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Alarm auf Wolke sieben

hier erhältlich:

Das kann doch nicht wahr sein! Mitten in ihrem gepflegten Eigenheim stößt die verwöhnte Tori Hamilton plötzlich auf eine Leiche. Um einen Skandal zu vermeiden und nicht in die Schlagzeilen zu geraten, sollte der Täter schleunigst gefunden werden. Ein Detektiv muss her! Die Agentur, die Tori anruft, empfiehlt John Miglionni - der beste Mann für alle Falle. Doch als sie dem breitschultrigen Charmeur gegenübersteht, traut Tori ihren Augen nicht: Mit ihm hatte sie in Florida einen heißen Urlaub lang verboten guten Sex! Damals nannte er sich ‚Rocket', und wie eine Rakete saust Toris Herz bei ihrem überraschenden Wiedersehen in die Sternennacht über Colorado - direkt in den siebten Himmel!


  • Erscheinungstag: 01.09.2008
  • Aus der Serie: Marine
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862782666
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

F ord Evans Hamilton öffnete die Augen und blinzelte. Alles war verschwommen. Schmerz hämmerte in seinem Schädel. Vorsichtig betastete er seinen Hinterkopf. Er fühlte sich an wie eine überreife Melone.

Was zum Teufel war eigentlich passiert? Er hörte gedämpfte Stimmen und das Klirren von Kristall. War er auf einer Party?

Aus den Augenwinkeln nahm er Bewegungen wahr. Er entspannte sich. Ach ja! Er war tatsächlich auf einer Party der Party, die er selbst geschmissen hatte, um bei McMurphy noch einmal richtig schön Salz in die Wunden zu streuen. Nun ja, bei McMurphy und ein oder zwei anderen. Dann war er in die Bibliothek gegangen, um eine Kiste Zigarren für seine Gäste zu holen. Und dann …

Jared war da gewesen, nicht wahr? Ford runzelte die Stirn, als er sich an Bruchstücke des Streits erinnerte. Plötzlich fiel ihm wieder ein, wie sein Sohn ihm einen Stoß verpasst hatte, als er zur Tür gestürmt war. Jared war eine Schande für den guten Familiennamen. Beide Kinder waren herbe Enttäuschungen.

Er hörte das leise Rascheln von Stoff auf dem Aubusson-Läufer. Ford drehte langsam den Kopf und fuhr zusammen, als der Schmerz ihn vom Scheitel bis zur Sohle durchzuckte. Jared würde den Tag, an dem er geboren wurde, noch verfluchen.

Böse starrte Ford die Person an, die sich vor ihm hingekniet hatte. Noch sah er alles doppelt, aber langsam wurde das Bild klarer. „Was zur Hölle willst du denn hier?“ Er wischte die Frage mit einer ungeduldigen Geste beiseite. „Egal.“ Wutentbrannt streckte er den Arm aus. „Hilf mir!“

„Genau das habe ich vor“, murmelte die Person. „Ich werde dir auf direktem Weg in die Hölle helfen.“

Schneller, als es der noch völlig verwirrte Ford nachvollziehen konnte, blitzte plötzlich der silberne Brieföffner auf, der normalerweise auf seinem Mahagonischreibtisch lag. Und dann explodierte sein Herz.

1. KAPITEL

K omm schon, Süße“, murmelte John Miglionni der kurvigen Rothaarigen zu. „Lass dich einfach gehen. Du willst es doch auch! Glaub mir, Baby, es wird sich unglaublich gut anfühlen …“

Er holte tief Luft, als sie genau das tat, was er von ihr verlangte. „Jawohl!“, flüsterte er und zoomte die Frau näher heran, die sich gerade auf den Rücken ihres Quarterhorses schwang. Colorado Insurance würde begeistert sein. Das Filmchen würde der Millionenklage der Frau gegen die Versicherung einen ernsthaften Dämpfer verpassen. Angeblich verhinderte ihre Verletzung ja, dass sie jemals wieder auf ihr geliebtes Pferd steigen konnte. Und das war ganz offensichtlich gelogen.

Er hielt mit der Kamera drauf, während sie mit dem Pferd über den Zaun der Koppel sprang und über die Hochebene galoppierte, die sich östlich von Denver ausbreitete. Als er sie durch das Objektiv nicht mehr erkennen konnte, packte er seine Ausrüstung zusammen und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen.

Fünfundvierzig Minuten später stürmte er durch die Eingangstür von Semper Fi Investigations. John hatte das Motto des United States Marine Corps als Firmennamen gewählt: Semper Fi, vom Lateinischen semperfidelis. Auf ewig treu. Das passte. Grinsend sah er zu, wie seine Sekretärin Gert Mac Dellar vor Schreck aufsprang und sich ans Herz fasste.

„Du meine Güte“, fuhr sie ihn an, während sie böse über den Rand ihrer ovalen strassbesetzten Brille starrte. „Du hast mich um mindestens zehn Jahre meines Lebens gebracht! Und in meinem Alter kann man es sich nicht leisten, auch nur eine Minute zu verlieren, Freundchen.“

„Du wirst uns doch sowieso alle überleben, Gert.“ John setzte sich auf den Rand des massiven Schreibtischs und reichte ihr den Camcorder. „Kümmerst du dich bitte um die Bilder? Ach, und mach bitte die Rechnung fertig, inklusive der dreieinhalb Stunden heute.“

Ihre hellblauen Augen, die einige Schattierungen heller waren als ihr hochtoupiertes Haar, leuchteten auf. „Hast du sie erwischt?“

„Das kann man so sagen.“

Gert jubelte und schloss die Kamera an den Computer an. Während sie mit einer Hand die Daten herunterlud, zog sie mit der anderen einen Stapel grellrosafarbener Notizzettel heran. „Hier. Da waren ein paar Anrufe für dich.“

John las den ersten Zettel und legte ihn dann zu den anderen zurück. Den zweiten Zettel drückte er Gert in die Hand. „Den hier kannst du Les geben.“ Les war der Ingenieur, den er kürzlich erst angestellt hatte, um die Produkthaftungsfälle in den Griff zu bekommen. Er las die nächste Nachricht und kniff die Augen zusammen. Ärgerlich sah er Gert an.

„Du weißt doch, dass ich keine Scheidungsfälle mehr übernehme.“

„Solltest du aber“, antwortete sie, „die werden nämlich verdammt gut bezahlt.“

„Stimmt, aber sie sind auch ziemlich unschön. Ich habe wirklich keine Lust mehr, irgendwelche Leute bei ihren Quickies zu fotografieren. Wenn es um Geldangelegenheiten geht, dann bin ich dabei. Aber wenn ein Mann und eine Frau nur scharf drauf sind, schmutzige Wäsche zu waschen, dann schick sie zu jemand anderem.“ Er ließ die Nachricht auf den Schreibtisch fallen.

Gert zuckte beleidigt mit den Schultern.

John sah sich den letzten Zettel an. Er lächelte. „Okay, das ist schon eher was. Einen Ausreißer aufzuspüren, damit kriegst du mich.“ Er machte es sich bequem. „Erzähl mir mehr darüber.“

Sie setzte sich auf, die momentane Verärgerung war vergessen. „Hast du das von dem Industriellen in Colorado Springs gehört, der mit einem Brieföffner erstochen wurde?“

„Klar. Irgendwas mit Hamilton, richtig?“

„Ford Evans Hamilton. Seine Tochter Victoria hat uns angerufen, also eigentlich ihr Anwalt. Miss Hamiltons siebzehnjähriger Bruder Jared ist genau an dem Tag verschwunden, als ihr Vater starb.“

„Hat der Bengel ihn umgebracht?“

„Laut Anwalt schwört Miss Hamilton, dass der Kleine zu so etwas nicht fähig wäre. Aber er ist schon früher mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Die Polizei will in jedem Fall mit ihm reden. Also wäre es Victoria lieb, wenn wir ihn vorher finden würden. Anscheinend hat er ein kleines Autoritätsproblem, und es wäre seiner Situation nicht gerade zuträglich, die Cops blöd anzumachen, wenn sie ihn aufgreifen.“

John, der als Jugendlicher ähnliche Probleme gehabt hatte, konnte sich gut in den Teenager hineinversetzen. Er grinste seine Sekretärin breit an. „Na, dann hat sie doch Glück gehabt, dass ihr Anwalt sich für echte Profis entschieden hat.“

„Schön, dass du gar nicht eingebildet bist“, strahlte Gert. „Das hat mir an dir immer am besten gefallen.“

Er lachte. „Gib’s doch zu, Gert, du liebst mich so, wie ich bin. Wir passen so gut zusammen. Es ist eigentlich erstaunlich, dass wir noch nicht durchgebrannt sind und geheiratet haben.“

Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, aber das sanfte Rot ihrer Wangen verriet sie. Sie liebte es, von ihm geneckt zu werden. Das würde sie natürlich niemals freiwillig zugeben.

Über den Rand ihrer Brille musterte sie ihn streng. „Mit deinem Charme könntest du Tote aufwecken.“

Er fasste sich ans Herz. „Gert MacDellar, das würde ich höchstens tun, wenn die Leiche weiblich wäre!“

Ihre Lippen zuckten leicht. Sie machte eine unwirsche Handbewegung. „Hau ab, du Verrückter. Setz dich mit diesem Anwalt in Verbindung, damit wir alle ein bisschen Geld verdienen.“

„Jawohl, Ma’am.“ Er salutierte zackig. Dann stand er auf und ging in sein Büro, um den Mann anzurufen.

Victoria wusste, sie musste sich zusammenreißen. Manchmal war das jedoch leichter gesagt als getan. Besonders hier, im Haus ihres Vaters.

Während sie unruhig in dem riesigen Salon hin und her tigerte, musste sie sich eingestehen, dass ihre Gefühlswelt ein einziges Chaos war. Ganz tief im Inneren war sie einfach froh, wieder zurück zu sein. Sosehr sie das bunte Treiben in London auch liebte – es war nicht ihr Zuhause. Nach all der Zeit fühlte sie sich dort noch immer wie eine Fremde. Im Grunde war sie nur hingezogen, weil ihre Tante Fiona dort lebte – und weil sie ihre Tochter in Sicherheit bringen musste. Wäre Esme hier aufgewachsen, im Machtkreis von Ford Evans Hamilton, hätte er sie bestimmt genauso verkorkst wie seine eigenen Kinder.

Aber so froh Victoria auch war, endlich wieder zu Hause zu sein, die Umstände waren alles andere als schön. Ihr Vater war tot. Einfach weg – von einer Sekunde auf die nächste. Jetzt würde sie nie mehr die Chance bekommen, all jene Dinge zu klären, die ihr schon so lange auf der Seele lagen. Und als wäre das nicht traumatisch genug, war er auch noch ermordet worden.

Der Teufel sollte ihn holen. Die Hälfte der Zeit war er ein echter Mistkerl gewesen. Eigentlich war er die meiste Zeit ein Mistkerl gewesen, aber er war trotzdem ihr Vater. Niemand hatte es verdient, so zu sterben.

Andererseits – war es nicht geradezu typisch für ihn, auf so spektakuläre Art aus dem Leben zu scheiden? Er selbst hatte sich nie um den Wirbel geschert, den er mit seinen immer jünger werdenden Ehefrauen und seinen halsabschneiderischen Geschäftspraktiken verursacht hatte. Aber wehe, Jared oder sie selbst gerieten auch nur einmal in die Nähe des Rampenlichts! Ihr Vater verzieh es ihnen nie. Man erwartete von ihnen, stets brave kleine Hamiltons zu sein. Ein Teil von ihr war fuchsteufelswild, dass sie nun nie mehr die Chance bekommen würde, Ford Evans Hamilton zu sagen, was für ein lausiger Vater er gewesen war.

Das führte wiederum zu Schuldgefühlen, die sie nicht stillsitzen ließen. Und so wartete sie darauf, dass der Anwalt mit dem Privatdetektiv im Schlepptau hier auftauchte. Wer hätte gedacht, dass ihr Leben einmal einem dieser alten Krimis gleichen würde? In Gedanken sah sie elegant gekleidete Männer mit Filzhüten vor sich, die Frauen noch als „Damen“ bezeichneten.

Ihr Lachen klang hysterisch, und sie schlug die Hand vor den Mund, um es zu unterdrücken. Sie atmete tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Immer schön ruhig bleiben. Sie versuchte, sich auf eines der unbezahlbaren Kunstwerke zu konzentrieren, die an den mit hellgelber Seide verkleideten Wänden des Salons hingen. Denk nicht zu genau darüber nach. Lass es einfach auf dich zukommen. Falls sich das wie eine Verdrängungstaktik anhörte, so war es ihr egal. Die einzige Möglichkeit, mit dieser Katastrophe umzugehen, war, die Probleme eines nach dem anderen anzugehen. Alles andere wäre zu überwältigend.

Sie zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. So langsam hatte sie die Nase voll von dieser Nervosität, deshalb ging sie mit zügigen Schritten zum Telefon und hob den Hörer ab. „Hamilton?“

„Victoria, meine Liebe, bist du das?“

Die Stimme klang abgehackt, als steckte ein Handy im Funkloch. Trotzdem war sie ziemlich sicher, dass es sich um den Anwalt ihres Vaters handelte. „Robert? Ich kann dich kaum verstehen!“

„Oh, einen Moment.“ Es rauschte vernehmlich. Plötzlich hörte sie seine Stimme laut und deutlich. „So, ist das besser?“

„Viel besser.“

„Hör zu, ich rufe an, um unser Treffen mit Semper Fi abzusagen. Ich muss bei Gericht erscheinen. Tut mir leid, Victoria. Ich habe aber ausführlich mit Mr. Miglionni gesprochen und ihm alles erklärt. Damit er anfangen kann, musst du dich nur rasch mit ihm treffen und ihm alles über Jared erzählen. Er hat sicher auch noch ein paar Fragen. Meine Handynummer hast du ja, oder?“

„Ja.“

„Prima. Falls er eine Frage hat, die du nicht beantworten kannst, ruf mich einfach an.“

„Das mache ich. Dank…“ Die Verbindung brach unvermittelt ab. Sie atmete tief aus und legte den Hörer auf. „Na schön. Scheint, als wäre ich auf mich allein gestellt.“

Das war nichts Neues. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie auf sich allein gestellt gewesen.

Allerdings wurde es nun langsam Zeit, ein bisschen mehr zu agieren, anstatt ständig nur zu reagieren. Das war sie Jared weiß Gott schuldig. Sie wurde das Gefühl nicht los, ihn um Esmes Willen geopfert zu haben.

Victoria versuchte, ihre aufgewühlten Emotionen in den Griff zu bekommen. Sie ging schnurstracks ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Sie begann, die Beileidsbekundungen in zwei Haufen zu sortieren: einer, der von der Sekretärin ihres Vaters beantwortet werden konnte, und einer, der einer persönlicheren Note bedurfte. Als es kurz darauf an der Tür klingelte, fühlte sie sich schon wieder wesentlich gefasster. Sie ging zur Tür und lächelte der Haushälterin zu, die gerade den Flur entlanggepoltert kam.

„Ist schon in Ordnung, Mary. Ich mache selbst auf.“ Schwungvoll öffnete sie die gewaltige Mahagonitür.

Helles Sonnenlicht ergoss sich in die Eingangshalle und blendete sie. Sie konnte den Mann, der vor der Tür stand, nicht erkennen. Sie bemerkte nur, dass er groß und schlank war. Obwohl Victoria sein Gesicht nicht sehen konnte, schenkte sie dem Besucher ein strahlendes Lächeln. Sie hatte nicht umsonst die besten privaten Mädchenschulen des Landes besucht.

„Mr. Miglionni?“, fragte sie höflich. „Kommen Sie doch bitte herein.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, um den Weg frei zu machen, und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich bin …“

„Tori“, sagte er in einem Tonfall, der ihr kalt den Rücken hinunterlief. Ihre Hand hing einen Moment bewegungslos zwischen ihnen in der Luft, bevor sie kraftlos herabfiel.

Nur ein paar ihrer engsten Freunde, Jared und Tante Fiona nannten sie so. Robert Rutherford musste es wohl erwähnt haben. Also setzte sie wieder ihr Lächeln auf und sagte: „Eigentlich werde ich Victoria gerufen.“

„Ich glaube das nicht“, erwiderte er atemlos.

Sie hatte keine Ahnung, was so unglaublich sein sollte, und so langsam fand sie ihn ziemlich unhöflich. Aber egal. Sie brauchte die Hilfe dieses Mannes, um Jared zu finden. Deshalb flüchtete sie sich noch einmal in das jahrelange Etikette-Training, das sie durchlaufen hatte. „Wie unhöflich von mir, Sie hier so stehen zu lassen. Bitte kommen Sie doch herein.“

Er machte einen Schritt vorwärts und beugte sich nach unten, um etwas auf den Boden zu stellen. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf seinem glänzenden schwarzen Pferdeschwanz, der sich bei der Bewegung über seine Schulter ringelte. Der dicke Haarstrang war so glänzend, dass er fast blau schimmerte. Dann richtete er sich auf und war wieder ein Schatten im grellen Gegenlicht – mit Ausnahme der feingliedrigen gebräunten Hand, die er ihr entgegenstreckte. Als sie seine Hand ergriff, trat er einen Schritt vor, sodass sie ihn etwas besser sehen konnte.

Victorias Magen überschlug sich. Sprachlos starrte sie in die rabenschwarzen Augen des Mannes, den sie nie wiederzusehen erwartet hatte. Sie riss ihre Hand zurück. „Rocket?“

Als sie den einzigen Namen aussprach, unter dem sie ihn kannte, realisierte sie, welch katastrophalen Auswirkungen seine Anwesenheit auf ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung haben konnte. Oh Gott, oh Gott, das war das Allerletzte, was sie jetzt brauchte. Er musste hier verschwinden. Er musste hier verschwinden, bevor …

Er schloss die Tür hinter sich, und endlich war er richtig zu sehen. Breite Schultern, gebräunte Haut, strahlend weiße Zähne … Sie hatte keine Chance, sich zu sammeln, bevor er sie so heftig in seine Arme zog, dass sie die Bodenhaftung verlor. Er setzte sie wieder ab, legte die Hände auf ihre Schultern und blickte ihr tief in die Augen.

Du musst hier weg, du musst hier weg, du musst hier weg…

„Verdammt, Mädchen“, sagte er grinsend. „Schön, dich wiederzusehen.“

2. KAPITEL

J ohn konnte nicht aufhören, zu lächeln. Es kam nichtoft vor, dass er derartig überrascht wurde. Aber als sich die Tür öffnete und Tori vor ihm stand, hätte sie ihn nur mit einer sorgfältig manikürten Fingerspitze antippen müssen, und er wäre umgefallen. Einen Augenblick lang traute er seinen Augen kaum.

Kein Mann vergaß die Frau, die ihn dazu gebracht hatte, über seine Identität nachzudenken – und sich zu fragen, ob die Wahl, die man als Junge getroffen hatte, für einen erwachsenen Mann immer noch angebracht war. Und obwohl die elegante, zurückhaltende, kühl wirkende Frau, die nun vor ihm stand, nicht viel mit der sonnengebräunten Brünetten von damals gemeinsam hatte, wusste er instinktiv, dass sie es tatsächlich war. Sie war die Frau, mit der er Vorjahren eine unvergessliche Woche verbracht hatte.

Er ließ seine Hände von ihren Schultern zu ihren Handgelenken wandern. Ihre Haut war noch genauso samtig, wie er sie in Erinnerung hatte. Erstaunlicherweise schien sich sein Körper an jedes kleine Detail zu erinnern. Er freute sich wahnsinnig. „Ich habe darauf gewartet, dass du zurückkommst.“

Sie stand vollkommen still da. „Bitte?“

„Als du abgehauen bist. Auf deinem Zettel stand, dass es einen familiären Notfall gegeben hat. Ich hatte gehofft, du würdest anschließend zurückkommen.“

„Du warst doch derjenige, der die Spielregeln festgelegt hat. Wie war das noch mit ,keine Nachnamen und nur eine Woche’?“

Bis ich dich getroffen habe, hat das immer wunderbar funktioniert.

„Ich weiß.“ Er runzelte die Stirn. Obwohl ihre Stimme höflich klang, glaubte er doch, einen gewissen Unterton gehört zu haben. Warf sie ihm etwas vor? Bereute sie etwas?

Was immer es gewesen war, es war gleich wieder verschwunden, als sie kühl fragte: „Wieso glaubst du, ich hätte zurückkommen wollen, selbst wenn ich es gekonnt hätte?“

„Wunschdenken, schätze ich.“ Er streichelte ihre Arme. „Ich hatte gehofft, du würdest das Problem lösen und dann wieder zu mir kommen, deshalb bin ich vorsichtshalber einige Tage länger geblieben.“

„Du kannst doch nicht ernsthaft erwartet haben, dass ich wiederkomme, oder? Wir hatten doch nur noch zwei Tage, und du hast in keiner Weise angedeutet, dass sich etwas an deiner Ansicht geändert haben könnte.“

Bevor er antworten konnte, beendete sie das Thema mit einer raschen Handbewegung. „Das ist alles Schnee von gestern“, sagte sie reserviert. „Auch wenn es nett war, dich wiederzusehen, muss ich dich jetzt bitten, zu gehen. Ich stecke mitten in einem weiteren familiären Notfall, und ich erwarte jemanden. Er müsste jeden Augenblick hier sein.“

Sie war überaus höflich, aber die Ansage hätte deutlicher nicht sein können. Was hast du Genie erwartet? Dass ihr da weitermachen könnt, wo ihr damals unterbrochen wurdet? Kapier es doch. Sie hat nicht einmal gelächelt. Würde sie noch starrer dastehen, würde sie sich wahrscheinlich in ein Surfbrett verwandeln. Es sprach nicht gerade für seinen detektivischen Spürsinn, dass ihm das jetzt erst aufgefallen war. Er hatte sich so sehr gefreut, sie wiederzusehen.

Nun, offensichtlich hatte sie sich nicht so gefreut. Er ließ die Hände sinken und trat zurück. Die barfüßige Fünfundzwanzigjährige aus seiner Erinnerung trug nun ein Kostüm aus mangofarbenem Leinen und eine elegante Perlenkette. Ihr wildes sonnengesprenkeltes Haar, das ihr bis zur Taille gereicht hatte, war in einem schicken schulterlangen Haarschnitt gebändigt worden. Das Ganze war offensichtlich keine kürzliche Veränderung. Die wilde, ungebändigte Tori, an die er sich erinnerte, schien eine Ausnahmeerscheinung gewesen zu sein.

Zum ersten Mal, seit er durch die Tür getreten war, riss er den Blick von ihr los und sah sich im Foyer um. Es wurde von einer gewaltigen Treppe, schwarzen und weißen Marmorfliesen und opulenten Kunstwerken an den Wänden beherrscht. Dann wandte er sich wieder Tor…, nein, Victoria zu. Plötzlich kam ihm ein Verdacht.

„Sag mal, in dieser Woche mit uns beiden … hattest du dich da einfach mal unter das gemeine Volk gemischt?“

„Ich bitte dich. Das ist lange her, und ich habe jetzt wirklich keine Zeit dafür. Meine Verabredung …“

„Steht vor dir.“ Sie hatte ja recht, es war lange her. Einige Dinge sollte man besser auf sich beruhen lassen. Ganz abgesehen davon, dass ihr Leben momentan ganz schön durcheinander war und er einen Job zu erledigen hatte. Sie war nur eine weitere Klientin. Er streckte die Hand aus.

„John Miglionni, zu Ihren Diensten.“

„Nein!“ Entsetzt starrte Victoria seine Hand an. Sie würde nie wieder diese langen schlanken Finger berühren – die Eindrücke vom ersten Mal waren noch zu frisch. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Sie starrte auf die Tätowierung auf seinem linken Unterarm, die von seidigen schwarzen Härchen bedeckt war, und versuchte nicht daran zu denken, wie sie diese Linien mit ihren Fingern nachgezeichnet hatte. Stattdessen versicherte sie sich nur rasch, dass die Worte „Schnell“, „Leise“ und „Tödlich“ den weiß, gelb und schwarz gezeichneten Totenkopf immer noch auf drei Seiten umgaben. Dann sah sie ihm wieder in die Augen.

„Du bist ein Marine.“

„Ehemaliger Marine. Und wie Sie schon sagten, Ma’am, das ist lange her. Ich bin vor fünf Jahren ausgemustert worden.“

Ma’am? Victoria sah zu, wie er sich bückte und seinen Laptop aufhob. Schön, er war aus beruflichen Gründen hier, und sie hatte ganz gewiss nicht die Absicht, wieder etwas mit ihm anzufangen, aber wirklich … Ma’am?

Er richtete sich auf und sah sie ausdruckslos an. „Wenn ich irgendwo meinen Laptop aufstellen kann, könnten wir anfangen.“

Sie sollte froh sein, dass er plötzlich so professionell war. Sie war froh, aber sie zögerte. Sie wollte, dass der Mann, den sie als „Rocket“ kannte, verschwand.

Unglücklicherweise war sie auf John Miglionnis Dienste angewiesen, wenn sie Jared in naher Zukunft finden wollte. Johns Name war nun mal immer wieder aufgetaucht, als Robert sich nach dem richtigen Mann für den Job umgesehen hatte. Resigniert ließ sie die Schultern hängen. „Also schön. Gehen wir in das Büro meines Vaters.“ Am besten, sie brachte das Ganze schnell hinter sich. Umso eher wäre Rocket alias John Miglionni wieder verschwunden, und alles Weitere könnte dann Robert erledigen.

Einen Augenblick später setzten sie sich in zwei Ledersessel, die sich gegenüberstanden. Während John seinen Laptop hochfuhr, begutachtete Victoria ihn ausführlich. Der einzige deutliche Unterschied war die Länge seines Haares. Es war das komplette Gegenteil von dem militärischen Haarschnitt, mit dem sie ihn kennengelernt hatte. Sein Haar war jetzt sogar länger als ihres. Eigentlich hätte ihm das einen femininen Aspekt verleihen sollen, aber komischerweise war genau das Gegenteil der Fall. Es betonte seine hohen Wangenknochen, die hervorspringende Nase und die Kantigkeit seines Gesichtes.

Das Klingeln eines Handys unterbrach die angespannte Stille. Er murmelte eine Entschuldigung und verbog sich graziös, um in der ledernen Laptoptasche, die auf dem kleinen Tisch neben ihm stand, nach seinem Telefon zu graben. „Miglionni.“

Sie beobachtete ihn unter ihren langen Wimpern hindurch, während er gelegentlich eine Frage stellte und dabei etwas auf einen Notizblock kritzelte. Er war immer noch so groß und schlaksig wie früher. Mit Ausnahme seiner breiten Schultern wirkte er sehr schlank, fast schmächtig. Unter dem schwarzen Seidenhemd und der makellos gebügelten schwarzen Stoffhose verbargen sich allerdings stahlharte Muskeln.

Ihr Blick wanderte zurück zu seiner Hose und verharrte einen Augenblick links von seinem Reißverschluss. Sie riss ihren Blick los. Diese Erinnerungen wollte sie erst gar nicht aufkommen lassen.

Hartnäckiger und schwerer zu ignorieren war die Erinnerung an das Gefühl, das er ihr gegeben hatte. Mit ihm hatte sie sich wohl in ihrer Haut gefühlt und frei, ihre Sexualität zu erforschen. Er mochte eine äußerst flatterhafte Einstellung zu Beziehungen gehabt haben, aber er war in sich gefestigt – und er hatte sie unglaublich gut behandelt. Nachdem sie ihr halbes Leben damit verbracht hatte, den Gemeinheiten ihres Vater zu entgehen, machte Rockets raue Freundlichkeit ihn noch wesentlich attraktiver als seine Fähigkeiten im Bett.

Unfreiwillig musste Victoria lächeln. Nun ja, in ihren Erinnerungen war beides sehr eng miteinander verbunden. Sie hatte ihn damals regelrecht angebetet, weil er sie wie die witzigste, klügste und aufregendste Frau des ganzen Universums behandelte. Eine andere Frau hätte sich vielleicht gefragt, ob sie nicht nur eine unter vielen war, aber Victoria war es – zunächst zumindest – egal gewesen. Da sie eher an harsche Bemerkungen als an Komplimente gewöhnt war, hatten sein Beschützerverhalten und seine Aufmerksamkeit wie ein echtes Aphrodisiakum auf sie gewirkt.

„Rocket!“ Sie lachte überrascht, als sich Sand, Sonne und Meer plötzlich in ein Kaleidoskop aus Farben verwandelten, während er sie hochhob und herumwirbelte. Sie spürte, wie etwas an ihrem Kopf vorbeizischte, schenkte dem aber keine Beachtung. Stattdessen sah sie wie hypnotisiert den Mann an, der sie in seinen Armen hielt. Sie war knapp einen Meter fünfundsiebzig groß und bestimmt nicht gerade zierlich, trotzdem hob er sie mit spielerischer Leichtigkeit hoch.

„ ’tschuldigung“, sagte eine Stimme. Victoria schien wie aus einem Rausch zu erwachen, als Rocket sie so abrupt wieder auf den Boden stellte, wie er sie hochgehoben hatte. Er beugte sich hinab und hob einen Volleyball auf. Sie spürte ihr Herz in ihrer Brust schlagen, als sie die katzenhafte Eleganz bewunderte, mit der er den Ball in die Luft warf und mit einem kraftvollen Faustschlag zu den Spielern zurückbeförderte.

In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass er sie gerade davor bewahrt hatte, von einem Querschläger abgeschossen zu werden. „Du hast Reflexe wie eine Katze.“ Sie fühlte sich warm und sicher, was wiederum einige andere Bereiche in Schwingungen versetzte, und trat auf ihn zu. „Du kannst den Ball doch unmöglich kommen gesehen haben.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe es gespürt – den Luftzug wahrscheinlich.“

Sie strich über seine behaarten Unterarme. „Das war sehr… heroisch.“

Er machte ein rüdes Geräusch, verstummte aber gleich wieder, als sie sich an ihn lehnte und seinen Hals küsste.

„Eine so heldenhafte Tat muss belohnt werden“, murmelte sie und küsste ihn ein zweites Mal, diesmal etwas tiefer. Sie presste sich an ihn, und er schlang seine Arme um sie und zog sie noch enger heran. Sie spürte, wie er an ihrem Bauch hart wurde, und rieb sich lächelnd an ihm. „Meinst du nicht?“

Er sah sie mit dunklen Augen an. „ Verdammt, Tori, wenn du so etwas machst, würde ich dir am liebsten auf der Stelle die Kleider vom Leib reißen.“

Sie leckte über die kleine Vertiefung am Ansatz seiner Kehle und spürte ihren großen starken Marine zittern. „ Vor all diesen Leuten?“

„ Und ihren dämlichen kleinen Kötern“, antwortete er und warf ihr einen glühenden Blick zu. „Also, Schätzchen, wenn du nicht willst, dass wir Zuschauer haben, solltest du besser einen großen Schritt zurücktreten und mir eine Minute Zeit geben, mich zu erholen.“

„Tut mir leid, dass du warten musstest.“

Victoria hätte nicht stärker zusammenzucken können, wenn jemand sie mit einem Elektroschocker berührt hätte. Sie spürte, wie sie feuerrot anlief. Zum Glück war Rocket damit beschäftigt, sein Handy wieder wegzustecken. Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu sammeln, bevor er sie wieder mit seinen fast schwarzen Augen ansah.

„Das ist schon …“, sie hörte sich an wie Kermit der Frosch, „in Ordnung. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten, bevor wir loslegen?“ Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ausgerechnet diese Erinnerung wieder auszugraben?

„Nein, danke. Ich bin so weit.“ Er lehnte sich mit dem Computer auf dem Schoß zurück und sah sie an. „Erzähl mir etwas von deinem Bruder.“

„Oh ja, Jared, natürlich.“ Es war ihr entsetzlich peinlich, dass sie ihn einen Augenblick lang völlig vergessen hatte.

Schließlich setzte sie sich kerzengerade auf. Sie hatte eine Menge Dinge vergessen, und das war gefährlich. Sie zwang sich dazu, sich zu konzentrieren, und sah John direkt in die Augen. „Als Erstes will ich eines klarstellen: Er hat meinen Vater nicht getötet.“

„In Ordnung. Verrätst du mir, warum du dir dessen so sicher bist?“

Victoria lehnte sich vor, aber bevor sie etwas sagen konnte, wurde die Bürotür geöffnet und die fünfte Ehefrau ihres Vaters kam hereinspaziert.

Die wohlproportionierte Blondine blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Blick glitt gelangweilt über Victoria hinweg, aber John schien sie interessanter zu finden. Sie musterte ihn ausgiebig. „Entschuldigung“, sagte sie schließlich. „Ich wusste nicht, dass hier jemand ist.“

Tori unterdrückte einen Seufzer. „Mr. Miglionni, das ist Dee Dee Hamilton, die Witwe meines Vaters. Dee Dee, das ist John Miglionni, der Privatdetektiv, den ich mit der Hilfe von Vaters Anwalt angeheuert habe.“

Dee Dees große blaue Augen wurden noch größer und blauer. „Wozu brauchst du denn einen Detektiv? Soweit ich mich erinnern kann, war das einzig halbwegs Interessante, das du jemals getan hast, deinen Daddy stinksauer zu machen, als du Es…“

„Mr. Miglionni hat einen sehr guten Ruf, wenn es darum geht, verschwundene Teenager aufzustöbern. Er wird Jared finden.“

„Ach wirklich? Hast du keine Angst, dass er dann sofort festgenommen wird?“

Blinde Wut flammte in Victoria auf. „Jared hat Vater nicht umgebracht!“

Die üppige Blondine zuckte nur mit den Schultern.

„Er war es nicht.“

Dee Dee sah gelangweilt aus. „Na schön, aber warum ist er dann abgehauen?“

„Hmm, tja, lass mich mal nachdenken. Könnte es sein, dass er über die Leiche seines Vaters gestolpert ist, dass er siebzehn Jahre alt ist und sich vermutlich zu Tode erschreckt hat? Vielleicht musste er sogar alles mitansehen! Bin ich eigentlich die Einzige, die sich Sorgen macht, dass er nicht freiwillig verschwunden sein könnte?“

„Ja.“

„Meine Güte, Dee Dee, auch wenn du kaum Zeit mit ihm verbracht hast, musst du doch wissen, dass er zu so etwas niemals fähig wäre!“

„Ach ja? Und woher willst ausgerechnet du das wissen? Bis auf den einen oder anderen Kurzbesuch warst du in den zwei Jahren, die ich hier lebe, doch praktisch nie da.“

„Stimmt. Und ich muss damit leben, dass ich ihn Vaters nicht gerade angenehmen Erziehungsmethoden überlassen habe. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Natur eines Menschen nicht grundlegend wandelt. Jared könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.“

„Vielleicht nicht.“ Dee Dee zuckte noch einmal mit den Schultern. „Aber wer hätte sonst Grund gehabt, Ford zu töten?“

„Das ist nicht dein Ernst!“ Victoria musste sich beherrschen, um nicht hysterisch loszulachen.

„In Anbetracht von Vaters sonniger Persönlichkeit und der Tatsache, dass er bei einer Dinnerparty umgebracht wurde, die er nur geschmissen hat, um Salz in die Wunden des Vorstandsvorsitzenden zu streuen, dessen Firma er gerade in einer feindlichen Übernahme an sich gerissen hatte, würde ich sagen: So ziemlich jeder.“

Sie wandte sich Rocket zu. „Ich weiß, es gehört sich nicht, schlecht über Tote zu sprechen, aber ich sage dir lieber gleich, dass mein Vater kein netter Mensch war. Er liebte es, mit anderen Menschen zu spielen. Soweit ich weiß, wusste keiner der Gäste, ob er am Montag noch einen Job haben würde – und ich spreche nicht nur von den Angestellten, die er gerade übernommen hatte. Er hatte genauso wenig Skrupel, seine eigenen Leute zu feuern. Manchmal tat er es auch einfach aus Spaß.“

„Und ich habe immer geglaubt, mein Daddy wäre ein miserabler Vater gewesen.“ John beobachtete die Begegnung der beiden Frauen fasziniert. Sie hatten keine Ahnung, was ihm das alles verriet. Jetzt wurde es jedoch Zeit für ein direkteres Vorgehen. Er musste den Anfang machen, um die Unterhaltung in die gewünschte Richtung zu lenken.

Es war eindeutig, dass die beiden Frauen sich nicht sonderlich mochten. Dee Dee konnte höchstens ein oder zwei Jahre älter sein als Victoria, die etwa einunddreißig sein musste, wenn er sich recht erinnerte. Als Stiefmutter kam Dee Dee sicherlich nicht besonders gut an. Man konnte kaum zwei unterschiedlichere Frauen finden. Selbst damals war ihm klar gewesen, dass Tori keine Partymaus war, wie er sie sonst in Bars aufriss. Als sie ihm dann aber genau das gestattete, stellte er fest, dass sie relativ unerfahren war, und er dankte seinem Karma, dass sich ihre Wege genau zum richtigen Zeitpunkt gekreuzt hatten.

Dee Dee auf der anderen Seite war die Art Frau, die mit Begeisterung an einem Wet-T-Shirt-Wettbewerb teilnehmen würde. Sicher, man sollte nicht nach dem Aussehen urteilen, dachte er und erinnerte sich daran, wie sein bester Freund Zach die Frau kennengelernt hatte, die später seine Ehefrau wurde. Dee Dee hatte einfach diese gewisse Ausstrahlung. Sie war die klassische Trophäenfrau.

Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Sie haben nicht unrecht. Die Mordkommission sieht sich immer zuerst in der Familie des Opfers um. Die meisten Polizisten würden Ihnen bestätigen, dass neun von zehn Mordopfern von jemandem umgebracht wurden, den sie kannten.“

Der selbstgefällige Blick, den sie Victoria zuwarf, gefiel ihm nicht. Er hatte jedoch nicht vor, sich in diese Geschichte einzumischen und sich zwischen zwei gänzlich gegensätzliche Frauen zu stellen. Er mischte sich grundsätzlich nicht in das Privatleben seiner Klienten ein. Soweit es ihn betraf, konnten die zwei sich gern eine Schlammschlacht liefern. Er würde sich bestenfalls einen gemütlichen Stuhl holen und zusehen. Besonders, wenn die Chance bestand, dass sie sich die Kleider vom Leib reißen würden.

Er beobachtete Tori kurz und wandte sich dann wieder Dee Dee zu. „Natürlich steht vor allem der Ehepartner unter Verdacht – schließlich erbt er oder sie ja den Großteil des Vermögens.“

Sie bleckte die Zähne. „Na, dann bin ich ja fein raus. Ich habe nämlich einen Ehevertrag unterschrieben, laut dem ich so gut wie nichts bekomme, falls Ford sich innerhalb der ersten drei Ehejahre scheiden lässt oder falls ihm etwas zustößt. Er war meine goldene Gans, und er hat mir nur lebendig etwas genützt.“

John sah Tori an, die nickte. „All seine Frauen mussten den gleichen Ehevertrag unterschreiben, laut dem sie nur dann eine stattliche Summe bekommen, wenn die Ehe mindestens zehn Jahre hält.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die Einzige, die das fast geschafft hätte, war meine Mutter, aber sie starb kurz vor meinem achten Geburtstag.“

Ein Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die Vorhänge und schien in ihre Augen. Die goldenen Flecken rund um ihre Pupillen funkelten. John musste den Drang bekämpfen, sie mit Samthandschuhen anzufassen und nicht die naheliegende Frage zu stellen. „Also werden dein Bruder und du den Großteil des Vermögens erben?“

Sie kniff die Augen zusammen, wahrscheinlich nicht aufgrund des Lichts, und sagte: „Ja, und bevor du fragst, ich war zum Zeitpunkt seines Todes in London. Dass Jared es nicht gewesen sein kann, habe ich dir bereits gesagt.“

Einen Mörder konnte man genauso gut von London aus anheuern, und John vertraute prinzipiell nicht auf die Gutherzigkeit junger Männer. Da er diesen Fall unbedingt behalten wollte, sagte er jedoch nichts. Er war vielleicht einer der Besten, wenn es darum ging, Ausreißer zu finden, aber er war keineswegs der einzige qualifizierte Privatdetektiv. Außerdem sprach seine Vergangenheit mit Tori nicht gerade für ihn.

Wenn man zweifelte, empfahl es sich immer, Selbstvertrauen auszustrahlen. Außerdem glaubte er sowieso nicht, dass sie ein Kopfgeld auf den Mörder ihres alten Herrn ausgesetzt hatte.

Er bemerkte, wie Dee Dee sie beobachtete, und drehte sich zu ihr um. „Würden Sie uns bitte entschuldigen, Mrs. Hamilton? Meine Klientin bezahlt mich pro Stunde, und ich würde gern zur Sache kommen.“

„Das kann ich mir vorstellen“, murmelte sie, drehte sich auf ihrem Pfennigabsatz um und stöckelte hinaus.

Sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, wandte er sich Victoria zu. „Hör zu, ich werde auf jedem Fall nach deinem Bruder suchen. Aber ich muss wissen, warum du dir so sicher bist, dass er zu so einem Gewaltausbruch nicht fähig ist. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der das unter den richtigen Umständen nicht wäre.“

„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was das in Jareds Fall für Umstände gewesen sein könnten“, sagte sie. „Er hat panische Angst vor Spinnen, und trotzdem versucht er immer, sie unverletzt nach draußen zu setzen. Ich dagegen würde das Mistvieh totschlagen.“

Daran konnte er sich erinnern. Sie war ihm einmal schreiend auf den Rücken gesprungen, als ein harmloser Weberknecht das Pech hatte, sich in ihr Schlafzimmer in Pensacola zu verirren. „Und trotzdem hatte er schon eine ganze Menge Ärger, wenn ich das recht verstanden habe.“

„Er ist von mehreren Schulen geflogen, weil er getrunken oder geraucht hat oder weil er aufmüpfig wurde.“ Sie lehnte sich nach vorn. „Alles, was er wollte, war ein bisschen Aufmerksamkeit von meinem Vater. Seine Schulverweise waren sein Versuch, sich diese zu holen – selbst wenn Vater nur böse auf Jared wurde.“

„Wer sind seine Freunde?“

Victoria setzte sich zurück. „Na, das ist so eine Sache. Er hat das Talent, sich immer die falschen Freunde zu suchen, was seine Probleme nur noch verstärkt hat. Diesmal war es aber anders. Weil nur noch ein paar Monate im Schuljahr übrig waren, hat Vater ihn in einer örtlichen Schule einschreiben lassen. Jared hat sich der Baseballmannschaft angeschlossen. Der Sport machte ihm richtig Spaß. Er lernte sogar ein paar wirklich nette Jungs kennen. Leider hat er von ihnen immer nur als Dan und Dave gesprochen.“

„Das ist schon okay. Wie heißt die Schule?“ Er würde sich mit dem Trainer in Verbindung setzen.

Sie gab ihm den Namen, und er schrieb ihn in seine Unterlagen, als die Tür erneut geöffnet wurde. Er runzelte die Stirn und sah auf.

Ein kleines Mädchen mit langem verwuschelten braunen Haar, das mit Schmetterlingsspangen zurückgehalten wurde, stand in der Tür. Sie sah ihn interessiert an und lief dann zu Victoria. „Hallo, Mami“, sagte sie mit einem eindeutig britischen Akzent. „Nanny Helen hat erzählt, hier ist ein Detektiv, der Onkel Jared finden soll.“

Mami? Johns Kinnlade klappte nach unten, als er zusah, wie Victoria ihre Arme um das Kind schlang. Sie war Mutter?

„Ja, das stimmt“, sagte Victoria. „Lauf schon, Süße, geh spielen. Ich komme zu dir, sobald wir hier fertig sind.“

Da war wieder dieser Unterton in Victorias Stimme. Was war das bloß? Besorgnis? Vorsicht? Er konnte es nicht benennen.

„Aber Mami, ich wollte doch Hallo sagen.“

Einen Augenblick lang war es totenstill. „Also gut, Süße. Das ist Mr. Miglionni. Er ist der Privatdetektiv, von dem Nanny Helen dir erzählt hat. John, das ist meine Tochter Esme.“

Er hatte keinerlei Erfahrung mit kleinen Kindern. Aber eine Frau war eine Frau. John lächelte die Kleine strahlend an. „Freut mich, dich kennenzulernen, Esme. Deine Schmetterlinge sind klasse.“

Sie berührte eine der Spangen mit ihrer kleinen Hand. „Danke schön. Meine Mami hat sie bei Harrod’s gekauft.“ Sie lächelte goldig und sah ihn mit Augen an, die so dunkel waren wie seine eigenen.

Sein Magen drehte sich um. Heilige Scheiße. Ach du heilige Scheiße! Das konnte nicht sein. Oder?

Nein, keine Chance. Er hatte immer ein Kondom benutzt.

Und jeder Idiot wusste, dass Kondome nicht hundertprozentig sicher waren. Er holte tief Luft, um sich wieder in den Griff zu bekommen. „Bei Harrod’s, ja? Das ist doch dieses riesige Kaufhaus in London, oder?“

„Hmm.“

„Du bist ja schon ganz schön groß. Hast du denn schon einen Führerschein?“

Sie kicherte. „Neeeein. Ich bin doch erst fünfeinhalb!“

„Ach so. Ja, das ist wohl ein bisschen jung.“ In seinem Magen hatte sich ein Eisklumpen gebildet. Er war vermutlich nicht der größte Mathematiker aller Zeiten, aber er konnte zwei und zwei zusammenrechnen. Besonders wenn man die Augen des Kindes mit dazuzählte. Es kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung, aber es gelang ihm, zu lächeln, bis das kleine Mädchen aus dem Zimmer gehüpft war. Sobald sie weg war, wirbelte er herum und nagelte Victoria mit einem Blick am Stuhl fest.

„Möchtest du mir etwas sagen?“

3. KAPITEL

V erdammt! Victorias Herz schien aus ihrer Brust springen zu wollen, und ihr Mund war staubtrocken. Verdammt, verdammt, verdammt! Vor dieser Situation hatte sie sich gefürchtet, seit ihr klar geworden war, wen sie vor sich hatte. In ihrem Magen brodelte es, während sie Rocket ansah. Da sie ihr ganzes Leben lang geübt hatte, sich zu beherrschen, auch wenn sie sich nicht danach fühlte, holte sie nun tief Luft und fragte: „Was sollte ich dir sagen wollen?“

„Spiel hier nicht die Eisprinzessin, Tori. Du weißt ganz genau, worum es geht.“ Er machte einen Schritt auf sie zu, sodass er sie überragte. Victoria schluckte hilflos, als sie die mühsam zurückgehaltene Wut in seinen Augen sah. „Esme. Ich will wissen, zu wem sie gehört, und ich will es jetzt wissen.“

„Zu mir.“ Wut löste ihre Erstarrung, und Victoria richtete sich kerzengerade auf. Sie schob energisch das Kinn vor und sah ihm direkt in die Augen. „Esme gehört zu mir. Sie ist meine Tochter!“

„Und meine“, knurrte er wütend. „Ein nicht gerade unwichtiges kleines Detail, das ich niemals erfahren hätte, wenn ich heute nicht hergekommen wäre.“

Hätte sie Zeit gehabt, alles in Ruhe zu durchdenken, hätte sie seine Vaterschaft vermutlich kategorisch zurückgewiesen. Schließlich hatten sie die ganze Woche brav Kondome verwendet. Aber in den letzten zwei Wochen waren ihr Vater ermordet worden und ihr Bruder verschwunden. Sie selbst hatte ihre gesamten Habseligkeiten gepackt und von einem Ende der Welt ans andere verschifft. Und plötzlich, aus dem Nichts heraus, war der Vater ihres Kindes wieder in ihrem Leben aufgetaucht. Kein Wunder, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Sie hatte in der letzten Zeit zu viel verkraften müssen und war mit den Nerven am Ende. Sie hätte ihm niemals glaubhaft verkaufen können, dass sie von seinem Bett aus direkt in das eines anderen gesprungen war.

Trotzdem. Seine Frechheit machte sie wütend. „Du musst schon entschuldigen, Rocket oder John oder wie auch immer du dich momentan nennst, aber ich finde deine Haltung ein wenig anmaßend. Wie hätte ich dich denn informieren sollen? Hätte ich einen Brief an die Marines schicken sollen? Adressiert an Rocket, Nachname unbekannt? Und außerdem – was hast du denn in der Zeit getrieben, in der ich festgestellt habe, dass ich trotz der Kondome schwanger geworden bin? Mit anderen Frauen geschlafen, von denen du auch nur den Vornamen kanntest? Oder hast du deine Marine-Freunde mit Geschichten über uns unterhalten?“

„Nein. Verdammt noch mal, Tori, ich habe niemandem etwas davon erzählt.“

Sie ignorierte die Erleichterung, die sie verspürte, und hielt verzweifelt an ihrer Entrüstung fest. „Warum nicht? Das war doch sonst deine Masche, oder? An dem Abend, als wir uns kennengelernt haben, hat mich einer deiner Freunde davor gewarnt, wie gesprächig du bist.“ Der Gedanke daran, dass er anderen alles über die gemeinsame Zeit erzählen könnte, war ihr noch Monate später sauer aufgestoßen.

„Oh, lass mich raten – Bantam, was? Der gleiche Kerl, der alles versucht hat, damit du mit ihm nach Hause gehst anstatt mit mir.“ Er schob die Hände in die Taschen und starrte sie einen Moment lang an, bevor er kurz mit den Schultern zuckte. „Andererseits hatte er nicht unrecht. Es war meine Masche, bevor ich dich getroffen habe.“

„Na klar.“ Skepsis machte sich in ihr breit. „Weil ich so etwas Besonderes war, richtig? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“ Noch bevor er antworten konnte, schnitt sie ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Sag es nicht. Die Tatsache, dass ich trotz der Warnung mit dir gegangen bin, spricht für sich.“

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie ihr Herz in seiner Gegenwart schneller geschlagen hatte. Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

Die Reise nach Pensacola hätte fast nicht stattgefunden. Ihre Unterkunft war die Art von Hotel, die sie als anständiges Mädchen zu meiden wusste, und eigentlich wollte sie die Reise verfallen lassen. Doch der Gutschein war ein Geschenk der Architekturfirma, für die sie arbeitete, als Dankeschön für einen Entwurf, der einen äußerst lukrativen Auftrag eingebracht hatte. Victoria war so stolz gewesen – auf ihre gute Arbeit und die Anerkennung ihrer Vorgesetzten. Sie hatte kaum erwarten können, ihrem Vater davon zu erzählen.

Sie hätte wissen müssen, dass er sie auslachen würde. Zumindest hätte sie nicht so überrascht sein dürfen. Schließlich konnte sie es ihm nie recht machen. Trotzdem hatte er sie mit seiner eiskalten Art wieder einmal erwischt. Diesmal war es jedoch anders. Als er ihre Leistung arrogant beiseitewischte und ihr befahl, keinen Fuß in ein Hotel zu setzen, das den geschmacklosen Namen „Club Paradise“ trug, beschloss sie, zu rebellieren.

Auch wenn die Reise als Racheakt an ihrem Vater begonnen hatte: Als sie Rocket kennenlernte, änderte sich das alles. Bei ihm zu sein war aufregend und gefährlich, es machte süchtig. Sie fühlte sich so …

Sie wischte die Erinnerungen beiseite und sah ihn ernst an. „Glaub nicht, dass du im Recht bist, nur weil ich ein Idiot war. Du hast dir auch nicht gerade ein Bein ausgerissen, um mich zu finden. Ich hatte doch keinerlei persönliche Daten von dir. Wo hätte ich dich suchen sollen? Ich wusste ja nicht einmal, in welchem Staat du stationiert warst! Den Entschluss, mein Baby zu behalten, habe ich allein getroffen und mit Klauen und Zähnen gegen meinen Vater verteidigt. Er hatte Angst, dass sein Ruf darunter leiden würde.“

Er stand stocksteif da. „Dein Vater wollte, dass du abtreibst?“ Seine Augen blitzten wütend, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. „Sagen wir also, du hattest keine Möglichkeit, Kontakt mit mir aufzunehmen, als du von der Schwangerschaft erfahren hast.“ Sein Tonfall war wieder genauso unterkühlt freundlich wie vorhin, als er sie „Ma’am“ genannt hatte. In seinen Augen aber loderte eine wilde Glut, während er sie ansah. „Das erklärt aber nicht, warum du Esme und ihre Beziehung zu mir nicht schon früher erwähnt hast, zum Beispiel, als ich hier ankam.“

„Ist das dein Ernst?“ Offensichtlich meinte er es todernst. „Was soll ich sagen, Rocket? Es hat mich ein bisschen überrascht, dich nach sechs Jahren so mir nichts dir nichts wiederzusehen.“ Die Bitterkeit in ihren Worten überraschte sie selbst. Sie atmete tief durch. „Tut mir leid, das war unhöflich.“

Er verzog den Mund. „Gott bewahre!“

Nun ja, nicht jeder von uns kann es sich erlauben, einfach jeden Gedanken auszusprechen, der ihm in den Sinn kommt. Mühsam beherrscht sah Victoria ihn an. „Okay, wie steht’s damit? Ich habe ein fröhliches, ausgeglichenes kleines Mädchen. Ich erinnere mich an dich als wirklich netten Kerl, aber ich erinnere mich auch daran, dass dauerhafte Beziehungen nicht gerade deine Stärke waren. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass sich das geändert hat.“ Ihre Stimme nahm an Härte zu. „Ehrlich gesagt ist es mir egal, wie nett du bist. Ich werde mit allen Mitteln verhindern, dass Esme einen Vater hat, der sich in ihr Leben einmischt, wie es ihm gerade passt, nur um gleich darauf wieder zu verschwinden.“

Sein Blick wurde noch wilder. „Ich habe Neuigkeiten für dich, Schätzchen: Dafür war ich nie der Typ. Als wir uns kennengelernt haben, habe ich gern gefeiert, aber erwachsen zu werden war nie mein Problem. Mal ganz abgesehen davon, dass ich in erster Linie Marine war, was von Natur aus ein verantwortungsvoller Posten ist. Ich musste verdammt früh erwachsen werden, früher als die meisten. Willst du wirklich Verantwortlichkeiten vergleichen? Na schön, ich bin schon durch den Schlamm gerobbt und Kugeln ausgewichen, als du noch auf deiner schicken Privatschule für verwöhnte Prinzesschen warst!“

„Was willst du, Rocket?“ Im Moment war es nicht schwer, sich den Krieger in ihm vorzustellen. Sie konnte sich den Sarkasmus nicht verkneifen. „Besuchsrecht? Das Sorgerecht alle zwei Wochenenden und zwei Wochen im Sommer?“ Das war mit Sicherheit das Letzte, was er wollte.

Vielleicht hatte er sich ja gar nicht so sehr verändert, denn er stand einfach nur da und sah sie an. Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, den sie bei jedem anderen Mann als Panik gewertet hätte. Dann blinzelte er und setzte wieder sein professionell ausdrucksloses Gesicht auf. Seine Stimme klang müde, als er fragte: „Besuchsrecht?“

„Ich nehme an, darauf willst du hinaus.“ Und sie wollte nicht einmal darüber nachdenken. Als sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, war sie tief im Innern ein klein bisschen froh gewesen, dass sie nicht wusste, wie sie ihn kontaktieren sollte. Aus dem Mann, für den sie so offensichtlich nur eine nette kleine Affäre war, einen Vater zu machen war das Allerletzte, was sie wollte. Sie hatte selbst einen Vater, der diesen Job nicht gewollt hatte – nie im Leben würde sie ihr Kind der gleichen Situation aussetzen.

Wenn Rocket aber wirklich ein Rolle in Esmes Leben spielen wollte, nun, vielleicht ging es dann ja nicht darum, was sie wollte. Sie würde tun, was das Beste für ihr Kind war. Und vielleicht hatte sie ja wirklich weder moralisch noch juristisch das Recht, dem treulosen Mistkerl seine Tochter vorzuenthalten, sosehr sie diese Vorstellung auch schmerzte. Zumindest nicht, wenn er sich wirklich als Vater engagieren wollte.

Er sah sie müde an. „Was weiß sie über mich?“

„Gar nichts.“

„Was soll das heißen, gar nichts? Hat sie nie gefragt, warum andere Kinder einen Daddy haben und sie nicht?“

„Natürlich hat sie gefragt! Aber was sollte ich ihr erzählen? Dass sie das Resultat einer netten kleinen Affäre mit einem heißen Marine war, der nicht einmal meinen Nachnamen wissen wollte?“

„Was dann? Du hast ihr stattdessen erzählt, dass ich tot bin?“

„Selbstverständlich nicht!“ Jetzt war sie wirklich wütend. „Ich lüge meine Tochter nicht an, Miglionni. Wenn sie alt genug ist, werde ich ihr die Wahrheit erzählen. Bis dahin bleibe ich bei der Version, die sie kennt.“

Er sah sie kalt an. „Und die lautet …?“

„Dass ihr Papa nicht bei ihr sein kann. Ich sollte aber ein ganz besonderes kleines Mädchen haben, deswegen hat Gott sie mir geschickt. Ich habe ihr gesagt, ich liebe sie genug für zwei, und wir brauchen keinen Da…“ Bevor sie etwas Verhängnisvolles sagen konnte, klappte sie den Mund zu.

Es war bereits zu spät. Seine Augen waren nur noch Schlitze. „Was braucht ihr nicht, Victoria? Einen Daddy? Du vielleicht nicht, Süße, aber ich wette, das kleine Mädchen könnte einen gebrauchen!“

„Ich frage dich noch mal: Was willst du?“

Er fuhr sich durch das Haar, bis seine Finger in dem Gummiband hängen blieben, das seinen Pferdeschwanz zusammenhielt, und sah sie frustriert an. „Ich weiß es nicht.“

„Dann sage ich dir jetzt Folgendes: Ich hätte alles für einen liebevollen, aufmerksamen Vater gegeben. Stattdessen musste ich aus erster Hand erfahren, wie viel Schaden ein pflichtvergessener Elternteil anrichten kann. Wenn mein kleines Mädchen Ersteres nicht haben kann, dann werde ich zumindest dafür sorgen, dass sie Letzteres nicht durchmachen muss.“ Sie sah ihm tief in die schönen schwarzen Augen. „Ich versuche, vernünftig zu sein und deine Sicht der Dinge zu verstehen. Aber wenn du nicht vorhast, die Art Papa zu sein, die Esme verdient, dann denke nicht einmal daran, ihr zu sagen, dass du ihr Vater bist.“

„In Ordnung.“

Er sah sie einige Augenblicke schweigend an. Victoria hatte das Gefühl, nichts würde mehr in Ordnung sein. Sie war erleichtert, als er endlich den Blick senkte und nach seinem Laptop griff. Bevor sie tief durchatmen konnte, drehte er sich aber noch einmal zu ihr um und sah sie an.

„Lass ein Zimmer fertig machen“, sagte er. Obwohl seine Stimme ruhig und höflich klang, hörte sie einen Unterton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich werde hier einziehen.“

„Wie bitte?!“

„Die Tatsache meiner Vaterschaft ist dir zwar schon seit sechs Jahren bekannt, Tori, aber was mich angeht, ich bin erst seit zehn Minuten Daddy. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich mich fühlen soll. Aber ich finde, ich sollte die Chance bekommen, meine Tochter kennenzulernen, während ich es herausfinde.“

„Stimmt, solltest du. Also nimm dir ein Hotelzimmer in der Nähe und komm jeden Tag vorbei.“

„Damit du die Chance hast, schnell alles zusammenzupacken und mit ihr abzuhauen? Vergiss es, Mädchen.“

„Das würde ich niemals tun!“ Sie starrte ihn an, völlig entrüstet, dass er ihr so etwas zutraute.

„Es wäre nicht das erste Mal, dass ich zurückbleibe.“

Schon, aber das war doch nur, weil ich mich viel zu tief in die Sache mit dir verwickelt hatte, obwohl ich dir versprochen hatte, es nicht zu tun. Ihr ganzer Körper bebte bei der Erinnerung. Vor sechs langen Jahren war sie im Morgengrauen hinausgeschlichen, weil sie sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt hatte, der so gar nicht in ihre perfekte Welt passte. Anfangs hatte sie gedacht, es würde ganz leicht sein, sich an seine Spielregeln zu halten und die Zeit einfach zu genießen. Stattdessen verliebte sie sich mit jedem Tag, den sie mit ihm verbrachte, mehr in ihn, und das machte ihr Angst. Um sich noch größeren Herzschmerz zu ersparen, war sie bei Sonnenaufgang weggelaufen.

Sie war jedoch nicht verrückt genug, um das zuzugeben. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem charmanten Burschen aus ihrer Erinnerung. Sie war sich sicher, dass er jede Schwäche, die sie zeigte, zu seinen Gunsten ausnutzen würde. Deshalb gab sie sich bewusst gelassen und log ihn eiskalt an. „Ich habe dir doch gesagt, es gab einen familiären Notfall.“

„Und ich habe vor, hier zu sein, falls so etwas wieder einmal passieren sollte.“

Obwohl sich seine Stimme weder sarkastisch noch skeptisch anhörte, fühlte sie sich verschaukelt und angegriffen. Es musste an seinen Augen liegen, beschloss sie. Victoria hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, ihm zu widersprechen.

Rocket sah jedoch aus, als würde er ihr das Leben zur Hölle machen, falls sie sich weigerte. Außerdem hatte jemand ihren Vater umgebracht, und das war nicht ihr Bruder gewesen. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, einen Mann im Haus zu haben, der in der Lage wäre, Esme zu beschützen, falls der Mörder noch einmal zurückkäme.

Die Entscheidung gefiel ihr zwar nicht, aber sie war zu müde, um noch lange mit ihm zu streiten. „Ich habe nicht vor, hier wegzugehen, bevor Jared gefunden wurde, aber ich werde Mary bitten, ein Zimmer für dich fertig zu machen.“

„Gut.“ Sein Blick sagte eindeutig, dass er an dieser Entscheidung niemals gezweifelt hatte. „Wenn du dann ein Foto für mich hast, kann ich mich auf die Suche nach deinem Bruder machen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen, als würde er ein ganz gewöhnliches Geschäft abschließen.

Seine Hand zurückzuweisen wäre unhöflich gewesen, aber als Victoria sie ergriff, wusste sie im gleichen Moment, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die Chemie zwischen ihnen war immer noch da. Sie war da, seit sie ihn damals in dieser Bar das erste Mal erblickt hatte. Und sie hatte erst vor ein paar Minuten ihren Puls gewaltig beschleunigt. Ihre Haut prickelte, wo sie mit seiner kräftigen braunen Hand in Berührung kam.

So schnell wie möglich ließ sie ihn wieder los. Das wird schon klappen, versicherte sie sich selbst. Wenn du dir genug Mühe gibst, kann Esme dabei nur gewinnen. Und dafür würde Victoria eine Menge ertragen.

Warum wurde sie dann das Gefühl nicht los, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben?

John war stinksauer. Richtig ernsthaft sauer. „Tut mir leid“, imitierte er ihre Stimme, „das war unhöflich.“ Er stieg ins Auto, ließ den Motor an und schoss mit quietschenden Reifen aus dem Parkplatz heraus. Wütend legte er den ersten Gang ein und fuhr die Einfahrt hinunter. Ihm nicht zu sagen, dass er ein Kind hatte, war also unhöflich.

In seinem Innern brodelte es, und am liebsten hätte er jemanden verprügelt. Er wollte das befriedigende Gefühl verspüren, mit der seine Faust auf Fleisch traf. Und ehrlich gesagt war es ihm momentan vollkommen egal, wer das war.

Das erinnerte ihn aber zu sehr an die betrunkenen Wutausbrüche seines Vaters, also beschränkte er sich darauf, das Gaspedal durchzutreten und durch das sich schließende Tor zu schießen. Sein Wagen schlidderte auf die Straße, bevor er ihn abfing und erneut das Gas durchtrat. Er würde nicht zulassen, dass Toris Verrat Jahre mühsam erarbeiteter Selbstbeherrschung zunichtemachte.

Und trotzdem. Er musste irgendetwas tun, oder er würde explodieren. Er nahm den Fuß vom Gas, bis der Wagen sich auf eine etwas annehmbarere Geschwindigkeit verlangsamt hatte, und holte sein Handy heraus.

Er war sehr dankbar, dass Zach sofort am Apparat war und er nicht erst mit der Frau seines Freundes sprechen musste. John hatte Lily sehr gern, aber für Small Talk war er momentan einfach nicht in Stimmung. Ohne Vorwarnung sagte er: „Hol die Zigarren raus. Ich bin Vater geworden.“

Schweigen am anderen Ende. Dann hörte er Zachs Stimme: „Rocket?“

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