war, ließ er seinem halsbrecherischen Kletterstil gern freien Lauf. Nur im Beisein von Thomas zügelte er sich.

Montag, 20. April 1936

Als Hedi am Montagmorgen zur Arbeit radelte, regnete es in Strömen. Kaum hatte sie das Schulgebäude betreten, als auch schon Direktor Huber im Stechschritt auf sie zukam.

»Guten Morgen, Fräulein Landauer, da sind Sie ja! Wie waren die Ferien?«, erkundigte sich der Mittfünfziger, der einen Kopf kleiner war als sie, aufgeräumt.

»Sehr schön. Und bei Ihnen?«, fragte sie höflich zurück, während sie den triefenden Umhang aufhängte.

»Ebenso«, lautete die knappe Antwort. Huber rückte seine Goldrandbrille auf der langen Nase in Position und räusperte sich bedeutungsvoll. Nach drei Jahren Zusammenarbeit mit ihm kannte sie dieses Verhalten: Der Direktor wollte ihr etwas Wichtiges mitteilen.

»In den Ferien habe ich über Ihren Vorschlag nachgedacht, statt des wöchentlichen Turnunterrichts mit den Schülern klettern zu gehen.«

Überrascht sah sie ihn an.

»Ich stimme Ihrem Vorschlag zu«, fuhr er fort. »Auch Ihrer fortschrittlichen Idee, dabei Jungen und Mädchen in einer Gruppe zu führen. Dann können sich Ihre Madln von meinen Buben noch etwas abgucken«, fügte er gönnerhaft hinzu.

»Oder Ihre Buben von meinen Madln«, entgegnete sie, ohne darüber nachzudenken, dass sich ihr Vorgesetzter als unangreifbare Autorität empfand. »Denn die Mädchen sind am Berg meistens geschickter und ausdauernder«, setzte sie hinzu.

Auf Hubers Miene stand geschrieben, wie wenig ihm ihre Bemerkung passte. Schließlich zwang er sich zu einem steifen Lächeln. »Ich finde es jedenfalls sehr erfreulich, dass Sie dazu beitragen wollen, das Bewegungsbedürfnis unserer Jugend zu befriedigen und deren Freude an Leistung und Leistungsvergleich gerecht zu werden. Und was die Mädchen angeht … Unser Land braucht natürlich auch Heldinnen.«

Seine Worte berührten sie unangenehm. Wie in allem, was er von sich gab, schwang auch in diesen Worten der Tenor der nationalsozialistischen Partei mit, der er angehörte. Dennoch antwortete sie freundlich:

»Ich freue mich sehr, dass ich das Projekt umsetzen kann. Dann werde ich in den nächsten Tagen die Eltern informieren und …«

»Das übernehme ich«, unterbrach Huber sie. »Ich muss ja auch die Schulbehörde in Kenntnis setzen, deren Zustimmung ich jedoch voraussetze. Herr von Tschammer und Osten, unser Reichssportführer, hat erst vor Kurzem in einem Rundschreiben an die Schulen betont, wie wichtig der deutsche Tat- und Kampfalpinismus für die Erziehung der deutschen Jugend ist.«

Der deutsche Tat- und Kampfalpinismus – am liebsten hätte Hedi laut gelacht. »In Ordnung«, sagte sie tonlos. »Dann schließe ich jetzt mal meine Klasse auf.«

Als sie an Huber vorbeigehen wollte, stellte er sich ihr in den Weg. Seine steingrauen Augen wurden schmal. »Glauben Sie nicht, dass es an der Zeit wäre, wenigstens in den Nationalsozialistischen Lehrerbund einzutreten?«

Hedi schluckte. Diese Frage hatte sie schon seit Langem gefürchtet. Sie zwang sich zu einem strahlenden Lächeln, um dessen Wirkung auf Männer sie sich bewusst war.

»Wissen Sie, Herr Direktor …«, begann sie langsam mit Unschuldsblick, »ich bin halt von ganzem Herzen Bergsteigerin. Und Bergsteiger sind ganz und gar unpolitische Menschen.«

»Dann sollte sich das in Zukunft ändern, Fräulein Landauer«, lautete die schneidende Antwort ihres Vorgesetzten.

Dieses Gespräch verfolgte Hedi den ganzen Vormittag. Ihr Chef erwartete für sein Entgegenkommen eine Gegenleistung. Das passte zu ihm. Er setzte sie unter Druck, und das trübte ihre Freude darüber, ihre Schüler – und unter ihnen besonders die Mädchen – an den Bergsport heranzuführen. Vermutlich würde Huber bezüglich ihres Parteieintritts nicht mehr lockerlassen. Spätestens, wenn sie ihn wegen der Durchsteigung der Eigernordwand um ein paar freie Tage bat, würde sie sich entscheiden müssen.

Als Hedi mittags nach Hause kam, sah Johanna ihrer Enkelin sofort an, dass etwas sie bedrückte. Beim Essen erzählte Hedi ihren Großeltern von dem Gespräch mit dem Direktor.

»Der deutsche Tat- und Kampfalpinismus …«, wiederholte sie aufgebracht. »Wenn ich das schon höre! Als wenn es beim Klettern um Kampf geht! Und falls dieser Huber tatsächlich glaubt, ich trete in die Partei ein, dann hat er sich geirrt.«

Ihr Großvater legte das Besteck auf dem Teller zusammen und schüttelte seufzend sein weißes Haupthaar. »Wenn man das alles so hört … Das ist kein gutes politisches Klima, in dem unsere Jugend aufwächst. Dieses propagierte Heldentum hat doch eine ganz gefährliche Verleugnung von Gefahren zur Folge, das kann besonders bei jungen Menschen zur völligen Selbstüberschätzung führen. Das gilt auch fürs Klettern. Das solltest du deinen Schülern unbedingt beibringen, wenn du mit ihnen in die Berge gehst.«

»Das mach ich, Großvater.«

Dienstag, 21. April – Freitag, 1. Mai 1936

Die nächsten Tage wurden Hedi lang. An jedem neuen Tag hoffte sie auf ein Zeichen von Thomas, auf einen Brief oder einen Anruf im Hotel seiner Eltern – obwohl ihr Verstand ihr immer wieder sagte, dass er für seine Entscheidung Zeit gefordert hatte. Da die Schlechtwetterfront über Oberbayern einfach nicht weiterziehen wollte, konnte sie auch ihr Projekt mit den Schülern nicht verwirklichen. So reihte sich ein Tag gleichförmig an den anderen. Auch von Anderl hörte sie nichts. Er war mit Kunden in Südtirol unterwegs. Erika und ihre Großmutter vermieden das Thema Eigernordwand, als wollten sie sie gar nicht erst wieder auf diesen Gedanken bringen, und schließlich glaubte Hedi selbst nicht mehr daran, dass aus der Eigerexpedition noch etwas werden würde.

Während dieser Zeit des Stillstands verging kein Abend, an dem sie nicht an Thomas dachte – und das nicht nur, weil sie auf seine Entscheidung bezüglich des Eiger wartete. Immer wieder spielte sie das unerwartete Wiedersehen mit ihm im Geiste durch. Immer wieder ließ sie seine Worte, seine Gesten, seine Blicke Revue passieren in der Hoffnung, darin doch noch irgendetwas zu entdecken, das ihr bisher entgangen war – einen verstohlenen Hinweis, ein Zeichen, dass es ihm, den sie immer noch so sehr begehrte, genauso mit ihr erging.

Dann tauchte Anderl auf dem Landauer Hof auf.

»Hast du was von Thomas gehört?«, lautete Hedis erste Frage.

»Noch nicht. Aber ich bin ja auch erst seit gestern Abend wieder zurück.«

Sie bat ihn in die Stube, in der der Tiroler Kachelofen eine angenehme Wärme verströmte.

»Wie war es in Südtirol?«, erkundigte sie sich mehr aus Höflichkeit als wirklich interessiert und lauschte seinem begeisterten Bericht nur mit halbem Ohr.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, sagte Anderl schließlich enttäuscht.

»Bitte entschuldige. Nimm es nicht persönlich, aber ich …« Hilflos sah sie ihn an. »Übermorgen ist es vierzehn Tage her, dass Thomas hier war. Glaubst du, dass aus unserer Durchsteigung noch was wird? In sechs Wochen haben wir bereits Mitte Juni. Dann müssten wir doch spätestens loslegen.«

»Stimmt.« Anderl seufzte und stand auf. »Sei mir nicht bös, ich muss noch bei der Lena vorbeischauen, aber ich verspreche dir, dass ich mich drum kümmere. Thomas muss endlich Stellung beziehen. Sonst blasen wir die Sache ab. Nur wir zwei …« Mit besorgter Miene schüttelte er den Kopf. »Dafür ist die Wand zu gefährlich.«

Gegen Ende der Woche, gerade rechtzeitig zum Maifeiertag, setzte sich die Sonne endlich gegen die Wolken durch. Über Nacht entrollten die Bäume ihre hellgrünen Blätter, die Nadelhölzer zeigten frische Spitzen, und auf den Wiesen reckten Gänseblümchen und Wiesenschaumkraut ihre Blüten der Sonne entgegen. Am Freitag, dem 1. Mai, begleitete Hedi ihre Großeltern in die Kirche, verabschiedete sich jedoch direkt nach dem Gottesdienst. Ihr stand nicht der Sinn danach, sich mit den anderen Dörflern um den geschmückten Maibaum zu scharen, Bier zu trinken und sich zu unterhalten. Als sie auf dem Hof ankam, atmete sie erleichtert auf. Hier war die Blasmusik nur noch aus der Ferne zu hören. Ansonsten herrschte eine friedliche Feiertagsruhe.

Hedi setzte sich mit einem Roman von Hans Fallada vors Haus in die Sonne. Kaum hatte sie den Buchdeckel aufgeschlagen, als sie ein Motorengeräusch vernahm. Es wurde lauter, und nur wenige Sekunden später entdeckte sie ein Motorrad, das durch die Wiesen auf den Hof zufuhr. Als sie das Berliner Kennzeichen erkannte, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Thomas! Er war gekommen – was nur bedeuten konnte, dass er mit ihr die Eigernordwand machen wollte. Anderl, fast zwei Köpfe kleiner als sein Bruder, hockte als Beifahrer hinten auf dem Bock. Hedis Puls jagte, als die beiden von der Maschine stiegen.

»Überraschung!«, rief Anderl strahlend.

Bei Thomas’ Anblick verspürte Hedi sofort wieder Schmetterlinge im Bauch. Er strahlte etwas Wildes, Unbezähmbares aus. Und wieder konnte sie ihn sich nicht in einer Großstadt vorstellen. Er gehörte hierhin, in die Natur, in die Berge.

Als die Brüder vor ihr standen, nahm Thomas seine schwarze Sonnenbrille ab. Aus freundlichen Augen sah er sie an. In ihnen stand nichts mehr von der Distanz, die sie bei ihrem ersten Wiedersehen gespürt hatte. Allein das schon entschädigte sie für all die Ungewissheit der vergangenen vierzehn Tage.

»Setzt euch, ich hol uns was zu trinken«, brachte sie mit vor Aufregung belegter Stimme hervor.

Der Gang ins Haus gab ihr Zeit, sich innerlich zu sammeln. Mit fahrigen Händen bereitete sie rasch eine Brotzeit zu, hauchdünn geschnittener Speck, Bergkäse und Vinschgauer. Zusammen mit drei Gläsern und einer Flasche Rotem stellte sie alles auf ein Tablett und trug es hinaus. Anderl hatte inzwischen seinen Janker ausgezogen und Thomas seine abgewetzte braune Lederjacke, unter der er einen schwarzen Pullover trug. Während Anderl munter erzählte, wie sein Bruder am frühen Morgen plötzlich vor ihm gestanden habe, musste sie sich beherrschen, nicht ständig auf Thomas’ gebräunte Haut zu blicken, die der V-Ausschnitt seines Pullovers freilegte.

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