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Alles, was wir verloren haben

hier erhältlich:

Lucy Durant war erst vierzehn Jahre alt, als sie ihren älteren Bruder Nolan verlor. Zuerst an seine paranoiden Wahnvorstellungen, als er zunehmend von UFOs und Verschwörungstheorien besessen war. Dann, als er spurlos verschwand.
Zehn Jahre später kämpft Lucy immer noch mit dem Verlust. Sie fühlt sich wie in einer Warteschleife gefangen und tut, was sie kann, um nicht an Nolan zu denken. Aber als eine Reihe mysteriöser Ereignisse Lucy in ihre Heimatstadt Bishop zurückführen, ist sie gezwungen, sich mit den verworrenen Erinnerungen ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, um endlich herauszufinden, was wirklich mit ihrem Bruder passiert ist.

Gone Girl" trifft auf "Akte X", bei diesem faszinierenden Sprung in die Tiefen der Erinnerung und des Schmerzes.«
Carrie La Seur, Autorin von »Denn wir waren Schwestern«

«Meisterhaft schafft es die Autorin zwei mögliche Szenarien vorzugeben: Entweder war Nolan paranoid - oder er wurde tatsächlich von den »Men in Black« verfolgt. Der Leser sollte niemandem trauen und alles infrage stellen! Perfekt für Fans von Joyce Maynard und Jennifer McMahon.«
Booklist


  • Erscheinungstag: 01.10.2018
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677936
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für dich, Dad, in Liebe

   1   

Lucy Durant stand auf dem Haus ihres Vaters, mit den Fußspitzen an der Dachkante, und blickte in einen schwarzen Abgrund hinunter. Es war fast Mitternacht, der Himmel mondlos. Tiefe Dunkelheit erfüllte den Vorgarten. Die Schwerkraft zog an ihren Schultern. Wie leicht es doch wäre, sich einfach fallen zu lassen, sich ins Vergessen zu stürzen. Wie hoch war es wohl? Sechs Meter? Zehn? Hoch genug jedenfalls, um sich alle Knochen zu brechen. Doch ihr war, als würde sie womöglich ewig in die Finsternis hinabstürzen, ohne je am Boden aufzuschlagen, falls sie wirklich springen würde.

Im Haus erklang lautes Gelächter. Gläser klirrten. Jazzmusik strömte hinter ihr aus dem offenen Dachbodenfenster. Die Verlobungsparty lief seit vier Stunden, und nichts deutete darauf hin, dass sie bald vorüber sein würde. Niemand hatte es bemerkt, als sie hinausgegangen war. Davor hatte sie auch niemand beachtet, während sie in der Wohnzimmerecke herumgestanden und auf ihre Füße gestarrt hatte. Das Augenmerk der Gäste galt allein Robert und Marnie, den glückstrunkenen Bald-Vermählten. An jedem anderen Tag wäre nichts dagegen einzuwenden gewesen. Aber die Party hatte ja ausgerechnet heute stattfinden müssen, am fünften Dezember – dem Tag, an dem vor zehn Jahren ihr Bruder verschwunden war.

Sie hatte Robert gebeten, einen anderen Termin zu finden. Jeder andere Samstag wäre in Ordnung gewesen, aber Marnie hatte auf dem Fünften bestanden. Sie und Robert hatten sich vor fünf Monaten am fünften Juli um 17.55 Uhr kennengelernt, als der Fahrstuhl, in dem sie standen, zwischen dem fünften und sechsten Stock stecken geblieben war. Sie hatten fünfundfünfzig Minuten festgesessen, ehe die Feuerwehr sie schließlich befreit hatte. Auf dem Feuerwehrfahrzeug hatte die Nummer 55 gestanden. Es sei Schicksal, sagte Marnie. Ihre Glückszahl sei immer die Fünf gewesen, und wenn das jetzt kein Zeichen war, dann wüsste sie auch nicht mehr. Das Universum habe sie und Robert zusammengeführt; nun wollte sie ihr märchenhaftes Happy End und sie bekam es auch.

»Wir haben nie großes Aufheben darum gemacht«, hatte Robert zu Lucy gesagt, als sie zu bedenken gab, wie unpassend es sei, dass die Verlobungsparty ausgerechnet an ihrem inoffiziellen Trauertag stattfinden sollte.

Es stimmte ja. In den letzten Jahren war der fünfte Dezember immer ohne großes Brimborium vergangen. Robert hatte den Tag nie erwähnt, und einige Male hatte selbst Lucy ihn vergessen, und hinterher hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie dieses wichtige Datum verschwitzt hatte. Aber es gab auch die anderen Jahre, wo sie in den Tagen vor und nach dem fünften Dezember eine düstere Schwermut erfasste. Die Jahre, in denen sie keinen Sinn darin sah, überhaupt aus dem Bett zu steigen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, um jemanden zu vermissen, und doch wurde der hohle Schmerz in ihrem Inneren nicht weniger.

Nachdem ihr Vater sich geweigert hatte, die Verlobungsparty zu verschieben, hatte Lucy versucht sich abzulenken, indem sie bei den Vorbereitungen mithalf. Sie verschickte die Einladungen und half beim Dekorieren des Hauses. Am Morgen des großes Ereignisses erbot sie sich sogar, Marnies fünfstöckige, achthundert Dollar teure Verlobungstorte von der Bäckerei abzuholen. Was danach geschah, war nicht ihre Schuld.

Ein paar Schritte neben dem Bäckereieingang hatte ein Straßenprediger sein Podium aufgebaut, einen umgedrehten Dreißig-Liter-Farbeimer, auf dem er barfuß stand und der sich unter dem Gewicht des Mannes bog. Die weiße Schmuddeldecke, die er sich wie eine Toga umgelegt hatte, war mit rosa Gänseblümchen gemustert und am Saum völlig ausgefranst gewesen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er auf die kleine Schar der Neugierigen, zeigte seine spitzen gelben Zähne. Sein schwarzes ungewaschenes Haar fiel ihm in knotigen Zotteln wirr auf die Schultern, im Bart hingen Essensreste. Er roch säuerlich von zu viel Sonne, überreif und schwärend. Mit krummen Fingern winkte er die Leute näher und verkündete: »Wir sind Teil von etwas Größerem, was ihr mit eurem armseligen kleinen Verstand nicht einmal ansatzweise begreift.«

Lucy blieb am Rand der Menge stehen und betrachtete den Mann. Sie hatte schon vor Jahren aufgehört, in den Gesichtern von Fremden nach ihrem Bruder Ausschau zu halten, aber der Straßenprediger war etwa in Nolans Alter, Mitte zwanzig, und obwohl sie ihren Bruder nie mit Bart gesehen hatte, stellte sie sich ihn bärtig ungefähr so vor wie diesen Typen dort. Sie musterte ihn genauer, die hängenden Schultern und schlaksigen langen Arme, erkannte den vertrauten Tonfall seiner Stimme, die Wut und den Schmerz einer gebrochenen Seele, eines Mann-Kindes, das einer größenwahnsinnigen Psychose erlegen war.

»Ich habe ein Geschenk erhalten«, erklärte der Straßenprediger mit einem Kifferlächeln. »Es besteht darin, die Zusammenhänge erkennen zu können.« Er hob eine Hand und ahmte mit wackelnden Fingern einen davonfliegenden Vogel nach. »Ich weiß, was kommen wird, und ich bin hier, um dafür den Weg zu bereiten.«

Dann richtete er seinen Blick auf Lucy. Die kalten blauen Augen sahen aus wie gefrorene abgrundtiefe Seen, umrandet von dunklem Indigo. Ganz anders als Nolans warme braune Augen.

Der Straßenprediger winkte ihr zu und rief: »Du und du und ich, wir drei. Sonne, Mond und Sterne … wir drei … so frei.«

Jemand warf ein paar Münzen in eine Dose, die vor dem Mann stand. Das Klimpern riss Lucy aus der Erstarrung. Sie wandte sich ab, voller Scham dafür, dass sie den Mann mit ihrem Bruder in Verbindung gebracht hatte, und ging in die Bäckerei, wo sie die Torte bezahlte, ohne sie sich vorher anzuschauen. Mit zitternden Händen trug sie sie zum Wagen. Sie fuhr zügig, hoffte, dadurch den Schuldgefühlen zu entkommen, die sie erfasst hatten. Der Straßenprediger war nicht ihr Bruder, aber wäre er es gewesen, hätte Lucy sich wahrscheinlich keinen Deut anders verhalten. Sie wäre weitergegangen, hätte den Blick gesenkt, hätte so getan, als würde sie ihn nicht erkennen – nur einer von Hunderten von Landstreichern, die in Los Angeles County auf ein paar schnelle Dollars aus sind.

Zu Hause lieferte sie die Torte in der Küche ab. Marnie hob den Deckel und schaute hinein. Sie stöhnte auf, fasste sich an die Brust. »Oh, Lucy«, entfuhr es ihr. Doch es war nicht die Stimme einer Frau, die sich über eine perfekte Verlobungstorte freute, sondern sie klang bestürzt.

»Was hast du getan?« Robert schaute in den Karton.

Die fliederfarbene Glasur war genau in der Mitte aufgebrochen. Die aufgetürmten Etagen waren abgesackt und verrutscht, offenbarten nun eine profane Schokotorte mit glänzender Himbeerfüllung. Lucy versuchte sie wieder zurechtzuschieben und die Glasur mit einem Buttermesser glatt zu streichen. Aber dann zeigte sich der nächste Riss und gleich noch einer, schmale, Unheil verbreitende Verwerfungslinien in der Glasur.

Sie versuchte zu erklären, was geschehen war. »Da war dieser Straßenprediger und all die Leute. Ich musste mich durch das Gedränge schieben, um durchzukommen.«

Dass der Mann sie an Nolan erinnert hatte, erwähnte sie nicht, denn ihr Vater hatte klargestellt, dass dies Marnies Tag sei und dass er nichts darüber hören wolle, was vor zehn Jahren geschehen war, nichts Deprimierendes, Unerfreuliches, Beunruhigendes. Schluss, aus.

Marnie seufzte, und als ihr Blick abermals auf die Torte fiel, hingen Tränen an ihren Wimpern.

»Wir können sie schneiden, ehe die Gäste eintreffen«, schlug Lucy vor. »Zu jedem Stück legen wir eine der hübschen lila Gartenblumen auf den Teller. Wie heißen die noch gleich?«

»Stiefmütterchen.« Robert hob die Tortenschachtel.

»Genau, Stiefmütterchen.« Lucy lächelte Marnie an, die reagierte jedoch nicht. »Ist ein wenig unkonventionell, aber bestimmt merkt es niemand, und falls doch, ist es denen eh egal, wenn sie einmal zu essen angefangen haben. Die Torte schmeckt noch genauso lecker. Sie hat halt einen leichten kosmetischen Schaden genommen, das ist alles. Sie ist bestimmt noch köstlich.«

Während sie noch plapperte, trug Robert die Torte durch die Küche und warf sie in den Müll.

Lucy wollte protestieren, doch Robert hob mahnend die Hand. »Ich weigere mich, meinen Gästen so ein Desaster zu servieren.«

»Robert …«, sagte Marnie, doch er verbot auch ihr das Wort.

»Ich rufe Donna an. Sie hat bestimmt die rettende Idee.«

Donna war die für das Party-Catering zuständige Frau. Sie war gut in ihrer Arbeit, aber wie sie das Wunder bewerkstelligen sollte, auf den letzten Drücker eine derart hochwertige Verlobungstorte herbeizuzaubern, konnte Lucy sich beim besten Willen nicht vorstellen. Doch Robert wollte sie nicht mit den Einzelheiten behelligen und verscheuchte sie aus der Küche wie ein kleines Kind. »Für heute hast du genug geholfen. Mach dich doch einfach rar, bis die Party beginnt. Und versuche bitte, heute Abend nicht noch irgendeinen Fauxpas hinzulegen. Meinst du, das schaffst du?«

Sie würde es jedenfalls versuchen.

Lucy blieb in ihrem Zimmer, bis um kurz nach acht die ersten Gäste eintrudelten. Dann ging sie nach unten. Ein Tisch nahe der Eingangstür war bald vollgestellt mit teuren Weinflaschen und aufwendig verpackten Geschenken. Auf einem kleineren Tisch in der Zimmermitte stand eine exakte Nachbildung der Torte, die Lucy zerstört hatte. Lucy ging hinüber; sie wollte nachschauen, ob die Torte echt war, doch eine groß gewachsene Frau im Anzug verscheuchte sie. Marnie wirbelte von Gast zu Gast, ein schimmernder Regenbogen aus Violett und Blau, das elegante Kleid schmiegte sich perfekt an ihre Kurven, das Haar war gestylt wie bei einer Königin, der Drei-Karat-Diamantring schillerte an ihrem Finger, heller noch strahlte ihr Lächeln. Sie hauchte den Leuten Küsse auf die Wangen, plauderte und lachte und verzauberte Robert und die Gäste mit ihrer Jugendlichkeit und Heiterkeit. Einst war sie Ballerina gewesen, das behauptete sie jedenfalls, und heute Abend bewegte sie sich auch wie eine, voller Anmut und in dem Bewusstsein, dass alle im Raum sie beobachteten.

Außer Lucy waren alle gekleidet, als würden sie bei einem Gala-Event über den roten Teppich schreiten. Lange fließende Kleider, Juwelen, maßgeschneiderte Anzüge, Krawatten, polierte Schuhe. Lucy wirkte deplatziert in ihrer schwarzen Röhrenjeans und dem marineblauen Schlabberpulli, ihr rostrotes Haar zu einem unauffälligen Pferdeschwanz zurückgebunden. Aber die Klamotten waren bequem. Es war Roberts einziges Zugeständnis, ein Weg, um das leise Schuldgefühl zu lindern, das er noch verspüren mochte, weil er die Verlobungsparty auf den fünften Dezember gelegt hatte: Lucy durfte anziehen, was sie wollte. Ohne die neongrün und knallrosa Laufschuhe an ihren Füßen hätte sie sich kaum von der preußischblau gemusterten Wandtapete abgehoben, wäre nahezu darin verschwunden. Marnie verzog das Gesicht, als sie Lucys Schuhe sah, sagte aber nichts.

Lucys abergläubischer Eifer, nichts anderes an den Füßen zu tragen, war beinahe schon lächerlich. Keine Ballerinas, keine Sandalen, absolut keine Stöckelschuhe. Selbst in Hausschuhen oder barfuß fühlte sie sich schon nach kurzer Zeit unwohl. Sie wusste, dass es irgendwie krank war, aber sie konnte nicht anders; die Fersenpolster und straff gebundenen Schnürsenkel gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit, und sie wusste, dass sie, falls alle anderen Methoden der Fortbewegung versagten, zumindest die richtigen Schuhe anhätte. Zu Fuß war sie nämlich schnell wie der Wind.

Lucy verdrückte sich in eine Ecke und sah zu, wie immer neue Leute eintrafen, die meisten waren ihr fremd. Sie erkannte einige von Roberts Geschäftsfreunden, konnte sich aber nicht an die Namen erinnern. Sie stellten sich ihr nicht vor, sie bemerkten sie gar nicht. Robert hatte ihr angeboten, einige ihrer eigenen Freunde einzuladen. Er hatte es so gesagt, als ob sie aus einem riesigen Freundeskreis hätte auswählen können. Manchmal unterhielt sie sich im Coffeeshop unten an der Straße mit der Bedienung, redete mit ihr über Bücher und das Wetter und über die Frau, die jeden Tag erschien und nichts außer Milchschaum bestellte; aber die Bedienung zur Verlobungsfeier ihres Vaters einzuladen wäre dann doch ein bisschen zu viel des Guten gewesen, zu persönlich für jemanden, der nur nett mit einem redete, weil er sich davon ein höheres Trinkgeld versprach. Dann gab es noch die Leute in ihrer Laufgruppe, aber auch die waren nur lose Bekanntschaften, mit denen sie lediglich die Vorliebe zum Joggen teilte. Vielleicht war sie ja wirklich asozial. Vielleicht gefiel es ihr ja so. Solange sie zu ihren Mitmenschen Distanz wahrte, musste sie nicht über persönliche Dinge reden, wurde nicht mit den unweigerlichen Fragen nach Familie und Geschwistern und ihrer Kindheit konfrontiert, musste sich nicht erklären.

Die Party wurde lauter und lauter, während immer neue Gäste eintrafen und die ersten beim dritten oder vierten Drink angelangt waren. Die Kronleuchter warfen goldene Prismen auf das frisch gebohnerte Eichenparkett. Jemand fragte mit lauter, für alle hörbarer Stimme, wie es möglich sei, dass eine so schöne junge Frau einen so hässlichen alten Sack heiraten wolle. Jemand anderes antwortete, Geld habe die Eigenschaft, jeden gut aussehen zu lassen. Robert und Marnie stimmten lautstark ins anschließende Gelächter ein. Dann schmiegte sie sich an ihn, schaute ihm in die Augen und sagte: »Ich glaube, Liebe macht verrückt. Denn so fühle ich mich, völlig verrückt, wie durchgedreht. Das kommt nur von deiner Liebe zu mir.«

Ein Raunen ging durch die Schar der Partygäste. Robert schwang Marnie zurück, beugte sich über sie und küsste sie wie ein verknallter Teenager, dem es völlig egal war, wer ihm beim Knutschen zusah. Pfiffe und Gejohle, ein Trinkspruch; die Party nahm ihren Lauf.

Es war zu viel für Lucy. Die Musik, das Glitzern, die paillettenbesetzten Kleider und geschminkten Gesichter, der Alkoholgeruch im Atem eines jeden, Marnies kurze Rede. Nach diesem Scheißtag nun mit ansehen zu müssen, wie glücklich Robert und Marnie waren, wie sie im Jetzt lebten, unbelastet von der Vergangenheit, ließ etwas in Lucy aufbrechen und sie musste die Flucht ergreifen. Sie brauchte frische Luft. Sie trug ihr Gingerale-Glas die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal und stieg in ihrem Zimmer aus dem Fenster auf das schräge Hausdach, wo sie endlich allein war.

Lucy bezweifelte, dass irgendeiner von Roberts Freunden über Nolan Bescheid wusste, und sie bezweifelte sogar, dass Marnie viel mehr über Nolan wusste als diese Leute da unten. Robert war ein wohlhabender Selfmade-Mann, der sein Geld mit cleveren Investitionen in Hightech-Firmen gemacht hatte, der in einem hübschen Haus in einem hübschen Viertel wohnte, der ein zweites Haus in Aspen besaß, der einen Mercedes und manchmal einen Porsche fuhr, der noch immer volles Haar und ein markantes Aussehen hatte und der demnächst eine ehemalige Balletttänzerin heiraten würde, die halb so alt war wie er. Von außen betrachtet war sein Leben perfekt. Es war nicht verwunderlich, dass er nicht über seinen peinlichen Sohn sprach. Lucy war ihm schon peinlich genug. Mit vierundzwanzig wohnte sie noch bei ihrem Vater, arbeitete für ihn als Teilzeit-Sekretärin, hatte keinen College-Abschluss, keinen festen Freund und keine Zukunftsaussichten.

Trotz der späten Stunde war der Himmel über ihr trübe, sienafarben, ein Püree aus Meeresnebel und Stadtlichtern, der die meisten Sterne verdeckte. Venus und Mars und einige der nächsten und hellsten Sterne erkannte man zwar, aber auch sie waren wässrig und blass und schwer auszumachen. Einst hatte sie die Namen dieser Handvoll von Punkten gekannt, und dazu noch die einiger anderer, deren Licht zu schwach war, um den Smog über Los Angeles zu durchdringen. Als Mädchen hatte sie an einem viel dunkleren Ort gewohnt, und an lauen Sommerabenden hatten sie und ihr Bruder draußen im Sand gelegen und mit den Fingern die Sternenkonstellationen nachgezeichnet. Lang, lang war es her, und sie hatte keine Anstalten gemacht, sich die Namen der Sterne einzuprägen. Die Sterne und ihre Geschichten waren verloren für sie.

Auf der anderen Straßenseite erstrahlten die von einem Bewegungsmelder gesteuerten Lichter und illuminierten ein Garagentor und eine leere Einfahrt. Lucy blickte prüfend auf die Straße und den Gehsteig und in die enge Gasse zwischen dem Haus und dem daneben. Doch sie sah nichts, was das Angehen der Lichter ausgelöst haben könnte. Kurz darauf gingen sie wieder aus, überließen die Einfahrt wieder der Dunkelheit.

Sie nahm einen Schluck vom Gingerale und schwenkte die Eiswürfel, die klirrend ans Glas stießen. Jetzt bereute sie, nicht den Champagner genommen zu haben, den ihr Vater ihr angeboten hatte. Sie war sorgsam darauf bedacht, Alkohol zu meiden; sie wusste, wie er sie veränderte, sie schwummerig und ihrer Mutter zu ähnlich machte, aber heute war ein Tag, an dem sie nichts dagegen gehabt hätte, alles zu vergessen. Es wäre nicht schlecht, morgen aufzuwachen und sich nicht mehr an die Party und Marnies kaputte Torte zu erinnern, oder an den verrückten Straßenprediger, der sie viel zu sehr an ihren Bruder erinnert hatte. Es wäre nicht schlecht, die Worte verstummen zu lassen, die ihr in einer Endlosschleife durch den Kopf gingen, pulsierend im Rhythmus der Musik von unten. Zehn Jahre heute, zehn Jahre heute, zehn Jahre heute.

Sie war schon im Begriff, wieder hineinzuklettern und nach unten zu gehen, um sich irgendetwas Starkes in ihr Gingerale zu schütten und den Schleier des Vergessens über alles zu breiten, als unvermittelt der Strom ausfiel. Man hörte ein lautes Ploppen, und dann wurde die ganze Straße schwarz. Auf den Veranden der Nachbarn ging simultan das Licht aus, die Häuser versanken im Dunkel. Unten verstummte die Musik, die Gäste seufzten überrascht auf.

Stromausfälle waren nichts Ungewöhnliches, besonders wenn im Hochsommer die Klimaanlagen auf Hochtouren liefen, aber es war Dezember und durchschnittlich warm, vielleicht etwas kühler als normal. Man hatte keine quietschenden Bremsen gehört, kein metallisches Knirschen, keinen Hinweis darauf, dass jemand gegen einen Strommast gerast war. Von ihrer Position aus konnte Lucy über die Dächer der Nachbarn hinwegblicken und sah, dass die umliegenden Straßenzüge hell erleuchtet waren. Nur in ihrer Straße lagen eine Reihe von Häusern rechts und links neben dem ihres Vaters im Dunkeln.

Der Strom blieb nicht lange weg. Es reichte, um ein paarmal verwirrt zu blinzeln, dann ertönte ein weiteres Ploppen und die Straßenlichter erwachten wieder flackernd zum Leben. Im selben Moment erstrahlte auf den Veranden das Licht, unten explodierte die Musik. Saxofone und Trompeten setzten an der Stelle ein, wo sie aufgehört hatten. Die Gäste jubelten, ein anschwellendes Crescendo, gefolgt von Gläserklirren und rauschendem Gelächter.

Auch Lucy versuchte, den Vorfall wegzulachen, doch etwas weckte ihre Aufmerksamkeit – am Ende der Einfahrt neben der Hecke, die ihren Rasen vom Gehsteig trennte. Etwas oder jemand versteckte sich in einem Tupfer tiefer Dunkelheit, dort, wo das Straßenlicht nicht hingelangte. Vielleicht war es gar nichts, nur eine optische Täuschung. Dann aber bewegte sich der Schatten. Er schob sich etwas vor und zog sich wieder zurück, als hätte er gespürt, dass man ihn beobachtete. Ein Waschbär. Es war nur ein Waschbär. Was sollte es sonst sein? Doch noch während sie dies dachte, rief ein anderer Teil ihres Verstands, dass der Schatten viel zu groß für einen Waschbären war.

Sie starrte darauf, wartete auf die nächste Bewegung, wollte den Schatten kraft ihres Willens dazu zwingen, sich und sein Waschbärenantlitz zu zeigen, aber der Schatten hielt sich geduckt, rührte sich nicht. Je länger sie hinsah, desto größer wurden ihre Zweifel. Da war nichts, nur ein dunkler Fleck im toten Winkel, das war alles. Ihr Verstand schlug Kapriolen, weil ihr Vater wieder heiraten würde, weil heute der fünfte Dezember war und weil sie einem Straßenprediger begegnet war, der sie an Nolan erinnert hatte. Ihr Verstand suchte nach Mustern, erfand Gestalten, verwandelte Leere in Materie, füllte die Welt mit Monstern.

Ob Einbildung oder nicht, Lucy schleuderte ihr Glas auf was immer sich an der Hecke versteckte. Der Wurf war zu kurz. Das Glas schlug mitten in der betonierten Einfahrt auf und explodierte in Myriaden winziger Splitter, deren Funkeln man besser erkannte als das Funkeln der Sterne am Nachthimmel.

   2   

Der Pfad führte mitten durchs Unterholz, an den Eichen entlang. Lucy lief mit lockeren Armen und erhobenem Kopf, machte lange Schritte, verschlang die Strecke förmlich. Die Sonne stand hoch genug, um sie zu blenden und ins Schwitzen zu bringen. Aber auch im schattigen Abschnitt verlangsamte sie ihre Schritte nicht, im Gegenteil. Sie zog scharf an. Irgendwo in der Nähe plätscherte ein Bach. Sie rannte an einem alten Mann und seinem Jack-Russell-Terrier vorbei. Der Hund jagte ihr hinterher und schnappte nach ihren Beinen, war aber nicht schnell genug. Zwei Meilen waren geschafft. Drei weitere lagen vor ihr, ehe sie umkehren und vielleicht erwägen würde, das Tempo ein wenig zu drosseln.

Sie versuchte, dem dunklen Stichfaden davonzulaufen, der sich anschickte, sich ihr Rückgrat hinaufzufressen und in Gestalt einer Migräne in ihr Hirn zu gelangen. Sie zog das Tempo erneut an, gab Gas, bis es nur noch ihre Schuhe auf dem Erdboden gab, ihren schmerzenden Brustkorb, die Bewegung und die verschwommen vorbeifliegenden Bäume.

Zwei Tage vor ihrem achtzehnten Geburtstag hatte Lucy geglaubt, Nolan zu sehen. Robert hatte sie für eine Campus-Tour zur University of Washington geschleift, obwohl er wusste, dass sie sich vor ihrer endgültigen Wahl eine einjährige Auszeit nehmen wollte. Robert echauffierte sich darüber. Natürlich würde sie aufs College gehen. Keines seiner Kinder würde Teil der ungebildeten Unterschicht werden. Außerdem habe man ihr ein Sport-Stipendium angeboten, und das dürfe sie sich keinesfalls entgehen lassen. Sie verriet ihm nicht, dass sie es längst abgelehnt hatte.

Sie gingen über das Campus-Gelände, als sie ein vertrautes Lachen vernahm. Ein lockeres, ansteckendes, lautes Lachen, dessen Urheber es nicht kümmerte, ob Fremde ihn hörten. Sie verfolgte das Lachen zu einem dunkelhaarigen Jungen, der sich vor der Bibliothek mit einem Mädchen unterhielt, das braune Locken hatte und eine schwarz gerahmte Brille trug. Der Junge war groß und schlaksig und strich sich ständig das Haar aus den Augen. Das Mädchen sagte etwas, und der Junge warf den Kopf in den Nacken und lachte erneut, lud die ganze Welt zum Mitlachen ein. Und in dem Moment schien alles ganz einfach zu sein: Nolan war am Leben. Er hatte sich in Seattle etwas Neues aufgebaut. Er war Student an der University of Washington. Er hatte eine Freundin, die ihn zum Lachen brachte.

Es hätte Lucy genügt, wenn er es denn wirklich gewesen wäre. Sie hätte keine Erklärung von ihm gebraucht, keine Angabe von Gründen oder das Versprechen, sich wieder zusammenzutun, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Sie hätte nichts anderes gebraucht als das Wissen, dass es ihm gut ging. Dass er lebte und glücklich war. Aber dann blickte der Junge in ihre Richtung und das Wunschbild verlosch. Sein Gesicht war zu rund, die Nase zu breit, die Lippen waren zu voll, die Augen zu hell. Lucy machte auf dem Absatz kehrt, rannte zur nächsten Toilette und übergab sich. Ihrem Vater sagte sie, es sei eine Lebensmittelvergiftung, sie habe verdorbenen Kartoffelsalat gegessen. Sie flogen einen Tag früher zurück und redeten während des dreistündigen Flugs kein einziges Wort miteinander.

Nach anderthalb Stunden überflogen sie die Berge der Sierra Nevada. Aus dieser Höhe sah das weitläufige Gebiet menschenleer und bar jeden Lebens aus, obwohl sie wusste, dass es nicht so war. Lucy starrte auf das Terrain herab, das ihr einst so vertraut gewesen war, nun aber einer lebensfeindlichen Marsoberfläche glich. Sie stellte sich vor, dass ihr Bruder irgendwo dort unten herumirrte, dass er Jahr um Jahr im Gestrüpp zwischen den Dünen im Kreis lief, gegen Hitze und Sandstürme kämpfte, nach Wasser grub, ab und an ein paar Regentropfen auffing, Blätter kaute, sich von Ameisen und Käfern ernährte und versuchte, nach Hause zu finden. Dann kehrten ihre Gedanken zu dem Jungen vor der Bibliothek zurück, zu ihrer Hoffnung und Verzweiflung. Und in diesem Moment beschloss sie, nicht mehr überall nach Nolan Ausschau zu halten; es musste aufhören. Falls er irgendwo dort draußen wäre – wovon sie nicht überzeugt war –, dann könnte er sie mühelos ausfindig machen, wo immer er sich aufhielt und was immer er ansonsten tat. Nach dem Washington-Trip hatte sie sich sechs Jahre lang am selben Ort aufgehalten. Sie war nicht gereist, hatte selten den Zehn-Meilen-Radius um das Haus ihres Vaters verlassen. Aber das würde sich nun ändern.

Am frühen Morgen rief Robert sie in sein Arbeitszimmer. Sie glaubte, er wolle mit ihr über die Torte reden, sich vielleicht entschuldigen, aber als sie sich auf den hochlehnigen antiken Stuhl setzte, den Marnie bei einer Haushaltsauflösung gekauft hatte, hob er zu dem Vortrag an, den er Lucy jedes Jahr um diese Zeit hielt. »Als ich so alt war wie du, war ich verheiratet, hatte eine Hypothek und war zum Leiter der Kundenberatung befördert worden. Ich überlegte, mich selbstständig zu machen und Kinder in die Welt zu setzen. Ich hatte Pläne.«

»Ich habe auch Pläne«, sagte Lucy.

»Die würde ich gerne hören.« Robert verschränkte die Finger und lehnte sich in seinen schwarzen Bürosessel zurück. Der Mahagoni-Schreibtisch nahm das halbe Zimmer ein, trotzdem wirkte ihr Vater dahinter nicht klein. Im Gegenteil, der Schreibtisch hatte Puppenhausgröße, und Robert war der Riese.

Sie wusste, was er dachte. Hier war sie, vierundzwanzig, in der Blüte ihres Lebens. Sie sollte auf eigenen Beinen stehen, sollte tun, was vierundzwanzigjährige Frauen eben tun. Die Welt bereisen, mit älteren Männern schlafen, einen Einstiegsjob bei einem Fortune-500-Unternehmen haben, ihren Chef bezirzen, berufliche Erfolge sammeln, in Bars und Clubs gehen, auf Underground-Rockkonzerte, neue Leute treffen, tanzen, trinken, Erfahrungen sammeln. Robert wollte nur das, was jeder Vater für seine Tochter wollte. Berufliches Fortkommen. Ausreichend Geld für ein sorgenfreies Leben. Eine erfüllende Liebesbeziehung. Er wollte sie glücklich sehen. Doch er schien nicht zu begreifen, wie leicht ein Mensch hängen bleiben konnte. Es gab so viele Sackgassen im Leben, so viele falsche Schritte, die man versehentlich tun konnte, so viele Abwege, und das alles und noch viel mehr lähmte sie. Es war sicherer, sich nicht vom Fleck zu rühren. So konnte man sich nicht verirren.

Auf dem Schreibtisch stand eine große Bronze-Statue, ein Weißkopfseeadler mit ausgebreiteten Schwingen, die Krallen um einen Ast geschlossen. Lucy schaute auf die Statue, statt ihren Vater anzusehen, als sie sagte: »Hast du mal wieder mit Detective Mueller gesprochen?«

Robert beugte sich vor und verschob die Statue ein wenig, sodass der Sockel nun genau mit der Tischkante abschloss. »Du weißt doch, wie es läuft. Wenn es etwas Neues gibt, rufen sie an.«

»Aber wir können doch auch anrufen.« Sie wusste, dass es verschwendete Zeit wäre. Der Detective würde ihnen das Gleiche erzählen, was er von Beginn an erzählt hatte. Ohne neue Spuren, Hinweise, einen neuen Augenzeugen wären sie in einer Sackgasse und könnten nichts anderes tun, als abzuwarten. Manche Vermisstenfälle würden sich Jahre später aufklären. Manche würden nie aufgeklärt. Oft hing es von ein wenig Glück und dem richtigen Timing ab.

»Ich habe dich nicht hereingerufen, um über deinen Bruder zu reden.« Robert stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Er musterte sie stirnrunzelnd, überlegte, welchen Fehler er mit ihr gemacht hatte, wie er an so ein Versagerkind hatte geraten können, an zwei Versager, wenn man Nolan dazuzählte.

»Wir wollen nur das Beste für dich, Luce«, sagte er.

Wobei »wir« er und Marnie waren. Als würde deren Meinung zählen, als ob sie mit ihren neunundzwanzig Jahren so viel mehr Lebenserfahrung besäße als Lucy.

»Vielleicht hätte ich strenger mit dir sein sollen«, sagte er. »Aber ich weiß, wie schwer es für dich war, und ich wollte dir Zeit zum Trauern lassen – und um dir Gedanken über deine Zukunft zu machen. Ich denke, das habe ich getan. Ich denke, ich habe dir mehr als genug Zeit gegeben. Und da Marnie und ich nun bald heiraten … tja, sie findet …« Robert verschränkte die Finger. »Wir halten es für den richtigen Zeitpunkt.«

Lucy versuchte zu begreifen. Der richtige Zeitpunkt wofür? Ihr schauderte bei der Vorstellung, wie eine hochschwangere Marnie durch das Haus watschelte, oder so tun zu müssen, als würde sie sich auf das neue Geschwisterchen freuen, das ihr nicht einmal ansatzweise den verlorenen Bruder ersetzen würde.

»Bis Ende des Monats kannst du natürlich bleiben«, sagte Robert. »Weihnachten verbringst du noch bei uns. Und wenn du möchtest, helfen wir dir mit der Kaution und der ersten Monatsmiete. Sozusagen als Einweihungsgeschenk für dein erstes eigenes Apartment.«

Er setzte sie vor die Tür. Sie hatte es kommen sehen. Sie war überrascht, dass es nicht längst geschehen war, etwa als sie gleich im ersten Jahr das College geschmissen hatte. Dennoch traten ihr Tränen in die Augen.

»Außerdem solltest du dir demnächst einen neuen Job suchen.« Zumindest dieser Teil schien ihm leidzutun. »Eine richtige Arbeitsstelle. Etwas mit einem guten Gehalt und vernünftigen Sozialleistungen. Du kannst deinen Minijob bei mir natürlich behalten, falls du das Extrageld brauchst. Aber ich glaube, es wird dir guttun, mal rauszukommen und zu sehen, wie die Dinge im Rest der Welt laufen.«

Was hätte sie anderes tun können? Sie hatte seinem Plan zugestimmt und höflich gelächelt, dann hatte sie ihre Laufschuhe geschnürt und war in den Park am Ende der Straße gerannt.

Zehn Jahre lang hatte Robert sie vor der erbarmungslosen Neugier der Öffentlichkeit geschützt, ihr erlaubt, sich vor ihren Erinnerungen zu verstecken, einer verworrenen Vergangenheit, die sie nicht mehr verstand – falls sie sie überhaupt je verstanden hatte. Zehn Jahre lang hatte sie sich verkrochen, alles verdrängt, versucht, nicht an Nolan zu denken, an die Nacht, in der er verschwunden war. Zehn Jahre lang hatte sie gehofft, jemand würde das Rätsel schließlich lösen. Vergebens. Niemandem war es gelungen, einen konkreten Anhaltspunkt zu liefern, und ihre Hoffnung hatte sich in Verzweiflung verwandelt, eine dornige Ranke, die ihr Herz umschlang und es langsam ausbluten ließ.

Lucy erreichte das Ende des Pfads, drehte um und lief zurück. Im ersten Jahr auf der Highschool war sie dem Leichtathletik-Team beigetreten, um einen Jungen zu beeindrucken, von dem sie gedacht hatte, dass sie ihn für immer lieben würde. Ein paar Mal hatte sie es sogar aufs Treppchen geschafft, aber ein Star wie Patrick war sie nicht geworden. Keiner von ihnen. Er war ein geborener Läufer, war immer Erster, egal ob beim Training oder bei Wettbewerben, während sich die anderen die Lunge aus dem Leib hechelten. Nach Nolans Verschwinden hatte sie den Kontakt zu ihren alten Freundinnen und Freunden verloren, ebenso wie zu Patrick, doch mit dem Laufen hatte sie weitergemacht – die einzige Liebe, die ihr geblieben war.

Merkwürdig, wie deutlich sie sich an manche Dinge erinnern konnte, während anderes vor ihrem inneren Auge verschwamm, im Nebel der Jahre verblasst oder schlicht der Vergessenheit anheimgefallen war. Der Tag, an dem Nolan verschwunden war: Sie wusste noch genau, wann sie an jenem Morgen aufgewacht war, was sie zum Frühstück gegessen und wann sie das Haus verlassen hatte. Doch wie sie nachts nach Hause gekommen war – mehrere Stunden schienen wie ausradiert, komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Zwar erinnerte sie sich, was sie den anderen nach seinem Verschwinden erzählt hatte, doch manches hatte sie einfach nur so dahergeplappert, einfach um irgendetwas zu sagen, um nicht wie eine Idiotin dazustehen, die sich plötzlich nicht mehr an ihren Tagesablauf erinnern konnte. Wie auch immer, die Erinnerung an das, was wirklich geschehen war, würde ihn auch nicht zurückbringen, wenngleich sie sich manchmal Was, wenn doch? fragte.

Ein paar Dinge wusste sie ganz sicher, durch Zeugenaussagen und Beweismittel erhärtete Fakten, an denen es nichts zu rütteln gab. Ja, genau so ist es passiert.

Am fünften Dezember 1999 hatte der sechzehnjährige Nolan Durant sein Elternhaus verlassen, mit einem Rucksack, in dem sich Klamotten, Proviant, seine Zahnbürste und mehrere Hundert Dollar in bar befunden hatten. Er war nie zurückgekehrt. Vier Tage später, am neunten Dezember, hatte Nolans Mutter ihn beim Inyo County Sheriff’s Department offiziell als vermisst gemeldet, nachdem ihr klar geworden war, dass Nolan sich weder bei seinem Vater noch bei Freunden aufhielt und auch nicht irgendwo allein in der Wüste zeltete. Nachrichtenagenturen und Zeitungen wurden informiert. Ein paar Tage später meldete sich ein Nachbar der Durants, Mr. Stuart Tomlinson, bei der Polizei und gab zu Protokoll, dass er am fünften Dezember gegen Mitternacht Schreie gehört und vom Fenster aus gesehen habe, wie Nolan jemanden in seinen Pick-up schubste und dann mit kreischenden Reifen losfuhr. Über diese zweite Person konnte er allerdings nichts Genaueres sagen – es sei zu dunkel gewesen, und von seiner Position aus habe er sie nicht richtig erkennen können. Er wusste nur, dass Nolan mit seinem Pick-up davongefahren und nicht allein gewesen war. Vielleicht hätte die Polizei unter anderen Umständen intensiver ermittelt. Vielleicht wäre alles ganz anders gelaufen, wäre Nolan ein Mädchen oder erst sechs Jahre alt gewesen. Doch das Sheriff’s Department, das aufgrund der bevorstehenden Feiertage ohnehin unterbesetzt war, wurde plötzlich mit panischen Anrufen wegen Y2K, des befürchteten Computerchaos zur Jahrtausendwende mit möglichen Netzausfällen, bombardiert, und so wurde Nolans Fall erst einmal auf Eis gelegt, bis sich drei Wochen später ein Wissenschaftler vom Owens Valley Radio Observatory meldete, um ein herrenloses Fahrzeug zu melden, das unweit des Observatoriums abgestellt worden war. Es handelte sich um einen marineblauen GMC Sierra, Baujahr 1989, exakt dasselbe Fabrikat und Modell, das Nolan gefahren hatte. Im Nu hatte die Polizei das Kennzeichen überprüft und ihn als den Halter des Fahrzeugs identifiziert.

Der Pick-up stand auf dem Randstreifen der Leighton Road, weniger als hundert Meter von den Radioteleskopen entfernt. Die Türen waren zu, aber nicht verschlossen. Der Tank war noch zu einem Viertel voll. Der Schlüssel steckte im Zündschloss, aber Nolans Rucksack, sein Portemonnaie und das Geld waren verschwunden, woraus die Polizei den Schluss zog, dass er die Stadt aus freien Stücken verlassen hatte. Außerdem wurde noch etwas in dem Fahrzeug gefunden, wovon die Öffentlichkeit aber nie erfuhr. Am nächsten Morgen war ein Officer bei Lucy und ihrer Mutter vorbeigekommen; er hatte einen Asservatenbeutel dabei, in dem sich ein schwarz-weiß marmoriertes Notizbuch befand. Als er fragte, ob sie das Buch kennen würden, begann Sandra unkontrolliert zu schluchzen, sodass Lucy gezwungen war, anstelle ihrer Mutter zu antworten. Es war Nolans Notizbuch, ein Journal, das er überallhin mitnahm, um sich akribisch Notizen über UFO-Sichtungen und Dinge zu machen, die er »Phänomene« nannte. Der Beamte zog ein Paar Plastikhandschuhe über, ehe er das Buch aus dem Beutel nahm, und zeigte ihnen den letzten Eintrag. An die genauen Worte konnte sich Lucy nicht erinnern, aber in etwa hatte dort gestanden, dass seine Welt komplett aus den Fugen geraten war, er zwischen Fantasie und Realität nicht mehr unterscheiden konnte. Nur an die letzte Zeile erinnerte sie sich genau. Er hatte den Stift so fest aufgedrückt, dass die Seite eingerissen war. Tut mir leid.

Niemand außer Lucy, ihren Eltern und den zuständigen Ermittlern kannte diesen letzten Eintrag. Die Medien wussten nichts davon, doch das Notizbuch lag nach wie vor, wenn auch längst vergessen, zusammen mit den anderen Funden der Spurensicherung in einem Karton in einer Asservatenkammer.

Nachdem Nolans Pick-up entdeckt worden war, hatte die Polizei die Gegend um das Observatorium durchkämmt, aber nichts von Interesse gefunden. In der Nacht seines Verschwindens hatte es ein Gewitter gegeben, und auch in den folgenden Tagen hatte es mehrmals wie aus Eimern geschüttet, und alles, was die Polizei womöglich weitergebracht hätte – Fußabdrücke, Reifenspuren –, war von den Regengüssen fortgespült worden. Die Polizei hängte Suchplakate auf und bat um Mithilfe, und eine Zeit lang war Nolan Stadtgespräch. Die Leute spekulierten, stellten ihre eigenen Theorien auf. Manche glaubten an Selbstmord. Andere argwöhnten, er habe sich einer Sekte angeschlossen. Steckte ein schiefgegangener Drogendeal hinter Nolans Verschwinden, ein Bandenmord, war er in einem Zeugenschutzprogramm? Die meisten gingen davon aus, dass er tot war. Eine Hellseherin verlangte tausend Dollar für eine Botschaft von Nolans gequälter Seele. Dann kam endlich ein Hinweis; jemand schwor Stein und Bein, ihn quicklebendig in Reno gesehen zu haben. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Niemand wusste etwas, und wie es mit Spekulationen nun einmal so ist, begannen sich die Leute schließlich zu langweilen. Insbesondere, weil es keine Leiche gab, keinerlei Anhaltspunkt für ein schreckliches Verbrechen, für überhaupt irgendein Verbrechen. Und Nolan war ohnehin immer ein Außenseiter gewesen.

Die Medien wandten sich anderen Geschichten zu. Dann fing jemand an, fliegende Untertassen auf die Suchplakate zu malen, Nolan mit Fühlern und Strahlenwaffe zu versehen. Bald darauf wurden die Plakate abgenommen und weggeworfen. Schließlich gab die Polizei auf und erklärte schulterzuckend, nach Stand der Beweislage sei Nolan höchstwahrscheinlich schlicht ausgerissen. Über kurz oder lang würde er schon wieder zu Hause auftauchen; vielleicht auch nicht, aber das sei dann eben seine Entscheidung. Sie begannen sich wieder auf andere Fälle zu konzentrieren. Ende Januar verschwand eine hübsche blonde Frau, Mutter zweier kleiner Kinder, und der Rest der Welt vergaß Nolan. Robert gab sich mit der Erklärung der Polizei zufrieden und hörte auf, jeden Tag auf dem Revier anzurufen. Sandra aber weigerte sich zu glauben, dass Nolan sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte. Er war ein guter Junge, der seine Familie liebte. Sie heuerte einen Privatdetektiv an und rief eine Website ins Leben, um das Interesse der Öffentlichkeit an Nolans Fall wachzuhalten. Aber sie konnte nicht mehr schlafen und begann zu trinken, und schon im Februar war es ihr unmöglich, länger ihren Pflichten als Mutter nachzukommen. Im März zog Lucy nach Los Angeles zu ihrem Vater und versuchte, den schlimmsten Tag ihres Lebens irgendwie zu vergessen.

Das waren die »Fakten«. Die Dinge, die Lucy sich nicht in Erinnerung zu rufen brauchte, weil sie in den Polizeiakten festgehalten waren und sie jeder im Internet finden konnte. Und der Rest? Die Dinge, an die sie sich nicht erinnern, die vagen Bruchstücke, die sie nicht zusammensetzen konnte, die flüchtigen Bilder, die ihr mehr wie ein Traum denn wie Realität vorkamen? Sie waren der Grund, warum sie sich regelmäßig die Seele aus dem Leib joggte.

   3   

Lucys Handy vibrierte. Sie ignorierte es, nahm weiter Shirts und Blusen von Kleiderbügeln und warf sie auf drei verschiedene Stapel. Behalten, Altkleidersammlung, Müll. Erstaunlich, wie viel Zeug sich in null Komma nichts ansammelte, selbst wenn man gar keine Modepuppe war. Sie hätte sich natürlich einen Transporter mieten, all ihre Habseligkeiten darin verstauen, den ganzen Kram in einem Studio-Apartment unterbringen und den Rest irgendwo einlagern können. Aber das erschien ihr doch etwas zu viel Aufwand für lauter Dinge, die sich problemlos ersetzen ließen. Abermals vibrierte ihr Handy und begann dann zu klingeln. Sie nahm es vom Bett. Eine weitere Nummer, die sie nicht kannte. Den ganzen Morgen über hatte sie einen Anruf nach dem anderen erhalten und irgendwann aufgehört zu zählen. Sie schaltete auf Voicemail und widmete sich wieder ihren Sachen.

Sie hatten ein ruhiges Weihnachten verlebt, sich morgens gegenseitig beschenkt, bevor Robert und Marnie nach San Diego gefahren waren, um übers Wochenende mit Marnies Eltern zu feiern. Lucy hatte die meiste Zeit allein verbracht, es sich auf dem Sofa bequem gemacht, alte Filme geguckt und Karamell-Popcorn in sich hineingestopft. Nun blieb ihr weniger als eine Woche, ihre Sachen zu packen und sich ein hübsches, bezahlbares Apartment zu suchen, was ihr mit jeder Sekunde mehr wie ein Ding der Unmöglichkeit erschien. Sie fragte sich, wie Robert reagieren würde, wenn sie doch nicht auszog, der Januar verging und sie ihr Dachzimmer immer noch nicht geräumt hatte. Was konnte er schon tun?

Erneut klingelte ihr Handy. Eine unterdrückte Nummer. Allmählich wurde es absurd. Sie ignorierte den Anruf, doch ein paar Sekunden später klingelte es schon wieder, abermals eine unterdrückte Nummer – ob es derselbe Anrufer war, ließ sich nicht sagen.

Diesmal ging sie dran. »Hallo?«, fauchte sie.

Der Anrufer – entweder geschockt von ihrem barschen Tonfall oder dem Umstand, dass sich tatsächlich jemand meldete – verhaspelte sich, ehe er schließlich seinen Namen hervorbrachte. »Kevin Handler hier, vom San Francisco Chronicle. Spreche ich mit Lucy Durant?«

»Falsch verbunden.« Lucy legte auf.

So lief das leider manchmal, wenn sich das Verschwinden ihres Bruders jährte. Dann riefen ständig Reporter an, die Folgeartikel à la »Was wurde eigentlich aus …?« schreiben wollten, für diese Zeitung oder jenes Blog, oder scharf auf ein Fernsehinterview mit ihr waren. Normalerweise aber kamen die Anrufe ein, zwei Monate vorher, und so viele – obendrein derart hartnäckige – wie diesmal hatte es noch nie gegeben. Lucy aber gab grundsätzlich keine Interviews, niemandem und auch nicht für Geld. Für gewöhnlich reichte auch ein kurzes »Nein danke«, und sie wurde in Ruhe gelassen. Vielleicht war es diesmal anders, weil Nolan vor genau zehn Jahren verschwunden war. Vor einem ganzen Jahrzehnt. Ja, das war wohl der Grund.

Wieder klingelte ihr Handy. Woher hatten diese Leute überhaupt ihre Nummer? Im Internet fand man nicht viel über sie. Zwar hatte sie einen Twitter-Account, benutzte aber nicht ihren richtigen Namen und folgte vorwiegend Prominenten und Nachrichtenportalen. Mit Facebook hatte sie überhaupt nichts am Hut. Sie hatten sie trotzdem ausfindig gemacht, und manchmal fragte sich Lucy, warum diese Leute ihre Energien und Ressourcen nicht auf etwas Besseres verwendeten. Zum Beispiel darauf, ihren Bruder zu finden.

Sie hörte sich die erste von zehn Voicemails an.

»Hallo, Lucy, hier spricht Jupitar Pilar. Ich schreibe für das Specter Magazine und würde mich freuen, wenn Sie mir ein paar Fragen zu dem UFO beantworten könnten, das Ihr Bruder an dem Abend vor seinem Verschwinden beobachtet hat. Rufen Sie mich doch bitte …«

Lucy löschte die Nachricht und hörte sich die anderen an. Obwohl es sich um Mitarbeiter verschiedenster Medien handelte, von seriösen Tageszeitungen wie dem Oregonian bis zu bizarren Pseudo-News-Journalen wie Conspiracy USA, fragten sie alle in der gleichen Angelegenheit an: der des UFOs, das Nolan gesehen hatte, bevor er spurlos verschwunden war. Sogar eine Producerin vom Coast-to-Coast-Radio hatte angerufen. »Manchmal liegt so etwas ja in der Familie«, sagte die aufgeräumt klingende Frau. »Und zu diesem Thema würden wir gern mit Ihnen reden. Warum wurde Ihr Bruder entführt, Sie aber nicht?«

Lucy löschte alle zehn Messages, ohne sich einen einzigen Namen oder eine Nummer zu notieren. Im Lauf der Jahre hatte sie durchaus den einen oder anderen Anruf von UFO-Freaks erhalten, obwohl diese sich im Allgemeinen per E-Mail meldeten. Für gewöhnlich handelte es sich um Männer, die sie sich als feiste Nerds mit Aknegesichtern vorstellte, die in feuchten Kellern vor ihren Computern saßen, eine Tüte Cheetos neben der Tastatur. Meistens schrieben sie über ihre eigenen Begegnungen mit Außerirdischen, gingen offenbar davon aus, ihr Geschreibsel würde sie interessieren. Manchmal wollten sie Informationen über Nolan oder ergingen sich in hanebüchenen Theorien darüber, was ihm zugestoßen sein mochte. Sie beantwortete ihre E-Mails nie, und ernst nahm sie diese Typen sowieso nicht. Wer hätte das schon?

Das Handy summte in ihrer Hand. Sie zuckte zusammen, ging aber nicht dran. Es klingelte fünf Mal, dann verstummte das Handy wieder, und Lucy atmete tief aus. Ein paar Sekunden später gab ihr Handy ein dezentes Zwitschern von sich – sie hatte eine SMS erhalten. Erstaunlicherweise hatte es bislang noch keiner auf diese Weise versucht. Die Nachricht war kurz. Was sagen Sie dazu? Darunter war ein Link. Kein Name, keine Info, wer die Message geschickt hatte, nur der Link. Rein reflexmäßig klickte sie drauf. Unter normalen Umständen hätte sie die Nachricht einfach gelöscht, ohne sie überhaupt zu lesen.

Der Link führte zu einem Artikel, der eine Woche zuvor im Strange Quarterly erschienen war, einem Online-Magazin für übernatürliche und paranormale Phänomene. Die fette Schlagzeile lautete:

FOTOBEWEIS:

VERSCHWUNDENER JUNGE AUS BISHOP HATTE KONTAKT ZU AUSSERIRDISCHEN

Lucy überflog den Artikel. Nach den ersten zwei Absätzen kam ein Foto – eine Nachtaufnahme, und das Objekt vor dem dunklen Hintergrund war verschwommen und nicht richtig zu erkennen. Eine gleißende Kugel, um deren glühend heißes Zentrum ein blendender Lichtkranz waberte. Es hätte alles Mögliche sein können – ein vorbeifahrendes Auto, eine Straßenlampe, der Mond –, doch Lucy wusste nur allzu genau, worum es sich handelte. Ihre Nackenhaare sträubten sich, während sie wieder zum Anfang des Artikels hinaufscrollte.

Der Autor – er hieß Wyatt Riggs – schrieb, dass Sandra Durant sich ein Jahr zuvor mit ihm in Verbindung gesetzt hatte; sie hatte behauptet, sie habe Beweise, dass ihr Sohn von Aliens entführt worden war. Nach diversen Gesprächen und weiteren Recherchen hatten sie beschlossen, Sandras Beweise an die Öffentlichkeit zu bringen. Ihren Angaben zufolge hatte Nolan die Fotos genau einen Tag vor seinem Verschwinden gemacht; am nächsten Morgen hatte er den Film zur Entwicklung bei Walgreens abgegeben, aber nicht mehr abholen können. Ein paar Tage später hatte sie wegen der Fotos einen Anruf von Walgreens erhalten und die Bilder zur Polizei gebracht, doch die betrachtete das Material als irrelevant, weshalb sie alles wieder mit nach Hause genommen und in einem Karton in einem Schrank aufbewahrt hatte – neun Jahre lang, bis ihr, wie sie sagte, die Augen aufgegangen waren.

Der Artikel fasste dann noch einmal die Fakten zusammen – alles, was die Lokalblätter zehn Jahre zuvor gedruckt hatten. In einem Absatz ging es um die Fotos; mehrere Experten hatten sie begutachtet und waren zu dem Schluss gekommen, dass die Bilder nicht manipuliert worden und mit hoher Wahrscheinlichkeit authentisch waren. Im letzten Absatz kam Sandra noch einmal zu Wort – die Welt müsse endlich erfahren, was in der Nacht des 5. Dezember 1999 geschehen war. Sie sei es leid: Die Regierung würde sowieso nur alles vertuschen und die Polizei alles unter den Teppich kehren, und die wahre Geschichte müsse endlich ans Licht kommen. Die Fotos, sagte sie, seien der Beweis, dass Nolan auf Aliens getroffen war – und dass es sich bei dem Raumschiff auf den Fotos höchstwahrscheinlich um dasselbe Raumschiff handele, mit dem sie ihn am nächsten Abend entführt hatten.

Unter dem Artikel befanden sich eine E-Mail-Adresse und ein Aufruf mit der Bitte um weitere Informationen über Nolans Verschwinden oder aktuelle UFO-Sichtungen, und wiederum darunter ein Farbfoto von einem Mann und einer Frau. Der Mann war groß, hatte kurzes, nach hinten gekämmtes dunkles Haar, buschige Augenbrauen und eine hohe Stirn. Er blickte direkt in die Kamera, wirkte ernst und grüblerisch. Lucy schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig. Er sah aus wie jemand, der Bescheid wusste, wie ein Mann, dem andere Menschen vertrauten. Die Frau, die dicht neben ihm stand, war älter und deutlich kleiner. Ihr getöntes blondes Haar trug sie als schulterlangen pflegeleichten Bob. In der Hand hielt sie einen Umschlag mit dem Walgreens-Logo. Unter dem Bild stand: Sandra Durant mit dem weltbekannten Ufologen und Spezialisten für paranormale Phänomene, Wyatt Riggs.

Lucy machte das Bild ein bisschen größer, starrte auf das Gesicht ihrer Mutter, ihren schiefen Mund, das Grübchen, das in Wirklichkeit eine Pockennarbe war, die blaugrünen Augen, die so hell strahlten, dass die Leute häufig fragten, ob sie Kontaktlinsen tragen würde. Sie wirkte ungepflegt, hatte zugenommen und tiefe Falten unter den Augen, an die Lucy sich nicht erinnern konnte.

Sie scrollte zurück zu dem Foto mit der glühenden blauen Kugel. UFO vor dem Haus der Durants, gesichtet am 4. Dezember 1999. Sie hatte nicht gewusst, dass Nolan an jenem Abend Fotos gemacht hatte, aber zumindest dieses Bild konnte jetzt die ganze Welt sehen, als »Beweis« einer komplett hirnrissigen Theorie. In den Monaten vor seinem Verschwinden war Nolans Verhalten immer erratischer geworden. Ständig hatte er von UFOs und Begegnungen mit Außerirdischen gesprochen, war aber von niemandem ernst genommen worden; weder Lucy noch ihre Eltern glaubten ein Wort davon, dass Außerirdische mit ihm in Kontakt getreten waren. Er hatte sich das ausgedacht oder redete wirres Zeug, jedenfalls waren sie sich einig, dass das alles nur Hirngespinste waren.

Lucy gab den Namen ihres Bruders in die Suchmaschine ein. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden waren mehrere Beiträge gepostet worden, die sich allesamt auf den Artikel im Strange Quarterly bezogen. Die Story verbreitete sich nicht gerade wie ein Lauffeuer, erregte aber genug Interesse, um ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen zu lassen.

Sie ging nach unten ins Wohnzimmer, wo Robert und Marnie, die vormittags aus San Diego zurückgekommen waren, sich nach dem Abendessen bei einem Glas Wein entspannten. Leise Musik drang aus den Boxen der Stereoanlage. Robert hatte es sich in einem Polstersessel bequem gemacht, eine Theodore-Roosevelt-Biografie im Schoß. Marnie hockte auf der Kante des geblümten Sofas und blätterte in einem Einrichtungskatalog. Keiner von beiden sah auf, als Lucy das Zimmer betrat.

Sie hielt ihrem Vater das Handy hin. »Hast du das schon gesehen?«

Robert runzelte die Stirn, als er die Schlagzeile las. Dann nahm er Lucy das Handy aus der Hand und überflog den Rest des Artikels.

»Unfassbar.« Er gab Lucy das Handy zurück.

»Wusstest du von den Fotos?«, fragte Lucy. »Hat sie dich darüber informiert?«

Er seufzte. »Natürlich nicht. Ich habe seit Jahren nicht mehr mit deiner Mutter gesprochen.«

»Kannst du sie für mich anrufen und ihr sagen, dass sie solche Sachen unterlassen soll? Diese Reporter rufen in einem fort bei mir …« Im selben Moment klingelte das Handy, als wolle es ihre Worte bestätigen. Sie schaltete es ganz aus und steckte es in ihre Gesäßtasche.

»Deine Mutter hat mir gegenüber schon vor einer Ewigkeit auf Durchzug gestellt.« Er richtete den Blick wieder auf das Buch in seinem Schoß und blätterte um – ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass ihr Gespräch beendet war.

Zurück in ihrem Zimmer, warf sich Lucy aufs Bett und starrte auf die drei Stapel Klamotten. Unabhängig voneinander betrachtet gab es keinerlei Zusammenhang zwischen den Ereignissen der letzten Wochen – erst der Straßenprediger, dann die Ansage ihres Vaters, dass sie sich eine eigene Bleibe suchen solle, jetzt die neuen »Beweise« ihrer Mutter. Nur dass Lucy immer wieder an etwas denken musste, was Nolan ihr einst gesagt hatte. Ein seltsamer Vorfall ist eine Anomalie, zwei sind womöglich Zufall, aber drei ergeben ein Muster, und dann sollte man genauer hinschauen. Sie holte tief Luft und rief sich in Erinnerung, dass Nolan insbesondere in den Wochen vor seinem Verschwinden viel Unsinn dahergeredet hatte. Ja, es passierten merkwürdige Dinge, aber das hieß noch lange nicht, dass sie irgendeine Bedeutung hatten.

Aber der Artikel würde nicht für alle Zeit aktuell bleiben, und auch das ungute Gefühl in ihrer Magengrube würde sich wieder legen. Früher war es genauso gewesen. Sie musste nur abwarten. Irgendetwas anderes Aufsehenerregendes würde passieren und der Name »Nolan Durant« wieder in Vergessenheit geraten. Wie ein Meteorit am Himmel. In der einen Sekunde ein unvergesslicher Anblick, in der nächsten verglüht – eine Sternschnuppe, verschluckt vom ewigen Dunkel der Atmosphäre.

STRENG GEHEIM

SPUREN UND BEWEISE

UFOS und andere extraterrestrische Phänomene

CHEFERMITTLER:

Nolan R. Durant

EINTRAG #1

Phänomen:

Die Buttermilk-Lichter

DATUM: 15. Juli 1999

LÄNGENGRAD / BREITENGRAD: 37.329170 W, 118.577170 N

ZUSAMMENFASSUNG: Gegen ca. 20.00 Uhr beobachtete ich Lichter am Himmel, die sich von Norden nach Südwesten bewegten, erst schnell, dann langsam, während sie sich näherten und dann mehrere Sekunden lang am Firmament verharrten, bevor sie hinter der Sierra Nevada verschwanden. Keine Antriebsgeräusche gehört.

OBJEKTBESCHREIBUNG: Sechs scheibenförmige Lichter, orange an den Rändern, grellweiß im Zentrum, zuerst bemerkt in nördlicher Richtung, etwa 45° über dem Horizont. Die Scheiben waren flach und flogen in 2x3-Formation, Durchmesser geschätzt sechs Meter.

WEITERE ZEUGENAUSSAGEN: Mehrere potenzielle Zeugen verließen den Schauplatz, bevor ich mit ihnen sprechen konnte. Die verbleibenden zwei, Patrick Tyndale (17) und Lucy Durant (14), sind minderjährig, verhalten sich mir gegenüber ablehnend und widersprechen sich in ihren Aussagen.

WETTERLAGE: 24° Celsius, Wind aus südlicher Richtung, Geschwindigkeit sieben Meilen die Stunde, Himmel klar, Sonnenuntergang um 20.14 Uhr.

ORTSBESCHREIBUNG: Kalifornien, Owens Valley, westlich von Bishop am Ostrand der Sierra Nevada, unweit der Buttermilk Road in Buttermilk Country, einer Gegend, die sich bei Felskletterern großer Beliebtheit erfreut. Nächstgelegene Kletter-Attraktion: der Grandpa Peabody Boulder. Im Valley leben knapp zwanzigtausend Menschen. Bemerkenswert: Hier sind schon häufig UFOs gesichtet worden. Möglicherweise ein Hotspot.

KONKRETE BEWEISE: Keine.

FAZIT: Die gemachten Beobachtungen lassen auf ein außerirdisches Raumschiff schließen, aber aufgrund fehlender Beweise und der Skepsis meiner Zeugen sehe ich mich gezwungen, diesen Fall für nicht abgeschlossen zu erklären.

Bevor er das Haus verließ, hatte Nolan keine sonderlich großen Hoffnungen, ein UFO zu sichten, bereitete sich aber trotzdem vor. Er packte alles in seinen Rucksack, was man laut Wyatt für eine perfekte Ermittlung benötigte: Notizbuch, drei Kugelschreiber, Aufnahmegerät, Fernglas, Kompass, Maßband, Plastikbeutel zur Spurensicherung, Plastikhandschuhe, ein Taschenmesser und einen Fotoapparat, der eigentlich seiner Mutter gehörte, von ihr aber nie benutzt wurde. Es war eine Nikon-35mm-Kompaktkamera, kinderleicht zu handhaben, und das Entwickeln der Filme war auch ein Klacks. Lucy trug eine Flasche Wasser.

»Und wonach halten wir heute Ausschau?« Sie sah zu Boden, drehte Steine mit der Spitze ihres Wanderstiefels um.

Nolan deutete zum blasslila verfärbten Himmel. »Nach allem, was irgendwie ungewöhnlich oder auffällig ist – Lichter, Scheiben, Schatten, Reflexe.«

»UFOs …« Sie klang nicht sehr überzeugt.

»Na, dann bleib halt hier.« Er zog die Gurte seines Rucksacks zurecht und ging weiter, folgte dem schmalen Pfad, der von ihrem Haus in der Skyline Road durch die karge Landschaft zu der Stelle führte, von der sie am liebsten die Sterne beobachteten, einem breiten flachen Fels auf einem Berg, von dem man über das gesamte Tal blickte.

Hier verbrachten sie jeden zweiten Tag, suchten im Unterholz nach Meteoriten, und wenn es dämmerte, legten sie sich auf den sonnenwarmen Felsen und sahen zu, wie die Dunkelheit hereinbrach und die Sterne herauskamen. Manchmal nahmen sie Nolans Teleskop mit, und manchmal erzählten sie sich gegenseitig Geschichten über Starman und Asteroid Girl, zwei intergalaktische Superhelden, die mit ihrem Raumschiff in unerforschte Galaxien vordrangen, Kontakt zu anderen Lebensformen aufnahmen und ein ums andere Mal das Universum retteten. Bis ihre Mutter sie zum Abendessen rief.

Schade, dass Lucy nicht mitgekommen war, dachte er. So hätte er eine Zeugin gehabt oder zumindest Gesellschaft, falls er doch kein UFO sah. Doch war ihr Verhältnis neuerdings schwierig, und mit dem angespannten Schweigen zwischen ihnen kam er nicht klar. In diesem Sommer verbrachten sie längst nicht so viel Zeit zusammen wie früher. Nolan hatte jetzt einen Job, arbeitete für ein paar Dollar fünfzig als Aushilfe im Supermarkt, wo er Einkaufswagen vom Parkplatz holte, Böden schrubbte, an der Kasse Lebensmittel eintütete und alten Damen zum Auto brachte. Größtenteils Hilfsarbeit, alles, was ihm sein Chef auftrug. Seine Freizeit verbrachte er in letzter Zeit komplett mit Wyatt und der UFO Encounters Group, einer Gruppe von UFO-Jägern, bei ihren Treffen oder auf der Suche nach unbekannten Flugobjekten. Lucy schien darüber alles andere als glücklich zu sein, auch ein wenig irritiert über sein gesteigertes Interesse an einem Hobby, das vorher eigentlich mehr oder weniger ein Spiel gewesen war.

Einmal hatte er sie zu einem Treffen der UFO-Jäger eingeladen, in der Hoffnung, dass sie dadurch besser verstehen würde, was er machte und warum es wichtig für ihn war, doch sie hatte nur genervt die Lippen verzogen. »Du glaubst nicht wirklich an diesen Unsinn, oder? Das meinst du ja wohl nicht ernst!«

Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Und wenn doch?«

Auf die Gruppe war Nolan über einen Aushang am Schwarzen Brett im Pausenraum des Supermarkts aufmerksam geworden. Zwar hing der Flyer halb versteckt hinter einem anderen, auf dem jemand Gitarrenstunden anbot, doch die neongrüne Farbe des Flugblatts und die fetten Lettern hatten sein Interesse geweckt.

WIR SIND NICHT ALLEIN!!!

Kennen Sie das auch?

  • Schlaflosigkeit

  • Panikanfälle

  • Albträume

  • Blackouts

  • Plötzlich und unerwartet auftretende Schmerzen

  • Lähmungserscheinungen an Armen und / oder Beinen

  • Das Gefühl, beobachtet zu werden

  • Unerklärliche Blessuren, Schrammen oder Narben an Ihrem Körper

  • Wachen Sie manchmal in einem Zimmer auf, in dem Sie sich gar nicht schlafen gelegt haben?

  • Haben Sie sich je einer Person freundschaftlich verbunden gefühlt, die Sie zuvor gar nicht kannten?

  • Sind Ihnen schon einmal seltsame Lichter oder Objekte über Ihrem Haus aufgefallen?

Gut möglich, dass Sie zu den Millionen Menschen gehören, mit denen Wesen aus einer anderen Dimension in Kontakt getreten sind.

JA, ALIENS!

SIE SIND UNTER UNS!

Sie können sich Freunden und Verwandten nicht anvertrauen, weil diese Sie für verrückt erklären würden? Und Sie sind sicher, dass unsere Regierung die Wahrheit vertuscht? Verzagen Sie nicht! Es gibt Menschen, die die gleichen Erfahrungen wie Sie gemacht haben, Menschen, die das vorherrschende Konzept von »Realität« ebenso infrage stellen wie Sie. Wir können Ihnen helfen, mit Rat und Tat zur Seite stehen.

UFO ENCOUNTERS GROUP, ORTSVERBAND EASTERN SIERRA. Treffen jeden Samstag ab 19.00 Uhr im Keller des Bishop Senior Citizen Center, 74 Adams Street. Für Kaffee und Kekse ist gesorgt.

DIE WAHRHEIT IST DORT DRAUSSEN!

Der Flyer brachte eine Saite in ihm zum Schwingen, und dann hielt er das Flugblatt auch schon in der Hand, faltete es drei Mal und steckte es ein.

Während der nächsten Tage hatte er den Flyer stets bei sich, und immer wieder nahm er ihn heraus, um ihn nochmals zu lesen, so oft, dass das Papier mürbe und brüchig wurde. Die vielen schlaflosen Nächte, die Panik, die ihn zuweilen befiel, wenn er aus dem Haus trat, all die Male, als ihn scheinbar grundlos ein kalter Schauer überlaufen hatte, die Art und Weise, wie ihn manchmal wildfremde Leute auf der Straße fixierten, die seltsamen Lichter, die er als Zehnjähriger gesehen hatte, das eine Mal, als er mitten in der Nacht auf der Couch erwacht war, voll angezogen, seine Schuhe an den Füßen, ohne dass er sich auch nur entfernt erinnern konnte, wie er dorthin gekommen war – na schön, er mochte diese Dinge gemein haben mit anderen Leuten, die mit Aliens in Kontakt gekommen waren, aber letztlich war das doch alles nur Zufall. Er hatte nach rationalen Erklärungen gesucht, sich wieder und wieder gesagt, das sei bloß Stress, seine Hormone spielten verrückt, so war das eben in der Pubertät, es würde sich schon geben, in ein paar Jahren würden sein Körper und seine Psyche wieder ganz normal funktionieren. Er beschloss, den Flyer in den Müll zu werfen, doch auf dem Weg durchs Wohnzimmer fiel sein Blick auf den Fernseher – seine Mutter sah gerade die Morgennachrichten.

»Die Frau behauptet, die Lichter hätten minutenlang über ihrem Swimmingpool geschwebt, bevor sie wieder verschwanden«, sagte die Reporterin.

Nolan blieb abrupt stehen und starrte auf die Mattscheibe. Die Reporterin, eine zu stark geschminkte Blondine, hielt ihr Mikro einem Mann in mittlerem Alter hin, und am unteren Bildrand wurde sein Name eingeblendet: Wyatt Riggs, Ufologe. Er blickte derart eindringlich in die Kamera, dass Nolan unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

Wyatt Riggs klang extrem nüchtern, als er seine Expertise abgab: »Sowohl die Aussage der Frau als auch die von ihr gemachten Fotos lassen darauf schließen, dass es sich höchstwahrscheinlich um ein Irrlicht handelte, ein seltenes, aber völlig natürliches und ganz und gar irdisches Phänomen. In manchen Ländern sind Irrlichter auch als Spuk- oder Totenlichter bekannt. Man geht davon aus, dass ihr Auftreten mit vermehrter seismischer oder tektonischer Aktivität zusammenhängt.«

»Es war also keine fliegende Untertasse aus dem Weltraum?« Die Reporterin lächelte ihn an.

»Nein. Zumindest nicht diesmal.« Wyatt lächelte in die Kamera, und Nolan lächelte unwillkürlich zurück, während er sich fühlte, als habe ihn gerade jemand in ein großes Geheimnis eingeweiht.

Seine Mutter murmelte irgendetwas von wegen Mumpitz und schaltete auf einen anderen Sender um.

Nolan zog sich in den Hobbyraum zurück, wo auch der Familiencomputer stand, und suchte im Netz nach Informationen über Wyatt Riggs. Er hatte die Bishop Union High School besucht und 1991 abgeschlossen; danach war er am Cerro Coso Community College eingeschrieben gewesen. Nolan bekam allerdings nicht heraus, welches Hauptfach er dort studiert hatte. Mittlerweile war Wyatt so etwas wie ein aufsteigender Stern in der paranormalen Community, vor allem in der UFO-Szene. Er hatte diverse Artikel für UFO Monthly und eine Handvoll anderer Magazine geschrieben, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigten. Zudem hatte er bei einer Reihe regionaler UFO-Festivals Vorträge gehalten, über die Zukunft der UFO-Forschung und darüber, wie man der Community zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen könne; darüber hinaus appellierte er an prominente Astronomen und Planetologen, die UFO-Forschung ernster zu nehmen und mehr Zeit und Geld in sie zu investieren. In einem Artikel wurde er so zitiert: »Wie können wir erwarten, Antworten zu erhalten, wenn wir mit Scheuklappen durch die Gegend laufen?« Auf einer anderen Website fand Nolan folgenden halb versteckten Hinweis: Wyatt leitet eine UFO Encounters Group, die sich jeden Samstag im Bishop Senior Center trifft. Die Treffen sind öffentlich.

Nolan zog den Flyer aus der Tasche und entfaltete ihn. An Zufall wollte er jetzt nicht mehr glauben, sondern vielmehr an einen seltsamen Wink des Schicksals, das ihm eine neue Richtung wies – vielleicht sogar die Richtung, die ihm schon immer vorbestimmt gewesen war. Am folgenden Samstag nahm er erstmals an einem Meeting der UFO-Jäger teil.

Er wurde Wyatt kurz vorgestellt, aber es war eine ziemlich flüchtige erste Begegnung. Kurzer Blickkontakt, kurzes Lächeln, »Schön, dass du da bist«, und dann versammelte sich auch schon der Rest der Gruppe, nahm auf den im Kreis stehenden Stühlen Platz. Nolan saß neben einer älteren Frau mit goldenen Armreifen und stahlgrauem Haar, die sich ihm als Gabriella vorstellte.

Dann ging es darum, Erlebnisse auszutauschen – Erfahrungen, wie Wyatt sie nannte.

»Hat jemand eine Erfahrung gemacht, die er der Gruppe mitteilen möchte?«, fragte Wyatt, als sich alle gesetzt hatten.

Gabriella hob die Hand und erzählte von einem außerirdischen Wesen namens Chrysler, das sie seit ihrer Kindheit besuchte. »Diese Woche ist er zwei Mal bei mir gewesen. Er sagt, dass eine große Veränderung bevorsteht, will oder kann mir aber keine Einzelheiten nennen.«

Eine Frau namens Tilly erzählte, sie lese gerade ein Buch über Begegnungen mit Aliens und Entführungen durch Außerirdische, geschrieben von einem Harvard-Professor und Pulitzer-Preisträger, das die Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern würde. Ein Mann namens Jim glaubte, dass seine Nichte von Aliens entführt worden war; seitdem wachte sie mitten in der Nacht schreiend auf und war zur Bettnässerin geworden. Nolan hörte sich die Geschichten an, halb verwundert, halb erleichtert, während er auf seine Handfläche starrte; noch immer spürte er Wyatts festen Händedruck.

Er hatte sich für Außerirdische interessiert, solange er zurückdenken konnte. Ihn faszinierte die Vorstellung, dass es Leben auf anderen Planeten gab, dass dort draußen in diesem gigantischen Universum womöglich etwas existierte, dem dieser kleine, traurige, einsame Planet Erde nicht von fern das Wasser reichen konnte. Er liebte die Filme E. T. und Unheimliche Begegnung der dritten Art, hatte beide mehrmals gesehen und war selbst noch auf sie abgefahren, als seine Freunde auf härteren Stoff wie Alien oder Invasion der Körperfresser umgestiegen waren. Er las alle Bücher über Außerirdische und UFOs, die er in der Bibliothek finden konnte – Romane, Sachbücher, was ihm gerade in die Hände geriet. Auf einem Regal in seinem Zimmer reihten sich seine Lieblingsbücher: Die Besucher von Whitley Strieber, Fehlende Zeit von Budd Hopkins, Die letzte Generation von Arthur C. Clarke. Alle drei Bücher waren von seinem Onkel Toby, dem Bruder seines Vaters, einem Mann, über den niemand mehr sprach in der Familie. Er hatte sie ein paar Monate vor Nolans zehntem Geburtstag mit der Post geschickt, etwa um die Zeit, als seine Eltern die Scheidung eingereicht hatten. Auf dem in Juneau abgestempelten Päckchen stand kein Absender, und bei den Büchern lag nur eine hastig hingekritzelte Notiz: Traue niemandem!

Auf die Notiz konnte er sich keinen Reim machen, doch die Bücher verschlang er, staunte über die unglaublichen Dinge, die Strieber und die Leute in Hopkins’ Buch erlebt hatten, und nicht zuletzt über die Gewissheit, mit der sie von ihren Erfahrungen berichteten. Und genauso war es in dieser Gruppe; die Versammelten sprachen mit Bestimmtheit und Überzeugung von rätselhaften Dingen und mysteriösen Vorfällen, die er nie richtig in Worte hatte fassen können. Er befand sich in einem Raum voller Leute verschiedenster Herkunft und Altersgruppen, doch obwohl Nolan neu und obendrein der Jüngste unter den Anwesenden war, redete niemand mit ihm von oben herab oder warf ihm schräge Blicke zu. Niemand nannte ihn einen Freak oder Spinner oder schnauzte ihn an, endlich erwachsen zu werden; tatsächlich schien es, als hätte er endlich eine Zuflucht gefunden, einen sicheren Hafen voller Menschen wie ihm selbst, die die Sterne beobachteten und an unmögliche Dinge glaubten.

Dann war er an der Reihe. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, und Wyatt beugte sich leicht auf seinem Stuhl vor, den Blick auf Nolan gerichtet, als gäbe es in diesem Moment keinen wichtigeren Menschen als ihn. »Und du, Nolan? Hast du uns etwas zu erzählen?«

»Also, na ja, da war dieses eine Mal …«, begann er. »Aber wahrscheinlich war das gar nichts …«

Er erzählte ihnen trotzdem von den Lichtern, die er gesehen hatte, als er zehn Jahre alt gewesen war, ein paar Tage, nachdem sein Dad den Rest seiner Sachen gepackt hatte und nach Los Angeles gezogen war. Nolan und Lucy waren durch die Felslandschaft hinter ihrem Haus gestreift und hatten plötzlich eine Ansammlung leuchtender orangefarbener Kugeln am Himmel erspäht, klein und weit entfernt, die sich wie Jo-Jos an endlos langen Fäden bewegten. Seine Erinnerung war längst verblasst, ließ sich – es mochten Helikopter oder Blitze gewesen sein – wahrscheinlich leicht ins Reich der Einbildung verweisen, und als Wyatt begann, ihn mit Fragen über relative Größe, Entfernung und Geschwindigkeit zu löchern, begann Nolan herumzustammeln.

Wyatt lehnte sich mit einem enttäuschten Seufzer zurück. »Wenn die Leute dich ernst nehmen sollen, Nolan, musst du auch dich selbst ernst nehmen – und nicht zuletzt die Dinge, die um dich herum passieren. Nichts ist wichtiger als ein Auge fürs Detail. Genauigkeit, darauf kommt es an. Alles Weitere hat bloß anekdotischen Wert – eine hübsche Story, die man auf Partys zum Besten geben kann. So etwas bringt uns nicht weiter.«

Nolan senkte den Kopf, selbst von sich enttäuscht. Dann meldete sich Gabriella zu Wort, Wyatt solle nicht so streng mit ihm sein, schließlich würde Ufologie ja nicht in der Schule unterrichtet.

Wyatt riet Nolan, sich ein Notizbuch anzuschaffen. »UFO-Sichtungen und seltsame Ereignisse hält man am besten schriftlich fest, weil man sonst Gefahr läuft, wichtige Einzelheiten zu vergessen. Wir müssen Fakten liefern. Wir müssen minutiös und systematisch vorgehen. Die Öffentlichkeit will Beweise. Sie will wissenschaftliche Belege, und deshalb kriegt sie wissenschaftliche Belege. Zweifler unterstellen uns ständig, wir seien verrückt oder aufmerksamkeitsgeil. Es ist an uns, ihnen mit seriöser Arbeit das Gegenteil zu beweisen.«

Am nächsten Tag besorgte sich Nolan ein unauffälliges, schwarz-weiß marmoriertes Notizbuch. Während der nächsten Wochen hatte er es ständig bei sich, hielt Augen und Ohren offen, um Nennenswertes festzuhalten, irgendetwas, was als Beweis für außerirdische Besuche dienen mochte. Sooft es ihm möglich war, beobachtete er das Firmament, doch bislang war ihm nichts von Belang aufgefallen – nichts, was auch nur im Mindesten interessant gewesen wäre.

Gelächter hallte von den Felswänden der Mesa wider, als sie den Pfad zu ihrem Felsen emporstiegen. Lucy zögerte, warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, doch Nolan marschierte weiter, und Sekunden später sah er sie von einer kleinen Anhöhe aus: eine Gruppe von Teenagern, die auf dem Felsen – seinem Felsen – abhingen, Bier tranken und rauchten. Die meisten von ihnen kannte er aus der Schule, Patrick Tyndale und Grant Highbringer, Megan und Natasha und ein Mädchen, das Laura hieß, wenn er sich recht erinnerte. Die anderen hatte er noch nie gesehen. Die Gruppe verstummte, als Nolan näher kam. Lucy hielt sich ein paar Schritte hinter ihm; ihre Boots scharrten über den Boden.

Mit Patrick und Grant war er bis zur achten Klasse befreundet gewesen, ehe er krank geworden war, richtig übel krank, und mehrere Wochen in der Schule gefehlt hatte. Während seiner Abwesenheit hatte sich etwas geändert – was oder warum, wusste er nicht –, und nach seiner Rückkehr waren sie nicht mehr seine Freunde gewesen. In der Schulmensa waren sie ihm aus dem Weg gegangen, hatten ihn in den Pausen verarscht, in der Klasse hinter seinem Rücken fiese Zettel herumgehen lassen, ihn als »Ufo-Trottel«, »Alienficker« und »kleiner grüner Spast« bezeichnet. Es nervte, und am schlimmsten verhielt sich Patrick, sein ehemals bester Freund. Nolan hatte mehrmals versucht, mit ihm zu reden – was hatte er nur falsch gemacht? –, doch Patrick hatte jedes Mal erwidert, er solle Leine ziehen und sich nicht noch mal blicken lassen.

Nolan richtete den Blick auf seinen alten Freund. »Was machst du denn hier?«

Patrick wusste ganz genau, dass der Felsen Nolans heiliger Ort war. Nolan hatte ihn selbst hierhergebracht, ihm den Pfad gezeigt, den atemberaubenden Ausblick, die Sterne, die wie durch Zauberkraft am Himmel erschienen, wenn die Sonne unterging. Auch Patrick hatte den Felsen als heilig betrachtet.

»Ist ein freies Land.« Patrick trank sein Bier auf einen Zug aus und warf die leere Dose über den Felsrand; klappernd fiel sie in die Tiefe. Er warf einen Blick auf Nolans Rucksack und das Fernglas. »Na, wieder mal auf der Suche nach deinen kleinen grünen Freunden?«

Die anderen Kids lachten. Jemand schnippte eine Zigarette in Nolans Richtung. Sie erwischte Nolan an der Brust und fiel zu Boden. Glut stob auf, und er trat sie aus, bevor das umliegende Gestrüpp Feuer fangen konnte. Er wandte sich zu Lucy. »Komm, wir gehen.«

Patrick sprang auf. »Kannst ruhig hierbleiben, Lucy. Lass das Kleinkind allein abzischen.«

Er berührte sie am Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lucy errötete, aber Nolan schenkte ihr und Patrick keine Beachtung mehr, sah auf zum kohlschwarzen Himmel. Die Sterne waren noch nicht herausgekommen, doch der rote Schimmer des Mars war bereits zu erkennen, und da war auch der Jupiter, ein strahlender Diamant im schwarzen Nichts. Er ließ den Blick über den Horizont schweifen und legte den Kopf in den Nacken, um den Himmel direkt über sich zu betrachten – eine unendliche nächtliche Weite, unübertroffen in ihrer tiefschwarzen Schönheit.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Von einer Sekunde auf die andere. Nolan blieb nicht einmal die Zeit, seine Kamera aus dem Rucksack zu holen. Sechs orangefarbene Lichter erschienen plötzlich am Firmament, ein flackernder Schimmer vor dem dunklen Himmel.

Nolan ergriff Lucys Arm und deutete gen Himmel. »Siehst du das da?«

Sie blickte auf, doch die Lichter waren bereits wieder verschwunden.

»Sie waren gleich da drüben. Ungefähr da, wo der Wacholderstrauch steht – da oben haben sie geschwebt!« Er ging ein paar Schritte in diese Richtung, zog Lucy mit sich, doch sie widersetzte sich ihm, stemmte die Hacken in den felsigen Boden.

»Hör auf, Nolan«, zischte sie leise.

»Habt ihr sie gesehen? Habt ihr die Lichter gesehen?«, fragte Nolan laut. Diesmal war seine Frage an alle gerichtet.

Niemand antwortete.

»Seid ihr blind? Irgendeiner von euch hat doch wohl die sechs Lichter gesehen!« Erneut richtete er den Blick gen Himmel, regelrecht beschwörend, als könne er die Lichter kraft seines Willens zur Rückkehr bewegen.

»Lichter?« Patrick kniff die Augen zusammen. »So wie das da?« Er zeigte auf den Jupiter.

»Lass mich los, Nolan.« Lucy versuchte sich seinem Griff zu entwinden.

Nolan ließ sie nicht los. Er blinzelte, und dann blinkte ein Stern am Firmament, und dann noch einer. »Jetzt rückt schon raus mit der Sprache«, sagte er zu den anderen, forschte in ihren halb betrunkenen Blicken. »Irgendeiner von euch muss sie doch gesehen haben! Sie waren da oben, verdammt noch mal! Direkt vor euren Augen!« Er beschrieb einen hilflosen Bogen mit der freien Hand.

»Nolan …«, flehte Lucy. »Hör auf damit.«

»Lass sie los, Mann.« Patrick packte ihn an der Schulter.

Nolan schüttelte ihn ab, schloss seine Finger nur noch fester um Lucys Handgelenk. »Jetzt tu nicht so, als hättest du nichts gesehen. Ich bin doch wohl nicht der Einzige, der …«

»Nolan, da war nichts.« Lucy griff nach seinen Fingern, versuchte seinen Griff zu lockern. »Hör jetzt auf. Niemand hat etwas gesehen.«

Sie riss sich von ihm los und stolperte ein paar Schritte zurück. Patrick fing sie auf.

»Was ist dein Problem?« Finster starrte er Nolan an. »Bist du high oder was?«

Nolan atmete schwer. Damals, beim ersten Mal, als Lucy und er jene Lichter am Himmel beobachtet hatten, waren diese klein und nur verschwommen zu erkennen gewesen – sie hätten alles Mögliche sein können, sogar eine Ausgeburt seiner Fantasie. Doch diesmal gab es kein Vertun. Die Lichter, die er vor gerade mal einer Minute erspäht hatte, waren direkt über ihm gewesen, riesig, strahlend hell und schlicht unübersehbar. Lucy, Patrick, Grant und all die anderen – unmöglich, dass sie nichts bemerkt hatten!

Er streifte den Rucksack ab, kramte seinen Rekorder heraus und drückte die Aufnahmetaste: »Hier spricht Nolan Durant. Heute ist … ähm … Donnerstag, der 15. Juli 1999, ungefähr … ähm … acht Uhr abends. Ich befinde mich auf den Buttermilk Rocks in der Nähe des Grandpa Peabody Boulders, etwa fünf Meilen östlich der Skyline Road, zusammen mit mehreren Personen, die ebenso wie ich gerade Augenzeugen eines außergewöhnlichen Lichtphänomens geworden sind.«

Er sprach so schnell, dass er sich ein ums andere Mal verhaspelte.

Patrick starrte Nolan irritiert an. Sein Blick wanderte zu Lucy. »Welcher Affe hat den denn gebissen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Die anderen Kids rappelten sich auf. »Lass uns abhauen«, rief einer Patrick zu. »Der Spast versaut uns noch den ganzen Abend.« Sie stiegen den Felsen hinab zu einem Pfad, der zu einem öffentlichen Parkplatz am Fuß des Bergs führte. Einer nach dem anderen verschwand in der Dunkelheit, bis nur noch Lucy, Patrick und Nolan übrig waren. Nolan hielt Lucy das Mikro unter die Nase. »Sag, wer du bist, damit wir das offiziell festhalten können.«

Lucy wandte sich ab und lief davon.

Sie war schnell, schon halb den Pfad hinunter, ehe Nolan reagierte: »Lucy, warte!«

Doch sie hielt nicht inne, warf nicht mal einen Blick über die Schulter – ein Schatten, ein Schemen, und dann war sie verschwunden.

»Super hingekriegt, du Schwachmat.« Patrick stieß Nolan mit der Schulter beiseite und lief hinter Lucy her.

Nolan schaltete den Rekorder aus und sah abermals zum Himmel auf, während mehr und mehr Sterne im Dunkel zu glitzern begannen. Dann schulterte er seinen Rucksack und machte sich auf den Heimweg.

Das Haus war hell erleuchtet. Nolan beobachtete Lucy und Patrick durch die Glastür. Sie saßen nebeneinander auf dem Wohnzimmersofa. Keiner von beiden bemerkte ihn, während er aus den Schatten zu ihnen hineinspähte. Lucy hatte ihren Kopf an Patricks Schulter gelegt; ihr mausbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht, und Patrick strich ihr über den Rücken.

Nolans Magen krampfte sich zusammen. Es gefiel ihm überhaupt nicht, die beiden so zusammen zu sehen. Seine kleine Schwester mit den Babyspeck-Wangen, die noch in Socken zu Britney Spears tanzte, nachts die Nachttischlampe anließ und sich im Schlaf an ihren zerschlissenen blauen Teddybär Mr. Snuffles schmiegte; seine kleine Schwester, die gar nicht mehr so nach Babyspeck aussah in ihren Shorts und dem Tanktop mit Spaghettiträgern, den pink geschminkten Lippen und den sommerlich gebräunten, plötzlich so langen Beinen. Seine kleine Schwester. Und sein ehemals bester Freund, für den Loyalität ein Fremdwort war, Patrick, der glaubte, dass Liebe etwas für arme Willis und romantische Traumtänzer war. Patrick war Lucy einst wie ein zweiter Bruder gewesen, doch das war lange her. Nolan wusste nicht, was jetzt zwischen ihnen lief. Und was immer es sein mochte, es ging ihm alles andere als gut damit.

Er schob die Tür auf und trat ein. Lucy und Patrick fuhren auseinander, als hätte er sie bei etwas Unanständigem ertappt, und erröteten. Lucy starrte betreten in ihren Schoß.

»Was war denn vorhin bloß los mit dir?« Patrick ließ seine Fingerknöchel knacken. »Dachte schon, du drehst gleich durch.«

Nolan ignorierte ihn und ließ sich gegenüber von Lucy in einen Sessel fallen. Sie wich bis an Ende der Couch zurück; ihre Augen waren rot gerändert und schimmerten feucht.

Letzte Woche, ja gestern noch hätte Nolan ihre Gedanken problemlos erraten können – eine hochgezogene Augenbraue, das Zucken eines Mundwinkels hätten gereicht –, doch sie hatte ihr Gesicht abgewandt und sog an einer Haarsträhne, etwas, was sie seit dem Kindergarten nicht mehr getan hatte. Er bemerkte den blauen Fleck an ihrem Handgelenk, die Ränder knallrot, der Abdruck seines Daumens deutlich sichtbar. Er hatte ihr nicht wehtun wollen. Sie hatte doch nur zugeben sollen, dass sie die Lichter ebenfalls gesehen hatte – sie musste sie gesehen haben.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte er zu Lucy.

»Ja, wird dringend Zeit«, meldete sich Patrick zu Wort.

Nolan sah ihn wütend an. »Wie wär’s, wenn du endlich abhaust?«

Patrick legte die Hand auf Lucys Knie. »Soll ich gehen?«

Lucy schüttelte den Kopf.

Nolan gab einen Seufzer von sich und nahm den Rekorder aus seinem Rucksack. Er stellte ihn auf den Wohnzimmertisch, drückte auf »Record« und schlug sein Notizbuch auf. Er sah Lucy an. »Okay, versuchen wir’s noch mal. Also, was hast du heute Abend gesehen?«

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