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Alice und die Geister von nebenan

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Ein nicht-sehr-gruseliges Geisterabenteuer übers Erinnern und Vergessenwerden, klug und mit viel Herz und Humor erzählt

Die zehnjährige Alice ist ein Umzugsprofi. Sie zieht mit ihren Eltern von Haus zu Haus. Oder besser: von Bruchbude zu Bruchbude. Kein Problem für Alice, denn sie liebt nichts mehr, als Dinge zu reparieren. Nach Umzug Nummer elf kommt ihr das heruntergekommene Nachbarhaus gerade recht. Das perfekte neue Reparaturprojekt! Doch sie ist nicht allein: Gleich drei Geister spuken hier herum – und die brauchen ihre Hilfe genauso dringend wie die bröckeligen Wände …


  • Erscheinungstag: 23.07.2024
  • Seitenanzahl: 272
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505152412

Leseprobe

Für Lucia und Peter Gill Case,
die wissen, wie bedeutsam ein Haus sein kann

KAPITEL 1

Alice’ Mutter besaß ein Rednerpult. Sie besaß noch merkwürdigere Dinge, aber das Pult sprang mit Abstand am meisten ins Auge. Es dominierte das Wohnzimmer – alle anderen Möbel schienen sich vor ihm zu verneigen. Sogar der Kamin, von dem man doch meinen sollte, er könne sich als Herzstück des Hauses behaupten, duckte sich demütig, niedergedrückt von Dutzenden gerahmter Fotos beider Familienzweige. Die Cannolis – Verwandtschaft von Alice’ Mutter – waren allesamt außergewöhnlich groß und dünn und erinnerten an biegsame Strohhalme mit Beinen. Die Potchniks – Angehörige von Alice’ Vater – kamen dagegen ausnahmslos klein und rund und ziemlich haarig daher und glichen zufriedenen Bären, die gerade eine ordentliche Portion Honig verputzt haben.

Alice, die erst zehn und somit noch dabei war, zu werden, wer sie sein würde, hatte aus beiden Genpools das Beste abbekommen: Sie war clever und furchtlos wie ihre Mutter und zugleich freundlich und handwerklich geschickt wie ihr Vater. Ob sie eines Tages allerdings das typische dröhnende Lachen der Potchniks entwickeln oder lernen würde, eine Brücke zu turnen wie alle Cannolis, blieb abzuwarten. Schließlich war sie vor allem eine ganz und gar einzigartige Persönlichkeit, und wie ihre Mutter oft sagte: »Die Zeit wird es zeigen.«

Alice war zu Hause gewesen, als das Rednerpult geliefert wurde. Sie hatte die Haustür geöffnet, und davor stand Dave, der zum Hausmeisterteam des College gehörte.

»Heyho, Alice«, sagte Dave und stützte sich auf das Pult. »Deine Mom hat mich gebeten, das vorbeizubringen. Wir wollten es eigentlich auf den Müll werfen, aber sie meinte, ich solle es stattdessen hier abladen.«

»Was stimmt denn nicht damit?«, erkundigte sich Alice, und ihr Gesicht erstrahlte, während sie das zerkratzte und ramponierte Holz musterte. Sie war ein Mädchen, dessen Neugier nicht von zu vielen Arbeitsblättern im Matheunterricht oder langweiliger Pflichtlektüre abgestumpft war. Ihre Eltern waren leidenschaftliche Verfechter des Freilernens – was bedeutete, dass sie nicht zur Schule ging. Stattdessen war das Leben ihre Schule. Sie hatte den ganzen Tag zur freien Verfügung und durfte ihren Gedanken erlauben, in alle Richtungen zu schweifen. Sie konnte lesen oder durch die Natur streifen oder experimentieren oder vor sich hin träumen. Abends fragten ihre Eltern gespannt und interessiert, was sie tagsüber gelernt habe, und Alice berichtete in sämtlichen Einzelheiten von all ihren Entdeckungen: dass die Planeten um die Sonne kreisen und Monde wiederum um die Planeten; dass Algen und Pilze eine Symbiose eingehen, aus der Flechten entstehen; dass Henry David Thoreau viel zu viele Nägel besorgt hatte, um seine kleine Hütte im Wald zu bauen, weil er ein furchtbar schlechter Zimmermann war. Außerdem brachte er seine Schmutzwäsche zu seiner Mutter, damit sie sie wusch – wieso also gilt er als Paradebeispiel für Eigenverantwortlichkeit?

»Das hätte er in seinem Buch schreiben sollen«, hatte Alice sich beim Abendessen – es gab scharfen Reis und Bohnen – empört. »Ich wette, dann hätte es sich nicht so gut verkauft!« Anschließend erklärte Alice ihren Eltern, dass sie sich im Garten ein eigenes Haus bauen wolle, und beide ermutigten sie voller Begeisterung und Liebe, genau das zu tun. Allerdings war sie bisher nicht dazu gekommen, denn es gab noch so viel zu lernen über Schwarze Löcher (mysteriös!) und Bakterien (allgegenwärtig!) und den Satz des Pythagoras (nützlich!). Tatsächlich lernte Alice manchmal an einem einzigen Tag so viel, dass sie ihrer Mutter und ihrem Vater sogar abends, wenn die beiden sie ins Bett brachten und ihr einen Gutenachtkuss gaben, immer noch mehr zu erzählen hatte.

Als nun Dave vor ihrer Haustür stand, starrte Alice gierig auf das lädierte Pult. Es war klar, dass es zum nächsten Reparaturprojekt für sie und ihren Vater werden würde. Ihr gingen bereits all die Dinge durch den Kopf, die sie lernen könnte, während sie es gemeinsam instand setzten: Elektrotechnik, Chemie, Geometrie – und Geduld.

»Was damit nicht stimmt?«, fragte Dave und wiederholte damit Alice’ Worte. »Was stimmt denn noch damit? Das habe ich auch deiner Mom gesagt: ›Professor Cannoli‹, habe ich gesagt, ›die Lampen sind kaputt, und das Mikrofon funktioniert auch nicht mehr. Das Ding ist Schrott. Außerdem sind die Räder unten komplett abgebrochen.‹ Aber sie meinte: ›Dave, mein Mann nimmt etwas Kaputtes in die Hand, ganz gleich, was es ist – und im Nu wird es wieder wie neu.‹ Also: Hier ist es, bitte sehr. Wo soll ich es hinstellen?«

Alice deutete in die Mitte des Wohnzimmers.

Sowie Dave sich verabschiedet hatte, nahm Alice das Stehpult von oben bis unten genau unter die Lupe. Die Verkabelung war nicht besonders kompliziert – Alice hatte unter den wachsamen Augen ihres Vaters schon Dutzende von Lampen neu verkabelt – und sie war ziemlich sicher, dass man ein funktionierendes Mikrofon in dem Gebrauchtwarenladen bekam, den sie häufiger besuchten. Danach galt es bloß noch, die tiefen Kratzer mit Holzkitt zu verspachteln, alles neu zu beizen, eine doppelte Lackierung Polyurethan aufzutragen, damit es schön glänzte, und neue Räder anzuschrauben. Nichts leichter als das!

Bis ihr Vater von seiner Arbeit als städtischer Bauinspektor nach Hause kam, hatte Alice bereits eine Abdeckplane über den Wohnzimmerteppich gebreitet und das schwere Pult in die Mitte gewuchtet.

»Oh, was für ein Prachtstück!«, sagte Alice’ Vater, fuhr mit den Händen über die abgeschrägten Holzkanten und lächelte das berühmte Potchnik-Lächeln.

»Ich habe schon eine Liste geschrieben mit allem, was wir tun müssen – in der richtigen Reihenfolge«, erklärte Alice und reichte ihrem Vater einen Zettel mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie sie das Pult wieder auf Vordermann bringen wollte.

»Und du spürst das Potchnik-Kribbeln, nicht wahr?« Wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot, etwas zu reparieren, fingen bei Alice und ihrem Vater die Handflächen zu jucken an – so lange, bis sie ein Werkzeug in die Hand nahmen und an die Arbeit gingen. Eine Eigenheit, die in der Familie lag und von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Alice nickte. Sogar unter ihren Fußsohlen kitzelte es.

Ihr Vater überflog die detaillierte Liste und nickte. »Alice, mein Meißelchen, du bist ein cleveres und gründliches Mädchen. An alles hast du gedacht. Und ich glaube, dieses Projekt schaffst du ganz allein.«

»Wirklich?«, fragte Alice. Sie hatte ihrem Vater bei Hunderten von Ausbesserungsarbeiten rund ums Haus geholfen – vom Verputzen der Wände über das Fliesen des Badezimmers bis hin zum Ersetzen morscher Deckenbalken. Ganz allein jedoch hatte sie sich noch nie an ein solches Unterfangen gewagt. Doch jetzt war sie da: ihre Chance. Die Chance, sich einer kaputten Sache anzunehmen und sie wieder heil zu machen.

»Jep«, sagte ihr Vater und schloss sie in eine seiner struppigen Bärenumarmungen. »Außerdem muss ich noch oben den neuen Duschkopf installieren, damit deine arme Mom sich nicht immer so bücken und verrenken muss, wenn sie sich das Shampoo aus den Haaren spült.« Er tänzelte die Stufen hinauf (denn obwohl die Potchniks ein untersetztes Völkchen waren, bewegten sie sich erstaunlich leichtfüßig), pfiff dabei vor sich hin und trommelte den Rhythmus auf dem Handlauf des Geländers mit, das er gemeinsam mit Alice gleich als Erstes restauriert hatte, als sie knapp ein Jahr zuvor in das alte, alte Haus gezogen waren.

Mein ganz eigenes Projekt, dachte Alice und betrachtete liebevoll das Pult. Sie griff nach der Liste und marschierte zielstrebig in die Werkstatt ihres Vaters im Keller, um alles zusammenzusuchen, was sie brauchte.

Nach zwei Wochen harter und stetiger Arbeit war Alice fertig und das tadellos polierte Stehpult bekam einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Und das gerade rechtzeitig, wie Alice’ Mutter befand.

»Schnell, ruf deinen Vater!«, sagte Professor Cannoli, während sie durch die Eingangstür platzte, ihre Aktentasche im Flur einfach fallen ließ und ihre Tochter stürmisch in die Arme schloss. (Alice’ Mutter war ungewöhnlich knochig und drückte ihr Kind manchmal so fest, dass sie dabei versehentlich Alice’ Vagusnerv erwischte. Woraufhin Alice, als sie noch kleiner gewesen war, einmal prompt ohnmächtig zusammengesackt war.) »Ich muss einen sehr wichtigen Vortrag halten«, erklärte Alice’ Mutter und eilte zum Pult. »Den wichtigsten Vortrag meines Lebens!«

Alice war immer noch taumelig und benommen von der Umarmung ihrer Mutter, hastete jedoch sofort zur Kellertreppe. Den wichtigsten Vortrag überhaupt?, dachte sie. Wie kann das sein? Professor Cannoli hatte schon so viele wichtige Vorträge gehalten – in ihrem Hörsaal und im Wohnzimmer. Wie konnte das nun der allerwichtigste von allen sein?

Etwa wichtiger als »Die Anthropologie des modernen menschlichen Gebisses in Relation zu Praktiken der Kindererziehung auf der Nordhalbkugel«?

Wichtiger als »Eine anthropologische Betrachtung der Bestecknutzung im Cannoli-Potchnik-Haushalt«? (Fazit: zu viele Suppenlöffel, zu wenige Teelöffel.)

Professor Cannolis Vorträge waren fesselnd, und sie galt als unangefochten beste Dozentin des kleinen College, an dem sie lehrte.

»Dad!«, rief Alice die Stufen hinunter. »Mom hat einen neuen Vortrag!«

»Bin in einer Sekunde da!«, brüllte ihr Dad von unten herauf.

»Alice, nicht schreien«, tadelte ihre Mutter. »Cannolis schreien niemals.«

»Aber Potchniks sehr wohl!«, entgegnete Alice fröhlich.

»Gut gekontert, kleines Fußnötchen«, sagte ihre Mutter und sortierte die Karteikarten mit ihren Notizen. »Würdest du bitte die Fotos vom Kaminsims räumen und den Projektor anwerfen, solange ich noch einmal kurz alles durchgehe?«

»Klar«, sagte Alice. Sie stellte die Bilder vom Sims auf dem Wohnzimmertisch ab und blickte dabei in die erstarrten Augen von Familienmitgliedern, die schon lange nicht mehr auf Erden weilten. Alice hatte von klein auf – seit sie alt genug gewesen war, um auf dem Schoß ihrer Eltern zu sitzen – Geschichten über diese Verwandten gehört, tat aber oft so, als erinnerte sie sich nicht daran, nur um alles noch einmal erzählt zu bekommen.

»Mom, wer ist das?« Sie hielt ein Foto in silbernem Rahmen in die Höhe, das eine Frau mit einem geflochtenen Haarkranz zeigte, deren langer, steifer Rock bis zum Boden reichte.

Ihre Mutter sah hoch. Selbst inmitten der Vorbereitungen auf den wichtigsten Vortrag ihres Lebens nahm sie sich die Zeit, eine Familiengeschichte zum Besten zu geben. »Das ist deine Urgroßtante Gretel Potchnik. In dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, wurde sie von allen jungen Männern umschwärmt – dein Urgroßonkel Samuel Potchnik konnte sich also glücklich schätzen, dass er sie abbekommen hat, zumal ihre Mitgift drei Ziegen und eine Kuh betrug. Deine Tante Gretel war eine begnadete Tänzerin, trotz ihres Holzbeins. Und die Kuh gab angeblich außergewöhnlich viel Milch.«

»Und wer ist das?« Nun zeigte Alice auf das gerahmte Bild eines großen, schlanken Mannes mit beachtlichem, perfekt gewachstem Schnauzbart. Er trug einen eleganten Anzug und hatte einen Bowler unter einen Arm geklemmt.

»Das ist dein Ururgroßvater, Alessandro Cannoli. Mit fünfzehn Jahren hat er sich als blinder Passagier auf ein Frachtschiff geschmuggelt, in der Hoffnung, so nach Amerika zu gelangen. Sechs Wochen lang hat er sich im Frachtraum versteckt, inmitten einer Schafherde. Als das Schiff angelegt hatte, hat er versucht, sich von Bord zu schleichen, aber ein Hafenarbeiter am Kai hat ihn entdeckt und nach Verstärkung gebrüllt, um den dünnen dunkelhäutigen Jungen zu fassen, der sich in die Schatten drückte. Zu seinem Glück wollte niemand ihm zu nahe kommen, weil er sich von den Schafen eine leidige Krankheit – Lippengrind – eingefangen hatte, die genauso appetitlich ist, wie sie klingt. Außerdem stank er erbärmlich. Wie alle Cannolis hatte er sehr lange Beine, also rannte er all seinen Verfolgern mühelos davon. Als er schließlich stehen blieb, war er in Toledo im Bundesstaat Ohio und schwor sich, dass er niemals wieder so übel riechen würde. Er wurde ein sehr erfolgreicher Barbier und auch ein ziemlicher Dandy, wie du auf dem Bild sehen kannst. Er hat sogar eine neue Schnurrbartmode erfunden – den umgekehrten Schnauzer, der als Cannoli-Kringel bekannt wurde und enorm beliebt war, von Toledo bis hinunter nach Cincinnati. Allerdings letztlich ein kurzlebiger Trend, denn er erwies sich als ausgesprochen unpraktisch, wenn man heiße Suppe essen wollte.«

Alice trug die übrigen gerahmten Fotos zum Tisch, stutzte dann aber, als sie das letzte Bild in die Hand nahm und bemerkte, dass ihre Mutter ihr tatsächlich noch nie die Geschichte der beiden Mädchen erzählt hatte, die sie daraus anstarrten. Die Jüngere hatte schelmische Augen und ein unscharfes halbes Lächeln im Gesicht, ganz so, als hätte ihr zwar jemand gesagt, sie solle sich nicht bewegen, als hätte sie es aber trotzdem nicht geschafft, sich so lange zusammenzureißen, bis der Fotograf sein Bild aufnehmen konnte. Das ältere Mädchen (Schwestern, dachte Alice) war ernster, mit starken Armen, kräftig gebaut und mit einem dicken, hoch gebundenen Haarknoten. Ihre Miene wirkte auf Alice zuerst beinahe grimmig, doch dann erkannte sie den beschützerischen Grizzlybären-Blick, den sie manchmal auch auf den Gesichtern ihrer eigenen Eltern erhaschte.

Alice streckte ihrer Mutter das Bild entgegen. »Mom?«

Wieder schaute Alice’ Mutter auf. »Oh, das sind –« Doch da spazierte Alice’ Vater ins Zimmer, und ihre Mutter bat ihn, die Jalousien herunterzulassen und sein Handy lautlos zu stellen. Alice platzierte auch das letzte Foto auf dem Wohnzimmertisch und rückte rasch den Projektor zurecht, sodass die Folien an die freie Wand über dem Kamin geworfen würden. Alice’ Mutter trat hinter das Pult und klopfte zweimal mit dem Fingerknöchel gegen das Mikrofon, woraufhin ein befriedigendes Wump-wump durch das Wohnzimmer hallte. Alice reckte beide Daumen nach oben, um ihrer Mom zu bedeuten, dass die Lautstärke genau richtig eingestellt war, und setzte sich dann gemeinsam mit ihrem Vater auf die Couch, wie sie es immer taten, gespannt darauf, was Professor Cannoli zu sagen hatte.

Alice’ Mutter blickte ihrem Publikum unverwandt in die Augen. »Bevor ich mit meinem offiziellen Vortrag beginne, möchte ich eine Neuigkeit mit euch teilen.« Ihre elektronisch verstärkte Stimme erfüllte den kleinen Raum. »Zum zwölften Mal, seit ich an diesem College lehre, bittet man uns, umzuziehen

Alice schnappte nach Luft. Ihr Vater lehnte sich erwartungsvoll nach vorn.

»Wie ihr beide wisst, stellt das College als Teil meiner Gesamtvergütung auch unsere Unterkunft und kommt dafür auf. Dekanin Sheridan hat mich heute Morgen darüber informiert, dass wir innerhalb einer Woche aus diesem hübschen Häuschen ausziehen müssen. Sie haben bereits ein neues Haus für uns gefunden – wie immer. Nach allem, was ich gehört habe, handelt es sich um ein verlassenes, beinahe abbruchreifes Gebäude am nördlichen Ende des Campus, das das College für einen Dollar erworben hat. Nur die Hälfte der Fensterscheiben ist noch vorhanden. Es gibt einen großflächigen Wasserschaden. Im Badezimmer im Obergeschoss haust eine Familie Fledermäuse. Angeblich hat die Bank dem College Geld dafür angeboten, dass sie es ihnen abnehmen, aber am Ende haben sie sich auf einen Kaufpreis von einhundert Pennys geeinigt.«

Alice’ Vater lächelte und rieb seine großen Bärenpranken aneinander. »Keine Sorge!«, verkündete er. »Bis Neujahr haben Alice und ich das Ganze wieder in Schuss gebracht! Ein gutes Projekt kommt mir gerade recht – in diesem Haus gehen mir bald die Dinge aus, die ich reparieren könnte. Und was war das für eine Ruine, als wir eingezogen sind, hmm, Alice?« Er stieß seine Tochter mit dem Ellenbogen an. »Der explodierende Verteilerkasten? Das Loch im Fußboden in deinem Zimmer? Die gesprungene Badewanne und die geborstenen Armaturen? Was für eine Bruchbude! Aber jetzt, würde ich sagen, ist es tipptopp.«

Die Art, wie ihr Vater sich die Hände rieb, verriet Alice, dass er bereits das Potchnik-Kribbeln spürte. Ein ganzes Haus. Dort warteten sicherlich Hunderte von Reparaturarbeiten. Bestimmt juckte es ihn wie verrückt.

»Weißt du noch, wie wir damals das komplette Haus neu verkabeln mussten – wegen der Mäuse?«, fragte Mr. Potchnik.

Alice runzelte die Stirn. »War das das Haus, in dem auch die Türknäufe gefehlt haben?«

»Nein«, sagte ihr Vater. »Die fehlenden Türknäufe gehörten zu dem Haus, in dem der Ofen immer wieder von selbst ausgegangen ist.«

»Aber das Haus mit dem Ofen hatte auch das riesige Loch im Dach, oder?« Um die Wahrheit zu sagen: So clever Alice auch war, die Häuser warf sie immer wieder durcheinander. Sie hatte einfach schon in so vielen gelebt. Sie erinnerte sich an jedes einzelne Reparaturprojekt, seit sie zwei Jahre alt gewesen war, aber die Häuser an sich verschwammen für sie. Niemals hatte sie lange genug an einem Ort gewohnt, um ein echtes Gefühl von »Zuhause« zu entwickeln.

»Nein, das –«, setzte ihr Vater an, doch Professor Cannoli unterbrach ihn.

»George! Wir haben jetzt nicht die Zeit, in Erinnerungen an jedes einzelne Haus zu schwelgen!« Alice’ Mutter trat hinter dem Stehpult hervor und setzte sich neben ihren Ehemann auf die Couch. Ihre Stimme wurde nun zwar nicht mehr durch das Mikrofon verstärkt, war aber nach wie vor eindrucksvoll. »Und genau das ist das Problem, George: diese Renoviererei.«

Das Lächeln rutschte Alice’ Vater von den Lippen und verschwand zwischen den Holzdielen, die er und Alice so sorgsam neu lackiert hatten. »Oh!«, machte er, und dann etwas leiser: »Oh.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Alice, deren neugieriger Geist sich eigentlich allerhand vorzustellen vermochte. »Was könnte denn jemals problematisch daran sein, ein Haus zu renovieren?«

»Solange dein Vater diese verheerenden Ruinen immer wieder in wunderschöne Häuser verwandelt, wird das College uns auch immer wieder in weitere verheerende Ruinen umsiedeln, um dann die wunderschönen Häuser, die er erschafft, zu verkaufen! Mit einem hübschen Gewinn, nebenbei bemerkt! Hast du eine Ahnung, wie viel Geld das College an dem letzten Haus verdient hat, in dem wir gewohnt haben? Genug, um damit ein volles Jahr lang den Fachbereich Theaterwissenschaften zu finanzieren!«

»Ich schätze, das war dann eine Menge«, murmelte Alice’ Vater düster.

»Allerdings!«, bekräftigte Alice’ Mutter. »Auch wenn wir uns wohl alle darin einig sind, dass der Studenteninszenierung von Mamma Mia! ein größeres Kostümbudget sehr gut angestanden hätte!« Sie nickten in stummem Einvernehmen.

Alice wollte die Sache dennoch nicht in den Kopf. »Aber es ist doch immer gut, etwas Kaputtes in die Hand zu nehmen und wieder heil zu machen.« Diesem Motto folgten die Potchniks seit Generationen. Sie hatten es im Blut.

Alice’ Mutter stand wieder auf. »Und an dieser Stelle beginnt mein offizieller Vortrag.« Sie nahm ihren Platz hinter dem Pult ein, lehnte sich zum Mikrofon und raunte leise: »Die erste Folie, bitte.«

Alice langte hinüber zum Projektor und startete die Präsentation.

»Die Anthropologie kurzfristiger Kindheitsstationen und die Auswirkungen unsteten Aufwachsens auf Einzelkinder«, verkündete Alice’ Mutter den Titel ihres Vortrags. Mr. Potchnik schlug die Augen nieder.

»Oh Dad«, flüsterte Alice und schob ihre kleine Hand in seine große Bärenpranke. »Bitte nicht melancholisch werden. Du kannst nichts dafür.«

Alice’ Vater seufzte. »Ich fürchte, deine Mutter hat erstklassige Recherche betrieben und wird uns das Gegenteil beweisen.«

KAPITEL 2

Alice’ Vater hätte mit seiner Vermutung nicht richtiger liegen können.

»Und damit lässt sich zusammenfassend sagen«, kam Professor Cannoli dreiundachtzig Folien später zum Schluss, »dass man unter Berücksichtigung der besonderen emotionalen Bedürfnisse von Kindern ohne Geschwister, des strukturellen Stresses, der mit dem Umzug einer Familie von einem Haus in ein anderes einhergeht, und der Bedeutsamkeit eines Gefühls der Verwurzelung und Erdung bei Kindern – insbesondere im kritischen Lebensalter zwischen neun und zwölf Jahren – eindeutig sieht, wie essenziell wichtig Stabilität und Kontinuität für die Entwicklung einer lebhaften, selbstsicheren und belastbaren Persönlichkeit sind. Anstelle einer Persönlichkeit, die von Hoffnungslosigkeit und ungreifbarem Unglücklichsein geprägt ist.«

»Aber Mom«, warf Alice ein, ohne auch nur vorher die Hand zu heben, »ich fühle mich nicht hoffnungslos und auch nicht im Geringsten unglücklich. Ich denke, mit mir ist alles in Ordnung.«

»Natürlich, Strudelchen, das ist es«, erwiderte Alice’ Mutter. »Mit dir ist alles mehr als in Ordnung. Du bist entzückend und intelligent und einnehmend und mutig, und du sprühst nur so vor Neugier und Kreativität und Energie. Aber die Wissenschaft kann man nicht ignorieren! Wenn wir weiterhin von einem Haus ins nächste ziehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Ganze kippt. Die Datenlage ist außergewöhnlich eindeutig.«

Alice fiel etwas Kurioses ein, das sie ihren Eltern noch nie anvertraut hatte: Wenn sie tief und fest schlief und träumte, dass sie zu Hause war, dann sah sie nie ein bestimmtes Haus vor sich. Alles, was ihr im Traum erschien, waren leere Räume, durch die sie streifte, Räume ohne Möbel oder irgendwelche anderen besonderen Merkmale oder Details. Sie hatte bereits in so vielen Häusern gelebt, dass ihr Unterbewusstsein beschlossen hatte: Sie hatte nirgends gelebt.

Dennoch war Alice nicht überzeugt. »Aber ich habe euch beide. Ich brauche keinen Ort, den ich Zuhause nennen kann. Wo auch immer wir zusammen hingehen – das ist mein Zuhause. Und solange wir zusammenbleiben, spielt es überhaupt keine Rolle, wie oft wir umziehen.«

Professor Cannolis Augen leuchteten, als wollten sie ihrer Tochter sagen: Du bist mein Lebenslicht. »Ach Alice«, seufzte sie, »das ist eine ganz wundervolle Einstellung. Leider allerdings völliger Unsinn. Kinder deines Alters brauchen ein Gefühl von Stabilität und Beständigkeit, und das ist in den allermeisten Fällen an einen Ort geknüpft – ein sicheres Zuhause. Die Wissenschaft belegt das unmissverständlich. Dieses ständige Umziehen muss ein Ende haben.«

Alice’ Vater sackte auf der Couch in sich zusammen. Alice’ Mutter kam wieder hinter dem Pult hervor und ließ sich erneut neben ihrem Mann nieder.

»George. Ich liebe dich, und nichts wird daran jemals etwas ändern. Aber wir müssen aufhören mit dieser andauernden Entwurzelung. Zum Wohl unseres Kindes – unseres einzigen Kindes. Unserer Alice.« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter, was all ihre cannolitypische Gelenkigkeit erforderte, weil sie so viel größer war als er.

Alice’ Vater betrachtete seine Hände, die nutzlos auf seinen Knien ruhten. »Willst du damit sagen, dass wir uns weigern, umzuziehen?«

»Das können wir nicht. Leider. Es steht in meinem Vertrag, ganz glasklar: Das College hat das Recht, uns jederzeit umzusiedeln, wann immer es den Verantwortlichen beliebt. Aber wir können sicherstellen, dass das unser letzter Umzug wird. Was bedeutet, dass du, mein allerliebster Herzensmensch, das größte Opfer überhaupt bringen musst. Du darfst das nächste Haus, in das wir einziehen, nicht renovieren!«

Alice’ Vater blinzelte. »Du meinst, außer, wenn etwas kaputt ist.«

»Nicht einmal dann«, entgegnete Alice’ Mutter sanft.

»Aber wenn eine der Fensterscheiben einen Sprung hat –«

»Dann bleibt dieser Sprung.«

»Aber falls die Bodendielen knarzen –«

»Dann lassen wir sie knarzen.«

»Na, aber gewiss muss ich doch, sofern ein Wasserhahn tropft –«

»Dann tropf-tropf-tropft er«, beharrte Alice’ Mutter. »Wir werden in diesem Haus leben, während es rings um uns in sich zusammenfällt, so lange, bis Dekanin Sheridan begreift, dass wir uns nicht herumschieben lassen wie Schachfiguren. Bis das College sich einverstanden erklärt, dass wir dauerhaft in diesem Haus bleiben dürfen, rühren wir keinen Finger!«

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, gestand Alice’ Vater. »Abgeplatzte Fliesen müssen ersetzt werden. Schmutzige Wände streicht man. Eine morsche Veranda sollte –«

»In aller Ruhe verrotten«, sagte Alice’ Mutter mit Nachdruck. »Um Alice’ willen.«

Alice’ Vater warf seiner Tochter einen Blick zu und nickte. »Um Alice’ willen. Sie ist das Wichtigste in unserem Leben.«

Tränen stiegen ihm in die Augen. Auch die Augen von Alice’ Mutter wurden feucht.

»George, Liebling«, warnte sie, »wenn du zu weinen anfängst, dann muss ich weinen, und wenn ich erst einmal weine, dann weinst du nur umso schlimmer. Und ich frage dich: Wo soll das hinführen? Irgendwann werden wir von unseren Tränen davongespült – und wer kümmert sich dann um Alice?«

Beide bedachten ihre Tochter mit einem so zärtlichen Blick, dass jede beliebige Zehnjährige auf der Stelle in Tränen ausgebrochen wäre. Doch Alice, nüchtern und fokussiert, war keine beliebige Zehnjährige. Sie war eine jener seltenen uralten Seelen mit mehr Feuerstein und Stahl in ihrem kleinen Körper, als die meisten Leute wohl vermutet hätten.

»Wie um alles in der Welt kann man einen tropfenden Wasserhahn einfach tropfen lassen?«, fragte sie. Die Vorstellung erschien ihr absurd. Fast so, als würde man von einem Fisch erwarten, dass er losflog, oder ein altes Stehpult auf den Müll werfen. Die Cannoli-Potchniks taten so etwas nicht.

»Ich weiß es nicht, Kohlköpfchen«, sagte ihr Vater. »Aber wir werden es herausfinden. Zusammen. Wir werden unser Werkzeug wegpacken und einen Schwur tun, dass wir nichts reparieren. Genau genommen werde ich den Cannoli-Potchnik-Eid ablegen.«

Alice’ Augen wurden groß. Der Cannoli-Potchnik-Eid war etwas Heiliges in ihrer Familie, das in beiden Familienzweigen seit Generationen weitergegeben und an die verschiedensten Situationen angepasst wurde. Zum Einsatz kam er nur, wenn die Lage wirklich sehr ernst war.

Alice’ Vater erhob sich und stellte sich Alice und ihrer Mutter gegenüber. Er ballte beide Hände zu Fäusten und kreuzte sie in Höhe der Handgelenke vor der Brust. »Ich leiste folgenden feierlichen Cannoli-Potchnik-Eid: Ich werde nichts reparieren, ganz gleich, wie kaputt es ist, bis wir unser Für-immer-Zuhause bekommen.« Dann reckte er die noch immer gekreuzten Fäuste nach vorn und streckte dazu das rechte Bein aus, als wollte er auf dem Schlachtfeld Schild und Schwert zugleich präsentieren.

Alice’ Mutter schloss zuerst Alice und dann ihren Ehemann fest in ihre knochigen Arme. »Und jetzt packen wir!«, kommandierte sie. »Alice, Schatz, verstau bitte all die gerahmten Fotos in einem Karton und schreib ›Nicht entsorgen‹ darauf. Vergiss nicht, diese Bilder sind unser wertvollster Besitz. Wie ich schon so oft gesagt habe –«

»Wenn wir unsere Vorfahren vergessen«, zitierte Alice, »wer soll sich dann an uns erinnern?«

»Das hast du dir gut gemerkt, mein kleines Markierfähnchen! George, Liebling, hol die Umzugskartons herunter, bitte schön, danke schön. Ich fange derweil an, unsere Besteckschublade durchzugehen. Meine Recherche hat eindeutig ergeben, dass wir bei Weitem nicht alle Suppenlöffel benötigen, die wir besitzen! Ich bin mir ziemlich sicher, dass es an der Zeit für einen Cannoli-Potchnik-Garagenflohmarkt ist!«

Garagenflohmärkte waren ein ebenso fester Lebensbestandteil des Cannoli-Potchnik-Haushalts wie das Umziehen, die Vorträge und die Reparaturprojekte. Alice und ihre Eltern hatten das Prozedere perfektioniert.

Schritt eins: Alles zusammentragen, von dem man sich trennen kann. (Für Alice und ihre Eltern bedeutete das nahezu alles, da sie ihr Herz nicht sonderlich an Dinge hängten. Viel wichtiger waren ihnen Menschen und Geschichten und Ideen und ehrliche Arbeit.)

Schritt zwei: Einen Garagenflohmarkt ansetzen und alles so lächerlich günstig anbieten, dass garantiert noch der letzte Gegenstand gekauft wird.

Schritt drei: Mit den Einnahmen aus dem Flohmarkt zur Feier des Tages bei Olive Garden essen gehen. (Und weil es nun mal ein Festessen war, bekam Alice zwei Portionen Nachtisch und ihre Eltern teilten sich ein Glas Wein.)

Schritt vier: Alles zusammenpacken, was übrig ist, und dabei versuchen, einen Familienrekord für den Umzug mit den wenigsten Umzugskartons aufzustellen.

Schritt fünf: Die Kartons ins neue Haus transportieren. (Die Cannoli-Potchniks besaßen zwar kein eigenes Auto, dafür aber sechs rote Bollerwagen für genau diesen Zweck, und Dave brachte ihnen die Möbel immer mit dem Truck.)

Schritt sechs: Alles kaufen, von dem man nun merkt, dass man es doch braucht, sobald man sich im neuen Haus eingerichtet hat – zum Beispiel Leselampen und Eierbecher und Schlittschuhe und Terrarien. (Diesen Schritt bewältigte Alice’ Familie, indem sie Garagenflohmärkte in der Nachbarschaft besuchte und dabei oft haargenau die Gegenstände zurückkaufte, von denen sie sich gerade erst getrennt hatte.)

So also funktionierten Garagenflohmärkte bei den Cannoli-Potchniks.

Alice packte die Familienfotos ein und dachte dabei über die Worte ihrer Mutter nach. Sie war überzeugt, dass Professor Cannoli mit ihrer Hypothese falschlag. Genau genommen glaubte Alice, dass das exakte Gegenteil der Fall war: Sie hielt ihre Fähigkeit, einfach zusammenzupacken und aufzubrechen, ohne auch nur eine Erinnerung an das letzte Haus mit sich zu schleppen, für eine ihrer Superkräfte. Darum war sie flexibel und unbelastet, leicht wie eine Feder, die der Wind mit sich trug. Jederzeit in der Lage, sich neuen Gegebenheiten anzupassen.

Schließlich waren Häuser nach Alice’ Erfahrung einfach Orte, die man in Schuss brachte, ehe man ihnen wieder den Rücken kehrte. Alle paar Monate umzuziehen war eine gute Übung: Man lernte dabei, sich nicht auf Dinge zu verlassen, die womöglich nicht mehr da waren, wenn man sie brauchte. Und wer brauchte schon ein dauerhaftes Zuhause? Sie jedenfalls nicht.

Beim Einpacken der Bilder stellte Alice fest, dass der extragroße Karton, den sie gewählt hatte, nicht groß genug war. Ganz gleich, wie oft sie sie ordnete und neu ordnete, die Fotos passten nicht alle hinein. Brauchten sie wirklich alle? Alice betrachtete noch einmal das Bild der beiden Mädchen, die sie nicht kannte, das in einem besonders hübschen antiken Silberrahmen steckte. Sie war ziemlich sicher, dass der Rahmen sich beim Garagenflohmarkt zu einem guten Preis verkaufen ließe. Damit wäre der zweite Nachtisch geritzt!

»Brauchen wir wirklich alle Fotos?«, rief Alice ihrer Mutter zu.

»Alle!«, schallte die Antwort aus der Küche.

Alice war klar gewesen, dass ihre Mutter nichts anderes erwidern würde – aber der Karton war schlichtweg voll! Wäre es denn tatsächlich so schrecklich, sich von einem einzigen Bild zu trennen? Sie hielt es in der Hand und musterte die zwei Mädchen. Ich kenne euch nicht einmal, dachte sie.

Am Ende gelang es ihr mithilfe mehrerer mathematischer Formeln zu Fläche und Volumen, doch sämtliche Fotos im Karton unterzubringen, wohl wissend, dass sie den Karton nun ins neue Haus schleppen und dort Mühe haben würden, all die Bilder auf dem neuen Kaminsims zu arrangieren. Aus Alt würde Neu – genau so, wie Neues stets alt wird.

Der Garagenverkauf wurde zum erfolgreichsten aller Zeiten. Sogar nach dem Festessen bei Olive Garden blieb eine beträchtliche Summe übrig. Alice’ Eltern gaben Alice das gesamte Geld und ermunterten sie, es für etwas auszugeben, das ihr Freude bereitete, ihren Geist erhellte und die Welt zu einem besseren Ort machte. (Nach einer Feier bei Olive Garden redeten ihre Eltern oftmals ein wenig poetisch daher.)

Am nächsten Tag, gerade als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, zuckelten sie mit ihren sechs Bollerwagen quer über den Campus, um in ihr neues altes Haus zu ziehen. Zum Glück hatte Professor Cannoli eine Karte bei sich, denn die neue Anschrift befand sich in einer Wohngegend, die sie nicht kannten, ganz am Ende einer Sackgasse und verborgen von Schwarzdornhecken, die zu beängstigender Höhe emporgewachsen waren.

»Oha«, machte Alice’ Mutter beim Anblick des bröckelnden Backsteinhauses, vor dem sie schließlich standen. Eine zweieinhalb Meter hohe Mauer umschloss den kompletten Garten, beinahe so, als handelte es sich dabei um ein Gefängnis, das vom Haus bewacht wurde.

»Cannoli noch mal«, hauchte Alice’ Vater und wurde ein wenig grün im Gesicht, während seine Augen über die gesprungenen Fenster, das durchhängende Dach und die nur noch von einer Angel gehaltene Haustür wanderten.

Alice sagte nichts. Sie spähte hinüber zu dem Haus nebenan. Eine sanfte Brise hatte ihr das Haar von den Schultern gehoben und in diese Richtung geweht, und nun konnte sie den Blick nicht mehr abwenden von dem imposanten dunklen Gebäude, das im Licht der einbrechenden Dämmerung vor ihr aufragte. Beinahe so, als rufe eine unbekannte Macht nach ihr.

Alice’ Mutter ging ihrer kleinen Familie voran in ihr neues Zuhause. Alice’ Vater folgte ihr dicht auf den Fersen. Doch Alice ließ die Griffe des Bollerwagens los und spazierte in den Nachbargarten hinüber. Sie war es gewohnt, stets ihrer Neugier zu folgen, wohin auch immer sie das führen mochte.

Ein großes Holzschild steckte vor dem baufälligen Anwesen in der Erde – eines jener vertrauten grünweißen Schilder, die sämtliche Gebäude im Besitz des College kennzeichneten. Das Schild war von widerspenstigem Efeu und sprödem Wermut überwuchert, der Rasen ringsum wurde von welkem Löwenzahn erstickt. Alice musste einige Pflanzen ausreißen, um die Schrift auf dem Holz lesen zu können.

Bis sie die Worte freigelegt hatte, reichte das Licht kaum noch, um sie zu entziffern. Geschrieben in gewöhnlichen Blockbuchstaben stand dort INTERNATIONALES WOHNHEIM. Unter der offiziellen Beschriftung prangten jedoch zwei weitere, von Hand hinzugekritzelte Wörter. Alice las: DER DERELIKTION.

KAPITEL 3

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