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All dies könnte anders sein

Als Buch hier erhältlich:

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»Eines der aufregendsten Bücher des Jahres.« Vogue

Etwas muss sich ändern, aber was wenn die ganze Welt gegen einen scheint?

Snehas Abschluss fällt in den Schlund der amerikanischen Rezession, und doch gehört sie zu den Glücklichen. Für ihre erste Stelle zieht sie nach Milwaukee; und obwohl der Job aufreibend ist, eröffnet er ihr unverhoffte Möglichkeiten: Sie kann die Drinks ihrer neuen Freunde bezahlen und ihren Eltern in Indien Geld schicken. Sneha stürzt sich auch ins Dating und verknallt sich bald in die Tänzerin Marina. Doch der Druck ist groß, und bald zeigt sich, dass dieses gute neue Leben auf wackeligen Beinen steht. Sneha braucht Hilfe – aber sie durfte nie lernen, sich verletzlich zu zeigen.

Sarah Thankam Mathews spricht einer ganzen Generation aus der Seele, die lernt Gemeinschaften zu schmieden, um in einer rücksichtslosen Welt ihr Zuhause zu finden.

»Das ist ein ganz großes, intensives Buch über eine riesige Lebenskrise. […] [das] hat so einen großen Sog und macht so Spaß, weil es ein Lebensgefühl trifft.« Stefan Mesch, Dlf Kultur

»All dies könnte anders sein ist ein außergewöhnlicher Roman: stachlig und zart, witzig und unglaublich bewegend. Sarah Thankam Mathews ist eine geniale Autorin und jeder ihrer Sätze hat sowohl Biss als auch Herz.« Lauren Groff

»Fängt die heimtückischen, unsagbaren Seiten der Sehnsucht und den langen Schatten der Familie ein.« Raven Leilani

»Der Treibstoff dieses Romans ist die Liebe, eine Kraft, die Mathews nicht als Allheilmittel, sondern als Instrument der Veränderung zeichnet.« The New Yorker


  • Erscheinungstag: 24.10.2023
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905904
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Shireen und für Phil

Gott, ich gestehe, dass ich mir die Klarheit einer Katastrophe wünsche, aber ohne die Katastrophe.
Wie alle Menschen wünsche ich mir einen Sturm, in dem ich tanzen kann. Ich möchte einen Grund haben, mein Leben zu ändern.

FRANNY CHOI, Catastrophe Is Next to Godliness

Wir wollten, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, stark zu sein und ein glückliches Leben zu führen.

EMIL SEIDEL

A1

Ich möchte gern eine Geschichte aus einer anderen Zeit erzählen. Ich war zweiundzwanzig. Ein Teakholzstöckchen von einem Mädchen. Ich hatte gerade das College abgeschlossen. Es gab nicht viele Jobs. Die Wirtschaft war löchrig geworden wie ein Reifen. Obama hatte eine zweite Amtszeit gewonnen. Er sagte: Jobs, Gesundheitsversorgung, nationale Heilung. Er sagte: Trayvon Martin hätte mein Sohn sein können. Ich war davon berührt, hielt diese Form von imaginativer Übung für mutig. Ich lauschte seinen Reden auf NPR, während ich mich für die Arbeit anzog.

Ich hatte eine Stelle gefunden. Das unterschied mich von meinen Freund*innen vom College. Ich war Beraterin oder würde es werden. Trotz meines geisteswissenschaftlichen Abschlusses. Eine Beraterin in Ausbildung. Drei Kleinkinder, versteckt in einem Anzug.

Ich empfand mich nicht als Verräterin. Ich hatte eher das Gefühl, vor dem Ertrinken gerettet worden zu sein. Meine Kommiliton*innen ohne Jobs waren wieder bei ihren Eltern eingezogen und machten unbezahlte Praktika bei noblen Non-Profit-Organisationen. Ich wünschte ihnen alles Gute. Meine Eltern waren nicht bei mir, hatten mich zurückgelassen, und nun musste ich in dem neuen Land allein meinen Weg finden. Ich war froh, dass ich ihnen für den Moment kein Geld zu schicken brauchte. Das war auch schon anders gewesen.

Mein Kunde war ein Baobab von einem Unternehmen. Fortune 500. Dort wurden Autositze, Heizgeräte, Schrittzähler und Batterien produziert. Mein Chef verlangte, dass ich eine Strumpfhose trug. Du bist eine Vertragsarbeiterin, erklärte er mir, ohne Sozialleistungen. Frauen, die für mich arbeiten, tragen Make-up, das ist nun einmal so. Meine Männer tragen Anzüge. Man muss immer besser gekleidet sein als die Kunden. Nur dann wissen sie, dass wir für sie arbeiten. Wir verhelfen den Kunden zu ihrer eigenen Vorstellung von Erfolg. Die Leute wollen nur jemanden anheuern, der sie auch selbst ein bisschen sein wollen. Vergiss das nicht. Versuch es mal mit Make-up. Nur ein bisschen. Nichts Nuttiges.

Ich hörte ihm pflichtbewusst zu. Die Bezahlung war lediglich okay. Ein abrechenbarer Werklohn, trotz der Fünfzig-Stunden-Wochen. Ich musste Steuern für Selbstständige zahlen. Aber mein Chef mochte mich. Zu Beginn nannte er mich seinen Rockstar. Ich fand das lustig, denn in Wirklichkeit gehen Rockstars auf die Bühne, performen, vögeln viele Frauen und zerstören ihr Hotelzimmer. Ich dagegen schwitzte Kompetenz, eine hungrige Effizienz. Wachste mir die Arme, strahlte Dienstbeflissenheit aus und war noch nie einem Gantt-Diagramm begegnet, das mir nicht gefallen hätte.

Mein Chef hatte mir zunächst neunzehn Dollar pro Stunde angeboten. Seine Firma war winzig, bestand aus nur neun Personen. Ich erwiderte: Vielen Dank, ich werde darüber nachdenken. Ich ging zu Fuß zu einem guten Restaurant in meiner Collegestadt und trank mitten am Nachmittag ein volles Glas Weißwein. Ich rief ihn zurück. Ich sagte: Hallo, Peter. Ich habe noch ein anderes Angebot, aber ich möchte gern für dich arbeiten. Würdest du auch dreißig in Betracht ziehen? In dem leeren Raum zwischen den Ginflaschen zeigte mir die gespiegelte Bar eine junge Frau mit weichen Gesichtszügen, Haut in der Farbe von Hennessy und vor Angst weit aufgerissenen Augen.

Mein Chef antwortete wie ein Gott, der einen Segen gewährte: Dreiundzwanzig pro Stunde. Du wirst nach Milwaukee ziehen, wo dein Kunde sitzt. Ich bezahle die Wohnung.

Das klingt großartig, sagte ich und fügte womöglich noch hinzu: Es ist mir eine Ehre, für dich arbeiten zu dürfen. Völliger Unsinn. Sobald ich aufgelegt hatte, boxte ich in die Luft und schrie. In meiner Erinnerung war das Restaurant leer, aber vielleicht stimmt das gar nicht. In dieser Geschichte geht es nicht um Arbeit oder Prekarität. Ich versuche, spät am Abend, etwas über die Liebe zu sagen, die für viele von uns von dem ganzen anderen Mist nicht zu trennen ist. Als der Sommer begann, zog ich nach Milwaukee, eine verrostete Stadt, in der ich niemanden hatte, meine Eltern waren zwei Ozeane entfernt. Ich legte mich auf den sonnengewärmten Holzfußboden meiner bereits bezahlten Wohnung und beschloss, eine Schlampe zu werden.

B1

Thomas Zwick war ein stämmiger Bär von einem Typen und ein paar Monate älter als ich. Am College hatte uns eine instinktive Kameradschaft verbunden. Halb Italiener, halb waschechter germanischer Sconnie, hatte Thom mich zuerst nicht gemocht. Dann entschied er aus mysteriösen Gründen plötzlich, ich sei in Ordnung. Könnte einer von seinen Jungs sein.

Damals war ich sehr schüchtern in Gegenwart seiner Freundin, die dunkle Locken und ein wunderschönes Gesicht hatte, so weich und formbar wie das eines Babys. Dazu kam noch ihre erschreckende Freundlichkeit, die dazu führte, dass ich kaum noch ein Wort hervorbrachte. Bei Thom fühlte ich mich wohl. Auf einer grundlegenden emotionalen Ebene ähnelten wir einander, auch wenn Thom die leicht zu kränkende Version von dem war, was wir einen Bro nannten, ein Mann, der niemals von einer lässigen und zugleich fest verwurzelten Männlichkeit abweichen würde. Er lebte in Jogginghosen. Hörte Death Metal, wenn bei ihm nicht gerade Yacht Rock lief. Stemmte jeden Tag Gewichte und lauschte dabei einem Podcast über Engels. Ertrug mit Humor sein aufflammendes Reizdarmsyndrom. Er war gut im Umarmen. Er nannte mich seinen Dude. Das liebte ich.

Im Juli erklärte Peter, wir bräuchten einen zusätzlichen Junior-Berater für das Projekt. Noch jemanden wie mich. Ich leitete seine E-Mail weiter. Thom war damals arbeitslos. Lebte noch immer neunzig Minuten entfernt in unserer Collegestadt. Ging zu den kostenlosen Konzerten auf dem Dach von Monona Terrace und unternahm mäandernde Fahrradtouren rund um die Seen von Madison. Seine Unfähigkeit, einen Job zu finden, erschreckte mich. Er war der schlauste Mensch, den ich kannte. Theoretisch verstand ich, was eine Rezession war, aber nicht, was sie bedeutete – was sie wirklich bedeutete für die Menschen, die ihr in den Rachen purzelten. Ungefähr die Hälfte meiner Generation hat sich nie davon erholt.

thx, mein dude. werde drüber nachdenken, antwortete Thom, und ich spürte in meiner spärlich möblierten Wohnung meinen Ärger aufflammen.

Ich hatte mich bei ihm gemeldet mit einem Angebot, unsere Freundschaft zu festigen, über den Collegeabschluss, die Ein-Dollar-Drinks in Bars und die Burger im Plaza hinaus. In erinnerter Zuneigung und dem Wissen, dass er einen Job brauchte und aus dieser Gegend stammte. Genau wie ich und anders als unsere ehrgeizigsten und cleversten Freund*innen schien auch er noch nicht bereit zu sein, aus Wisco fort und an eine der Küsten zu ziehen.

cool, schrieb ich zurück. mach das.

Bislang hatte das Schlampendasein gemischte Ergebnisse geliefert, und ich vermutete, dass ich, wie Schwimmerinnen mit kleinen Füßen oder kurvige Ballerinen, nicht für die Oberliga taugte. Ein Teil von mir war dafür zu sensibel, und ich war mir noch nicht sicher, ob ich diesen Teil absterben lassen wollte. Zugleich regte sich in mir aber auch ein widersprüchlicher Instinkt, dieses Gegengewicht eines gierigen Hungers. Wie eine Uhr, die ständig tickt.

Ich bereitete mir ein Abendessen aus Saaru und Idli aus der Packung zu. Ich masturbierte mehrere Stunden lang.

Danach lief ich in einem ziellosen Zickzack durch die Wohnung und ging der ungeklärten Frage nach einer Dusche aus dem Weg. Ich hatte mir einen Stapel Bücher über die Geschichte Milwaukees gekauft, von denen ich glaubte, sie würden mir dabei helfen, diese gedrungene Stadt mit ihren leeren Straßen zu entschlüsseln. Sie waren noch ungeöffnet. Ich überflog die Einleitung eines dicken Wälzers, blätterte ein paar Seiten um und ließ ihn dann ungeduldig neben mir auf den Fußboden fallen.

Auf meinem Telefon las ich einen Artikel darüber, dass es in manchen Kulturen keine unterschiedlichen Begriffe für die Farbe Grün und die Farbe Blau gebe, und wenn man einer Person ein grasgrünes Farbmuster neben einem in der Farbe eines Sommerhimmels zeigte, würde diese Person behaupten, die beiden wären gleich. Verschiedene Töne derselben Farbe.

Mein Telefon summte. Eine grüne (?) Blase hing von seinem oberen Rand. Darin stand: Amy von unten.

Amy war die Hausverwalterin der Wohnung, in der Peter mich untergebracht hatte. Sie wohnte, wie erwähnt, unter mir. Bei meinem Einzug hatte sie draußen gestanden und dabei zugesehen, wie ich mich allein abmühte. Sie trug einen asymmetrischen Haarschnitt, eine Hälfte bis fast auf die Kopfhaut abrasiert. Die andere eine dunkelrote geschwungene Linie. Ein kastanienbraunes Komma, das an ihrem vorstehenden Kinn endete. Ein finsteres Gesicht. Durchzogen von feinen Furchen.

Der Haarschnitt weckte in mir eine seltsame Hoffnung. Ich trat auf sie zu und sagte: Hallo, ich bin –

Ja, hatte Amy ausdruckslos geantwortet und mir dabei das Wort abgeschnitten. Ich sage es dir am besten gleich. Wir mögen keinen Lärm. Ich arbeite zu Hause und brauche Ruhe. Wir tolerieren keine Partys. Ich bin die Hausverwalterin. Ich kümmere mich um die Instandhaltung und sammle deine Hälfte der Nebenkosten pünktlich ein. Die Gegend ist fantastisch. Ruhig, sauber, voller – sie atmete durch, ehe sie das Wort aussprach – Erwachsener.

Es war so unnötig feindselig, dass ich beinahe lachen musste. Dennoch erwiderte ich irgendetwas Freundliches und Beschwichtigendes, auf der Suche nach Empathie. Vielleicht hatte sie bereits schlechte Erfahrungen mit jüngeren Mieter*innen gemacht. Vielleicht hatten zuvor College-Kids über ihr gewohnt, die im Handstand aus Bierfässern tranken und Obszönitäten brüllten. Sich über Amy lustig machten, wenn diese um Rücksicht bat. So alt konnte sie selbst noch gar nicht sein. Höchstens Ende dreißig.

Amy sagte, sie werde mir die Waschmaschine im Keller zeigen. Sie nickte in Richtung einer schemenhaften Figur mit einem großen Hund an der Leine, die auf der abgeschirmten Veranda über uns stand.

Das ist mein Verlobter. Tim. Er wird die Klimaanlage bei dir installieren. Falls du das möchtest.

Sie hatte das Wort Verlobter betont, es auf eine Weise ausgesprochen, die bedeutete: Halt dich fern. Ich hatte den Haarschnitt also falsch interpretiert.

Bevor ich näher auf die fragliche Textnachricht eingehe, sollte ich an dieser Stelle kurz innehalten, um zu betonen, dass ich bislang lediglich eine Angelschnur in den Fluss der Erinnerung ausgeworfen habe, um einzufangen, was auch immer anbeißen mag. Aber die Wahrheit ist, dass ich mich noch an jedes einzelne Wort erinnere, das diese Frau an mich geschrieben hat. Wenn ich die Augen schließe, kann ich es noch immer vor mir sehen: mehr oder weniger ein Oval in Grau, Lindgrün.

(Manche Menschen hätten es womöglich Blau genannt, es hängt alles vom eigenen Bezugsrahmen ab.)

In der Nachricht stand:

hast du sie noch alle? sei LEISE

Ich hielt das Telefon in beiden Händen, als könnte es explodieren.

Entschuldige?, schrieb ich zurück. Ich habe keinen Laut von mir gegeben. Du musst wohl jemand/etwas anderes meinen?

Es kam keine Antwort. Mehrere Minuten verstrichen. Ich erlaubte mir, mich aus der Mitte der Küche wegzubewegen, wo meine Füße festgefroren waren.

Ich putzte mir die Zähne, ließ das Wasser so leise wie möglich tröpfeln.

Schweiß auf den Handflächen, der nun trocknete. Die Nachricht konnte unmöglich für mich gemeint gewesen sein. Ich hatte weder laut Musik gehört noch Möbel herumgeschoben. Ich war barfuß durch die leere Wohnung getappt.

Amy musste vor Scham sterben. Musste mir versehentlich diese komplett paagal Sache geschrieben haben, die sie eigentlich an ein Familienmitglied hatte schicken wollen oder an ihren riesigen Muskelprotz von einem Verlobten. Dieser Gedanke löste Mitgefühl in mir aus. Ich aß eine Schüssel Sahnejoghurt und überlegte, wie ich den Abend, der sich noch viel zu lang vor mir ausdehnte, verbringen konnte.

Als ich das Haus verließ, fühlte sich die Nacht an wie etwas aus dem Ofen, das gerade abkühlte. Mein Haar war feucht und sauber. Ich hatte kein Auto und konnte auch nicht fahren. Ich rechnete die Blocks aus, die noch vor mir lagen, da ich mein Telefon in der Wohnung gelassen hatte, und lief allein bis zur Brady Street.

Wissen Sie, ob hier irgendwo der Baumarkt ist?, fragte ich einen jungen Mann mit einem langen Pferdegesicht.

Zwei Straßen weiter, dann noch einen Block entfernt, sagte er. Direkt hinter der pinkfarbenen Markise, Sie werden sie sehen, steht Sneha Dry Goods drauf, von da aus gehen Sie einen Block in Richtung Westen.

Das spricht man SNAY-hah aus, sagte ich. Er hatte das e durch ein i ausgetauscht. Aber da hatte er sich schon wieder die Kopfhörer auf die kleinen pinkfarbenen Ohren gesetzt.

Eine Uhr, danach suchte ich. Ich würde sie an die gelbe Küchenwand hängen. Ihr Gesicht würde mich beobachten, während ich mich durch die Zeit vorwärtsbewegte.

Sie fiel mir auf, als ich in der Warteschlange stand.

Eine Frau in Eile. Beinahe vibrierend. Durch die Gänge flitzend. In einer Hand ein Bohrer, noch in seiner roten Verpackung. In der anderen Hand eine Steckdosenleiste. Sie wickelte sich deren blasses Kabel um das Handgelenk und starrte hinauf zu irgendetwas auf einem hohen Regalbrett.

Sie war nicht mein Typ. Blondes, fast weißes Haar. Eine Virginia-Woolf-Nase. Ihre Hautfarbe lag irgendwo zwischen Henna und Ringelblume und stammte direkt von einer Sonnenbank. Dennoch ließ etwas an ihr meinen Atem stocken. Ich wollte sie nicht anstarren, konnte aber auch nichts anderes tun. Ich bezahlte, zählte mein Bargeld. Der Laden war voll, grell erleuchtet. Ich lief durch die warme, weiche Nacht zurück nach Hause.

In der Ferne erklang ein Feuerwerk zur Feier der Unabhängigkeit des Landes, während ich mich daranmachte, die Uhr aufzuhängen. Auf dem Klappstuhl gefährlich hin und her wackelnd, heulte ich auf und klammerte mich an der Wand fest, in die ich soeben erst einen Nagel gehämmert hatte. Ich ließ die Uhr fallen. Die Hälfte ihrer Scheibe splitterte heraus. Sekunden später drang durch die Bodendielen ein lauter Zornesschrei zu mir hoch.

C1

Im College hatte ich nicht gewusst, wie ich an Frauen herankommen sollte. Zumindest nicht im echten Leben. In den schlaflosen Tiefen der Nacht war ich insgeheim auf Craigslist unterwegs gewesen, hatte auf ein, zwei Kontaktanzeigen geantwortet. Diese Verabredungen hatten mir ein gewisses Maß an Selbstvertrauen gegeben. Waren ein Bollwerk gegen den Terror der totalen Unerfahrenheit. Nun war ich in eine neue Stadt gezogen und sehnte mich nach etwas Echtem.

An einem feuchten Juliabend lief ich etwa eine Stunde bis zu einer Bar, von der ich gehört hatte, sie sei passend. Ich trug noch das Make-up von der Arbeit und eine durchscheinende Bluse, die die klaren Linien meines Körpers offenbarte. Mein Haar fiel mir über das Schlüsselbein.

Es vermittelte alles einen ganz falschen Eindruck. Lesben in Wanderstiefeln und Windjacken warfen einen Blick auf mich, und die paar von ihnen, die nicht auf jene wortlose, unhinterfragte Weise weiße Frauen bevorzugten, steuerten direkt auf mich zu.

Nein, nein, nein, wollte ich sagen, nicht ihr. Wir könnten befreundet sein. Uns zusammen in einem Rudel bewegen. Ich befreite mich von der großen Butch in ihrer braunen Weste, die mir zu Leibe rückte und mit dem Daumen die Kurve meiner Taille nachfuhr. Genauso schlimm wie jeder x-beliebige Mann.

Ich ging hinüber zu der jungen Frau, die gerade hereingekommen war. Ein kleines weißes Gesicht, umrahmt von dunklem Haar, einem Pulp Fiction-Bob. Eine Unsicherheit im Blick, die sie weich erscheinen ließ. Sie saß an der Bar und trank aus einem großen Glas Wein. Ich blickte hinab auf ihre roten, wunden Lippen und spürte, wie meine Klit einen Satz machte.

Mit den Augen lächelte ich ein Wolfslächeln. In der Vergangenheit hatte ich versucht, mich wortgewandt und ausgefeilt auszudrücken, war damit aber nur mittelmäßig erfolgreich gewesen. Diesmal sagte ich einfach nur Hallo. Als sie lachte und sich in meine Richtung neigte, schaute ich nach der alternden Frau in der braunen Weste. Unsere Blicke trafen sich, und sie wirkte angepisst. In ihrer Vorstellung hätten Pulp Fiction und ich beide ihr gehören sollen. Meine Lippen zuckten. Abgewrackte alte Lesbe. Ich wusste, wie wunderschön ich in diesem Augenblick war, spürte, wie es in mich eingebrannt war, wie ein Brandzeichen. So fühlte ich mich: allein und mächtig. So fühlte ich mich: erschüttert darüber, wie die Sehnsucht eines Lebens manchmal reibungslos Wirklichkeit werden kann, ohne große Anstrengung oder Kosten, so einfach wie der Kauf einer Uhr.

Im Studium hatte ich mich mit einem nahezu unlesbaren deutschen Roman beschäftigen müssen, in dem es um einen jungen Mann geht, der von zu Hause wegläuft, um dem Druck dessen zu entkommen, was seine Familie sich für ihn ersehnt. Jahrelang reist er herum, schließt sich einer Theatertruppe an, knüpft Freundschaften, die zu seiner erweiterten Familie werden, aber am Ende wählt er sein Schicksal, entscheidet sich für das biedere, vernünftige Leben, das seine Eltern sich für ihn gewünscht haben, findet eine Ehefrau, alles aus freiem Willen. Das war für mich die Bedeutung von wahrem Erwachsensein geworden: eine Verneigung vor dem Unausweichlichen. Für die Glücklichen konnte davor noch eine Phase der Freiheit stehen, der Spielraum der Jugend.

Darin befinde ich mich gerade, dachte ich, während ich den Rand meiner Debitkarte entlangfuhr, die Ellbogen auf dem kalten dunklen Azetat der Theke.

Als wir an den Fenstern der Bar vorbeiliefen und ich sicher war, dass Braune Weste hinsehen würde, zog ich Pulp Fiction an mich und küsste sie. Daran erinnere ich mich bis heute. Pulp Fiction. Die mir nichts bedeutete. In diesem Nichts lag eine Sicherheit, die mich abschirmte. Schwarzes glänzendes Haar. Ein leeres Lächeln. Ihre Lippen, die sich sanft für meine öffneten, ihr zarter kleiner Hals entblößt. Die Straßenlaternen tauchten die Nacht in das Dunkelorange eines Bienenbrustkorbs. Eine langsame, köstliche Gewaltsamkeit stieg in mir auf. Ich umfasste ihren dunklen Haarschopf fest mit meiner Faust.

D1

Der August wurde so reif wie eine Frucht. Sonnenbraut und Rainfarn strahlten am Wegesrand, und meine Mutter rief an, um mir mitzuteilen, dass mein Onkel gestorben war.

Akute Pankreatitis und Leberzirrhose. In den letzten Jahren hatten seine Augen die Farbe von altem Urin angenommen, und seine Waden waren zu Ballons angeschwollen. Sie hielten den Leichnam tiefgekühlt, bis alle denkbaren Ammais und Achayans von Dubai bis Brampton, von Kolkata bis Schottland, zurückfliegen konnten, um ihn auf den Friedhof zu bringen. Der Zeitpunkt, zu dem mein Onkel den Löffel abgab, war bemerkenswert. Genau während unseres Erntedankfests. Seine Beerdigung fiel auf dessen Höhepunkt. Wäre ich noch dort gewesen, hätte ich mit großem und boshaftem Vergnügen das Sadya verspeist, als gäbe es an diesem Tag ausschließlich etwas zu feiern. Hätte mir roten Matta-Reis und Kokos-Parippu und Bohnen-Thoren in den Mund geschaufelt wie ein gieriger kleiner Junge. Hätte über die Klagelaute der Trauernden hinweg um einen Nachschlag von dem süßen, cremigen Payasam gebeten.

Zu meiner Mutter sagte ich steif: Verstehe. Tut mir leid, das zu hören. Ich bot nicht an, nach Hause zu kommen, um meine Eltern zu unterstützen. Um meine Mutter zu unterstützen.

Sie weinte. Du bist ein sehr kalter Mensch, sagte sie in unserer Sprache zu mir.

Sein ganzes Leben lang hatte mein Onkel sie tyrannisiert. Einmal hatte er sie in einem betrunkenen Wutanfall vor meinem Vater geschlagen, der ihn daraufhin kurzerhand in die Rhododendronbüsche warf. Danach entschied mein Onkel, dass ich ein strategischeres Ziel war. Er mochte mich, auf seine Weise. Eine Zuneigung, die mit etwas Düsterem und Ranzigem verbunden war.

Die Erinnerungen purzelten zurück, ineinandergerollt wie Socken. Mein Onkel, der vor dem Eisentor der Grundschule auf mich wartete. Wie ich auf ihn zurannte und mein Schulranzen dabei gegen meinen schmalen Rücken schlug. Jenem Menschen entgegen, der mir am meisten Aufmerksamkeit schenkte, der über jeden meiner Witze lachte, der sagte, dass er mich liebe. Ein flinkes Geschöpf mit riesigen Augen war Monchayan. Ein strähniger Hurrikan aus Haar, der das nackte Auge seiner Kopfhaut umkreiste. Er spielte Lego mit mir und trampelte dann auf dem Haus herum, das ich gebaut hatte. Wenn er wieder einmal arbeitslos war, nahm er mich mit auf seine langen, ziellosen Spaziergänge und kniff mich fest in meine Brustwarzen, wenn ich trödelte. Es gab noch andere Dinge, über die ich nicht einmal für eine einzige Sekunde nachdenken wollte.

Und hier war nun meine Mutter und weinte um diesen nutzlosen Mann.

Im Hintergrund hörte ich die Anfangsmusik der Kannada-Serie, die mein Großvater gern vom Bett aus schaute. Gott sei Dank war ich gerade weit entfernt von all den Menschen, die mir wehgetan oder mich übersehen hatten, den Nachbarinnen und Cousins, die meine Eltern gefeiert hatten, als sie kleinere Erfolge vorweisen konnten, und sie sichtbar verachteten, nachdem ihnen diese wieder genommen worden waren. Wenn ich es irgendwie verhindern konnte, würde ich nie wieder dort leben.

Ja, antwortete ich meiner Mutter bissig, du hast recht, sehr scharfsinnig beobachtet.

Nachdem sie aufgelegt hatte, durchfuhr mich ein plötzlicher, stechender Schmerz. Ich dachte an meine Eltern, die zwei Ozeane entfernt lebten, mit ihren nachlassenden Körpern und ihrer eigenen Last.

Schweigend wischte ich die Küchenoberflächen ab und wrang den Lappen in der Spüle aus.

Die Zeiger der Uhr waren dort stehen geblieben, wo sie sich zum Zeitpunkt ihres Falls befunden hatten. Dies wirkte wie eine Metapher dafür, wie Menschen waren. Aus einem Impuls heraus hatte ich sie sichtbar auf ein Küchenregal gestellt. Der Nagel, an dem sie hätte hängen sollen, steckte nach oben verbogen in der Trockenbauwand, nackt und allein.

Ich sehnte mich nach Freundschaft. Thom hatte Peters Angebot angenommen und würde im September anfangen. Er hatte sich nicht einmal bei mir bedankt. Er war mittlerweile aus Madison fortgezogen und wohnte gerade in Wauwatosa im Haus seiner Mutter, wofür er sich schämte, eine Scham, die ich als nicht ganz gerechtfertigt empfand, da dort, wo ich herkam, Kinder bis weit ins Erwachsenenalter hinein bei ihren Eltern lebten.

Aber wie schloss man in Milwaukee Freundschaften? Oder überhaupt irgendwo? Ich war genervt von dem einen Menschen, den ich in der Umgebung kannte. Die Arbeit schien kein fruchtbarer Boden zum Kontakteknüpfen zu sein, sofern ich nicht mit behäbigen mittelalten Republikanerinnen namens Susan zu Weinabenden gehen wollte.

Und selbst wenn ein gewisser perverser Teil von mir das wollte, behandelten mich die Susans, als würde ich nicht existieren. Meine eigene konkrete Susan, eine Projektmanagerin in dem Batterien herstellenden Mischkonzern, bezeichnete mich – wenn ich mich recht erinnere – als eine Ressource. In meinem Beisein.

Ich wünschte mir eine Freundin. Und ich wünschte mir eine Frau. Ich wusste nicht, ob diese beiden Sehnsüchte voneinander getrennt waren. Jemanden, mit dem ich umherstreunen konnte. Eine lachende, lebhafte Frau mit einem Auto.

Pulp Fiction hatte nach nur wenigen Wochen ihr Glück woanders gesucht, und ich merkte, dass es ihr Vergnügen bereitete, mich in sporadischen nächtlichen Textnachrichten mit diesen Eroberungen zu quälen. Ich ging erneut in die Bar, lief eine Stunde bis dorthin und wieder zurück, konnte meinen Erfolg aber nicht wiederholen. Ich schaute mich auf Craigslist um. Alle Inserierenden schienen psychisch labil oder eine sehr teure Taxifahrt entfernt zu sein.

Ich war es bereits leid, die zwei Busse zum Hauptsitz der Fortune-500-Firma zu nehmen. Fünfundsechzig Minuten des Pendelns, des Wartens, während SUVs – amerikanische Autos, die aussahen, als wären sie mit Lastwagen gekreuzt worden – an mir vorbeirasten.

Schweiß auf meiner Haut. Ich starrte auf die Klimaanlage, die in der Ecke der von meinem Chef bezahlten Wohnung Staub ansammelte. Ohne einen genauen Zeitrahmen zu bestimmen, fragte ich mich, was wohl mit mir geschehen würde.

E1

Die Arbeit ließ mich zurück wie ein ausgewrungener Mopp. Die Tage waren lang und brutal. Es fiel mir schwer, mich mit den Leuten in meinen Teams zu unterhalten, die alle viel älter waren als ich. Nur wenige von ihnen sprachen normales Englisch. Ich war dankbar für Thoms Dazustoßen, für die Scherze, die er mir textete, und für sein Angebot, mich abzuholen und nach Hause zu bringen.

Der IT-Techniker am benachbarten Arbeitsplatz redete unablässig, erzählte weitschweifig von seinen offenen Tickets und seiner Bowlingliga, von Workflowoptimierung und der klebrigen Taste auf seiner Tastatur. Jede Woche brachte ein Senior-Berater wie ein Weihnachtsmannlehrling Donut-Bällchen für die gesamte Etage mit. Das war Keith LaMarchese, rotwangig und jovial. Er lebte auf einer Privatinsel vor der Küste Floridas und führte sein eigenes Ein-Mann-Unternehmen. Er flog montags ein und dienstags wieder aus und wurde in besseren Hotels untergebracht als Peter. Im Pausenraum erwischte er mich dabei, wie ich die Armbanduhr an seinem pummeligen Handgelenk betrachtete, und sagte, mit nichts als Sonnenschein und Liebenswürdigkeit in seiner Spaßvogelstimme: Rolex gleich mehr Sex, damit die Ladys Bescheid wissen.

Ich war mir meines eigenen Melanins stets bewusst. Das sage ich ohne Selbstmitleid. Manche Leute betrachteten meine Haut, als würden sie darüber nachdenken, wie man sie am besten sauber schrubben könnte, ohne unhöflich zu sein. Thom, der Keith LaMarchese widerlich fand, legte nahe, dass ich mir das nur einbildete. Ich legte nahe, er solle sich verpissen.

Das englische Wort complexion stammt von dem altfranzösischen complession ab. Eine Kombination aus Körpersäften. Temperament, Charakter. Es macht Anleihen bei dem lateinischen complexus (umfassend, umschließend), als Partizip Perfekt complecti: umklammert, umarmt. Die spezifische heutige Bedeutung (Farbe oder Farbton der Gesichtshaut) entwickelte sich im 15. Jahrhundert. Darauf war ich gestoßen, als ich am College eine Hausarbeit schrieb und mich in einem düsteren Winkel der Bibliothek durch Links im Oxford English Dictionary klickte. Als ich das Badezimmer betrat, war ich schockiert von der vergessenen Bräune meiner eigenen Gesichtszüge. Der Anblick ließ meinen Herzschlag in die Höhe schnellen.

Ich hatte keine Ahnung, was in vier oder fünf Jahren noch von den Dingen übrig bleiben würde, die ich über Geschichte und Wissenschaft und Literatur gelernt hatte. Wozu sollte ich irgendetwas wissen, »denken lernen«, wie meine amerikanischen Lehrer*innen es so gern formulierten, wenn es lediglich meine Geringschätzung für die geistig belanglosen Projektmanager*innen und stellvertretenden Abteilungsleiter*innen um mich herum steigerte? Ich hätte im Hauptfach lieber Microsoft Excel studieren sollen.

An den Tagen, an denen er mit mir zufrieden war, nannte Peter mich noch immer seinen Rockstar. Das hatte weniger mit Talent zu tun, als mit meiner Bereitschaft, als Erste zu kommen und als Letzte zu gehen, jede E-Mail innerhalb von fünf Minuten nach ihrem Empfang zu beantworten und wie ein beharrlicher Herzschlag immer wieder zu sagen: ja, ja, ja.

Zwei Arbeitsplätze weiter schickte Thom mir ein Foto, das er heimlich von mir gemacht hatte. Wie ich mit grimmigem Gesichtsausdruck, beinahe schielend, auf das leuchtende Rechteck vor mir starrte.

der süße cortisol-glanz des erwachsenenlebens, stand in der grünen (?) Blase unter dem Bild.

wenn du das ins internet stellst, bringe ich dich um, schrieb ich zurück.

komm her bruh, schrieb er, ich hab übermäßig viel rum in meinem schreibtisch.

Wir gossen die blasse, gewürzte Flüssigkeit in unsere Trinkflaschen und stießen mit ihnen an, ehe wir uns zurück an unsere Tabellen setzten. Er brachte mich nach Hause, und der Wagen fuhr leichte Schlangenlinien.

Ich unternahm Abendspaziergänge, meldete mich für einen Portugiesischkurs an, zu dem ich viermal ging, ehe ich es wieder aufgab. Ich begann in einem Notizbuch mit gelbem Lederumschlag Tagebuch zu führen, schrieb auf, was ich gegessen hatte, und beschrieb die kleinen Ereignisse jeden Tages. Die Arbeit schien es nicht wert zu sein, detailliert festgehalten zu werden. Mithilfe von YouTube lernte ich, wie ich mir die Bikinizone wachsen konnte. Ich topfte eine Vier-Dollar-Basilikumpflanze aus dem Baumarkt in eine Cento-Dose um, in der sich zuvor gehackte Tomaten befunden hatten, wo sie sogleich durch Überwässerung starb.

Ich meldete mich bei einer Online-Dating-Website an.

Diese waren damals noch recht neu, diese Benutzeroberflächen in hellen Farben und mit klarer Schrift, die signalisieren sollten, dass ihnen jegliches Verbotene fehlte. Dennoch war das Niederschreiben, das Auspacken meiner Wünsche, meiner mehr oder weniger profanen Vorlieben, für mich unvermeidlich mit Scham verbunden.

In Wahrheit war ich so einsam. Thom verbrachte seine Abende damit, mit seiner Freundin zu skypen, die in unserer Collegestadt zurückgeblieben war, oder große Mengen Bier im Y-Not II zu trinken. Wenn ich mit ihm mithalten wollte, würde ich bald nicht mehr in meine Bleistiftröcke und meine vorgeschriebene Strumpfhose passen, und wo kämen wir dann hin? Ich erstellte ein Profil und spürte eine matte Aufregung. Einen vagen Schmerz.

Weltreisende, schrieb ich und dachte an den regennassen orangefarbenen Fußweg zum Haus meiner Eltern in Übersee. An die zwei Nächte, die ich bei einem Zwischenstopp in Frankfurt verbracht hatte.

Stundenlang scrollte ich durch die verfügbare Auswahl, verschickte Nachrichten, bewertete Gesichter und Körper, versuchte aus einzelnen Textzeilen Persönlichkeiten abzuleiten, und dann.

Ich sah die Frau aus dem Baumarkt. Den zu ihr gehörenden Namen.

Marina, 27.

Ich berührte den Bildschirm meines Laptops. Das Display kräuselte sich unter dem Druck.

Ein langes, zartes Gesicht. Grabsteinweiße Zähne. Irgendetwas Faszinierendes in ihrem Blick aus den blassgrün wirkenden Augen: Meerwasser, in dem Sand aufgewirbelt wird.

Sie war Tanzlehrerin und Choreografin. Sie las gern. Ihre Lieblingsbücher waren Weißer Oleander, das ich als Teenagerin gelesen hatte und liebte, und die gesammelten Gedichte von Rumi. Sie hatte nicht angegeben, auf welches College sie gegangen war. Unter »Suche nach« stand auf ihrem Profil: Casual Fun, Dating, eine Beziehung.

Der Bildschirm vor mir leuchtete in Blau-, Pink- und blassesten Grautönen. Ich war ungeduldig, wie leicht elektrisch aufgeladen, und ein wenig beschämt. Konzentriert biss ich mir auf die Lippe und klickte auf das Nachrichten-Symbol. Begann zu schreiben.

F1

Im Sommer besteht Milwaukee aus Sixpacks im Park, kostenlosen Jazzkonzerten, Festivals für alles, Gastropubs, die von jungen, hippen Menschen überquellen, Reparaturen am Haus und Grillen im Freien. Voller Nachbarschaftlichkeit, so süß wie ein Lachen.

Wenn es kälter wird, ist die Stadt wie eine geballte Faust, die Menschen spröde und abblätternd. Zusammengekauert. Schultern gebeugt vor dem Frost, der aus dem Norden heranrollt und vom Michigansee kaum abgemildert wird.

Es war an einem dieser ersten kalten Tage, als ich Marina zum ersten Mal schrieb und sie nicht antwortete.

Mein Stolz war verletzt, und das von einer Person, der ich noch nie begegnet war. Macht nichts, dachte ich, und fand andere Betten, in die ich mich legen konnte. Flüchtete mich in das Bestellen von Möbeln aus dem Internet. Ich war es leid, mit nichts als einem Bett, einem Tisch und zwei Klappstühlen zu leben, und so schoss ich über das Ziel hinaus. Dieses Verhalten ist fest ins Erwachsenwerden eingebaut, wie eines dieser an der Wand befestigten Bügelbretter in alten Häusern. Irgendwann in ihren Zwanzigern werden Leute wie ich viel zu besessen von Inneneinrichtung.

Meine Wohnung lag in Brewers Hill. Einst war diese Gegend der amerikanische Traum gewesen. Auf einem Steilhang mit Blick über das Tal des Milwaukee River gelegen, beherbergte die Nachbarschaft Hunderte von Menschen, die es zu den am Flussufer aufgereihten Gießereien, Mühlen und Gerbereien zog. Vorarbeiter und Besitzer lebten Haustür an Haustür neben eingewanderten Arbeiterinnen und Arbeitern mit schwieligen Handflächen, deren eng aneinandergedrängte Häuschen die großen neoklassischen und italianisierenden Bauten auf ihren riesigen Grundstücken säumten. In der Nachbarschaft kannte man einander. Die Kinder spielten frei auf der Straße.

Der Abschwung nach dem Krieg weidete die Gegend aus. Räucherte sie, trocknete sie und lagerte sie für später ein. Die Betriebe verließen das Tal. Die Stadtverwaltung riss resigniert ein leer stehendes Haus nach dem anderen ab. In den Siebzigern und Achtzigern tröpfelten die Menschen dann langsam, aber sicher wieder zurück nach Brewers Hill, das von der Segregation durch Redlining in den nördlich angrenzenden Vierteln verschont geblieben war. Auf den Grundstücken abgerissener Gebäude tauchten bescheidene Eigentumswohnungen auf. Fabriken wurden in Loftwohnungen umgewandelt.

In den hübschen Häuserreihen im Kolonialstil wohnen nun Nachbarschaftswachen-Mütter und -Verlobte, die durch ihre Jalousien spähen und an die Hill-Mailingliste schreiben, wenn sie junge Schwarze Männer, die fünf Straßenzüge weiter nördlich leben, in Sichtweite ihrer Veranda vorbeikommen sehen. Verdächtige Figur, tippen die Amys dann, ihr Puls angenehm erhöht, der Blick zwischen Fenster und Bildschirm hin- und herspringend. Ältere Menschen in ihren Vorgärten nicken einem zu, bieten einem Schnittblumen aus ihrem Garten an und raten einem, die Fenster mit Plastikfolie abzudichten, wenn der Winter einsetzt.

Ich verwende die Gegenwartsform, aber eigentlich gebe ich nur wieder, wie ich mich daran erinnere und was ich später darüber erfahren habe, und beides zusammen hat meine Wahrheit von diesem Ort geformt. Wir alle haben unsere eigene Wahrheit eines Ortes. Von keiner Stadt gibt es ein universelles Narrativ, das zusätzlich auch noch wahr wäre. Das ist bloß Werbung.

Ende Oktober blies ein Sturm durch die Stadt, ließ eisigen Regen auf sie niederprasseln. Er erwischte mich draußen in einem grauen Wollkleid. Ich ließ mich bis zur Unschicklichkeit davon durchtränken. In der Wohnung rubbelte ich mich mit einem Handtuch ab. Zog mich nackt aus. Ich ging auf die Dating-Website, um Nachrichten an die Frauen zu verschicken, deren Bilder eine zähneknirschende Lust in mir hervorriefen.

Brianne

hey

Emily

hey hübsche

Wanda

hey (:

Ashley

mein arzt hat mir vitamin du verschrieben

Kayleigh

was geht

Carlene

omg frank ocean! der hat mich durchs college gebracht

Tanvi

hey! immer schön, noch eine andere queere POC lady hier zu sehen. wie geht’s?

Meine Versuche reichten von schrecklich bis faul.

Einige der Frauen antworteten, aber sie schienen nicht in der Lage zu sein, ein Gespräch in Gang zu halten, wirkten sterbenslangweilig. Das Ausbleiben von Erfolgen verunsicherte mich. Ich dachte an die Witze, die die Leute am College über Männer gemacht hatten, die aus derselben Gegend kamen wie ich, Männer, die Frauen anschrieben und sie baten, ihnen ihre Brüste und Vagina zu zeigen, die sie bobs und vagene schrieben.

Ich verfolgte die Pakete mit den Möbeln, die ich bestellt hatte, mithilfe ihrer Sendungsnummern. Die Stücke – Kommoden und gesteppte Schlafsofas und Anlehnspiegel – waren in der Mitte des Landes deponiert gewesen und bewegten sich nun von dort aus langsam und unermüdlich auf mich zu.

G1

Du hast deinen alten Akzent total verloren, sagte Thom irgendwie anklagend zu mir.

Kümmere dich um deinen eigenen Kram, antwortete ich, während meine Kehle sich aus Gründen zusammenschnürte, die ich nicht richtig zu fassen bekam. Wir waren zu einem Martini-Lunch ausgegangen. Sechs Kleinkinder, die sich in zwei Anzügen versteckten. Wir saßen in der Bar Louie in der Nähe des Kunden. Auf unserem Tisch standen Zierkürbisse, auf einem Zettel wurden die Herbstspezialitäten angepriesen: ein Pumpkin-Spice-Tiramisu, Hot Toddys mit Apfelsaft.

Mein Martini hatte die Geschmacksrichtung Ananas-Holunderblüte. Thoms war klar und brennend, mit nichts als einer rot gefüllten Olive als Anker.

Er sagte, ich solle mir nie wieder so ein Mädchengetränk bestellen, wenn ich in Gesellschaft war.

Typen mögen Frauen, die trinken wie Männer, erklärte er.

Wie kommst du darauf, es würde mich interessieren, was Typen mögen?

Mein Homie. Ganz offensichtlich willst du, dass die Männer dich bewundern. Oder fürchten. Eins von beidem.

Ganz offensichtlich. Alles klar. Kapiert.

Halt dich von ausgefallenen Drinks fern. Oder auch nicht. Mir doch egal.

Dir doch egal. Alles klar.

Im Grunde stehen wir in Konkurrenz zueinander. Zu dumm, dass ich dich mag. Wird unsere Loyalität den Kapitalismus überleben? Da-da-dum.

Zieh keine falschen Schlüsse über meine Loyalität, erwiderte ich. Weniger, weil ich es so meinte, sondern eher, um die Macht kühlen Verhaltens zu unterstreichen.

Als unsere Kellnerin die Rechnungen brachte, fehlte auf meiner ein Ananas-Martini für zehn Dollar neunundneunzig. Ich bemerkte es laut. Super, meinte Thom, du hast einen winzigen Treffer gegen das System erzielt. Los geht’s, Broseph.

Ich schüttelte den Kopf. Ich fühlte mich gern heiliger als andere Menschen. Es kam nur so selten vor. Ich winkte die Kellnerin herbei, die irgendeine unangenehm aussehende Wucherung auf ihrem linken Nasenflügel hatte.

Wurde schon bezahlt, sagte sie.

Wie bitte?

Sie hat es übernommen.

Was?

Sie wies auf den hinteren Bereich der Bar Louie. Dort spielte eine Frau mit schwungvollem blondem Haar und flachen Brüsten Poolbillard. Ihre winzige Gestalt war umgeben von einem Grüppchen aus lachenden androgynen Menschen. Abrasiertes Haar. Hosenträger. Manche von ihnen trugen T-Shirts, auf denen STRIVE DANCE stand.

Das Gesicht der Frau war herzförmig, und unter seiner Spitze saß eine Fliege. Sie beugte sich über den roten Filztisch und nahm ihren Stoß vor.

Dann blickte sie direkt zu mir auf.

Ich senkte ruckartig den Kopf und machte mich an meinem Geldbeutel zu schaffen. Mein Gesicht glühte.

Ayyy. Du hast eine Verehrerin, sagte Thom und leckte sich in einer Parodie männlicher Rüpelhaftigkeit die Lippen.

Sie hat mich auf einer Dating-App geghostet. Das ist keine Anmache. Das ist eine Entschuldigung. Reine Höflichkeit. Komm, sonst stempeln wir zu spät ein.

Warte, warte, warte. Bist du – datest du? Datest du Frauen?

Lass uns gehen, Thomas.

Seit wie vielen Jahren sind wir jetzt befreundet, Bruh?

Tatsächlich seit noch gar nicht so vielen.

Ich erzähle dir von meinen Sexabenteuern bis hin zum Muschifurz. Ich habe dir erzählt, wie Isabel einmal auf meinen Schwanz gekotzt hat, dabei musste ich ihr buchstäblich Geheimhaltung schwören. Und ich dachte, du wärst so ein indisches Mädchen, das eifrig seine Jungfräulichkeit beschützt. Währenddessen gertrudesteinst du dich anscheinend durch ganz Ill Mil. Ich bin verletzt, mein Dude.

Fick dich. Hier ist Bargeld, du kannst es mir zurückzahlen. Lass uns gehen.

Willst du dich nicht bei deiner höflichen Freundin bedanken?

Ich lasse mich nicht von Peter und Susan fertigmachen, weil wir zu spät und nach Gin stinkend auftauchen.

Tagesordnungspunkt vertagt, erwiderte Thom ominös lächelnd. Fürs Erste.

Wir traten aus der Bar Louie, knöpften unsere Mäntel vor der Kälte zu und warfen keinen Blick zurück. Es entspricht der Wahrheit, dieses Klischee: Mein Herz pochte.

H1

Es hätte eigentlich ganz einfach sein sollen, Marina in den darauffolgenden Tagen eine Nachricht zu schreiben.

Aber als ich den Mut aufbrachte, die Inbox der App zu öffnen, an einem späten Vormittag nach vielen Krügen Coors im Y-Not II, war mein Gesprächsverlauf mit ihr seltsam nackt geworden. Meine Nachricht – lang und galant, durchdachter als die anderen, die ich normalerweise verschickte – schien nun hinübergeschleudert worden zu sein zu dem grauen Umriss eines Kopfes. Das Fahndungsfoto einer Schaufensterpuppe.

Sie hatte mich blockiert. Oder ihr Profil deaktiviert. Hatte sie mich tatsächlich blockiert? Das würde überhaupt keinen Sinn ergeben. Was für ein Mensch würde eine großartige Nachricht von einer gut aussehenden Person ignorieren, dann einen Ananas-Martini durch ein Restaurant verschicken und die Empfängerin online auf dem einzigen Portal blockieren, auf dem es zu einer weiteren Kontaktaufnahme kommen könnte? Ein unsinniger Mensch. Ein falthoo Mensch.

Ein Mensch, der meine Zeit nicht wert war.

Wütend öffnete ich Channa-Dosen.

Als ich mir in den Handballen schnitt, erstaunte mich die Farbe meines eigenen Blutes. Orange wie der regennasse Fußweg, der zum Haus meiner Eltern führte. Blut machte mich hilflos. Ich erinnere mich noch, dass ich als Kind einmal bei seinem Anblick in Ohnmacht fiel. Als Erwachsene hatte ich es ausschließlich in meiner Menstruation zu tolerieren gelernt.

Für meine Kichererbsen hatte ich den Ofen auf zweihundert Grad gestellt, und mein uralter Herd konnte die Hitze nicht darin festhalten. Das Blut aus meiner Hand war auf die Herdplatte getropft, wo es anscheinend langsam gekocht wurde. Das erschien mir sowohl lustig als auch widerwärtig. Ich hatte nicht die richtigen Utensilien, um die Wunde zu versorgen. Stattdessen schnappte ich mir ein langes Stück Küchenrolle und eine Flasche Whiskey. Kippte die Flasche über die geballte Faust voller zusammengeknülltem Brawny. Presste mir diesen alkoholgetränkten Stöpsel fest in die Hand.

Das Brennen des Alkohols an meiner kleinen Schnittwunde war wie eine Zeitmaschine. Arnika auf meinen Schnitten, meine Mutter, die mich an einem einzigen dünnen braunen Arm hochhob, während ich heulte. Das Licht, das durch die staubigen Vorhänge über dem Bett hereinfiel, in das sich meine Großeltern Jahre später legten, um fortan nicht mehr daraus aufzustehen. Dettol in dem kleinen Krankenhaus in Kerala. Ich war während meines Studiums hingeflogen, um mir die Weisheitszähne herausoperieren zu lassen, da es laut meiner Mutter keinen Sinn ergab, dafür amerikanische Straßenräuberpreise zu bezahlen. Ich dachte daran, wie ich mich in meiner Kindheit nach Wutanfällen und Bestrafungen in den Körper meiner Mutter faltete, wie sie mich umhüllte. Steife, leuchtende Stoffe, weiche, klebrige Arme.

Der Geruch meiner Mutter. Fenchelsamen. Sandelholzseife.

Als ich aufhörte, in meine Hände zu weinen, konnte ich Amys erhobene Stimme hören, die durch die Dielenbretter gedämpft wurde. Eine weitere Stimme antwortete auf das wütende Fauchen – die eines Mannes. Der Verlobte.

Ich wischte mir die laufende Nase mit der Whiskey-Kompresse ab. Dann, getrieben von Neugier, ließ ich den Kopf auf den Fußboden sinken.

Die meisten Worte blieben undeutlich, aber ich hörte, wieder und wieder: Ich bin ein netter Mensch! Ich bin ein netter Mensch!

Na ja, wenn man es extra sagen muss.

Schweigen. Der Verlobte schien hinausgestürmt zu sein. Ihre Haustür schwang auf, ließ ihr metallisches Ächzen erklingen.

Mein Eingang war eine Seitentür in Richtung Westen, durch die man sowohl in den Keller als auch auf die absurd schmale Treppe kam, die zu meiner Wohnung führte. Die beiden bewohnten die Vorderseite des Hauses. Auf dem höchsten Teil von Brewers Hill. Von dort aus konnte man die Skyline von Milwaukee sehen, kompakt und gläsern.

Ehe ich vom Fußboden aufstand, hörte ich die Stimme des Verlobten so laut auf meiner Treppe, als würde er unsichtbar neben mir stehen und sprechen.

Amy, sie stand die ganze verdammte Nacht lang offen, sagte die Stimme.

Er meinte die Seitentür. An meiner Wohnungstür waren sichtbar Riegel und Kette vorgeschoben. Am Herd kauernd konnte ich beide deutlich erkennen. Ich war froh, dass sie da waren, als Schutz vor dem fürchterlichen männlichen Dröhnen vor der Tür. In der Nacht zuvor war ich mit Thom und seinen Mitbewohnern ausgegangen. War um drei Uhr morgens zurückgekehrt. Wahrscheinlich hatte ich den Schlüssel nicht ganz umgedreht.

Das Stampfen des Verlobten entfernte sich. In meinem Magen spürte ich den Sturm heranrollen.

Ich nahm meine Kichererbsen, bestäubte sie mit Kurkuma und Kreuzkümmel. Salzte sie ordentlich und bedeckte sie mit Ketchup.

Ich legte mich nackt ins Bett und stellte die Schüssel zwischen meinen Brüsten ab. Verrührte und aß mit meiner rechten Hand, sorgfältig darauf bedacht, den Schnitt nicht zu berühren. Mein Atem ging schnell und flach. Curryketchup sammelte sich unter meinen Nägeln. Mit meiner linken Hand tippte ich auf meiner Tastatur. Begann Dinge auf meinem Profil zu verschieben und zu verändern.

Ich wünschte mir Freundinnen. Ich wollte Abenteuer erleben. Ich wollte keine Beziehung. Das schrieb ich so hin.

Ich antwortete Carlene, die hübsch und süß und dumm wirkte und anscheinend nicht zwischen you’re und your unterscheiden konnte, und wir machten Pläne, uns zu verabreden. Ich wählte die meiner Wohnung am nächsten gelegene Bar. Kann es nicht erwarten, schrieb sie und fügte ein Kussgesicht hinzu.

Ein Teil von mir fühlte sich noch immer unbefriedigt.

Ich starrte auf die Konversation, die ich einst mit Marina geführt hatte, nicht dem anonymen grauen Umriss eines Frauenkopfes, und Wut brach in mir aus, so schnell und widerwärtig wie ein heruntergefallenes Ei. Wie unerträglich es ist, sich nach etwas zu sehnen, was ein anderer Mensch einem vorenthalten kann.

Ich klappte den Laptop zu. Wischte mir willkürlich die Hände ab. Zog mir die Decke über den Kopf und nahm die Ecke eines Kissens in den Mund. Schloss die Augen.

Ich begann mich selbst zu kneten und quirlen, den Schaum der Lust aufzuschlagen. Als ich kam, schrie ich laut auf.

Mein Telefon plingte. Ich wusste, dass es nichts Gutes sein würde. Für den Augenblick fühlte es sich an, als hätte ich in einem Flecken Sonne gelegen und etwas Köstliches gegessen. Ich lächelte. Rollte mich zur Seite. Ich wusste, dass ich diesen Zustand festhalten musste.

I1

Bei der Arbeit begaben wir uns in Phase zwei unseres organisatorischen Changemanagement-Prozesses (OCMP). Es war zwingend erforderlich, dass wir dem Kunden gegenüber weiterhin ein gutes Auftreten präsentierten. Das betonte Peter in einem hell erleuchteten Besprechungszimmer voller modularer grauer Sitzgelegenheiten. Er starrte bewusst auf Thoms Bauch, an dem die Hemdknöpfe langsam Mühe hatten, gegen die Auswirkungen seiner Trankopfer im Y-Not II anzukämpfen.

Ich schlug meine Beine in die andere Richtung übereinander und wurde mir erneut der Stoppeln bewusst, die unter meiner Strumpfhose wuchsen. Stellte mir vor, dass ich eine Spinne wäre, die in einer Ecke des Konferenzraums Fliegen fing. Im Neonlicht blinzelnd.

Es war beinahe halb acht Uhr abends. Um acht musste ich im LuLu in Bay View sein. Wir befanden uns weit im Norden der Stadt, wo sich das ausgedehnte Unternehmensgelände meines Kunden ausbreitete. Ich müsste also drei Busse nehmen, insgesamt zwanzig Minuten warten, und bis ich ankäme, wäre es fast neun. Mein Gesicht musste Verzweiflung signalisiert haben. Peter fragte mich, ob ich eine Bahn zu erreichen hätte.

Oh, ich habe eine Verabredung um acht, aber die kann ich auf jeden Fall absagen, erklärte ich im unterwürfigsten Tonfall. Ich fügte hinzu: Das hier ist mir wichtig.

Peter wirkte beschwichtigt und ließ seine Leute gehen.

Thom und ich rannten in Richtung Parkhaus und ließen einen gemeinsamen Jubelschrei erklingen, sobald wir die Empfangshalle des Kunden verlassen hatten. Zuvor waren wir in unseren schicken Schuhen sittsam an deren Pop-Art-Wandgemälde einer für Wisconsin typischen Landschaft entlanggelaufen: Wälder und Seen und Ackerland, aus denen Batterien, Autositze und Heizgeräte aus grasigen Hügelkuppen und bewaldeten Enklaven hervorbrachen wie Eiterbeulen. Nun fühlten wir uns wie freigelassene Kinder. Das Parkhaus war novemberkalt und leer. Thom quetschte sich in den Wagen, hob eine Gesäßhälfte an und ließ einen mehrere Minuten andauernden, reifen Trompetenstoß von einem Furz ertönen. Stöhnend und lachend wedelte ich mit der Hand in seine Richtung.

Thomas, Grundgütiger, ich werde ersticken –

Tut mir leid, Bruh, musste es mir den ganzen Tag verkneifen, hat sich mächtig was angestaut.

Wieso gehst du nicht bei der Arbeit zur Toilette? Ich meine, ernsthaft, das kann nicht gesund sein –

Damit ich in Hörweite von Peter und den Geschäftsbereichsleiterinnen und stellvertretenden Ressortleitern, denen ich noch bereinigte Tabellen schuldig bin, furzen kann? Ich nehm dich mit, da musst du eben ab und zu einen Furz riechen. Nenn es die Arschsteuer. Die Gassteuer.

Hey, kannst du mich bitte nicht zu Hause absetzen?

Na klar, Homie. Wohin willst du?

LuLu, das ist auf der, äh, lass mich nachschauen –

Bay View oder Brady?

Äh, Bay View. Vielen Dank. Ehrlich.

Schon gut. Danke, dass du mir genau eine Minute vor der Ausfahrt Bescheid gibst.

Tut mir leid. Tut mir leid.

Irgendwann mal fährst du selbst, dann wirst du es verstehen.

Du klingst wie meine Mutter. Seit ich auf der Welt bin, sagt sie zu mir: Wenn ich einmal sterbe, dann wirst du es verstehen.

Moms haben sie nicht alle. Allgemeingültige Wahrheit. Also, wer ist im LuLu?

Es ist kein richtiges Date –

Ach, die alte Leier.

Halt die Klappe. Ich treffe mich mit dieser Frau namens Tig.

Und woher kennst du Ms. Tig? Alte Freundin?

Fick dich. Wir haben uns im Internet kennengelernt, aber ich habe mein Profil geändert. Da steht jetzt, dass ich auf der Suche nach Freundschaften und Abenteuern bin. Sie hat mir geschrieben und meinte, sie suche dasselbe. Hat genug vom Daten. Sie wirkt cool, auch wenn sie nicht mein Typ ist, aber ja. Freundschaftsdate.

Freundschaften und Abenteuer! Wieso ist sie nicht dein Typ?

Da müssen wir jetzt echt nicht drüber reden.

Das ist die Steuer, mein Dude. Der Preis für die Fahrt. Die Gebühr für die Telefonauskunft. Komm schon, gib mir irgendwas Gutes. Was zur … Dieser Wichser hat mir einfach komplett die Vorfahrt genommen. Hast du einen Todeswunsch, Arschloch?

Ich weiß nicht. Sie wirkt ein bisschen zu dick. Aber ich habe sie noch nicht getroffen. Was ist denn dein Typ?

Ich mag ganz weiche Frauen. Also, mir gefällt die Vorstellung, dass alle Teile einer Frau wie eine Brust sind. Einfach eine herumlaufende Ansammlung von zusammenhängenden Brüsten. Einfach weich. Gefügig. Außerdem mag ich große Augen, breite Münder. Und was im Kopf, natürlich.

Ich kann nicht mehr. Okay, bieg hier rechts ab. Du bist unmöglich.

Du hast mich gefragt, Dog.

Breite Münder erklärt Isabel.

Red keinen Scheiß über mein Mädchen. Das ist tabu.

Hab ich gar nicht. Ich halte viel von der jungen Isabel. Sie hat bloß unbestreitbar einen breiten – alles klar, wir sind da. Danke, danke, danke.

Bring dein Nicht-Date dazu, dich nach Hause zu fahren. Es ist zu weit und zu kalt zum Laufen, und ich hab nicht vor, deinen Arsch wieder hier abzuholen.

LuLu war auf jene Art schön, wie es meine liebsten amerikanischen Restaurants sind. Zinndecke. Echte Holztische, vor Lärm summend. Buttriges Licht. Die Gastgeberin war vollbusig, mit breiten, weichen Lippen. Beim Sprechen mit ihr senkte ich den Blick und versuchte, weder zu grinsen noch rot anzulaufen.

Tig hatte mir geschrieben: es ist voll. draußen gibt es heizstrahler, sag bescheid, wenn das nicht okay ist.

Ich schlängelte mich zum Hinterhof durch.

Ein neugieriges Gesicht, beweglich und energiegeladen, blickte unbefangen zu mir auf. Eine dralle Frau. Haut in der Farbe von dunklem Honig, beinahe im gleichen Ton wie meine eigene. Die Haare in winzigen Braids. Ihr Lächeln zeigte, dass sie keine Zahnseide benutzte. Dennoch hatte sie etwas Gebieterisches an sich. Sie stand auf und ergriff meine Hand. In der Kühle des mit Glühlampen beleuchteten Hinterhofs trug sie keinen Mantel, lediglich einen Pullover.

Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Antigone. Antigone Clay.

Grundgütiger, dachte ich.

Sie fügte hinzu: Die meisten nennen mich Tig.

Ich werde dich nennen, wie auch immer du willst, erwiderte ich und beugte mich mit einem leichten Lächeln über eine Speisekarte.

Möchtest du drinnen sitzen?

Ach, geht schon.

Die Kellnerin trat an unseren Tisch. Antigone schenkte ihr ein breites Lächeln. Warf nicht einen Blick auf die Speisekarte. Sagte: Bringen Sie uns zwei Gläser von Ihrem Lieblings-Rotwein. Sie wird das Essen aussuchen.

Ich war erschrocken, traf aber eine Auswahl. Gebratene Shishito-Paprika, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, aber fand, dass sie kultiviert klangen. Gnocchi mit brauner Butter und knusprigen Salbeiblättern. Mais- und Zucchinipuffer mit Labneh.

Tig war siebenundzwanzig. Fünf Jahre älter als ich. Sie liebte es zu reden, und sie liebte es zuzuhören, lockte einen aus der Reserve mit Fragen und Kommentaren, was eine Unterhaltung mit ihr zu einem raren Vergnügen machte. Ihre Stimme war sanfter, als ich vermutet hatte. Ihr Lachen dagegen war wie eine große Vase, in die mein eigenes hineinzupassen schien. Ich ließ es öfter erklingen, wenn ich mit ihr sprach. Sie erzählte mir, dass sie datingmüde sei und im letzten Jahr eine Reihe unergiebiger Liebschaften gehabt habe. Ihre letzte Freundin sei so kontrollierend gewesen, dass sie Tig genötigt habe, jederzeit ihren Standort auf Find My Friends zu teilen. Ich war beeindruckt von der Leichtigkeit, mit der sie dieses Detail enthüllte.

Tig war in Milwaukee aufgewachsen, in North Division. Als sie in meinem Alter war, hatte sie die Stadt verlassen. War hinunter nach Disney World gefahren und hatte dort einen Job gefunden. War jahrelang geblieben. Sie war Begrüßerin, Verkäuferin, Mitglied des Casts und zum Zeitpunkt ihrer Kündigung inoffizielle Auszubildende eines Fahrgeschäftemechanikers gewesen.

Weshalb bist du zurückgekommen?, fragte ich.

Antigone fuhr mit den Zinken ihrer Gabel durch das Labneh und spießte Gnocchi auf. Schloss die Augen, um den Geschmack aufzunehmen.

Seltsam, verkündete sie, und dann tat sie es erneut. Ich wartete auf eine Antwort. Ihre Aufmerksamkeit hatte eine neugierige, umherschweifende Qualität.

In ihrer Familie gab es Drama. Eine Schwester machte Schwierigkeiten. Außerdem hatte sie studieren wollen, sagte sie, und mittlerweile sei sie dabei. Sie studierte Philosophie am Alverno. Einem Frauen-College. Ihre Dozentinnen seien radikale wundervolle Weiber, sagte sie. Aber die Studiengebühren waren hoch. Tig hatte mehrere Kredite aufgenommen. Sie lebte in Bay View, mit einer türkischen Mitbewohnerin, die sie seltsamerweise Turk nannte.

Ich fragte Tig, wer ihr*e Lieblingsphilosoph*in sei.

Diese Woche ist es Kant, antwortete sie. Aber das ändert sich von Woche zu Woche. Und wir haben gerade erst angefangen, Kant zu lesen.

Ich aß die letzte Shishito. Sie war schärfer als die anderen. Sauer, pfeffergrell.

Also, was war der Höhepunkt deiner Woche?, fragte Tig, die spürte, dass ich mich innerlich zurückzog. Was war der Tiefpunkt?

Ich dachte über die Frage nach.

Höhepunkt, Woche vom 11. November

Das riesige Gantt-Diagramm fertigzustellen, das die einzelnen Projektphasen für den organisatorischen Changemanagement-Prozess (OCMP) über die nächsten Wochen und Monate zeigt, es erfolgreich auf dem riesigen Drucker des Kunden auszudrucken, es mit dunkelblauem/-grünem Klebeband an die Glaswände des Konferenzzimmers zu kleben, während du dich in einem Wettlauf gegen die Uhr befandst und aufgrund verschiedener schroffer E-Mails von Susan und Peter Schweiß ausdünstetest. Auf das Gantt-Diagramm zu blicken, die bereits getane und die noch zu erledigende Arbeit zu sehen, die Sprache darauf kaum noch Englisch, eine Sprache, die du vor diesem Job kaum beherrscht hast, voller Ausdrücke wie Stakeholder-Engagement, Ressource-Onboarding, Bottom-Lining, Sprints, 86ing, Train the Trainer, Green Belt, Go/No-Go.

Darauf zu blicken und zu denken: Du verdienst Geld, du arbeitest in einem Büro mit Menschen in Anzügen, wenn er weiterhin mit dir zufrieden ist, wird Peter dein Sponsor für eine Green Card werden, du kannst Geld nach Hause schicken und in einem guten Restaurant essen, wenn du es willst, und dir ein Steppsofa kaufen, wenn du es willst, du bist in Sicherheit, du bist in Sicherheit.

Tiefpunkt, Woche vom 11. November

Auf das Telefondisplay zu starren und lange, aufgeblähte Textblasen, viele davon ausschließlich in Großbuchstaben, von Amy zu verarbeiten. Die Kernfrage des Inhalts war das Nichtabschließen der Seitentür, allerdings wurden mehrere alarmierende Andeutungen gemacht, dass Amy und der Verlobte dein Kommen und Gehen jeden Tag beobachtet haben und dich an die Vermieterin melden könnten, weil du die Tür hast offen stehen lassen und sie für »bis zu vierundzwanzig Stunden in Gefahr gebracht hast«.

Tig griff über den Tisch und berührte sanft meine Hand.

Du bist gerade vollkommen verschwunden, sagte sie. Lachte vorsichtig.

Ich hatte eine ziemlich aufreibende Woche bei der Arbeit, erklärte ich. Der Höhepunkt ist also ganz einfach, dass ich sie hinter mir habe. Der Tiefpunkt? Wahrscheinlich, mit meiner Hausverwalterin aneinanderzugeraten, die direkt unter mir wohnt und mich hasst.

Wer könnte dich schon hassen?

Du kennst mich nicht, sagte ich freundlich genug. Mittlerweile zitterte ich. Tig nahm ihren Mantel und legte ihn über meinen, über mich.

Magst du auf einen Wein mit zu mir kommen?, fragte sie. Ich wohne fünf Minuten von hier.

Ich hatte diese Möglichkeit in Betracht gezogen und war mir ihrer Gefahren bewusst. Mochte diese Frau, wollte jedoch nicht mit ihr ins Bett gehen. ...

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