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Alles, wovor ich Angst habe, ist schon passiert

Als Buch hier erhältlich:

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Im ersten Frühling, den sie allein verbringt, hält sie das Erwachen der Natur für eine Verschwendung von Schönheit an eine tote Seele und bleibt aus reiner Höflichkeit am Leben.
Sie kann die Vorstellung nicht ertragen, den Rest ihres Lebens allein zu verbringen — denn sicher ist sie zu alt für eine neue Partnerschaft? Noch dazu lassen sich während der Pandemie schon gar keine neuen Menschen kennenlernen ohne eine Dating-App. Die Vorstellung, mit einem unbekannten, unvollkommenen Körper ein Bett zu teilen, ihren alternden Körper vorzuzeigen und sich fremden Blicken auszusetzen, ist ihr zunächst unangenehm. Aber schon tauchen neue Menschen im Leben einer Frau auf, die dachte, alles schon hinter sich gehabt zu haben...


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013814

Leseprobe

Wencke Mühleisen

Alles, wovor ich Angst habe, ist schon passiert

Amor mixtus:
Sehnsucht der Seele und körperliches Verlangen

Roman

Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger

This time, like all times, is a very good one, if we but know what to do with it.

Ralph Waldo Emerson

Ich muss mich erheben. Denn habe ich nicht lange Zeit versucht zu schlafen, ohne dass es half, versucht zu essen, ohne dass es half, zu arbeiten, ohne dass es half. Ich habe Yoga gemacht, bin Rad gefahren, geschwommen und gewandert, und es hat nichts geholfen, ich habe Freunde getroffen, masturbiert und telefoniert. Ich habe Zeitungen und Bücher gelesen, Nachrichten gehört und mir Serien angeschaut, mich durch Facebook gescrollt, und es hat nichts geholfen. Ich habe erwogen aufzugeben, harte Drogen zu nehmen oder die sexuelle Orientierung zu ändern. Ich dachte an all das Schöne, das zwischen mir und ihm gewesen war, der mich verlassen hat, ich trank und dachte an Menschen auf der Flucht, Opfer von Krieg und Vergewaltigung, Kinder in Not, die USA unter Trump, Terror, die Klimakrise, die Coronapandemie, die Zerstörungen durch den globalen Finanzkapitalismus. Ich dachte an jene, die genauso allein waren wie ich, und auch das half nicht.

Es ist so, als sei alles, wovor ich Angst habe, schon passiert. Als hätte ich alles verloren. Als wäre ich vollkommen einsam und frei.

Obwohl nicht wenige Menschen den Frühling mit ganz viel Hoffnung in Verbindung bringen, brennt an diesem frühen Morgen im Mai das Frühlingslicht in meinen Augäpfeln. Denn Frühling heißt Bewegung nach langem Stillstand, kaum spürbar zunächst, dann stärker, Gemurmel schwillt an zu einem Brausen, auf einen Schlag wandelt sich alles, verändert sich, Himmel und Bäume spiegeln sich im Wasser, sodass man kaum sagen kann, was Himmel und was Erde ist, alles nur ungewisse Ahnungen. Ich stehe neben dem Schreibtisch am Fenster meines Wohnblocks im Valhallveien und sehe, wie die ganze Westseite der Stadt in Sonnenlicht getaucht wird. Ich hole tief Luft und atme sie langsam wieder aus, sodass ich den Druck meiner Lunge spüre, eine Bestätigung dessen, dass die Wände, die inneren, da sind. Und vielleicht halten.

Seit ich zwanzig war, wohne ich zum ersten Mal allein in einer Wohnung. Mein ganzes Erwachsenleben hindurch, fünfzig Jahre lang, habe ich mit Frauen, Männern und Kindern zusammengewohnt – in Paarbeziehungen, Wohngemeinschaften und als Familie. Was es heißt, allein zu leben, wie so viele Menschen es meines Wissens tun, weiß ich noch nicht.

Das Geräusch eines Betonbohrers, vermutlich aus der Wohnung über mir, drängt sich in diese Gedanken. Neben der Tür stehen zwei Kartons mit Aktenordnern und Notizbüchern, die auszupacken mir bisher die Energie gefehlt hat, nachdem ich das Allernötigste aus dem gemeinsamen Zuhause mit Ulf mitgenommen habe. Ich habe immer Angst davor gehabt, verlassen zu werden, im Stich gelassen zu werden. Das weiß ich jetzt. Früher habe ich es nicht durchschaut. Panische Angst kombiniert mit der akuten Unfähigkeit, damit umzugehen oder sie zu verstehen. Dieses letzte Mal ist nur eins in einer Reihe von Malen, die ich verlassen wurde. Der Schmerz, den ich jetzt empfinde, mit seiner dumpfen Intensität, ist nur der letzte Ring im Wasser, sehr weit entfernt von der Stelle, wo der vor langer Zeit geworfene Stein auftraf und so wehtat, dass er tief hinabsank. Während ich es früher mit vitaler Verdrängung, der Kraft und den Möglichkeiten eines jungen Menschen geschafft hatte, blind weiterzulaufen, fiel ich dieses Mal ganz tief auf den schlammigen Grund.

Jetzt fürchte ich, dass diese Einsamkeit zu einer Einsamkeit für den Rest meiner Zeit wird. Dass ich im Begriff bin, aus dem vertrauten Leben katapultiert zu werden, ausgestoßen zu werden. Meine Schenkel beben aus Angst vor einer Zukunft als einsame ältere Frau, die vor ungestillter Sehnsucht, erotischem Verlangen, marternden Erinnerungen und fehlender Gemeinschaft nur so zittert.

Diffus oder vielmehr wie ein Blitzlicht durchfährt es mich, ohne dass ich es richtig einzufangen vermag: Es muss etwas anderes geben. Es ist besser, mit einem Verlust zu leben als dort, wo sich Gleichgültigkeit als Liebe getarnt bewegt.

Ich erinnere mich an einen Morgen zu Hause im Schlafzimmer, bevor ich verlassen wurde. Ich stand in der Morgensonne, die das Fenster zum Hof hereinließ, und dachte, dass es mir trotz allem gut gehe. Unser erwachsenes Kind kam im Leben zurecht, ich hatte meine Freunde, meine Arbeit, ich schlief nicht besonders gut, aber das war auch früher schon so gewesen, ich konnte für mich sorgen, wie meine Mutter es mir immer eingeschärft hatte, ich fühlte mich mit der Welt und den Menschen verbunden. Ich konnte getrost auf alle bevorstehenden Tage vertrauen.

Jetzt bin ich obdachlos, wenn auch nicht im wörtlichen Sinn. Ich habe eine Fluchtwohnung. Es herrscht eine Pandemie, und die Isolation in mir schreit. Wir haben einen Lockdown, alle sind gehalten, sich mit ihren Leuten in ihrem Zuhause zusammenzudrängen, alle Orte, an denen man mit anderen zusammen sein kann, sind geschlossen, die meisten Arbeitsplätze sind geschlossen, die Grenzen sind geschlossen, Leute gebären und sterben allein, während die Regierung über unsere Familien, Haushalte und Kohorten spricht. Über Zusammenhalt, Gemeinschaft und gemeinsame Nachbarschaftseinsätze. Als gäbe es keine Menschen, die allein leben, ohne Partner, deren Familie in einer anderen Stadt oder im Ausland ist. Um mich herum herrscht aschfarbene Stille.

Immer häufiger schnappe ich mir morgens meine Joggingschuhe, um das Gift aus dem Körper zu kriegen, dann hetze ich wie eine Verrückte den Berg hinter dem Block hinauf. Mit angerissenen Menisken laufe ich im Morgentau durch den Wald bei Ekeberg. Der Blick auf den Fjord und die Oslo-Inseln hilft nicht, auch der Anblick der Anemonen und der hübschen bitteren Wegwarte hilft nicht im Geringsten gegen das toxische Erinnerungslabyrinth, dem ich zu entfliehen versuche. Ich laufe auf die naturgetreue Skulptur Walking Woman zu. Die Frau scheint im Wald auf mich zuzukommen, sie ist das exakte Gegenteil von mir: entschlossen, aufrecht, frei. Einmal morgens flog ein Kranich über sie hinweg. Als ich an ihr vorbeilaufe und es nun wieder bergab geht, schlage ich ihr auf den Po und bitte sie, auf mich aufzupassen und mich zu beschützen.

Abends trinke ich heißen Tee mit Honig, versetzt mit reichlich Sliwowitz, wie ich es von meiner slowenischen Großmutter gelernt habe. Meine Lippen werden davon heiß und wund, der Hunger nagt an meinen Gedärmen, ich schlafe in meinem neuen IKEA-Bett, schlafe in meiner Nonnenzelle für kurze Morgenstunden ein, eine Mutter aus Stein. Und jeden Tag wache ich mit der Gewissheit auf, dass ich dem Menschen, den ich so viele Jahre geliebt habe, gleichgültig geworden bin. Das Gefährliche an diesem Zustand ist, sagt mir das mattgraue Gefühl in meinem Körper, dass ich mir selbst auch gleichgültig werde. Ich lese ein Interview mit der Autorin Joyce Carol Oates, in dem sie sagt: »Wenn man nicht allein ist, ist man beschützt. Beschützt vor dem grellen, unversöhnlichen, unaussprechlichen und unbeschreiblichen Schrecken der Einsamkeit. Beschützt vor dem Wissen um die eigene Unbedeutsamkeit, die vermüllte Seele.« Früher war ich nicht kleinzukriegen, ich stand wieder auf und fand Möglichkeiten, heute verharre ich auf allen vieren.

Ein paar Wochen später wache ich morgens auf und sehe, dass sich der Nebel über Oslo gelegt hat, vor meinem Wohnblock ist der graue Himmel wie eine Wolldecke auf die Straße gesunken, die Dunkelheit heftet sich an den Tag. Der Asphalt glänzt grauschwarz, alles ist grau und dunkel, obwohl der Frühling Ende Mai schon rasch voranschreitet. Einzelne dunkle Menschengestalten eilen vorbei, um mit dem Nebel und dem Grau zu verschmelzen, mein Herz ist pechschwarz, unter den Augen habe ich dunkle Ringe.

Zum Glück wurden die Pandemierestriktionen etwas gelockert, und ich kann mit dem Fahrrad von Ost nach West durch die ganze Stadt radeln, um zum Friseur zu gehen. Stück für Stück wechsle ich fast alles aus meinem früheren Leben aus. Meinen Mann. Mein Zuhause. Meinen Stadtteil. Ein paar Freunde. Die frühere Schwiegerfamilie. Nicht die Friseurin. Sie gehört mir. Ich bekomme ein Handtuch um den Nacken, damit ich mich an das Waschbecken lehnen kann, während sie mir die Haare wäscht. Wir tragen beide eine Maske. Sie lässt das warme Wasser über meine Kopfhaut laufen, ich schließe die Augen und atme aus. Nachdem sie das Shampoo ausgespült hat, massiert sie mir wie immer die Kopfhaut, die Schläfen und den Nacken. Starke, warme Hände. Sie hält meinen Kopf in ihren Händen. Die Friseurin, die ich für ihre Arbeit bezahle, hält meinen Kopf, ich weine und schäme mich dafür, dass sie sieht, was für ein unbeschützter Mensch ich geworden bin.

Meine Freunde sind mittlerweile zurückhaltender, sie beteuern nicht mehr ständig, wie stark ich bin, und erinnern mich nicht länger an alles, worauf ich stolz sein kann, das haben sie lange Zeit getan. Die selbstbezogenen Symptome der Verlassenen wirken abstoßend auf sie. Ich bin ein tiefer Brunnen, in den meine Freunde Verständnis, Geduld und Liebe werfen, aber alles sinkt in die Tiefe, ohne auch nur widerzuhallen. Weshalb sollte ich leben wollen, wenn ich nicht lieben darf? Stattdessen fragen mich meine Freunde, was ich im Urlaub mache. Ich fange an zu weinen. Ein solcher Mensch will ich nicht sein. Doch ich ernähre mich nun von der morbiden Plazenta des Verlassenseins.

Am nächsten Morgen stehe ich trotzdem auf und beschließe, die neue Bluse anzuziehen, die ich mir nach dem Friseurbesuch gekauft habe. Ich muss es machen wie die anderen, dachte ich, neue Klamotten kaufen, es geht um Hoffnung. Ich hasse es, Klamotten zu kaufen, habe mir aber diese Bluse gekauft, die von meinem üblichen Geschmack etwas abweicht. Das grüne Siebzigerjahre-Blattmuster hatte es mir angetan. Es betont meine Taille, meine derzeit durchtrainierten Hüften und meine schlaffen Brüste, die der gute alte Sport-BH etwas aufrichtet. Was mache ich da eigentlich, ich fühle mich wie verkleidet, aufgeregt und ängstlich wie auf der ersten Klassenparty in Mosjøen, als ich sechzehn war und mir die Kante gegeben habe, hoffnungslos verliebt in Bjørn, der lieber mit der hübschen, ruhigen, anmutigen Anne-Grete zusammen sein wollte, aber gern mit mir knutschte. Denn ich habe schon früh geknutscht, egal wie düster es in mir aussah, ich habe mich immer mit meiner Lust getröstet, als wäre sie ein Nuckeltuch, auch jetzt, wo ich niemanden mehr habe, mit dem ich sie teilen kann. Jetzt bin ich mein eigenes, stets williges Sexobjekt, mein Körper ein eifriges Tier, das leben will, egal, was um es herum passiert, unabhängig von meinem Willen. Als ich verlassen wurde, habe ich schnell begriffen, dass ich auf mein körperliches Tier hören muss, nichts anderes war mehr da. Mit allzu langen Pausen hallten meine Herzschläge in meinem Skelett wider, und ich wusste sofort, dass das hier der Anfang eines Absturzes mit ungewissem Ausgang war. Dennoch sagte mir ein Rest von Selbsterhaltungstrieb, dass ich starke Muskeln und Sex brauchte und keine Antidepressiva, die sie mir, wie ich wusste, nachwerfen würden. Ich brauchte Zugang zu meinen Gefühlen und Gedanken, auch wenn es verführerisch klang, als diese mich flüsternd zum Aufgeben bringen wollten, denn es schien, als wäre ich selbst Gegenstand meines Verlusts geworden, als könnte ich die entscheidende Selbstliebe nicht länger aufbringen. Dass ich das verhasste Teil, das niemand haben wollte und zu dem ich jetzt geworden war, am allerliebsten zerstören würde. Aber mein Körper, das kleine Tier, wollte am Leben bleiben, im Widerstreit zu meinem Willen und unabhängig von ihm. Darum habe ich derzeit trotz meines traurigen Gesichts ein durchtrainiertes Hinterteil, definierte Bizepse und eine starke Kernmuskulatur, auch um die Vulva und die Vagina, jene Muskeln, die für pulsierenden Blutdurchfluss sorgen und die Klitoris anschwellen lassen, sodass sich die äußerste Spitze unter den Schamlippen aufrichtet. Während des Orgasmus erigiert die Klitoris und pulsiert in spastischen Zuckungen, sie verläuft tief und weit zu beiden Seiten der Scheide. Sie braucht auf nichts Rücksicht zu nehmen, was beispielsweise den Penis belastet, nicht auf Wasserlassen und Reproduktion, die einzige Funktion der Klitoris besteht darin, mir Lust zu verschaffen und mich bei Laune zu halten, egal, wie ich darüber denke.

Ich stehe in meiner neu erworbenen Bluse in der Küche und rühre im Porridge, direkt vor meinem Fenster blicke ich auf eine giftgrüne Böschung hoch zur Straße, auf der die Busse fahren. Die dichte Vegetation ist anmaßend schön. Welch vergeudete Schönheit für eine tote Seele. Dieser erste Frühling allein, diese verdammten Frühlingsmonate, in denen ich mich aus reiner Höflichkeit am Leben halte. Ich kann nur mit Mühe die vorbeifahrenden roten Busse erkennen. Sie sind Anzeichen für Leben. Auf diesem steilen Hang habe ich noch nie einen Menschen gesehen, niemanden, der in meine schmale, längliche Küche schaut. Das erste von den Bäumen gefilterte Sonnenlicht des Morgens flimmert über die Küchenschränke. Ich sehe eine rothaarige oder vielmehr orangehaarige Katze, die im Slalom zwischen den Baumstämmen hindurchpest. Ein wildes, fast freies Leben, obwohl sie vermutlich kastriert ist oder die Pille kriegt. Ich bin liebesmäßig kastriert. Entliebt. Mit der mir verbliebenen Zärtlichkeit lehne ich mich an die Waschmaschine, und während sie unter den Zentrifugalkräften bebt, bebe auch ich und verstehe, dass ich mich neu erfinden muss. Ich kann nicht länger rücksichtsvoll und höflich sein. Wen interessiert das auch. Ich lache, als ich daran denke, wer ich in den letzten Jahren war. Stillstand. Die Maschine steigert das Tempo, ich steigere den sanften Druck.

Am nächsten Tag stehe ich im Wohnzimmer. In der kupferfarbenen Lampe über der Kommode sehe ich mein gekrümmtes Gesicht. Auf dem Tisch liegt noch die Silberfolie einer Schokolade, die ich gestern gegessen habe. In den Badezimmerrohren rauscht es, nachdem jemand in einem der Stockwerke über mir die Toilettenspülung betätigt hat. Ich lausche dem alltäglichen Geplauder über Wetter, Wind und nichts, von dem ich einmal ein Teil war. Ich habe einen Termin mit einem Masterstudenten verschwitzt, den ich im Fach Bühnenkunst betreue. Jetzt muss ich mich entschuldigen und einen neuen Termin vereinbaren. Die Kontrolle ist brüchig. Ich muss versuchen, den Alltag und die Arbeit im Griff zu behalten. Studierende betreuen und ein paar Stunden im Monat an der Theaterhochschule unterrichten ist mein Brotjob, der mir genügend Raum lässt, um für die Bühne zu schreiben, wie ich es in den letzten Jahren getan habe. Ein angefangenes Drama liegt schon viel zu lange herum. Was mich sonst immer in Schwung gebracht und mir geholfen hat, die Widrigkeiten der Realität zu vergessen, hat seinen Reiz verloren. Den Termin mit dem Studenten verschwitzt! Wo ich sonst nie etwas vergesse. Die Erinnerung ist ein Fluch. Liebeskummer ist wie die Angst nach einem Vollrausch, sich danebenbenommen zu haben, nur dass sie nie vergeht, eine schwere Bürde, die man nicht ablegen kann. Ich quäle mich nicht mit einer Schwere. Mich quält das eingebüßte Wurzelwerk. Die Leere.

Das grelle Licht, das durch die dreckigen Wohnzimmerfenster drängt, verheißt Sommer. Ich werde wie jeden Sommer am Orrestrand in Jæren stehen, Jæren mit seinen weißen Stränden, den in Sonne getauchten Sanddünen, am Horizont das glitzernde Meer. Nirgendwo Hindernisse. Es wird leer sein. Wenn ich mich umdrehe, werde ich die Nordsee im Rücken haben, und Mamas Asche, ihre karbonisierte Essenz, dürfte sich mit den Sandkörnern und dem Tang auf dem Meeresboden vermischt haben. Ich werde wie immer eine der höchsten Sanddünen erklimmen und ins Landesinnere schauen, sehen, wie die Schatten der Wolken in der Ferne über die blauen Konturen der Berge ziehen, der Himmel über mir wird eine weiße Fläche sein, so als hätte man den Überblick über das ganze Land und alles, was sich darin bewegt. Aber es wird ein Wüstenflimmern sein, die Wirklichkeit dieses Sommers ist eine andere.

Der Gedanke, dass ich Sommer für Sommer in die Landschaft von Jæren zurückkehren kann, gibt mir Halt, wo nichts anderes mehr selbstverständlich ist. Ich lausche den Reiseplänen und Schilderungen meiner Freunde, kann ihr Reisebedürfnis nachempfinden, aber mich zieht es in die Vergangenheit. Zurück zu den Orten, an denen ich gewesen bin. Vielleicht liegt es an den vielen Umzügen in meiner Kindheit, dass ich wiedersehen will, was einst verloren ging. Ich muss nur einmal an einem Ort gewesen sein, schon will ich dorthin zurück, will wieder im selben Haus wohnen, im selben Bett schlafen, durch dieselben Straßen streifen, in derselben Bucht baden und im selben Wirtshaus essen. Das gilt auch für Menschen. Ich will zu ihnen zurück.

In meiner Kindheit war das Gegenteil der Fall. Umzüge waren für die Familie eine Belastung. Für Mama, weil sie keinen der Umzüge wollte, für Papa, weil er nach Konflikten mit seinen Chefs wieder den Job wechseln musste, und für uns Geschwister, weil ein neues Zuhause, ein neuer Kindergarten, eine neue Schule und neue Freunde auf uns warteten. Die Stimmung war bei allen gedrückt. Ich war von der Last und der Trauer, einen Ort zu verlassen, befreit. Meine Aufgabe war eine andere. Ich musste in der gedrückten Familie die Lustige, Fröhliche und Optimistische geben. Stellt euch vor – eine neue Wohnung, eine neue Schule, neue Freunde! Für meine zwei Jahre ältere Schwester Sirin war es am schlimmsten. Sie fand nicht leicht neue Freunde, blieb oft für sich und war sowieso das schwarze Schaf in der Familie, obwohl sie die älteste war. Papa hatte sie als Sündenbock auserkoren. Sie ähnelte ihm am meisten.

Sirins Tod liegt jetzt drei Jahre zurück, und in letzter Zeit habe ich angefangen, mit ihr zu reden. So, als wäre sie erst jetzt zu mir zurückgekommen, nach der langen Zeit, die verstrichen ist, seit ich in der Palliativabteilung an ihrem Bett stand und meine tote, von der Krankheit bis zur Unkenntlichkeit entstellte Schwester angestarrt habe, doch sosehr ich sie auch anstarrte, mir begegnete nur die elementare Realität des Todes – die Abwesenheit.

An Ostern war sie erkrankt, ein aggressiver Krebs, der bereits in die Leber gestreut hatte, drei Monate später war sie tot. Ein Jahr später erfuhr ich, dass es das Jahr war, in dem Ulf sein Doppelleben mit einer anderen Frau begonnen hatte. Für mich werden die beiden Ereignisse für immer miteinander verbunden sein. Sirins Krankheit und Tod und dass ich, ohne es zu wissen, den Menschen verloren habe, der mir am nächsten war. Als würden sich diese Ereignisse gegenseitig bedingen. Ich verlor meine geliebte Schwester, ich verlor meinen geliebten Mann, und in der Zeit danach sollte mein geliebter Sohn auf die andere Seite des Globus ziehen. Wer sollte ich sein, wenn all das weg war?

Ich muss einkaufen, schultere den Rucksack und renne die Treppe hinunter. Der Kiwi-Markt am Fuß des Berges, kurz vorm Krankenhaus, ist das nächstgelegene Lebensmittelgeschäft. Das Osloer Krankenhaus strahlt etwas Vergangenes aus mit seinem von einer Mauer eingefassten Klostergarten. In meiner Fantasie sehe ich mich mit einem Buch und einer Art sanften milchigen inneren Stille unter einer der Eichen im Garten sitzen.

Ich gehe in den Kiwi, um fürs Abendessen einzukaufen, und drücke mich lustlos zwischen den Regalen herum, gleichzeitig schäme ich mich dafür, dass ich das Glück habe, völlig frei wählen zu können. Fisch oder Fleisch. Vegetarisches? Ein Hefebrötchen? Früher war ich eine effektive Einkäuferin mit Einkaufsliste. Aber es kommt vor, dass man die Kontrolle über Einkaufslisten, Termine und das eigene Leben verliert. Es passiert, wenn wir von einer Krankheit heimgesucht werden, jemanden verlassen oder verlassen werden. Es kann passieren, wenn wir aus irgendeinem Grund zu weit gehen und eine Grenze überschreiten. Genau dort nämlich liegt der Wahnsinn und der verführerische Rausch, denke ich, als ich unschlüssig vor der Kühltheke mit tiefgefrorenem Fisch stehe. Im Wissen darum, verlieren zu können, was wir lieben, und es nie mehr zurückzubekommen. Vielleicht fühlen wir uns dann am lebendigsten, wenn wir am Abgrund stehen, straucheln, aber noch nicht gefallen sind. Vermutlich ist er evolutionär in uns angelegt, dieser Kipppunkt zwischen Verantwortung, Fürsorge, Sicherheit und Lust, Grenzüberschreitung und Zerstörung. Wenn es nicht so wäre, bliebe alles einfach so, wie es war. Wir hätten über das rein Reproduktive hinaus kaum Lust auf Sex, würden keinen Sinn sehen in Abenteuern, im Risiko, in der Konkurrenz und der Kunst. Wir würden bei denselben Leuten bleiben, in derselben Herde, wären blinde Opfer von Inzest, würden vor lauter Wiederholungen und Langweile verdummen, wir würden niemals neue Menschen, Wege, Sprachen, Gedanken, Technologien finden. Vermutlich aber auch keine Kriege anzetteln, allenfalls ab und an jemandem eins überbraten. Ich lege eine Packung Kabeljaufilets in den Einkaufskorb.

Auf dem Rückweg den steilen Berg hinauf zu meinem Block überlege ich, dass ich mich damit abfinden muss, allein zu sein. Bestimmte Dinge sind passiert, ohne dass ich sie verhindern konnte. Oder denke ich das nur, um mich zu schützen?

»Und jetzt?«, höre ich Sirin fragen, »was machst du jetzt?«

»Jetzt entwirre ich die Zusammenhänge«, antworte ich, »wie ältere Menschen es tun, um meine Sünden auszumachen. Um dem Sumpf und dem Nebel zu entkommen. Ich hasse Geheimnisse und Lügen, auch meine eigenen, ich hasse Überraschungen. Die letzten Jahre waren voll davon.«

Oben angekommen stoße ich nach der großen Anstrengung einen Seufzer der Erleichterung aus, und plötzlich schreit es in mir wie aus einer frisch erweckten Seele, dass ich mich noch nie im Leben lebendiger gefühlt habe. Ehe ich erneut den Kopf senke.

Autor