×

Ihre Vorbestellung zum Buch »A City of Flames«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »A City of Flames« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

A City of Flames

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Sie sehnt sich nach Rache. Womit sie nicht gerechnet hat, ist Leidenschaft.

Als ein Feuerdrache ihr Dorf angreift, bietet sich für Nara die perfekte Gelegenheit, die Gerechtigkeit zu erlangen, nach der sie sich immer gesehnt hat - jetzt kann sie sich an den Kreaturen rächen, die ihren Vater getötet haben. Doch der Drache, den sie töten will, scheint von Nara fasziniert zu sein, was langsam jeder zu bemerken beginnt... Nach diesem seltsamen Ereignis wird Nara eingeladen, den Venatoren beizutreten, einem ausgebildeten Orden von Menschen, die gefährliche magische Kreaturen töten, genau wie ihr Vater vor ihr. Dieses Angebot sollte ein wahrgewordener Traum sein, aber Nara wird bald die hässliche Wahrheit erfahren: Geschichte wird von den Siegern geschrieben.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Aus der Serie: Solaris Und Crello
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704853

Leseprobe

Rina Vasquez

A City of Flames

Glühende Rache

Roman

Aus dem Englischen von
Andreas Heckmann

Für meine Großmutter –
du bist am Tag meine Sonne
und bei Nacht mein Mond

Kapitel 1

Toller Tag, um sich vor Angst in die Hose zu machen, was?«, flüstert mein zweitältester Bruder mir zu.

Ich verdrehe die Augen. »Vorsicht, Illias, dein Spott könnte dich töten, und dann machst du dir im Tod noch in die Hose.«

Er runzelt die dunklen, buschigen Brauen, schnaubt und wirft einen Blick auf den Wald vor uns. Ein umgestürzter Baum versperrt uns den Weg. Es ist fast unmöglich, über den mächtigen Stamm zu springen; dadurch ist er ein großartiges Versteck vor den Geschöpfen, auf die wir stoßen könnten.

»Warum schleppst du mich auf all deine Jagdabenteuer mit?«, ächzt er leise, während das Morgenlicht des Frühlings durch die Wipfel strömt. »Warum fragst du nicht Iker?«

»Iker …« Der ist zwei Jahre älter als ich und weiß selten zu sagen, ob Tag ist oder Nacht. »Was moralische Unterstützung angeht, ist Iker furchtbar, anders als du. Außerdem bist du mir der Liebste von euch dreien.« Ich lächle. Illias ist der Nachgiebige von uns vieren. Nie kann er mein Angebot ablehnen, ihm Farbdosen für seine Leinwände zu besorgen, als Gegenleistung dafür, wenn er mitmacht.

»Das ist eine glatte Lüge«, höhnt er und schaut mir mit seinen rehbraunen in meine hellblauen Augen.

Ich hebe die Hand, damit er schweigt, und horche auf das Rascheln der Büsche ein Stück rechts von mir.

»Was ist? Soll ich flüchten?«, fragt Illias. Das Futter seines staubigen Gewands ist ausgefranst.

Ich mustere jedes Gebüsch ringsum. »Wo hast du die Falle aufgestellt?«

»Falle? Sollte ich eine Falle aufstellen?«

Ich wende den Kopf langsam zu ihm und beiße die Zähne zusammen. »Darum hatte ich dich gestern gebeten

Er schluckt. Kurze, kastanienbraune Locken fallen ihm in die Stirn. »Dann sterben wir jetzt also wirklich?«

Möglicherweise, aber das sage ich ihm natürlich nicht. »Ich muss es einfach anders fangen.« Vögel flattern auf, und der Wind weht mir in dunkler, unheimlicher Atmosphäre Strähnen ins Gesicht.

Ich schiebe die Kapuze vom Kopf, ziehe zwei Dolche aus dem Futteral an meinem Korsett und warte ein paar Sekunden. Als rechts von mir ein Ast knackt, flüstere ich: »Jetzt kannst du rennen.«

Auf mein Stichwort hin flüchtet Illias nach links. Im gleichen Moment springt ein Rümen aus dem Gebüsch und rennt tiefer in den Wald. Sofort setze ich über den Baumstamm, in meiner nackten Hand wird das Messer warm. Die Stiefel landen in frostigem Gras. Ich komme an dunkleren Ästen vorbei, an Flechten und Sträuchern, während das Rümen in der Ferne kreischt.

Rümen verlassen sich ganz auf Geruchssinn und Gehör. Wo sonst Augen sind, haben sie nur blinde Schlitze links und rechts am Kopf. Mit ihrem schlanken und glitschigen, an eine Schlange erinnernden Körper und den Flügeln einer Fledermaus sehen sie schon furchterregend aus, aber ihr Kreischen ist ein tödliches Geräusch, das niemand von Nahem hören sollte.

Ich will keines dieser Wesen töten. Mein Interesse ist es, diese Geschöpfe zu fangen, auch wenn Rümen wegen ihres Tempos und ihrer Geschicklichkeit schwer zu schnappen sind. Doch eine einfache Schnittwunde zwischen den Rückenschuppen schwächt sie enorm.

Weil das Rümen nirgendwo zu sehen ist, bleibe ich auf einer Lichtung stehen und hebe den Dolch auf Kopfhöhe.

Wieder flattern Vögel auf, und ich warte … warte auf eine Bewegung, ein Geräusch, die mir verraten, dass das Rümen noch in der Tiefe des Waldes lauert.

Langsam drehe ich mich mit bebendem Atem einmal um mich selbst. Gerade als ein wenig Sonnenlicht von den Schuppen des im Gebüsch versteckten Rümens schimmert, erschreckt ein knackender Ast das Geschöpf. Mit gespreizten Krallen fliegt es auf und wirft mich zu Boden. Die Messer fallen mir aus den Händen, und ich schlinge dem Rümen den Unterarm um den Hals, damit das furchtbare Geschöpf mich nicht beißt.

Denn sein Biss ist tödlich und bringt einen unvorstellbar qualvollen Tod.

Ich zucke zusammen und taste nach dem Dolch, der links von mir im Gras gelandet ist, während der Kopf des Rümens sich mir nähert, seine rasiermesserscharfen Zähne nach mir schnappen und das Wesen Schreie ausstößt, die mich an etwas in unserem Land weithin Gefürchtetes erinnern.

An Drachen.

Plötzlich blitzt die Erinnerung an jenen Tag auf, an dem ich zwölf gewesen war. Daran, wie die Schreie meiner Mutter durch unsere Hütte drangen und ich starr vor Angst dastand und hilflos zusah, wie ein Drache meinen Vater am helllichten Tage tötete.

Ich stoße einen Schrei aus, als das Rümen mir seine Krallen ins Bein schlägt, wie der Drache mir damals ins Fleisch gefahren war und mir den Unterarm bis zur Handfläche aufriss. Ich hatte den Arm im gleichen Moment zum Schutz erhoben, in dem mein ältester Bruder Idris dem Drachen einen Pfeil in den Rücken geschossen hatte, was das Geschöpf nach vorn stolpern ließ.

Diese Erinnerung kehrt so lebhaft zurück, dass ihre verschwommenen Bilder kurz die Wirklichkeit des Moments überlagern. Damals hatte ich den Arm zum Schutz erhoben, doch die Kraft des Pfeils ließ die Drachenkralle in meine Hand fahren.

Als ich mich wieder auf die Gegenwart konzentrieren kann, hat das Rümen innegehalten. Es sieht mir in die Augen, als könnte es mich sehen und analysieren – wie damals der Drache, ehe Idris’ Pfeil ihn traf. Ich begreife das als Chance. Kaum hat meine Hand den Griff des Dolchs ertastet, ramme ich dem Geschöpf die Waffe von der Seite so tief in den Hals, dass Blut heiß und dick wie Lava über meine Hand strömt.

Das Rümen kreischt im Todeskampf ein letztes Mal auf und sackt zusammen. Seine ledrigen Hautflügel werden schlaff. Ich schiebe es von mir herunter, rapple mich auf und komme wieder zu Atem.

So viel dazu, dass ich es nicht töten wollte.

Ich hebe auch den zweiten Dolch auf und will mich schon auf die Suche nach Illias machen, als ich vor mir etwas Dunkles spüre. Ich mustere das Dornengestrüpp längs des Wegs, der in den Screaming Forest führt, der Emberwell von Terranos, und dessen Herrschende über Wesen regieren, die auf Erden unsterblich sind. Kein Mensch auf unserer Seite hat gewagt, diesen Wald zu durchqueren, seit die Siedlung vor dreihundert Jahren für ganz Zerathion und seine vier Länder geschmiedet wurde. Alle müssen in ihrem Land bleiben – alle mit Ausnahme der Herrschenden.

»Was sollte das denn?« Illias kommt keuchend zu mir und reißt mich aus meinen Gedanken. »Ivarron will die Rümen doch lebend haben!«

Ich reiße den Blick vom Dorngestrüpp los, das den Wald fast verdeckt, schlinge meine schwielige Hand um das andere Handgelenk und betrachte den fingerlosen Lederhandschuh, der knapp unter dem Ellbogen endet und meine Narbe verbirgt. »Das Rümen hatte die Oberhand gewonnen – ich musste es töten.« Dabei sehe ich Illias an.

Seine Brauen rücken zusammen, als wüsste er, dass es anders war. Im Jagen und Fangen von Geschöpfen mag ich gut sein, aber Illias merkt genauso gut wie Idris, wenn mir etwas auf der Seele liegt: normalerweise das, was vor vielen Jahren geschehen ist.

»Komm.« Ich bewege den Kopf, bevor er etwas sagen kann, und mache mich auf den Weg aus dem Wald ins Hauptdorf.

***

Der Duft frisch gebackener Waren erfüllt die feuchtkalte Luft des Marktplatzes, und wir kommen an Pferden und Karren vorbei. Die Leute lächeln Illias an, und ich sehe ihn das Lächeln erwidern. Sobald sie mich entdecken, senken sie den Kopf und huschen davon. Daran bin ich gewöhnt, seit sich herumgesprochen hat, dass ich als Fallenstellerin für Ivarron arbeite. Ein sicherer Arbeitsplatz ist das nicht, und Ivarron gilt als hinterhältig.

»Mist, das passiert doch nicht wirklich«, brummt Illias. Ich sehe ihn argwöhnisch an und trete dabei auf Heu, das verstreut auf dem Kopfsteinpflaster liegt.

Schwankend bleibe ich stehen, denn die Wunde, die mir die Krallen des Rümens am Oberschenkel geschlagen haben, bereitet mir Schmerzen. »Was ist?«

»Da drüben ist Kye.« Er reckt das Kinn vor. Ich blicke in die von ihm gewiesene Richtung und sehe seinen früheren Geliebten, der mit Idris zusammen als Holzfäller arbeitet, lässig an einer Mauer lehnen und mit einem Freund sprechen. Bei dem Gedanken daran, wie sehr Illias unter Kyes Untreue gelitten hat, bekomme ich eine zornige Miene.

»Er verbreitet ein Gerücht über meine Hand«, raunt Illias mir weiter zu. Meine Züge werden noch wütender, und ich blicke auf Illias’ Linke, die von Geburt an nur Daumen und Zeigefinger besitzt. Das aber hat ihn nie abgehalten, Kunstwerke von unvorstellbarer Schönheit zu schaffen. »Er behauptet, ich sei ein noch schlimmeres Monster als die Rümen; niemand dürfe sich mir nähern, denn das Gift, das ich angeblich versprühe, töte augenblicklich.«

»Wieso habe ich nie von diesem Gerücht gehört?«, frage ich aufgebracht. Wer dieses absurde Gerede glaubt, obwohl so viele Illias kennen und schätzen, muss sehr dumm sein.

»Weil das halbe Dorf Angst vor dir hat«, antwortet er, und das ist wahr. Die Leute fürchten mich nicht nur, weil ich Ivarrons Fallenstellerin bin, sondern auch, weil sie damit rechnen, dass ich drastische Maßnahmen ergreife, wenn es Illias zu schützen gilt. Das ist einer der Gründe, warum sich niemand mit mir befreundet oder sich für mich interessiert, woran mir ohnehin nichts liegt. Entweder verscheuche ich die Leute, oder Idris erledigt das für mich.

Ich richte meinen tödlichen Blick auf Kye und sehe schon von Weitem, dass sein langes blondes Haar trocken und spröde ist. »Bleib hier«, sage ich, ignoriere Illias’ Bitte, mich rauszuhalten, und ziehe leicht humpelnd los.

»Kye«, grüße ich mit spöttischem Lächeln. Sein goldener Teint wird deutlich blasser, und er strafft seine Schultern. Sein Freund tut es ihm nach, und ich sehe ihn tatsächlich etwas zittern. »Du erinnerst dich an mich, stimmt’s?«

Er nickt schluckend, kann nicht wegsehen und scheint zu fürchten, ich werde ihn angreifen. Das könnte ich natürlich, aber es würde Aufwand erfordern, und der Morgen war schon elend lang.

»Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen«, beginne ich und lege mir einen mit geronnenem Blut bedeckten Finger ans Kinn, »das mit Illias zu tun hat …«

Er will etwas sagen, doch das erlaube ich nicht. »Seltsam, denn ich weiß nicht, wie du das rausgefunden haben willst.« Ich seufze theatralisch. »Aber obwohl du recht hast, dürfen wir nicht zulassen, dass du so was überall rumerzählst. Deshalb«, ich lüfte meinen Umhang ein wenig und zeige ihm die Messer, die ich am Leib trage, »sollte ich dich vielleicht umbringen, ehe du es noch mehr Leuten erzählen kannst.«

Er wird leichenblass. »Ich hatte nicht vor, irgendwas zu sagen, das schwöre ich. Es war nur ein dummer Witz.«

»Hör zu, Kye«, unterbreche ich ihn und beuge mich vor, damit er und sein Freund meine gewisperte Drohung verstehen. »Falls du noch ein einziges Mal ein Gerücht über meinen Bruder in Umlauf setzt oder ihm das Herz brichst, kann keine Medizin und keine Kur dich heilen, wenn ich mit dir fertig bin – das versichere ich dir.«

Zufrieden trete ich etwas zurück und lächle über Kyes hüpfenden Adamsapfel. Der Blick seiner großen grünen Augen gleitet von mir zu seinem Freund. Dann nicken beide hektisch und eilen davon.

Ich hole stolz Luft, gehe zu Illias zurück, ziehe dabei meinen holzgeschnitzten Halbmond aus der Tasche und lasse ihn zwischen den Fingern spielen. Einen Glücksbringer nenne ich ihn und habe ihn seit dem elften Lebensjahr immer dabei.

Illias schneidet eine Grimasse und reibt sich das Gesicht. »Ich frage besser nicht, was du gesagt hast.«

»Stimmt, das möchtest du nicht wissen.« Als ich ihn am Arm fassen will, wehrt er ab und späht über meine Schulter.

»Da sind Venatoren.«

Bei diesen Worten wende ich den Kopf, mustere die Dörfler, die in lumpiger Kleidung vorbeiziehen, und entdecke sie schließlich: Venatoren, die vornehmen Kämpfer der Königin, die in der berüchtigten City of Flames wohnen und die Aufgabe haben, die Bevölkerung vor Gefahren wie Drachen, Rümen und dergleichen zu schützen. Sie sind die offiziellen Drachenjäger des Königreichs. Mein Vater war einer von ihnen, und ich habe immer davon geträumt, auch selbst einmal zu ihnen zu gehören.

Angesichts der dunklen, mit Leder besetzten Rüstungen, in denen all diese starken Venatoren stecken, atme ich ehrfürchtig ein. Mein Blick gleitet von ihnen, die an jeder Ecke Wache stehen, zu einer Venatorin, die sich sehr aufrecht hält. Die Sonne lässt die Flammenzeichnungen auf den Ledermanschetten ihrer Unterarme leuchten.

Während ich sie alle noch beobachte, fällt mir das Rot vor mir auf – ein Band am Arm eines anderen Jägers. Normale Leute können auf diese Entfernung das Motiv darauf nicht erkennen, aber ich schon: Es handelt sich um einen wütend aufgerichteten Drachen mit goldenen Schuppen, umgeben von einem Feuerkranz. Nur die Anführer der Venatoren besitzen solche Bänder. Das weiß ich, weil auch mein Vater eins besaß.

Ich hebe den Blick aus Neugier, wer die Aufgaben meines Vaters übernommen hat, und erstarre vor Schreck. Er ist jung, kaum ein paar Jahre älter als ich.

Sein Haar ist kurz und am Hals zottelig und ähnelt farblich den Kupferflammen seiner Ledermanschetten. Die vor der Brust verschränkten Arme sind muskulös und definiert und erregen meine Aufmerksamkeit. Und das scharf geschnittene Gesicht verrät sogar aus der Entfernung, dass er ein ansehnlicher Mann ist – ein eleganter Krieger.

Welche Augenfarbe er auch haben mag: Sein Blick springt zu mir, und für einen Moment sehen wir uns an.

»Was machen die hier?«, frage ich Illias, schiebe die Schnitzerei in meine Tasche zurück und setze das Blickduell mit dem Venator fort.

»Patrouillieren«, stellt er überflüssigerweise fest. Mein strenger Blick lässt ihn seufzen. »Vielleicht wurde in der Nähe ein Drache gesichtet. Das würde zu den vielen mit Brettern vernagelten Fenstern passen.«

Einen Drachen … haben wir in unserem Dorf seit jenem Tag vor neun Jahren nicht mehr gesehen.

Ich mustere die über den Platz verteilten Venatoren, doch der mit dem roten Armband starrt mich weiter an, und ich werfe ihm einen finsteren Blick zu, damit er wegschaut. Zu meiner Befriedigung tut er das, doch ein Zucken seiner Mundwinkel lässt mich überlegen, was er so amüsant findet.

Ich will ihn schon fragen gehen, da hakt Illias sich bei mir ein und zieht mich aus dem Weg eines Reisenden, der mit einem Karren angefahren kommt. »Auf zu Ivarron. Bringen wir es hinter uns.«

Richtig … Ivarron.

Kapitel 2

Alle im Dorf wissen, wo Ivarron wohnt: in dem kleinen Viertel hinterm Marktplatz. Aber niemand benutzt die Straße, in der er lebt, wenn es sich denn vermeiden lässt. Einige Unglückliche aber haben keine Wahl, weil sie in den strohgedeckten Häusern wohnen, die an sein Anwesen grenzen. Unser Dorf bietet wirklich keinen schönen Anblick.

Seufzend betrachte ich die ramponierte Tür, deren Holz wie fast alles hier vermodert. Der Gestank von verwesendem Fleisch steigt mir in die Nase, als ich mit Illias eintrete. Ihn schaudert angesichts der schiefen Regale mit ihren Gläsern voller Fänge, Haare und Krallen und der Landkarten, die überall herumliegen.

Ivarron war einst Fallensteller und hat schon lange vor meiner Geburt Geschöpfe an die Leute in der Stadt verkauft. Dann aber hat er mich mit dreizehn Jahren im Wald beim Fangen eines Kobolds erwischt und mir diese Aufgabe aufgehalst. Jung und dumm, wie ich damals war, habe ich einen Handel mit ihm abgeschlossen, bei dem es um das Geld ging, das ich nach dem Tod meiner Mutter bekommen würde, die ein Jahr nach meinem Vater gestorben ist. Nur so konnte ich Idris helfen, als weder Iker noch Illias Arbeit fanden.

»Feenblut?«

Ich drehe mich zu Illias um, der ein rot schimmerndes Fläschchen von einem Regal nimmt. »Nichts anfassen«, zische ich, und sofort lässt er es fallen und hebt entschuldigend die Arme, während ich es mit knapper Not auffangen kann.

Tief ausatmend werfe ich ihm einen strengen Blick zu, während die Wachskerze als einzige Lichtquelle über uns flackert, weil Ivarron sich weigert, Fenster einzusetzen. Als ich das Fläschchen wieder ins Regal stellen will, nähern sich schwere Schritte.

»Naralía«, nennt eine knarzende Stimme mich beim vollen Namen.

Ich blicke zur Seite, schiebe das Fläschchen rasch in meine Seitentasche und stehe Ivarron gegenüber. Sein feines, langes, mausbraunes Haar ist nach hinten gekämmt, und sein gesundes grünes Auge blitzt mich an – das andere ist eine bleiche Glaskugel.

Er bleckt seine schiefen Zähne. »So eine nette Überraschung«, sagt er und pflückt eine Fluse von seiner marineblauen Jacke. »Hast du das Rümen gefangen?«

»Nein«, erwidere ich resolut. »Das Fallenstellen hat heute Morgen nicht geklappt.«

Er kneift sein gesundes Auge halb zu und summt kurz vor sich hin. »Gut, dass ich dich mag, Nara«, sagt er und dreht an einem der Ringe, die seine verwitterten Hände schmücken. »Denn du hast mir gerade ein gutes Geschäft verdorben. Rümen sind in der Stadt sehr beliebt.«

»Dann fang nächstes Mal selbst eins«, erwidere ich. »Sie sollen sich zu geldgierigen Leuten hingezogen fühlen.«

Ich sehe Illias gegen sein Lachen ankämpfen und bemerke dann erst Ivarrons alles andere als amüsierte Miene. Er kommt einige langsame Schritte näher und bleibt direkt vor mir stehen. Er ist mindestens zehn Zentimeter kleiner als ich, doch trotz seiner zierlichen Gestalt weder ängstlich noch feige. »Vergiss nicht, mit wem du es zu tun hast, Mädchen.« Er knirscht mit den Zähnen. »Du magst meine beste Fallenstellerin sein, aber ich habe noch immer Macht über dich.« Sein Auge richtet sich auf Illias. »Und wir wissen beide, worin deine Schwäche besteht …«

Meine Brüder sind meine Schwäche.

Auch Illias richtet sich bei dieser Drohung auf und will sich schützend zwischen mich und Ivarron stellen, doch ich bremse ihn rechtzeitig, stoße ihm meinen Arm vor die Brust und bedeute ihm mit einem Kopfschütteln, dass er sich nicht einzumischen braucht. Mein Bruder mag aufgrund seiner liebenden, fürsorglichen Art harmlos wirken, aber diese Art lässt ihn so beschützerisch handeln wie eine Glucke.

Ivarron lacht auf und mustert Illias verächtlich. »Ich erwarte, dass ihr morgen früh was Anständiges fangt – sonst gibt es keinen Wochenlohn.« Er mustert mich einmal mehr mit grimmigem Lächeln. »Eine Wasserelfe von der Nordküste Undarions soll es hergeschafft haben.«

Wie gern würde ich dich erstechen!

Stattdessen lächle ich angespannt. »Du bekommst gleich morgen bei Sonnenaufgang, was sich fangen lässt.« Ich packe Illias am Arm und wir wenden uns ohne weitere Worte von ihm ab. Ivarrons raues Lachen hallt mir nach, als ich aus der Tür stürme, froh, wieder frische Luft zu atmen.

»Ich hasse ihn … ich hasse ihn«, sagt Illias wütend. Mir geht es nicht anders, doch ich kann nicht leugnen, dass Ivarron mich seit Kindertagen gut ausgebildet und mir über die meisten Geschöpfe viel beigebracht hat. »Wie konntest du dich nur mit so einem gefährlichen Kerl einlassen, Nara!«

Ich schnaube, erwidere aber nichts und eile mit ihm durch die Straßen. Idris hat mal versucht, mich aus der Arbeit für Ivarron zu befreien. Ihn zu verprügeln, besserte die Situation aber gar nicht, sondern führte nur dazu, dass Ivarron sich revanchierte, indem er Iker eines Tages von einigen seiner Leute vor der Taverne derart zurichten ließ, dass er kaum noch atmete.

»Nara, hörst du mir überhaupt zu?«

»Ja, aber was kann ich daran ändern –?« Ich verstumme, weil ich in der Ferne eine große Gestalt mit grauem Schal entdecke, die ich sofort erkenne. »Da hinten ist Idris«, raune ich und sehe Illias an, der mit schützend an die Stirn gelegter Hand gegen die Sonne blinzelt.

»Was macht der denn hier?«, fragt er, begreift dann, verzieht das Gesicht und bekommt große Augen. »Oh …«, sagt er leise, »der sieht verärgert aus.«

Allerdings. Mit wie üblich mürrischem Gesicht löst Idris sich aus einem Gespräch mit einigen Dorfbewohnern und kommt auf uns zu. Sein schulterlanges, kastanienbraunes Haar schwingt bei jedem seiner festen Schritte. Diese Haarfarbe haben alle meine Brüder, während ich honiggoldene Locken besitze – ein Geschenk der Gene meines Vaters.

»Meinst du, wir können noch weglaufen?«, frage ich, während Idris näher kommt.

»Nein«, meint Illias. »Aber wir können beschäftigt tun – und da ist er auch schon. Ah, hallo Bruder, was für ein schöner Tag heute –«

»Nach Hause, alle beide«, befiehlt Idris uns mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Stimme ist wie immer leise und energisch. »Sofort.«

Vor die Wahl gestellt, Idris oder einem Rümen zu begegnen, würde ich das Rümen wählen.

***

Als wir unsere abseits gelegene Hütte am anderen Ende des Dorfes erreichen, ist es früher Nachmittag. Obwohl es in Emberwell sogar während der Wintermonate normalerweise nicht kalt wird, fährt mir der Wind unsanft ins Haar, als ich mich den grauen Mauern nähere. Man erkennt das Stahlpulver, das in den Mörtel gerührt wurde, um Drachen abzuwehren. Es wird erzählt, es sei ihre Schwäche, doch das Pulver ist schwer zu besorgen, wenn man nicht aus der Stadt kommt. Zum Glück hat das Arbeiten für Ivarron seine Vorteile, vor allem, wenn ich ihn bestehle. Das Fläschchen Feenblut von vorhin steckt auch noch in meiner Tasche.

Ich stoße die Holztür auf und stapfe hinein. Durch die Fenster fällt Licht, und ich mustere das Blumenschnitzwerk, mit dem ich jeden Winkel unseres ramponierten Zuhauses geschmückt habe. Mein Schnitzwerkzeug, das Idris mir vor ein paar Monaten zum Geburtstag geschenkt hat, liegt in einer Ecke am Boden.

»Da seid ihr ja.« Iker springt vom Holzstuhl am Kamin auf. Stirnrunzelnd bemerke ich, dass er ein weißes Kaninchen auf dem Arm hat, als er angeschlendert kommt.

Ich möchte fragen, wie, was, wann und warum, will die Antwort aber lieber nicht wissen. Also wende ich mich ab und sehe zu, wie er sich zwischen Idris und Illias begibt.

Ich nutze die Gelegenheit, die Züge von allen dreien in Ruhe zu betrachten. Illias hat eine zierliche, nach oben gewölbte Nase wie ich, während die von Iker etwas schief ist, seit Ivarrons Männer ihn verprügelt haben. Doch alle haben das gleiche markante Stoppelkinn, und im Dorf sind wir für unsere Ambrose-Hände bekannt. Die sind stark, rau und sehr kreativ, obwohl Illias an der Linken nur zwei Finger hat und ich eine wüste Narbe von der Handfläche bis zum Ellbogen besitze.

»Du hast Kye gedroht, ihn umzubringen?« Idris’ zornige Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. »Im Ernst?«

Ich blicke teilnahmslos drein. Schließlich habe ich nicht vor, ihn wirklich zu töten.

»Weißt du, wie es ist, wenn jemand, mit dem du arbeitest, angelaufen kommt und sagt: ›Halt deine Schwester im Zaum‹?«

Kye scheint sich den Tod tatsächlich zu wünschen.

»Wenn ich etwas sagen darf«, beginnt Illias, gesellt sich vorsichtig zu mir und erhebt den Zeigefinger. »Sie hatte einen harten Vormittag und wollte ein Rümen fangen –«

Ich bete innerlich, er möge nicht fortfahren, aber es ist zu spät, denn Idris mustert mich mit schmalen Augen.

»Was?« Er hebt die Stimme, und sein goldener Teint, den wir alle haben, erblasst. »Hast du eine Vorstellung davon, wie gefährlich diese Wesen sind? Es gibt kein Heilmittel, wenn sie dich beißen, Nara!«

»Meinst du, das weiß ich nicht?« Meine Brauen zucken. »Ich verdiene mit der Jagd meinen Lebensunterhalt, Idris. Warum bist du darüber plötzlich so aufgebracht? Schließlich hatten wir dieses Gespräch schon tausendmal.«

»Aber diesmal bist du verletzt.« Er betrachtet meinen Oberschenkel, den mein Umhang nicht verdeckt. »Und Rümen sind tödliche Raubtiere.«

Als ob ich das nicht wüsste. »Ich kann nicht einfach aufhören«, flüstere ich und blicke niedergeschlagen zu Boden.

»Notfalls kümmere ich mich um die Konsequenzen, aber du arbeitest nicht länger für Ivarron.« Dieser Satz lässt mich den Kopf hochreißen, und meine Brauen rücken zusammen. Idris hat das früher schon versucht, und es ist nicht gut ausgegangen, für niemanden von uns. »Als Mutter krank wurde, hat sie dich meiner Sorge anvertraut. Erklär mir bitte, wie ich diese Aufgabe erfüllen kann, wenn du da draußen bist, dich in Gefahr bringst und –«

»Mutter mag dir unsere Sicherheit anvertraut haben«, sage ich, komme näher und betone jedes Wort, »aber du wirst nicht darüber entscheiden, was das Beste für mich ist.«

Idris schüttelt spöttisch den Kopf, wie er es mir gegenüber immer tut. Ich balle die Fäuste und habe es satt, von ihm wie ein ungezogenes Kind behandelt zu werden. Seit acht Jahren hat er sich um uns kümmern und die Bürde tragen müssen, dass unsere Eltern gestorben sind, woran er schuldlos war. Und nie ist er auf die Idee gekommen, sich zu fragen, ob wir es überhaupt brauchen, dass er alles für uns entscheidet.

»Nara, ich denke –«

»Nein«, unterbreche ich Illias, ohne den Blick von Idris zu nehmen. »Immer wieder hast du mir widersprochen. Als ich dir gesagt habe, ich möchte Venatorin werden, hast du das strikt abgelehnt, obwohl ich weiß, dass Vater stolz auf mich wäre, wenn ich sein Vermächtnis fortführen würde.« Meine Nasenflügel beben, mein Blut kocht. »Ich bin einundzwanzig, Idris, kein Kind mehr. Ich bin nicht länger die schwache kleine Schwester, für die du mich hältst.«

Schweigen.

Tiefes, betäubendes Schweigen dröhnt in meinen Ohren, während ich Idris in die Augen sehe und die blauen und grünen Wirbel seiner Iriden im Sonnenlicht glitzern. Seine Augen haben die gleiche Farbe wie meine und die unserer Mutter.

Ich würde nicht nachgeben. Immerhin fordere ich Idris ständig heraus, aber natürlich mischt Iker sich mit einem Pfeifen ein und gibt Idris lächelnd einen Klaps auf die Schulter. »Und wieder hat sie’s dir gezeigt, Bruder.«

»Halt den Mund, Iker«, sagt Illias. »Es wäre in deinem Interesse, dich nicht einzumischen, nachdem du gestern den ganzen Abend in der Kneipe verschwunden bist und erst am frühen Morgen nach Hause gefunden hast.«

»Und zwar aus gutem Grund.« Iker hält dem Kaninchen die Ohren zu. »Ich habe gehört, Idris hat scheußliche Wildgerichte zubereitet.«

Wir alle sehen ihn an. Ob wir ihm sagen sollen, dass ein Kaninchen kein Rotwild ist? Idris stößt als Erster einen tiefen Seufzer aus und beschließt, Iker zu ignorieren. »Reinige deine Wunde und verbinde sie, damit sie sich nicht entzündet.« Mit diesen Worten schiebt er sich an mir vorbei.

Iker atmet auf, und kurze Locken fallen ihm in die Stirn. Illias lächelt unbehaglich, um mich aufzumuntern. Ich hebe kaum die Mundwinkel und begreife, dass wir schon viel zu viele dieser Streitgespräche mit Idris geführt haben.

***

Nach einem Abendessen in angespannter Stimmung, bei dem nur gesprochen wurde, um über das letzte Stück Brot zu zanken, lande ich im Bad, lege mein Korsett und mein umgeschnalltes Dolchfutteral auf dem ramponierten Waschbecken ab und trage nur mehr mein lockeres weißes Hemd.

Ich atme tief aus, schaue in den Spiegel und lasse die Finger über meine Seiten gleiten. Zwar können Iker und Illias offenbar keine feste Anstellung finden, doch ich bin dankbar, dass Idris und ich genug für Lebensmittel verdienen. Manchmal muss ich dennoch jagen, damit wir etwas auf die Teller bekommen. Doch ob wir hungern oder nicht – nie verliere ich meine üppigen Kurven.

Langsam schiebe ich die Hände zu den Schenkeln hinab, bis ich zusammenzucke und mir meine Verletzung besehe. Ich habe Kräuter daraufgelegt und sie verbunden, wie Idris es mir befohlen hat, und natürlich hat Illias mir Hilfe dabei angeboten, aber meine Sturheit hat mich davonstürmen lassen, als er mit dem Verbinden erst halb fertig war.

»Na, Trapper?« Vier nervige Klopflaute und mein Spitzname verraten mir, dass Iker vor der Tür steht. »Kannst du mich decken, falls Idris fragt, wo ich bin?«

Ich verdrehe die Augen, denn mir ist klar, dass er losziehen will, um vor der Taverne Geld zu schnorren.

Er klopft weiter und flüstert immer wieder meinen Namen, doch ich reagiere nicht, sondern flechte meine goldenen Locken zu einem Zopf.

Dann nehme ich meinen geschnitzten Halbmond und wende mich zur Tür. Die Messingklinke liegt kühl in der Hand, als ich öffne und Iker in erstarrter Klopfbewegung vor mir sehe, den Blick auf meinen unruhig auf den Boden pochenden Fuß gerichtet. »Du solltest nicht weggehen.« Ich betrachte über seine Schulter hinweg das Kaninchen, das an seinen Pfoten nagt. »Du musst dich um dein neues Haustier kümmern und hättest es sicher nicht gern, wenn ich die Haustür offen ließe, sodass es entkommt. Schlimmer noch: Stell dir vor, du begreifst morgen beim Abendessen, was in den Eintopf gewandert ist.«

Er blinzelt mild amüsiert, und seine Augen werden schmal. »Du bist wirklich garstig.«

»Wir sind vom gleichen Blut, Iker.« Ich tätschele ihm lächelnd die Schulter, lasse ihn stehen und gehe in den Garten, wo jede Menge Bäume und Grünzeug wachsen.

Ich lasse den ungewöhnlich violetten Nachthimmel auf mich wirken, lege mich ins hohe Gras, ziehe die Beine an und schlinge die Arme darum, nehme die Schnitzerei zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachte sie im Sternenlicht.

Mit einem sehnsüchtigen Seufzer erinnere ich mich, wie meine Mutter mich vor Jahren in ein Nachbardorf brachte. Ich hatte eine selbst geschnitzte Sonne dabei, stieß aber mit jemandem zusammen und ließ sie fallen. Bei der hektischen Suche danach gelangte ich stattdessen an einen geschnitzten Mond. Die Person, mit der ich zusammengestoßen war, hatte ihn vermutlich im gleichen Moment fallen gelassen wie ich meine Sonne, und wir hatten die Schnitzereien vertauscht.

Meine Mutter sagte damals, das sei ein Zeichen … eine Art Glück. Die Leute von Zerathion glauben, unser Universum sei vor Jahrtausenden durch die Kraft von Sonne und Mond geschaffen worden, Gottheiten namens Solaris und Crello. Sie glauben, die Sonne suche stets ihren Mond, und wenn sie sich vereinen, steige daraus eine unvorstellbare Kraft auf.

Meine Brüder teilen diesen Glauben nicht, ich aber schon. Ich will daran glauben, dass es etwas gibt.

Minutenlang lasse ich den Halbmond durch die Finger spielen und streiche über das ins Eichenholz geschnitzte R. Meine Neugier wächst, doch dann ruft jemand nach mir. Ich blicke mich um und sehe Illias durchs Fenster winken, ich solle wieder reinkommen.

Belustigt darüber, wie besorgt er manchmal ist, schüttle ich den Kopf, streife den Staub von meinen Fingern und stehe auf. Mit einem letzten Blick auf die Schnitzerei seufze ich auf. Ob ich meine Sonne je zurückbekomme? Dann mache ich mich auf den Weg ins Haus.

Kapitel 3

Du hast das Brot doch nicht wie letztes Mal gestohlen?« Miss Kiligra, die Schneiderin unseres Dorfs, blickt mit haselnussbraunen Augen auf den Laib in meinen Händen.

»Natürlich nicht«, sage ich gedehnt. »Das war Iker.« Ein bekannter Betrüger, der sich vor der Rückkehr nach Hause gern als hungriger, gebrechlicher Mensch ausgibt.

»Ihr Ambrose-Geschwister seid alle gleich«, jammert sie. Ihre Stimme klingt spröde wie verrostetes Metall, während sie nach hinten wankt.

Nachdem ich eine Wasserelfe mit Honig – einer süßen Substanz, zu der es sie zieht – in die Falle gelockt habe, bin ich ins Hauptdorf gekommen, um Farbtöpfe für Illias zu kaufen. Miss Kiligra führt einen Laden, in dem es fast alles gibt. Ihr großes Geschäft enthält jede Menge willkürlich platzierte Werkzeuge für verschiedenste Zwecke – riesige Pfannen, Kerzen unterschiedlichster Größe, Vorhangstoffe. In diesem Durcheinander herrschen weder Vernunft noch Ordnung.

»Sag deinem Bruder, er soll hier nicht mehr auftauchen, wenn er mit Farbe besudelt ist, damit er mir nicht die Ware beschmutzt.« Sie kratzt sich den grauen Lockenkopf und kommt mit einer Dose Farbe angehumpelt. Ich lache leise, denn ich weiß, dass Illias nicht aufhören wird, völlig bekleckst bei ihr aufzulaufen.

Etwas Schimmerndes in einem Regal hinterm Tresen erregt meine Aufmerksamkeit. »Messer?« Ich hebe amüsiert eine Braue, gebe Miss Kiligra zwei Kupfermünzen mit beidseitiger Drachenprägung und besehe mir die vier kurzen, aber schön geschliffenen Klingen. »Seit wann haben Sie die im Laden?«

Miss Kiligra tadelt mich immer wieder, weil ich mit offen sichtbaren Messern unterwegs bin. Einmal habe ich ihr sogar ein Set geschenkt, musste aber feststellen, dass sie sie weiterverschenkt hat – aus Sorge, jemand könne bei ihr einbrechen und sie gegen sie richten.

Eine seltsame Logik, auf die ich sie nie angesprochen habe.

»Hast du nichts davon gehört?« Sie beugt sich über den Tresen, und ihr Blick zuckt wild im Raum herum. »Anscheinend drückt sich eine neue Gattung von Ungeheuern in ganz Emberwell herum und schlachtet Menschen ab!«

Mir gefriert das Blut in den Adern. Eine neue Gattung? Gütige Solaris! »Von wem haben Sie das gehört?«

»Myrine hat es in der Stadt von Händlern erfahren. Sie sagen, diese Wesen seien schlimmer als Drachenwandler oder Rümen.«

Ich runzle die Brauen und lege das Brot auf den Tresen. »Meinen Sie, die sind aus Terranos gekommen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Manche glauben, die Herrschenden von Aeris haben damit zu tun; andere denken, die von Terranos stecken dahinter.«

Richtig, Aeris im Westen von Zerathion, das Land der Phönixe und Luftwesen. Ich vermute, die Herrschenden von Terranos im Osten stecken dahinter. Das Land wird von Elfen, Trollen und den Schöpfern des Screaming Forest regiert.

Gedankenverloren sehe ich vor mich hin und schürze die Lippen, während Miss Kiligra sich wieder an das Stopfen von Kleidung macht. »Wir können nur beten«, raunt sie, »dass Solaris und Crello uns schützen, denn wenn die Regierenden Krieg erklären, bricht die Hölle los.«

Summend beiße ich mir auf die Unterlippe. Weil ich die Schule früh verlassen habe, weiß ich weniger als die meisten Leute. Aber dem, was Idris mich gelehrt hat, habe ich entnommen, dass Zerathion der einzige uns bisher bekannte Kontinent ist und aus vier Ländern besteht, in denen es jeweils verschiedene Zivilisationen und Wesen gibt.

Emberwell ist das einzige Land, wo Sterbliche leben.

Normalerweise schlafe ich abends mit Gedanken an Abenteuer ein, in denen ich auf die Suche nach einem anderen Königreich gehe, das einst jenseits der Sea of Serenity lag.

Nicht einmal in meinen wildesten Fantasien aber vermag ich es zu erreichen, denn unsere Welt und andere Länder verachten einander seit Jahrhunderten.

Einst galten Sterbliche als … Schwächlinge, weil wir keine Macht besitzen. Erst eine neue Regierung in Emberwell hat das geändert, und unsere Königin Sarilyn Orcharian hat einen Vertrag geschlossen.

Demzufolge galten Sterbliche als gleichwertig, und die Bewohner eines jeden Gebiets sollten unter sich bleiben. Nur die Herrschenden dürfen die Grenzen überschreiten.

Doch wir alle fragen uns, zu welcher Gattung die Königin gehört. Manche halten sie für eine mächtige Zauberin, andere sehen in ihr eine Hexe. Wie dem auch sei: Sie hat uns gerettet, denn die Gestaltwandler, die unter uns leben, haben gegen die Idee eines Vertrags revoltiert, sind skrupellos und gefährlich geworden und haben sich mit den Drachen verbündet, um die Königin zu stürzen. So war sie gezwungen, eine Armee von Drachenjägern zu schaffen, die sie und ihre Untertanen schützen sollen: die Venatoren, die wir heute haben.

»Nara, bist du noch da?«

Ich konzentriere mich wieder auf Miss Kiligra. »Wie sehen diese Geschöpfe aus?«

»Keine Ahnung.« Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern, obwohl wir im Laden allein sind. »Niemand hat überlebt, um davon zu berichten. Es gibt nur Gerüchte, dass diese Wesen viele Eigenschaften mit Drachen gemein haben.«

Mich befallen viele Zweifel, und ich überlege, wie jemand sich an diese Neuschöpfung hat machen können. »Sind Sie sicher –« Ich verstumme, denn vor dem Laden ertönen entsetzte Schreie. Der Boden bebt, und ich sehe die Halsbandperlen auf dem Tresen im Takt der Erschütterungen springen.

Miss Kiligra sieht mich panisch an, und ich renne ans Fenster. Leute hetzen in alle Richtungen davon, als ob –

»Bei Solaris! Ein Drache, Nara!«, ruft Miss Kiligra von hinten, und da sehe auch ich ihn … Dunkle, ledrige Flügel und ein riesiger schuppiger Körper, der einer Eidechse ähnelt, fliegen vorbei.

Einige Venatoren eilen umher und winken den Dörflern, damit sie fliehen.

Ich höre das Knurren des flügelschlagend in der Luft stehenden Drachen. Zwar habe ich schon größere Exemplare gesehen, aber er ist groß genug, um den Venatoren einiges zu tun zu geben.

Während ich tief erschrocken zusehe, wie er wild und brutal Feuer auf Kutschen, Karren und alles in der Nähe spuckt, kommt mir unvermittelt ein Gedanke.

»Meine Brüder«, flüstere ich.

Sofort packt mich die Sorge, und ich wirble herum und fasse alles im Laden ins Auge.

Ich habe Illias bei den Marktständen zurückgelassen; Iker hockt bestimmt in der Taverne. Und Idris? Er wird uns suchen gehen, sobald er den Aufruhr mitbekommt.

»Nara«, sagt Miss Kiligra mahnend, als wüsste sie, was ich für eine bin.

Sie hält eins ihrer Messer in der Hand und beobachtet zitternd vom Tresen aus, wie ich meinen Umhang öffne und zu Boden fallen lasse. Ich reiße meinen geschwungenen Dolch aus seinem Futteral, nicke ihr kurz zu und stürme aus dem Laden. Überall liegen Verletzte auf den Gehwegen; zerstörte Stände aus Holz stehen in Flammen, und Rauch steigt zum Himmel.

Ich bahne mir mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge, doch alle drängen mir entgegen, wollen in die andere Richtung. »Illias!«, rufe ich heiser, »Illias!« Die Schulter eines Mannes stößt mich wuchtig zu Boden. Das Messer entgleitet mir, und als ich hektisch danach suche, ertönt erneut ein heiserer Schrei. Ich blicke rechtzeitig auf, um nach Luft zu schnappen und mich beiseitezurollen, als ein Feuerstrahl über das Kopfsteinpflaster jagt.

Atemlos will ich aufstehen, doch ein goldenes Blitzen springt mir ins Auge.

Ein Kelch.

Ivarron hat mir von Drachen und Gestaltwandlern erzählt. Es gibt drei Arten von ihnen: Die Merati erzeugen Illusionen und spielen Bewusstseinsspiele; die Umbrati sind Meister der Schatten; der Drache, der unser Dorf angreift, gehört dagegen zu den Ardenti, ist also ein Feuerdrache, der Flammen spuckt. Wichtiger aber ist, dass laut Ivarron allen Drachen und Gestaltwandlern die Liebe zum Gold gemeinsam ist, von dem sie geradezu besessen sind. Gold fasziniert, ja, hypnotisiert sie.

Mit jeder Sekunde hämmert mein Herz lauter, und ich komme zu dem Schluss: Der Drache muss besänftigt werden.

Kaum habe ich mich dafür entschieden, suche ich wieder nach meinem Dolch und bekomme ihn rechtzeitig zu fassen, ehe ein Fuß ihn wegstößt.

Ich erhebe mich, mustere die mit gezückten Schwertern dastehenden Venatoren, wende mich dem Kelch zu und bete im Stillen, dass meine Brüder sich in Sicherheit bringen konnten, obwohl Idris …

Ich schüttle den Gedanken ab und hebe den Kelch auf. Schwer und warm liegt er in meiner klammen Hand, während in der anderen Hand das kühle Metall meines Dolchs ruht. Blitzschnell fahre ich herum und setze mich in Bewegung. Rauchschwaden treiben wie Schatten über den wolkenlosen Himmel, bis ich das andere Ende des Dorfs erreiche.

Der Drache landet auf der Erde. Staub steigt auf, und ich hebe schützend die Arme. Da das Geschöpf mir den Rücken zuwendet, senke ich sie wieder und beobachte, wie es kreischt und Feuer spuckt, während die Venatoren ausweichen. Ich stehe ein Stück entfernt, als sein dornenbesetzter Schwanz einen Venator mit Wucht am Unterleib trifft und ihn gegen einen hölzernen Karren schmettert.

Meine Hände zittern, und ich erinnere mich sehr genau an meinen Vater. Ich war ein vor Furcht erstarrtes Kind, aber nach jenem Tag habe ich mir geschworen, mich nie mehr zu ängstigen. Ich würde mich nicht von einem Drachen besiegen lassen. Meine Augen werden schmal, fest umklammere ich den Kelch, straffe die Schultern, bin ganz wachsam … und zittere nicht mehr.

»He!«, ruft ein Mann. Seine raue Stimme lässt mich zur Seite sehen, und ich runzle die Stirn, als ich erkenne, dass es der Venator ist, der mich am Vortag gemustert hat. »Verschwinde!« Er winkt und zieht mit zerzaustem Kupferhaar ein langes scharfes Schwert.

Ohne ein Zeichen des Gehorsams hebe ich meinen Dolch und ziele auf den Drachen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich den Venator kommen. Trotzdem hole ich tief Luft, konzentriere mich auf die glitzernden schwarzen Schuppen am Hals des Drachen und werfe das Messer. Es kreiselt durch die Luft und trifft seitlich. Der Drache brüllt nicht vor Schmerz auf und reagiert nicht einmal. Das soll er auch nicht. Ich möchte nur seine Aufmerksamkeit gewinnen. Drachenhaut ist viel zu dick für einfache Jagdmesser wie meins.

Langsam wendet er mir sein schmales Maul zu und lässt mehrere Reihen scharfer Zähne sehen. Dann tönt ein Grummeln durchs Dorf, das tief aus seinem Leib dringt. Doch auch seine donnernden Schritte schrecken mich nicht, und ich blicke ihm mutig in die hell flammenden Augen. Der dunkle Schlitz in ihrer Mitte mustert mich genau, als analysiere das Geschöpf sein nächstes Opfer.

Ohne weitere Sekunden verstreichen zu lassen, recke ich ihm den Arm mit dem goldenen Kelch entgegen. Luft dringt stoßweise aus den Nüstern des Drachen und lässt meine goldenen Locken wehen. Der Blick des Geschöpfs landet auf dem Kelch, bleibt dort aber nicht, sondern fasst erneut mich ins Auge. Und dann geschieht etwas sehr Seltsames.

Wie vor neun Jahren, als der Drache, der meinen Vater tötete, mich musterte, als sei ich das einzig Faszinierende, schnurrt dieser Drache, senkt den Kopf und liefert sich mir aus.

Kapitel 4

Ich lasse den Kelch fallen, er klirrt übers Pflaster. Das Geräusch kümmert den näher gleitenden Drachen nicht. Mit zur Seite geneigtem Kopf betrachte ich seine verschachtelten Schuppen und die schwarzen Hörner, die noch schimmern, obwohl seine breiten Schultern das Sonnenlicht abschirmen. Ich spüre ein mir unerklärliches Bedürfnis und hebe die Hand langsam seinem gesenkten Maul entgegen.

Meine Finger halten zögernd inne, vorsichtig bei dem, was ich tue, obwohl es mir nicht fremd ist. Der Drache möchte berührt und beruhigt werden, doch als ich ihn eben anfassen will, wickelt sich mit peitschendem Geräusch eine Wurfwaffe um seine Schnauze, eine Bola.

Der Drache schlägt knurrend um sich, doch weitere Ketten schlingen sich um Beine, Arme, Flügel und werfen ihn zu Boden. Ich springe vor dem aufwirbelnden Staub zurück und beobachte sprachlos, wie Venatoren das Geschöpf festhalten und Befehl geben, den Käfigwagen zu holen.

Sie töten ihn nicht?

Warum haben sie nicht –

Eine Venatorin packt mich am Oberarm und schüttelt mich, damit ich nicht den Drachen, sondern sie anschaue. »Bist du verrückt? Du hättest sterben können –«

»Sana.« Wieder diese raue Stimme.

Die Venatorin, Sana wohl, lässt mich los und sieht auf. Ihre strenge Miene bekommt weiche, bewundernde Züge. Ich fahre herum und sehe mich jener dunklen Rüstung gegenüber, die eine muskulöse Brust schützt. Ein markanter Geruch nach Zedern und duftenden Kräutern steigt in meine Nase, während mein Blick aufwärts gleitet. Das ist zweifellos der Venator vom Vortag, der mich vorhin noch angebrüllt hat.

Seine Lippen sind ein schmaler Strich, und er mustert mich mit einer Aura von Macht und Autorität. Ich schrecke nicht zurück, sondern blicke in seine Waldaugen, bemerke die Sommersprossen auf seiner elfenbeinfarbenen Haut. Ich habe mir immer vorgestellt, Venatoren hätten viele Narben im Gesicht und eine schiefe Nase, aber die Nase dieses Mannes ist wider Erwarten schmal und vollkommen.

Er gibt Sana mit dem Kopf ein Zeichen, und ihre Schritte entfernen sich. Als er sein Schwert am Rücken zu einer gleichen Waffe ins Futteral schiebt, sehe ich, dass die Griffe mit feinem Leder bezogen und mit einem roten, kunstvoll geschliffenen Edelstein geschmückt sind. Welch ein Unterschied zu meinen ramponierten Dolchen! »Wie heißt du?«, fragt er mit deutlichem Interesse.

Ich aber frage zurück: »Was werden Sie mit dem Drachen tun?« Mein Herz rast, als die Venatoren das Geschöpf in einen großen Käfigwagen zerren, während in der Ferne noch immer Kinderschreien zu hören ist. Ich begreife nicht, wie mir nach neun Jahren erneut ein Drache begegnen konnte und warum mich das nicht mit dem zornigen Wunsch erfüllt, sein Leben zu beenden.

»Wir töten sie nicht immer.« Er mustert mich neugierig und undurchsichtig. »Manche Drachen fangen und verwenden wir für Venatorenprüfungen oder Arenakämpfe.«

Darauf reagiere ich nicht. Mein Vater hat mir nie viel von seinem Leben als Venator erzählt und nicht gewollt, dass wir in die Stadt ziehen, obwohl er das Geld dafür besaß. Aber wann immer er uns besucht hat – manchmal erst nach Monaten –, hat er von den Prüfungen berichtet, die die Venatoren erwarten, bevor sie als Krieger und Kriegerinnen vereidigt werden. Sofern sie bestanden haben.

»Also.« Der Venator neigt den Kopf zur Seite. Einige kupferfarbene Strähnen fallen ihm in die Stirn, während er mich eindringlich mustert. »Dein Name?«

Ich recke das Kinn und sehe ihn streng an. »Wenn ich den sage, lande ich dann im Kerker, weil ich euch Venatoren geholfen habe?«

Er lacht tief und rau, doch ich finde nichts amüsant. »Das nicht … aber theoretisch muss ich dich fragen, wie du das geschafft hast.«

»Das …« Ich blicke dahin, wo ich nur einen Meter vor dem Drachen gestanden habe, der nun nicht mehr zu sehen ist. »Das weiß ich nicht.« Stirnrunzelnd schaue ich den Venator an. Er mustert mich nachdenklich, als würden weitere Fragen nichts bringen, zumal ich es mir selbst nicht erklären kann.

»Lorcan.« Er streckt mir die Hand entgegen. »Halen.«

Meine Brauen schnellen in die Höhe, als ich feststelle, dass seine Rechte – anders als sein Gesicht – voller Narben ist. Doch er verbirgt sie nicht wie ich und scheint seine Verletzungen nicht mal zu beachten.

Zögernd greife ich mit meiner behandschuhten Rechten zu und finde seinen Händedruck etwas zu stark. Ich mache nicht länger große Augen und sage lediglich: »Naralía Ambrose.«

»Ambrose?« Er runzelt die Stirn und lässt mich los. »War dein Vater etwa … der Venator Nathaniel Ambrose?«

Ich horche auf und nicke knapp. »Sie kannten ihn?«

Lorcan dürfte erst Mitte zwanzig sein, doch sein rotes Armband zeugt von seinem hohen Rang unter den Venatoren.

»Ich wurde jung ausgebildet, darum hatte ich das Glück, ihn kennenzulernen. Er war eine Legende. Jetzt verstehe ich, woher deine Venatoreninstinkte kommen.«

Ungläubig lache ich auf. Mein Vater mag in seinem Beruf überragend gewesen sein, doch er hat mir nie etwas davon beigebracht. Dennoch habe ich diese Instinkte stets ganz selbstverständlich empfunden.

Er bemerkt meine Skepsis nicht, mustert mich aber, als zählte nur ich. »Hast du je überlegt, Venatorin zu werden?«

Diese Frage überrascht mich, und meine Brauen rücken zusammen. Wer sechzehn geworden ist, bekommt jeden Herbst ein Anwerbeschreiben, doch Idris hat sie stets weggeworfen.

Ich will ihm schon antworten, da höre ich von hinten die Stimme meines Bruders. »Nara!«

Ich drehe mich um und sehe Idris, Illias und Iker heraneilen, alle in beschmutzter Kleidung. Schon packt Idris mich bei den Armen und mustert mich durchdringend.

»Bist du verletzt?«, fragt Illias mit großen Augen und drängt sich an Idris.

Ich will die wichtigere Frage stellen, ob sie verletzt sind, denn schließlich habe ich nach ihnen gesucht, aber Idris schüttelt den Kopf und sagt mit mühsam beherrschtem Zorn: »Wir haben dich bei Miss Kiligra vermutet – warum bist du nicht bei ihr im Laden geblieben –«

»Sie hat uns geholfen, den Drachen zu fangen«, unterbricht ihn Lorcan, und ich merke, dass sein Augenmerk weiter nur mir gilt. »Ich habe sie eben gefragt, ob sie mal überlegt hat, bei uns mitzumachen. Ihren Wagemut brauchen wir Venatoren.«

Illias und Iker bemerken Lorcan jetzt erst, und Idris geht es genauso. Er spannt sich an und lässt mich los. Ich taumle zur Seite, während er seinen wütenden Blick auf Lorcan richtet. »Meine Schwester ist nicht interessiert.«

»Ich denke, diese Frage kann sie selbst beantworten«, sagt Lorcan und sieht mich weiter an.

Idris wendet sich mir zu, als warte er auf meine Reaktion. Die vielen auf mich gerichteten Augenpaare machen die Sache nicht leichter, doch ich richte mich stolz auf, atme vernehmlich durch die Nase aus und sage zu Lorcan: »Davon träume ich seit Kindertagen.«

Meine Brüder schweigen. Ich schaue sie nicht an, will vor allem die Miene von Idris nicht sehen. Er weiß bereits, wie ich über den Eintritt bei den Venatoren denke. Und ich werde meine Meinung ihm zuliebe nicht ändern.

Ein anderer Venator ruft Lorcan etwas zu und winkt ihn zu den vielen Verletzten. Lorcan wirft mir aus seinen grünen Augen einen strahlenden Blick zu, frischer als jedes Frühlingsfeld in unserem Dorf. »Wir brechen im Morgengrauen auf. Vielleicht magst du dich zu uns gesellen.« Sein Blick springt zu Idris und wieder zu mir. »Du wärst hervorragend geeignet.«

Er will gehen, und ich sage stirnrunzelnd: »Um diese Jahreszeit werden aber gar keine Anfänger aufgenommen.« Ich kann nur ahnen, wie viel ich aufholen müsste, wenn ich jetzt einträte.

Er wendet sich mir noch mal zu. »Stimmt.« Ein freudiges Lächeln liegt auf seinen Lippen – eins, das ich mir verkneife, während ich ihm nachblicke.

***

»Nein«, sagt Idris und stellt Wasser auf den Tisch. Den Krug reiche ich Illias, damit er Iker daraus in einen Holzbecher einschenkt.

Kaum zurück in unserer Hütte, habe ich Idris bestürmt, mir zu erlauben, mich den Venatoren anzuschließen. Sein Nein war wieder einmal strikt.

»Aber warum nicht?«

»Das weißt du längst.« Seufzend geht er zum Kamin und setzt Ikers Kaninchen beiseite, damit es nicht an unseren Stiefeln nagt. Ich folge ihm in dem verzweifelten Versuch, ihn doch noch zu überzeugen. Er lässt sich auf einen Stuhl fallen und reibt sich die Stirn.

»Nein, Idris, das weiß ich nicht. Du sagst immer nur, es sei zu gefährlich.« Ich verschränke die Arme. »Dabei habe ich einen Drachen unterworfen. Hast du eine Ahnung, wie schwer das ist?«

»Ich wünschte, ich hätte meine Schwester einen Drachen töten sehen«, sagt Iker, und Illias gibt ihm einen Schlag auf den Hinterkopf.

»Du hast den Angriff doch erst mitbekommen, als Idris dich halb schlafend aus der Taverne gezerrt hat.«

»Was soll ich machen, wenn die Barfrau in mich verliebt ist und mir Getränke spendiert –«

»Darf ich euch an Ivarron erinnern?«, unterbricht Idris die beiden stirnrunzelnd. An den habe ich gar nicht mehr gedacht, obwohl er nach allem, was wir mit ihm erlebt haben, ungemein wichtig ist.

»Ich sage ihm, ich bin vorübergehend weg.« Meine Lüge lässt mich zusammenzucken – und meine Brüder auch.

»Bitte, Idris.« Ich falle auf die Knie, fasse seine Unterarme und überlege, mit welchen Worten ich ihn umstimmen kann. So sehr ich Bettelei hasse, bin ich doch drauf und dran, ihn zum Lieblingsbruder zu erklären, was bei Illias vermutlich einen Wutanfall bewirken würde. »Das könnte euch dreien helfen, in die Stadt umzuziehen. Wir können ein neues Leben jenseits dieses Dorfs beginnen … außerhalb dieser kleinen Hütte. Sobald ich vereidigt bin, kann ich genug Geld sparen, um meine Schulden bei Ivarron zu bezahlen –«

»Woher willst du wissen, ob du überhaupt vereidigt wirst, Nara?«, fährt Idris mich an. »Dass du heute bei einem Drachen Glück hattest, heißt nicht, dass du die Ausbildung zur Venatorin erfolgreich absolvierst.«

»Im Gegensatz zu dir glaube ich an mich«, erwidere ich und unterdrücke die Kälte in meiner Stimme, doch als ich fortfahre, schlägt sie durch. »Vater hätte an mich geglaubt, Mutter auch. Warum nur lässt mein Bruder mir in dieser Sache nicht meinen Willen? Warum gibt er mich auf, wenn ich doch nur zu den Venatoren will? Vielleicht denkst du, du hättest Vater vor neun Jahren retten können, und fürchtest nun, sein Schicksal könne auch mir, Illias und Iker drohen, aber du kannst die Vergangenheit nicht ändern, und ich jedenfalls glaube an dich. Glaub du also auch an mich!«

Wieder großes Schweigen im Haus. Verletztheit flackert in Idris’ Augen auf, und sofort ist mir klar, dass ich die Sache nur schlimmer gemacht habe.

Langsam steht er auf, geht wortlos und mit leisen Schritten in das Zimmer, das er mit Iker und Illias teilt, schließt die knarrende Holztür und lässt mich enttäuscht und traurig zurück, traurig, weil es schon immer so zwischen uns gewesen ist.

Auch ich stehe auf, mustere meine Brüder, sehe Iker einen tiefen Zug aus seinem Becher nehmen, Illias an seinen Fingernägeln herumspielen.

»Ich …«, beginnt er leise. »Ich rede mit ihm.«

»Nein«, sage ich kopfschüttelnd. »Spar dir die Mühe, Illias. Es ist wie immer. Ich wünschte, er würde einmal wie ein Bruder handeln, statt sich wie unser Vater aufzuführen.« Meine Unterlippe bebt, und als Illias einen Schritt näher kommt, um mich zu trösten, dränge ich an ihm vorbei in mein Zimmer, schließe ab und unterdrücke die Tränen, die ich bei jedem Streit mit Idris vergießen will.

Ich lege den Kopf in den Nacken, atme tief ein und trete an meine Kommode. Sonne, Mond und Sterne prangen an den Seiten, Spiralen an den Schubladen, doch die Oberseite ist noch frei. Mit einem Jagdmesser schnitze ich los, um zu vergessen, was heute passiert ist. Meine Hände aber erschaffen bis tief in die Nacht Flügel, Schuppen und den langen Schwanz des Drachen.

Bis nirgends mehr Platz zum Schnitzen ist.

Bis die Sonne wieder über den Horizont steigt und der neue Tag erwacht.

Kapitel 5

Ich verlasse das Haus, als die Vögel in den Bäumen zu singen beginnen und der Himmel sich blau und gelb verfärbt. Illias und Iker haben beschlossen, mich zum Marktplatz zu begleiten, damit ich dem Abrücken der Venatoren zusehen kann. Wir wissen, dass auch andere Dörfler ihnen winken und für den Schutz beim Angriff am Vortag danken werden.

Als ich den Riegel meiner Zimmertür beiseiteschiebe, ist Idris nirgends zu sehen. Illias hat erwähnt, er habe Besorgungen zu machen; ich zucke die Achseln und denke nicht weiter darüber nach. So ist es besser. Ich will nicht noch stärkere Spannungen zwischen uns. Davon haben wir schon genug, mindestens zweimal pro Woche.

»Musstest du wirklich dein Haustier mitnehmen?«, frage ich Iker und verziehe das Gesicht, während das Kaninchen sich in seinen Armen windet. Viele Leute umstehen den Platz; manche werfen uns strenge Blicke zu, andere stolpern über zerstörte Karren, die noch nicht weggeräumt sind.

Ich funkle alle Leute an, doch Iker scheint sie nicht zu bemerken. »Dimpy gehört jetzt zur Familie, Trapper«, sagt er mit breitestem Grinsen. »Finde dich damit ab.«

Ich verkneife mir ein Augenrollen und sehe, dass Idris sich an Scharen von Frauen in langen Kleidern vorbeizwängt, die den Venatoren zujubeln. Als er näher kommt, hat er eine Hand hinterm Rücken, aber die Enttäuschung vom Vortag lässt mein Blut in den Adern gefrieren. Ich wende den Kopf ab, beschließe, Idris links liegen zu lassen, schürze die Lippen und beobachte, wie Lorcan recht weit weg Dorfbewohnern die Hände schüttelt.

»Sagt mal«, höre ich Idris hinter meinem Rücken und weiß sofort, dass er lächelt, was für ihn recht seltsam ist, »soll ich meine Schwester erst nach den Prüfungen Venatorin nennen, oder kann ich das jetzt schon tun?«

Ich sehe ihn mit zweifelnd gerunzelter Stirn an. Halluzini...

Autor