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101 Places for Heartbroken People

Als Buch hier erhältlich:

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Sie glaubt nicht an Happy Ends – aber das letzte Kapitel ihrer eigenen Geschichte wurde noch nicht geschrieben

Es könnte der Durchbruch in Maeves Karriere sein: Die junge Journalistin soll einen Reiseführer für Menschen mit Liebeskummer schreiben. Dafür reist sie auf den Spuren tragischer Liebespaare aus Literatur und Weltgeschichte durch Europa. Begleitet wird sie ausgerechnet von Callum, ihrer ersten großen Liebe, den sie nach einem einzigen Date auf ihrem Abschlussball nie vergessen konnte.

Callum ist Fotograf und möchte nach den schlimmsten Jahren seines Lebens neu anfangen. Für seinen ersten richtigen Auftrag soll er mit dem Menschen zusammenarbeiten, der sein neues Leben mit einem Wimpernschlag wieder zerstören könnte: Maeve.
Während beide versuchen, sich auf einem Roadtrip im Camper aus dem Weg zu gehen, fragen sie sich, ob es nicht doch ein Happy End für ihre persönliche Liebesgeschichte geben könnte, denn die alten Gefühle flammen plötzlich wieder zwischen ihnen auf.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704761
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ria Radtke

101 Places for heartbroken People

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Für den Menschen, der dafür gesorgt hat, dass ich an allen 101 Orten niemals hungrig war und dabei viel mehr für mich gemacht hat als Essen.

PROLOG

Callum

Der ohrenbetäubende Krach von splitterndem Glas durchschneidet die Stille. Aus der Windschutzscheibe wird ein Scherbenmosaik. Die Wucht des Aufpralls reißt meinen Oberkörper nach vorn, der Sicherheitsgurt schneidet mir in die Schulter und presst alle Luft aus meiner Lunge.

Dann kommt das Auto endlich zum Stehen.

In diesem Moment bin ich wieder stocknüchtern, und mir wird klar, dass nach heute nichts mehr sein wird wie vorher. Dabei hätte es der bisher beste Tag meines Lebens werden sollen. Wäre ich doch gar nicht erst aus dem Bett aufgestanden. Niemals auf den Schulball gegangen. Vor allem aber hätte ich Neil Sinnotts Tochter niemals küssen dürfen.

Die nasse Straße wirft das Scheinwerferlicht zurück und blendet mich. Einen Augenblick lang steht die Zeit still. Es gibt nur noch mich, starr vor Schock, gefangen in diesem Albtraum. Ich schnappe nach Luft. Das kehlige Geräusch lässt die Schutzhülle, die mich von der Außenwelt trennt, zerplatzen wie eine Seifenblase. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Mit feuchten Händen schnalle ich mich ab, zerre die Tür auf und stürze auf die Straße. Alles ist sonderbar still, weil mein Blut viel zu laut in meinen Ohren rauscht. Mein Herz wummert so brutal gegen meinen Brustkorb wie ein Presslufthammer. Neben meinem weißen Vauxhall Corsa bleibe ich stehen. Da ist eine laute Stimme, die mir etwas entgegenschreit. Im Schein der Straßenlaternen leuchten rote Spritzer auf der Motorhaube. Als ich verstehe, was das bedeutet, begreife ich auch, was die Stimme von mir will: »Ruf einen Krankenwagen, verdammt noch mal!«

Wie mechanisch angle ich mein Handy aus der Sakkotasche und wähle den Notruf. Vorhin habe ich mich so erwachsen gefühlt, aber jetzt mache ich mir vor Angst fast in die Hose.

Während ich auf das Freizeichen warte, versuche ich, nicht hinzusehen. Stur starre ich auf den Asphalt zu meinen Füßen. Trotzdem taucht irgendwie Rachels regloser Körper in meinem Sichtfeld auf. Sie liegt in einer Lache aus Blut. Der Anblick brennt sich unauslöschlich in mein Gedächtnis, zusammen mit einem tückischen, zerstörerischen Gedanken: Du hättest es wissen müssen – es war viel zu schön, um wahr zu sein.

KAPITEL 1

Maeve

Ein Blick nach unten genügt, und all meine Probleme werden klein. Sie schrumpfen, so wie die Welt um mich herum: Ziegelgedeckte Häuser, gewundene Straßen und die Felder an den Berghängen, alles sieht aus wie in einer Modellausstellung.

Madeira ist eine kleine Insel, gerade einmal halb so groß wie London, aber von hier oben wirkt sie endlos weit.

Vor und hinter mir tummeln sich Touristinnen und Touristen, die ebenfalls den Wanderweg zum Cabo Girão auf sich genommen haben, der gefährlich nah am Abhang entlangführt. Wie ein Fisch schwimme ich in diesem Strom an Menschen in Outdoorhosen und Trekkinghemden die steinigen Wege hinauf, die sich über die Wolken erheben. Dabei kann ich mir fast einbilden, ich würde zu einer der Reisegruppen gehören. Es ist verrückt, ich, die niemals ohne Begleitung in Bars oder auf eine Party gehen würde, fühle mich mitten unter Fremden wohl. Ich bin allein, aber nicht einsam.

Schon vor langer Zeit ist mir aufgefallen, dass auf Reisen eine andere Version meiner selbst zum Vorschein kommt: eine neugierigere, rücksichtslosere, mutigere Maeve. Ich mag sie, weil sie sich einfach nimmt, was sie will. Sie hat nie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an sich selbst denkt. Im Gegensatz zu meinem alltäglichen Ich hat sie verstanden, dass jeder ein Recht darauf hat, glücklich zu sein.

Unersättlich sauge ich die neuen Eindrücke der paradiesischen Landschaft in mich auf. Man könnte sagen, Madeira sei ein einziger botanischer Garten: Das satte Dunkelgrün der Lorbeerwälder leuchtet vor dem Vormittagshimmel, der Wind streicht über mein Gesicht und trägt den fruchtigen Duft des gelben Hibiskus am Wegrand zu mir herüber. In den schmalen Kanälen daneben plätschert sacht Wasser. Diese sogenannten Levadas sind Teil eines Bewässerungssystems, das sich spinnennetzartig über die gesamte Insel zieht.

Ein ehrfürchtiges Raunen geht durch die Menge der Wandernden und lässt mich aufhorchen. Vor uns führt ein Holzsteg bis zum äußersten Zipfel des Bergmassivs, auf dem sich eine Aussichtsplattform befindet. Ich folge dem Pfad, während mich mein Magen mit einer Mischung aus Aufregung und Übelkeit daran erinnert, dass ich zwar keine Höhenangst habe, mir festes Terrain unter den Füßen aber trotzdem lieber ist als der gläserne Boden der Plattform. Das mulmige Gefühl hält mich allerdings nicht davon ab, mich bis an den Rand des Aussichtspunkts vorzuwagen – es gibt schließlich so etwas wie Reisebloggerinnen-Ehre. Zumindest, wenn es nach mir geht.

Auf der Ostseite der Insel erstreckt sich zu meinen Füßen ein undurchdringliches Wolkenmeer. Die weißen Schwaden türmen sich bis zum Horizont wie Zuckerwatteberge. Über fünfhundert Meter tief fallen die Klippen in den Atlantischen Ozean ab. Irgendwo in meinem Hinterkopf huscht der Gedanke vorbei, dass Rachel diesen Anblick geliebt hätte. Ganz bestimmt würde er auch Shona gefallen und Chloe sowieso. Auch ich habe auf meinen Reisen selten etwas so Schönes gesehen.

Trotz dieser paradiesischen Idylle verspüre ich plötzlich ein Gefühl der Leere. Etwas fehlt. Nein, jemand. Denn die Schönheit dieses Ortes macht mir schmerzlich klar, wie gern ich meine Eindrücke jetzt teilen würde. Dabei denke ich nicht an die Besuchenden meines Reiseblogs. Vielmehr sehne ich mich nach einem Partner, diesem besonderen Menschen, der mir, nur mir, die Welt bedeutet.

Ich wische mit dem Unterarm über mein verschwitztes Gesicht und seufze leise, um den Gedanken zu vertreiben. Da fühle ich das Gewicht einer Hand auf meiner Schulter. Einen Wimpernschlag lang schließe ich die Augen und stelle mir vor, diese Person, wenn es sie denn gibt, würde genau hinter mir stehen. Ich müsste mich nur umdrehen, die Augen öffnen und …

»Entschuldigung, könnten Sie uns vielleicht fotografieren?«

Vor Schreck zucke ich zusammen. Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, was die junge Frau, die mir ihr Smartphone entgegenstreckt, von mir möchte. Neben ihr steht ein Mann etwa im selben Alter, er hat seine Finger mit ihren verschränkt. Ich soll ausgerechnet ein Foto schießen. Was an einem beliebten Ausflugsziel wohl keine ungewöhnliche Bitte ist, trotzdem erwischt sie mich kalt, weil ich so in Gedanken vertieft war.

»Natürlich«, hasple ich eilig und nehme das Handy an mich. Die Frau und der Mann bringen sich in Position, dann strahlen sie in die Kamera. Sie sind bis über beide Ohren verliebt, das könnte man wahrscheinlich noch vom Mars aus sehen. Es ist völlig unnötig, dass ich so etwas sage wie »Und jetzt bitte einmal lächeln, cheese!«. Ich tue es trotzdem und bin mir dabei selbst peinlich, aber Scham ist immer noch besser als Reue. Und als Erinnerungen, die immer genau dann hochkommen, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann.

Zum Beispiel die: Cal und ich auf der Holzbrücke im Regent’s Park.

Mit einem Finger tippe ich auf das Display des Smartphones, damit die Kamera scharfstellt.

Der bogenförmige Steg ist taufeucht und glitschig unter unserem Tritt. Er führt zu einer kleinen Insel mit einem japanischen Garten. Mitten in Camden ist man plötzlich weit weg von London.

Mein Blick kreuzt den des fremden Paares. »Ich mache noch ein paar, zur Sicherheit.« Sie nicken.

Über Cal und mir wiegen die babyblauen Blüten der Glyzinie hin und her. Wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift, sehen sie aus wie Vergissmeinnicht, die vom Himmel regnen. Mit der Hand streift er meine Schulter, und seine Lippen schweben ganz nah an meinen. So nah, dass ich nicht weiß, ob ich den Wind auf meiner Haut spüre oder Cals Atem.

Ich drücke den Auslöser. Wieder und wieder.

Jemand rempelt mich an, und der Moment fällt in sich zusammen wie eine welke Blüte.

Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder daran erinnere, nicht im Regent’s Park, sondern auf Madeira zu sein. Ich schüttle leicht den Kopf, dann halte ich der Frau das Smartphone entgegen. »Bitte schön.«

»Cool, vielen Dank.«

Mein Lächeln kostet mich mehr Kraft als sonst. Das Pärchen bemerkt davon nichts, die beiden drehen sich um und schlendern Hand in Hand über das Gipfelplateau, zurück zu dem unbefestigten roten Lehmweg. Unwillkürlich tasten meine Finger nach dem Notizbuch in der Tasche meines Windbreakers. Ich teile meine Reiseeindrücke mit Tausenden Menschen online. Die meisten von ihnen sind Fremde für mich, ich kenne höchstens den Nickname des ein oder anderen Stammlesenden, der regelmäßig Kommentare unter meinen Blogposts hinterlässt oder mir einen virtuellen Kaffee spendiert. Natürlich ist das nicht dasselbe wie in Begleitung zu verreisen, trotzdem finde ich die Vorstellung, andere zumindest durch meine Texte mit zu diesem Ort zu nehmen, tröstlich. Die Besuchenden meines Blogs wissen ihrerseits auch nicht viel über mich, weil ich nie Bilder von mir selbst poste. Es gibt schon genügend Fotos von mir, die unaufhaltsam im Internet kursieren.

Ich ziehe den Stift aus dem Gummiband am Notizbuch, einen Fineliner mit einem aufgemalten Lama-Gesicht und Öhrchen an der Kappe. Er war ein Geschenk von meiner Mitbewohnerin Shona und ist zusammen mit wechselnden Kladden mein ständiger Begleiter auf Reisen. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das mir jetzt schon leichter fällt, schließe ich erneut die Augen. Immer wenn ich reise, versuche ich, einen neuen Ort auf mich wirken zu lassen. Ich möchte die authentische Atmosphäre einfangen können und nicht nur das wiedergeben, was man auch auf Fotos im Internet anschauen kann. Dafür konzentriere ich mich auf meine anderen Sinne, nehme die Geräuschkulisse und die Gerüche auf dem Gipfelplateau wahr und das Gefühl, das die kühle Luft auf meinem Gesicht hinterlässt. Nach einem Moment öffne ich die Augen wieder und beginne zu schreiben.

Das Blau des Himmels ist so frisch und klar, dass man es fast schmecken kann; die Wolken erinnern mich an Neuschnee, den sich Kinder auf der Zunge zergehen lassen. Die Berghänge sind mit gelbem Blütenflaum überzogen. Der Wind ist noch frisch, aber er riecht selbst im Februar schon nach Frühling. Zedern strecken ihre dürren Äste der Sonne entgegen, und das Heidekraut mit seinen violetten Knospen erobert jedes noch so kleine Fleckchen Erde zwischen dem Geröll. Die Natur der Insel wirkt von hier oben so unberührt, dass man sich beinahe vorkommt wie ein Eindringling.

Ich setze den Stift ab. Tief in meinem Brustkorb ist eine schmerzhafte Sehnsucht danach verwurzelt, mir irgendwann meinen eigenen Weg fernab der ausgetretenen Pfade zu suchen, genau wie die Pflanzen und Tiere in diesem Paradies.

Die Eindrücke, die ich mir notiere, sind immer ungefiltert, roh und bruchstückhaft. Mehr Tagebuch als Reisereportage – und nicht mal im Entferntesten geeignet für fremde Augen. Zuhause setze ich mich dann in Ruhe hin und bereite das Festgehaltene für meinen Blog auf. Wenn mich jemand nach meinem Ansporn fragt, nenne ich das Reisen mein Hobby und erzähle, wie gern ich meine Begeisterung für unseren Planeten mit anderen teile. Den eigentlichen Grund, warum ich so gern unterwegs bin, weit weg von zu Hause, habe ich nicht mal Shona anvertraut: Manchmal kommt es mir vor, als würde ich nur deshalb um den Globus jagen, um einen Ort zu finden, an dem ich wenigstens einen Herzschlag lang nicht an London denken muss. Wo ich vergesse, wer ich bin und woher ich komme. Einen Ort, an dem ich mich gerade deshalb selbst finden kann.

*

Madeira:

Eine Welt für sich mitten im atlantischen Ozean

Olá Travelinhos! Eine Woche lang habe ich fernab des Londoner Smogs auf der atemberaubenden Blumeninsel Kraft getankt. Die hat wirklich so viel mehr zu bieten, als man auf den ersten Blick denken mag. Aber lest selbst!

Ich will ehrlich sein: Zu Beginn meiner Reise habe ich mich einfach auf ein paar Tage in der Sonne gefreut. Ich hatte gelesen, dass auf Madeira dank der Nähe zum Golfstrom stets frühlingshafte Temperaturen herrschen, und stellte es mir als immergrünes Paradies vor.

Und das stimmt, doch die portugiesische Insel, die gerade einmal achthundert Quadratkilometer groß ist und so viele Einwohnende hat wie die City of Westminster, birgt noch so einige weitere Besonderheiten: Schroffe Klippen und schwarze Sandstrände zeugen vom vulkanischen Ursprung Madeiras, der einzigartige Lorbeerwald wirkt so verwunschen wie im Märchen, und insgesamt sieben Naturreservate beherbergen seltene Tier- und Pflanzenarten an Land und im Wasser. Beinahe fühlt man sich auf Madeira wie ein Eindringling. Wer die unberührte Natur liebt, wird hier definitiv auf seine Kosten kommen.

Das Wichtigste in Kürze – meine Top Tipps für Madeira:

  • 4-5 Tage reichen aus, um die Insel zu erkunden, ich würde aber empfehlen, mindestens eine Woche einzuplanen, damit zwischen den Ausflügen noch genügend Zeit um Entspannen bleibt.

  • Die beste Reisezeit liegt zwischen April und Oktober, denn dann herrscht Trockenzeit. Im Januar und Februar regnet es auf Madeira viel.

  • Nehmt euch unbedingt einen Mietwagen, um auf der Insel mobil zu sein. Das Straßennetz ist gut ausgebaut. Eine Reihe empfehlenswerter Anbieter habe ich unten verlinkt.

  • Dass Wanderstiefel im Gepäck nicht fehlen sollten, muss ich nicht extra erwähnen, oder? Eine ausführliche Packliste zum Download findet ihr weiter unten.

Wenn ihr …

*

Mein Fazit: Madeira hat mich in mehrfacher Hinsicht überrascht! Massentourismus sucht man hier vergeblich. Die Einwohnerinnen und Einwohner dieses Urlaubsparadieses sind sehr gastfreundlich und helfen bei Fragen gern weiter. Wer Ruhe und Natur sucht, ist auf der kleinen Insel im stürmischen Atlantik genau richtig, genau wie Freunde von Wassersport und einmaligen Panoramen. Der einzige Minuspunkt ist, dass London nach der Rückkehr aus dem Madeira-Urlaub wohl oder übel ein wenig grauer und trister wirken könnte als sonst  image

Wart ihr schon mal auf Madeira und wie hat es euch gefallen? Oder plant ihr eine Reise dorthin und habt noch Fragen? Ich freue mich auf eure Kommentare  image

Bleibt im Herzen rastlos!

Eure TravelBug  image

KOMMENTARE:

TravelBug: Vielen Dank für das Kompliment! Ich freue mich immer, wenn ich jemanden mit dem Reisefieber anstecken kann  image

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TravelBug: Eine Radtour auf Madeira ist eine super Idee! Ich habe viele Urlauberinnen und Urlauber gesehen, die mit dem Mountain Bike unterwegs waren. Wenn es euch nichts ausmacht, auch mal bergauf zu fahren, sollte das kein Problem sein  image Schaut doch mal auf dieser Online-Karte, dort sind Wanderwege und Radtouren mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad eingetragen.

*

TravelBug: Oh, das freut mich, dafür ist der Blog da image Danke dir und ich hoffe, du kommst bald wieder mehr zum Reisen  image

KAPITEL 2

Callum

Heute ist es endlich so weit. Ich habe die ganze Nacht lang kein Auge zugemacht und bin als einer der ersten Häftlinge am Verwaltungstrakt, um in der Bekleidungskammer meine persönlichen Sachen abzuholen. Die Reisetasche mit Dingen, die mir vor fünf Jahren wichtig waren, kommt mir jetzt ungewöhnlich schwer vor. Nach einer kurzen Untersuchung beim Arzt unterschreibe ich meine Entlassungspapiere und bekomme einen Teil des Geldes ausgezahlt, das ich während meiner Ausbildung in der Gefängnisküche verdient habe. Als ich mich umdrehe und die Scheine in mein Portemonnaie stecken will, das ich ebenso lange nicht gesehen habe, fällt mein Blick auf ein Polaroid, das im Notenfach steckt. Meine Finger schalten schneller als mein Verstand und ziehen es heraus.

Das Bild ist ausgeblichen, wie eine alte Sepia-Fotografie. Eine Momentaufnahme aus einem anderen Leben. Wut packt mich mit heißkaltem Griff, während ich den Jungen und das Mädchen in seinem Arm betrachte. Kurze Locken, ein viel zu großer Smoking, den ich mir damals von einem Kostümverleih geholt hatte, und ein Lächeln, das sich damals so leicht angefühlt hat. Aber das bin nicht ich, nicht mehr.

Aber warum erinnere ich mich dann an jedes Detail des Abends? Beim Anblick des Fotos ist alles wieder da: Das Konfetti auf Maeves Schulter in Form von rot glitzernden Herzen und ein verirrtes Haar, das ich ihr am liebsten aus der Stirn gestrichen hätte. Die Lachfalten um ihren Mund, die meinen Blick bei jedem Wort magisch anzogen.

Ich schließe einen Sekundenbruchteil die Augen, weil es mich ärgert, dass ich so manipulierbar bin. Tatsächlich spüre ich Maeves Lippen an meinen. Von ihrem Mundwinkel rinnt ein Tropfen des Single Malts, den wir aus dem Büro ihres Vaters geklaut haben. Ich küsse ihn weg, ein bisschen unbeholfen zwar, aber ich traue mich. Sie lacht, und es klingt anders als sonst.

Wir fanden das scharfe Zeug beide widerlich, trotzdem haben wir es getrunken, weil das unser Abend war. Weil wir den Abschluss fast in der Tasche hatten und niemanden mehr um Erlaubnis bitten mussten, für gar nichts. Der Hauch von Freiheit schmeckte besser, als ich es mir je hätte träumen lassen. Maeve schmeckte besser, als ich es mir je hätte träumen lassen. Heute weiß ich, es war falsch, überhaupt zu hoffen, irgendwann mehr für sie zu sein als der kaputte Junge aus dem East End.

Hinter meinen geschlossenen Lidern wird alles gleißend rot.

Ich öffne die Augen und fahre mit dem Daumen, den eine Narbe von einer Schlägerei ziert, über das glatte Fotopapier. Dann zerdrücke ich es in meiner Faust, bis die Kanten in meine Handfläche schneiden. Ganz bestimmt ist Maeve jetzt glücklich. Ohne mich. Ich war in ihrem Leben nur ein aufregender Fehler. Vielleicht erinnert sie sich irgendwann an diesen Abend, wenn sie ihren Enkelkindern von einer Zeit erzählt, als sie jung und dumm war. So wie ich.

Aber für mich war das Mädchen mit den whiskybraunen Augen und dem Du-traust-dich-ja-doch-nicht-Lächeln so viel mehr. Gott sei Dank wird sie das nie erfahren.

Der Gedanke versetzt mir einen Stich. Es ist ein Phantomschmerz, ausgelöst von etwas, das schon lange nicht mehr da ist und vielleicht nie da war.

Ich schiebe das zerknüllte Foto in die Jackentasche, stecke das Portemonnaie ein und trete auf den Flur, dann zur Tür, dann durchs Tor. In eine Freiheit, die mir nichts mehr bedeutet.

Die ersten Schritte fühlen sich vollkommen falsch an. In der Theorie wird man auf seine Entlassung vorbereitet, man bekommt die Gelegenheit, neue Kleider zu kaufen und vielleicht ein Handy. Aber alle Wiedereingliederungsmaßnahmen sind im hektischen Alltag des Vollzugs untergegangen. Im Prinzip werde ich einfach vor die Tür gesetzt, und obwohl ich fünf Jahre lang auf diesen Tag hingefiebert habe, schmerzt der Gedanke, dass ich nur Ballast war. Für das System, für den Staat, für alle Menschen im Gefängnis. Alle Kontakte, die ich drinnen hatte, waren nicht mehr als Zweckgemeinschaften, das ist mir spätestens jetzt klar.

Und draußen … draußen wartet genau ein Mensch auf mich, den ich so sehr verletzt habe, dass ich nicht weiß, wie ich ihm unter die Augen treten soll: meine Mum. So gesehen bin ich froh, dass sie noch auf der Arbeit ist und mich nicht abholen kann.

Betont langsam gehe ich mit meiner Reisetasche die Straße entlang, die zur Bushaltestelle führt. Keine Ahnung, wann der nächste Bus kommt, aber es spielt auch keine Rolle. Das Zeitgefühl ist das Erste, was man im Gefängnis verliert.

Irgendwann habe ich schließlich Glück, und ein Bus hält. Ich steige ein, aber der Fahrer sieht scheinbar durch mich hindurch. Ob mir die Schuld, die ich mir trotz allem gebe, auf die Stirn geschrieben steht? Vielleicht habe ich drinnen auch bloß verlernt, mit anderen zu reden, weshalb jetzt schon ein belangloses Gespräch mit einem Fremden für mich eine beinahe unüberwindbare Hürde ist.

Weiß überhaupt jemand hier draußen, wie lang und einsam die Tage sind, wenn man zur Beschäftigung nichts als die immer gleichen Bücher hat, und wie endlos die Nächte? Nachdem ich etliche Fantasyromane von Mum verschlungen hatte, brauchte ich ein neues Mittel gegen die Langeweile und habe mir vorgenommen, alle bedeutsamen Werke der Literaturgeschichte zu lesen, von A wie Dante Alighieri bis Z wie Carlos Ruiz Zafón.

Was halten Sie von The Great Gatsby, würde ich den Mann am liebsten fragen und muss bei der Vorstellung über mich selbst lachen. Denken Sie, Gatsby und Daisy hätten glücklich miteinander werden können? Zum ersten Mal verspüre ich das Bedürfnis, meine Gedanken zu den Büchern mit jemandem zu teilen. Doch mit einem Fremden? Das ist erbärmlich.

Stumm nehme ich mein Wechselgeld entgegen und setze mich auf einen Platz in der hintersten Reihe. Sobald sich die Türen des Busses schließen, überkommt mich ein beklemmendes Gefühl. Erst kann ich nicht sagen, warum, doch dann wird mir klar, dass ich einen beinahe körperlichen Widerwillen dagegen verspüre, schon wieder eingesperrt zu sein, selbst wenn es nur in einem Fahrzeug ist. Ich würde jetzt gern lesen, um mich abzulenken, aber ich habe alle Bücher in der Gefängnisbücherei wieder abgegeben. Stattdessen wende ich den Blick aus dem Fenster.

Für die fünf Kilometer zur Collier Close in Beckton, Borough of Newham, brauche ich fast eine Stunde und muss zweimal umsteigen. Zeit, in der nicht nur die Landschaft an mir vorbeizieht, sondern auch die letzten eintausendachthundertsechsundzwanzig Tage meines Lebens, die ich im HM Prison Thameside und im Jugendgefängnis in Feltham zugebracht habe – die Untersuchungshaft nicht eingerechnet.

Als ich endlich vor dem Gebäude stehe, das früher mein Zuhause war, kommt mir alles daran sonderbar fremd vor. Ich betrachte die wettergegerbte, mit Efeu bewachsene Fassade und das Unkraut, das sich durch den aufgebrochenen Asphalt zwängt, als sähe ich das alles zum ersten Mal. Mein Finger zittert, als ich auf den Klingelknopf drücke, weil mir plötzlich klar wird, dass ich vielleicht auch für Mum nur noch ein Fremder bin. Angst schnürt mir die Kehle zu. Doch Mum öffnet, sieht mir den Bruchteil einer Sekunde in die Augen und schließt mich dann in ihre Arme, als wäre ich nur kurz weg gewesen. Auf einmal bin ich wieder achtzehn. Gefühle, zu denen ich mich nicht mehr fähig geglaubt hatte, bahnen sich einen Weg an die Oberfläche und laufen heiß über meine Wangen. Glück und Erleichterung, Schmerz und Reue. Alles auf einmal.

Als ich im Haus bin, führt mich mein erster Weg in den Keller. Es ist eine Flucht, ein Hinauszögern des Moments, in dem ich mich meinem neuen Leben endgültig stellen muss. Aber Mum hat Verständnis. Ich hebe die Deckel von staubigen Kartons, während sie in der Küche Teewasser aufsetzt. Nach wenigen Versuchen habe ich den richtigen gefunden: Da ist sie, meine alte Lumix FZ200, die Mum mir zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hat. Und zu Weihnachten, weil sie selbst gebraucht noch viel zu teuer war. Nachdem ich bei den Fotokursen in Haft immer nur geliehene Kameras nutzen konnte, erfüllt mich die Vorstellung, wieder einen eigenen Apparat zu besitzen, mit Euphorie. Andächtig streiche ich über das kühle Gehäuse.

Im Karton liegt außer der Kamera und den zugehörigen Objektiven auch meine blaue Fotomappe. Ich blättere durch die knapp sechs Jahre alten Aufnahmen, die damals für das Fotoprojekt des Jugendzentrums entstanden sind. Die meisten habe ich ausgedruckt, weil ein Bild auf Papier immer anders wirkt als am Bildschirm. Die ersten Fotos sind nichtssagend, Street Art auf der Brick Lane. Aber nach und nach werden die Aufnahmen persönlicher und erzählen wirklich, wie es ist, zwar kein Kind mehr, aber auch noch nicht ganz erwachsen zu sein. Zwei Hände auf dem Kalksteingemäuer der Ruine von Saint Dunstan, miteinander verflochten wie Efeuranken. Schwindendes Gegenlicht und das abenteuerliche Gefühl, dass die Welt viel größer ist als gedacht, selbst die Vergangenheit zum Greifen nah.

Kurz bin ich versucht, das zerknüllte Foto aus meiner Jackentasche herauszuziehen und ebenfalls in die Mappe zu legen. Aber es gehört zu meinem alten Leben, während die Kamera und die Bilder, die beweisen, dass ich damit etwas Aussagekräftiges erschaffen kann, für meine Zukunft stehen. Das hoffe ich zumindest. Ich klemme mir den Karton unter den Arm und steige die Kellertreppe wieder hinauf zu meiner Mutter. Erst als ich sie am Tisch sitzen sehe, mit den gleichen hässlich geblümten Tassen wie früher, spüre ich, welche Last mir von den Schultern fällt.

Dann wirft sie mir einen dieser Blicke zu, die noch nie etwas Gutes hießen. »Ich muss dir was sagen. Setz dich bitte.«

Zögerlich stelle ich meinen Karton auf der Arbeitsplatte ab und lasse mich in den Stuhl ihr gegenüber sinken.

»Es geht um Mr. Sinnott.« Meine Mutter hat noch nie lange um den heißen Brei herumgeredet. »Er hat mir Geld für dich geschickt. Viel Geld.«

Ruckartig stehe ich wieder auf, fahre mir durch die kurz geschorenen Haare und laufe wie ein eingesperrtes Raubtier in der kleinen Küche im Kreis. Die Wut ist so übermächtig, dass ich mich nur mit Mühe vor Mum beherrschen kann. Am liebsten würde ich auf die Wand einschlagen. Wenn Neil denkt, er könne mich kaufen, hat er sich geschnitten. Er hat mir fünf Jahre meines Lebens gestohlen, fünf Jahre in Freiheit – das kann man nicht mit einem Preis beziffern.

Es dauert einen Moment, bis ich mich genügend beruhigt habe, um zu antworten. »Er kann sein dreckiges Geld behalten.«

»Er ist gestorben, Cal.«

Dieser Satz verschafft mir nicht die Genugtuung, die ich erwartet hätte. Und ich habe mir oft vorgestellt, ihn irgendwann zu hören, auch wenn Mum das Thema Neil Sinnott bei jedem Besuchstermin und Telefonat vermieden hat. »Ich will es trotzdem nicht.«

Ein gequältes Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen. »Ich weiß. Aber es könnte deine Eintrittskarte in ein neues Leben sein.«

KAPITEL 3

Maeve

»Also, was sagst du? Wäre eine Stelle beim Close Up Magazin nicht genau das Richtige für dich?«

Meine Mutter schiebt das Klatschblatt zu mir herüber. Dabei ruht ihr Blick so siegessicher auf mir, als ginge es um die Frage, ob ich noch mehr Schokoladensoße auf meinen Banoffee Pie möchte. Nicht etwa darum, was ich mit meinem Leben in Zukunft anstellen will.

»Aber …«, setze ich an, obwohl ich mich dabei fühle wie ein trotziges Kind, »du hast noch gar nicht alle Fotos gesehen …«

Ich hatte mir das Wiedersehen mit Mum anders vorgestellt, doch das Kuchenessen und Reisebilderangucken hat sich blitzschnell in ein Verhör über meine Zukunftspläne verwandelt.

»Ich glaube es dir auch so: Der Urlaub war toll.« Sie lächelt verkrampft und betrachtet ihre Fingernägel – wahrscheinlich ist sie heute schon mit Gartenarbeit beschäftigt gewesen, die sie so sehr liebt, dass sie niemals einen Fremden an ihre Rosenbüsche und Rhododendronsträucher lassen würde. Dennoch achtet meine Mutter akribisch darauf, dass kein einziger Erdkrümel an ihren Fingern von ihrem Hobby zeugt.

Ihr Blick landet jetzt wieder auf mir. »Maeve, du trägst ja immer noch diesen schrecklichen Schal. Willst du das alte Ding nicht endlich wegwerfen? Auf Madeira gab es doch sicher ein paar nette Boutiquen.«

Ich schlucke schwer. »Weiß nicht, ich war schließlich nicht zum Shoppen dort.« Unbewusst taste ich nach dem Seidenstoff, auf dem die letzten Jahre zugegebenermaßen ein paar Spuren hinterlassen haben. Aber das ist längst kein Grund, den Schal wegzuwerfen. Im Gegenteil: Er ist vielleicht das Wertvollste, was ich besitze, und ich könnte mich niemals von ihm trennen.

»Ach, Liebling.« Mum streicht mir einen Fussel vom Shirt. »Du findest das vielleicht altmodisch, aber glaub mir: Die meisten Menschen beurteilen dich sowieso nur nach Äußerlichkeiten. Also wieso sollte man sich nicht zuerst um einen gepflegten ersten Eindruck kümmern und dann dafür sorgen, dass auch die inneren Werte dazu passen?«

Vielleicht, weil niemand einen wurmstichigen Apfel essen würde, nur weil die Schale noch glänzt? Ich weiß nicht, wieso mir bei Banoffee Pie ausgerechnet dieses Bild in den Sinn kommt, aber weil es sowieso selten etwas bringt, mit Mum zu diskutieren, übergehe ich ihre Frage. Manchmal habe ich das Gefühl, je mehr Zeit vergeht, seit ich ausgezogen bin und mein Leben im Luxus hinter mir gelassen habe, desto weiter entfernen wir uns voneinander. Es war schlimm genug für Mum, dass ich in einer WG leben wollte wie eine ganz normale Studentin – und nicht in einem teuren Apartment für mich allein, so wie sie es sich wünschte. Sie fand alle möglichen Gründe dafür, aber ich glaube, sie hatte einfach Angst, dass mir jemand wichtiger werden könnte als sie.

Mum schnalzt mit der Zunge und bedenkt mich mit einem mütterlich-vorwurfsvollen Blick. »Wie dem auch sei, ich denke, ich habe jetzt genug Blumenbilder gesehen. Wir haben schließlich etwas Wichtiges zu bereden.«

Ich weiß genau, worauf sie hinauswill. Nach meinem Studium habe ich den Herbst und Winter mit Reisen verbracht, weil ich eine Verschnaufpause von den langen Wochen am Schreibtisch brauchte. Mum sagte damals, sie würde das verstehen, und ich war ihr unbeschreiblich dankbar, dass sie mich in dieser Zeit finanziell unterstützt hat. Allerdings sagt ihr Blick jetzt gerade eher, dass sie und Dad mir das Studium nicht finanziert haben, damit ich mit dem Journalismus-Abschluss in der Tasche durch die Weltgeschichte reise und meiner, wie sie es nennt, Liebhaberei nachgehe. Dass diese »Liebhaberei«, mein Reiseblog, mittlerweile über zwanzigtausend Followerinnen und Follower hat, interessiert sie dabei wenig. Auch der Gedanke, dass ich irgendwann London verlassen könnte, um als digitale Nomadin zu leben und mit meinen Reisen Geld zu verdienen, ist Mum mit Sicherheit noch nie gekommen, sonst hätte sie den DSL-Anschluss in meiner WG höchstpersönlich gekappt.

Seufzend stelle ich den Teller mit meiner Lieblingsnachspeise beiseite, die mir jetzt vorkommt wie ein Bestechungsversuch, und schlage das Close Up Magazin auf. Ich kenne Mum zu gut, um zu glauben, dass sie in diesem Fall ein Nein akzeptieren würde. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, trotzdem fühle ich mich irgendwie fremdbestimmt. Ich bin dreiundzwanzig und ganz sicher alt genug, um mir selbst einen Job zu suchen.

Zwischen den reißerischen Headlines der Zeitschrift starren mich die vom Botox aufgedunsenen Gesichter etlicher B-Promis an, deren Namen ich nicht kenne und nicht kennen möchte.

»Ich weiß nicht, Mum«, setze ich vorsichtig an und knete meine Finger, die selbst im gut beheizten Wohnzimmer nicht warm werden wollen. »Das ist nicht gerade mein Fachgebiet.«

Sie verzieht die Mundwinkel. »Aber irgendwo musst du doch anfangen. Dein Vater hat alles getan, um dir eine gute Ausbildung zu ermöglichen, Liebling.«

Gerade deshalb hätte es ihm wohl am Herzen gelegen, dass ich diese Ausbildung nicht für ein Klatschblatt verschwende, denke ich, bringe aber kein Wort hervor.

»Die Branche ist hart, und Will sagt, ohne Vitamin B ist man im Journalismus nichts. Als Redakteurin bei Close Up hättest du zumindest schon mal einen Fuß in der Tür. Will würde deine Karriere fördern, wo er nur kann, das verspreche ich dir, allein schon …«

Ich hebe eine Hand und hole Luft, um Mum vom Weitersprechen abzuhalten, aber zu spät.

»… allein schon deinem Vater zuliebe«, beendet sie ihren Satz.

»Ich weiß.« Das Blut schießt mir heiß ins Gesicht. Es macht mich wütend, dass Mum diese Karte bei jeder Gelegenheit ausspielt. So als hätte Dad mir nicht genauso viel bedeutet, so als hätte sein Tod nicht auch mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Das Schlimme ist: Vielleicht liegt Mum damit sogar richtig. Mein Vater ist seit zwei Jahren tot, und vorher war er lange krank. Eine Zeit, in der ich nicht genug für meine Mutter da war. Weil ich egoistisch mein Studentinnenleben genießen musste, als wäre nichts. Weil ich es nicht ertragen konnte, einem geliebten Menschen beim Verfall zuzusehen. Shona, Chloe, die Reisen und das Studium waren meine Flucht vor der Realität. Aber jetzt wird mir schmerzhaft klar, dass ich im Kreis gelaufen bin: Mum hat nicht etwa gelernt, loszulassen, sondern klammert sich jetzt umso mehr an mich.

Ich stoße leise die Luft aus und zwinge mich, meiner Mutter in die Augen zu sehen. »Mum. Ich weiß einfach noch nicht, was ich machen will.« Genau genommen weiß mein Herz das zwar ziemlich genau, hat sich aber mit meinem Verstand noch nicht auf einen Kompromiss geeinigt, der als vernünftig oder erwachsen durchgehen würde. Und seit ich den Abschluss in der Tasche habe, ist Mum regelrecht versessen darauf, mir einen Bürojob in London zu beschaffen.

Ihre linke Augenbraue zuckt kaum merklich nach oben. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck – sie ist enttäuscht, auch wenn sie weiterhin verkrampft lächelt. Prompt habe ich einen Kloß im Hals.

»Wenn du keinen anderen Plan hast, dann versuch es doch einfach. Was hast du denn zu verlieren?« Sie legt eine Hand auf meinen Oberschenkel, beugt sich vor und sieht mich bittend an. »Ich habe schon mit Will gesprochen, er ist mit einem Einstiegsgehalt von vierzigtausend Pfund im Jahr einverstanden. Außerdem ändert sich doch gar nicht so viel: Du kannst weiterhin in der WG wohnen, und wenn die Stelle beim Magazin nichts für dich ist, stehen dir danach andere Wege offen.«

Kurz macht sich Wut in mir breit; es ist nicht zu fassen, dass Mum mir sogar bei den Gehaltsverhandlungen zuvorkommt. Andererseits … ist das wirklich viel Geld. Ich müsste Mum nicht länger auf der Tasche liegen und könnte etwas ansparen, zum Reisen natürlich. Vielleicht hat sie recht und ich sollte der Sache wenigstens eine Chance geben?

Ich schlucke all meine Bedenken hinunter. »Na schön, meinetwegen gucke ich mir das mal an.«

»Perfekt. Ich rufe nachher Will an und mache einen Termin für dein Vorstellungsgespräch aus.« Ein Strahlen breitet sich auf Mums Gesicht aus und lässt sie um Jahre jünger wirken. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ich für dieses erleichterte Lächeln gerade meine Freiheit verkauft habe.

»Übrigens«, setzt Mum an, »ich bin dieses Jahr mit der Organisation unserer Charity-Matinee im Club an der Reihe und ich möchte Spenden für an Parkinson erkrankte Menschen sammeln. Als Termin haben wir den 28. Juni festgelegt. Ich hoffe sehr, dass du kommen kannst.«

»Ja, ich denke schon. Mal sehen.« Ich habe jetzt keinen Kopf, um mir über die nächste Charity-Veranstaltung Gedanken zu machen, auf der meine Mutter mich gern dabeihätte. Nicht einmal, wenn der Erlös dazu beiträgt, dass weniger Menschen durchmachen müssen, was Dad durchgemacht hat. Im Moment hasse ich mich einfach dafür, dass ich meine Träume verleugne, aber noch mehr hasse ich mein schlechtes Gewissen Mum gegenüber, das sich weigert, jemals wieder zu verschwinden, egal, was ich tue. Meine Mutter hat schließlich nur noch mich.

Als ich nach dem Besuch bei Mum in meine WG zurückkehre, herrscht Grabesstille in dem Apartment. Die Sonne ist längst untergegangen, und bis auf die kitschige Lichterkette mit Hawaiiblumen, die ich Shona letztes Jahr von Maui mitgebracht habe, ist alles dunkel. Einen Moment lang halte ich verdutzt inne, während die Einsamkeit mich kühl umfängt. Klirrend lasse ich meine Schlüssel in die Schale auf dem Flurschränkchen fallen, dann fällt mir wieder ein, dass meine Mitbewohnerinnen zusammen in einen Club in Farringdon wollten. Sie haben mich sogar gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber weil ich gerade erst aus Madeira zurückgekehrt bin und noch nicht mal meinen Koffer vollständig ausgepackt habe, war mir heute nicht nach Feiern zumute.

Erschöpft lasse ich die Schultern kreisen, hänge meine Jacke auf, schlüpfe in meine Hausschuhe und schlurfe in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Mein Buch liegt noch auf dem Fensterbrett, Gone With the Wind. Unterwegs komme ich selten zum Lesen, weshalb ich es nicht mit nach Madeira genommen habe. Ich fahre mit der Hand über den Einband und bilde mir ein, Staub unter meinen Fingerkuppen zu spüren, obwohl ich nur zwei Wochen verreist war. Die Fensterbank selbst hingegen scheint penibel geputzt worden zu sein. Ich schmunzle in mich hinein: Es fühlt sich gut an, dass meine Mitbewohnerin Shona, die längst meine beste Freundin geworden ist, meinen Kram nicht weggeräumt hat. Irgendwie so, als wäre auch ein kleiner Teil von mir hiergeblieben.

Shona und Chloe haben mich oft genug damit aufgezogen, dass man mich selten ohne Buch in der Hand antrifft, und vor allem damit, dass es sich meistens um Liebesromane handelt. Mit all den perfekten fiktionalen Männern verdirbst du dir nur deinen Geschmack, höre ich Sho noch spotten. Vielleicht hat sie damit sogar recht, aber ich möchte entweder die einzig wahre große Liebe oder gar keine.

So lange widme ich mich gerne meinen schönen Lügen, bei denen ich wenigstens von Anfang an weiß, dass sie nur eine Illusion sind. Und weil ich als hoffnungslose Romantikerin finde, dass Liebe in unserer Welt die treibende Kraft ist, wie man unschwer daran erkennt, dass selbst in Actionfilmen eine Liebesgeschichte vorkommt und in beinahe jedem blutrünstigen Thriller ein Ermittler mit Liebeskummer auftritt, stehe ich auch über den gelegentlichen stichelnden Bemerkungen.

Mit dem Buch unter dem Arm und der Teetasse in der Hand gehe ich ins Bad, um anschließend im Bett zu lesen, bis mir die Augen zufallen. Das Gespräch mit Mum liegt mir noch schwer im Magen, aber vielleicht kann ich mich so wenigstens für ein paar Stunden vor den Grübeleien über meine Zukunft ablenken.

Ich weiß, dass ich träume, aber das macht es nicht besser. Luzides Träumen empfinden manche Menschen als Gabe, für mich ist es jedoch eine Qual. Nur dieser eine, bestimmte Traum kehrt ständig wieder, immer genau dann, wenn ich am wenigsten damit rechne. Es muss Monate her sein, dass ich das letzte Mal vom 15. Dezember 2018 geträumt habe. Von der Nacht meines Schulballs.

Auch im Traum liege ich auf meinem Bett. Alles um mich herum dreht sich. Das Herz klopft mir bis zum Hals, und jeder Muskel meines Körpers zittert. Aber nicht, weil mir kalt ist, ganz im Gegenteil: Ich bin so nervös wie noch nie in meinem Leben. Nervös und glücklich und ängstlich und erregt zugleich.

Es ist dunkel, nur der Mond scheint durch die halb zugezogenen Vorhänge in mein Zimmer. Ich sehe nichts als Cals Silhouette, zumindest nicht mit den Augen. Dafür erkunde ich mit meinen übrigen Sinnen alles, was meinem Blick verborgen bleibt: Da ist seine warme, unfassbar weiche Haut unter meinen Lippen. Prickelndes Salz auf meiner Zunge. Sein gleichzeitig fremder und vertrauter Duft, würzig-süß und ein bisschen an Zimt erinnernd. Vertraut, weil ich Cal so gut kenne, dass ich mich geborgen fühle, wo auch immer nur ein Hauch von diesem Geruch in der Luft liegt. Und fremd, weil wir uns noch nie so nah waren.

Mein flaschengrünes Chiffonkleid und Cals Smoking liegen achtlos auf dem Boden. Er trägt noch seine Anzughose und ich nur meine Unterwäsche. Seinen bloßen Oberkörper auf meinem zu spüren, ist trotzdem das Schönste, was ich je erlebt habe. Cal verteilt Küsse auf meinem Hals, meinem Schlüsselbein und meinem Dekolleté. Seine Locken kitzeln meine Haut. Ich will, dass er niemals aufhört. Nein, ich will, dass er noch viel weiter geht. Doch plötzlich erstarrt er und lässt seine Stirn gegen meine sinken. Sein Blick ist so intensiv, dass ich einen Moment lang befürchte, er könnte vielleicht direkt in meine Seele sehen. Seine Iriden sind nicht ganz grau und nicht ganz blau, sondern irgendwas dazwischen; sie erinnern mich an den Londoner Himmel, kurz bevor ein Gewitter aufzieht.

Du darfst niemals weggehen, flüstert er. Bitte, Maeve. Bitte bleib bei mir.

Sein Tonfall ist fast flehend. Und ich verstehe ihn, denn ich habe genauso viel Angst vor der Zeit, die bald, nach dem Abschluss, vor uns liegt, vor dieser unvorstellbar großen Freiheit.

Ich werde nicht weggehen, erwidere ich und fahre beruhigend mit der Hand durch seine dunkelblonden Locken, obwohl ich weiß, dass es eine Lüge ist.

Callum lächelt, doch es wirkt traurig. Was hast du vor? Wirst du weiter fotografieren?

Natürlich! Kopfschüttelnd bohre ich den Zeigefinger in eines seiner Grübchen und ziehe die Haut sanft weiter nach oben, so als wollte ich Cals Mundwinkel zu einem richtigen Lächeln biegen. Einem, das diesen Namen auch verdient hat. Da ist es, sein einzigartiges Maeve-Lachen, das ganz allein für mich reserviert ist. Und du?, hake ich nach. Was hast du vor? Ich fühle mich verpflichtet, seine Frage zurückzugeben, aber gleichzeitig spüre ich, dass damit die Leichtigkeit des Moments verfliegt. Natürlich: Ich kann es mir leisten, noch zehn Fotokurse zu machen, wenn ich das möchte. Kann es mir erlauben, ans College zu gehen und zu studieren, was auch immer ich will. Wahrscheinlich Journalismus. Cal kann das alles nicht. Für ihn beginnt jetzt der Ernst des Lebens, wie die Erwachsenen zu betonen nicht müde werden.

Ich weiß noch nicht. Callums Stimme klingt heiser.

Hm. Weißt du, was ich gern machen würde? Ich küsse ihn auf die Nasenspitze und freue mich darüber, dass er schon weniger bedrückt aussieht.

Was denn?

Zusammen mit dir verreisen. Mit dir und mit unseren Kameras. Es gibt noch so viele Orte zu entdecken. So viele Motive, die fotografiert werden wollen. Aber ohne dich wäre es nicht dasselbe. Kommst du irgendwann mit, ganz egal, wann? Versprichst du mir das?

Er lacht auf. Maeve. Wie soll ich dir das versprechen, wenn wir nicht mal wissen, was wir nach der Highschool machen? Du wirst bestimmt studieren, aber ich habe keine Ahnung, ob ich ein Stipendium bekomme oder ob ich mir Gott weiß wo einen Job suchen muss, um Geld fürs College zu sparen. Außerdem würden deine Eltern mich nie akzeptieren. Zumindest nicht so. Wenn du mir ein paar Jahre Zeit gibst, baue ich mir etwas auf. Irgendwann stehe ich auf eigenen Beinen und kann mich allein versorgen. Und dich. Dann sehen sie, dass ich nicht nutzlos bin.

Ich sehe ihm tief in die Augen und versuche ihm durch meinen Blick klarzumachen, dass ich jedes Wort ernst meine. Es ist mir egal, ob du es zu etwas bringst oder nicht, und was alle Welt von dir denkt, an meinen Gefühlen für dich wird das nichts ändern. Aber ich werde auf dich warten. Immer. Ein sonderbarer Ausdruck legt sich auf Cals Gesicht; eine Mischung aus Verzweiflung und genauso viel Hoffnung und, ja, vielleicht sogar … Liebe. Dieser Anblick gräbt sich tief in mein Herz. Zusammen mit einem stechenden Schmerz, der sich anfühlt, als hätte ich mich an einem sehr scharfen Messer geschnitten – wenn schon das erste Brennen klarmacht, dass für immer eine Narbe zurückbleiben wird.

Dann wird meine Zimmertür aufgerissen, und plötzlich ist Cal verschwunden. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst, so als wäre er nie da gewesen. Als hätte ich ihn mir nur eingebildet und als wäre diese ganze wundervolle Nacht nur eine meiner Fantasien gewesen; einer der Tagträume, in denen ich mir oft genug ausgemalt habe, ihn endlich zu umarmen und zu küssen und ihm zu sagen, was ich für ihn empfinde.

Stattdessen sehe ich in das Gesicht meines Vaters. Er öffnet den Mund und sagt etwas, aber ich höre kein Wort. Allein an seiner zornigen Miene erkenne ich, dass etwas nicht stimmt. Dass etwas ganz und gar nicht stimmt – etwas Schlimmes muss passiert sein. Mir wird schwindelig. Mein Zimmer dreht sich um mich herum, als säße ich in einem Karussell. Die Farben verschwimmen und mit ihnen meine Sicht, während eine schreckliche Vorahnung mich erfasst. Ich schließe die Augen: Ich will das alles nicht. Es ist nur ein Traum. Ein Traum, ein Traum, mehr nicht.

Aber selbst im Traum weiß ich, dass ich mich selbst belüge. Ich bin gefangen in dieser Spirale des Grauens, aus der es kein Entkommen gibt. Im nächsten Augenblick sehe ich Rachel vor mir. Rachel, mit der ich schon gespielt habe, als wir beide weder laufen noch sprechen konnten. Rachel, die all meine Geheimnisse kennt, sogar die, die ich nicht einmal meinem Tagebuch anvertrauen würde. Sie steht auf einer langen, dunklen Straße, die ins Nichts führt.

Rachel dreht sich zu mir um, aber sie sieht durch mich hindurch. Dann wendet sie sich wieder ab und geht die Straße entlang. Immer weiter und weiter, bis sie ganz aus meinem Sichtfeld verschwunden ist. Unerträgliche Stille breitet sich aus. Und plötzlich … reißt ein metallischer Krach alles in Stücke.

Cal ist wieder da, ich will aufatmen, denn wir sind zurück in meinem Zimmer. Wir sind beide nackt, wir lieben uns, so wie ich es mir ausgemalt habe. Aber es fühlt sich nicht an wie in meiner Vorstellung, es fühlt sich nicht richtig an. Nein, alles daran ist falsch. Ich kann an nichts anderes denken als an Rachel.

Schweißgebadet erwache ich. Mein Brustkorb hebt und senkt sich hektisch, trotzdem gelangt kaum Sauerstoff in meine Lunge. Ich atme tief in den Bauch, kralle die Hände in die Bettdecke, die ich weggestrampelt haben muss, und versuche, mich daran zu erinnern, wo ich bin. Ich bin in meiner WG in Ealing. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt halb drei Uhr morgens. Sho und Chloe müssten bald aus dem Club zurückkehren. Das war nur wieder dieser fürchterliche Traum. Es ist alles in Ordnung.

Benommen tapse ich ins Badezimmer und schöpfe mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, dann lege ich mich wieder ins Bett. Ich taste nach dem Buch auf meinem Nachtschrank. Es liegt genauso da, wie ich es zurückgelassen habe. Ich werde einfach das Licht anknipsen und weiterlesen. Und meine Dämonen dorthin verbannen, wo sie hingehören: In eine Vergangenheit, mit der ich abgeschlossen habe.

KAPITEL 4

Callum

Schon die halbe Nacht lang wälze ich mich von einer Seite auf die andere, aber meine endlos kreisenden Gedanken lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Dabei hatte ich gehofft, viel besser schlafen zu können, wenn ich endlich wieder zu Hause bin. Wahrscheinlich liegt genau da das Problem – ich weiß nicht mehr, ob ich noch hierhergehöre, denn statt geborgen fühle ich mich fremd.

Meine Kamera liegt auf dem Schreibtisch. Die Freude, sie wieder in den Händen zu halten, wurde bald getrübt. Jedes Mal wenn ich sie einschalte, zeigt das Display eine wenig aussagekräftige Fehlermeldung an: System Error (Zoom).

Ich habe das Internet nach einer Lösung durchforstet, und dort fand sich lediglich der Hinweis, die Kamera dem Hersteller einzuschicken. Aber für das gebrauchte Modell gilt natürlich keine Garantie, und wahrscheinlich wäre eine Reparatur unbezahlbar. Verzweifelt habe ich mich daraufhin in einem Forum für Amateurfotografinnen und -fotografen angemeldet und mein Problem geschildert – bisher, ohne Antworten zu bekommen.

Das kalte Licht der Straßenlaterne fällt ins Zimmer, und die Wanduhr tickt überlaut. Ob sie das auch die letzten fünfeinhalb Jahre getan hat, ohne einen einzigen Batteriewechsel? Mein Blick schweift im Halbdunkel über die ausgeblichenen Avengers-Filmplakate, mit denen der Raum nahezu tapeziert ist. Die neusten Kinofilme der Reihe kenne ich nicht. Oft genug habe ich mir vorgestellt, sie zu schauen, sobald ich raus bin. Aber jetzt wird mir klar, wie armselig dieser Gedanke ist: Wir schreiben das Jahr 2025, und die Filme sind längst Schnee von gestern. Wenn ich ehrlich bin, interessieren sie mich auch gar nicht mehr.

Überhaupt ist mir hier, in meinem Kinderzimmer, alles fremd. Kaum etwas weckt noch Erinnerungen. Die Dinge sind geschrumpft, oder ich bin gewachsen. Wahrscheinlich beides. Die Hosenbeine meiner alten Sweatpants reichen mir gerade bis knapp über die Knöchel, das T-Shirt spannt und zwickt über den Muskeln, die ich dem Gefängnis-Gym zu verdanken habe. Ich ziehe das Shirt über meinen Kopf, lasse es auf den Boden fallen und gehe zum Kleiderschrank. Den erstbesten Hoodie nehme ich heraus. Drinnen waren Kapuzen verboten, aber jetzt setze ich sie auf und ziehe sie mir so tief ins Gesicht, als könnte ich mich damit vor der ganzen Welt verstecken. Der Stoff riecht nach Weichspüler, und obwohl ich diesen Geruch immer gehasst habe, bin ich froh, dass sich wenigstens manches nie ändert. Denn der künstliche Blumenduft bedeutet zumindest ein kleines bisschen Normalität.

Ich lege mich wieder ins Bett, den Blick zur Decke gerichtet, und weil ich nicht müde bin, taste ich auf dem Nachtschrank blind nach dem Smartphone, das ich gestern erst gekauft habe. Es war das günstigste Modell im Laden, trotzdem hat es sich völlig falsch angefühlt, über zweihundert Pfund dafür auszugeben. Eine Summe, für die ich drinnen fast ein halbes Jahr arbeiten musste. Ruhelos scrolle ich durch die Website von BBC News und durch ein paar andere Nachrichtenkanäle, um die Welt zu verstehen, die in den letzten Jahren leider nicht stehengeblieben ist und auf mich gewartet hat. Drinnen habe ich nur selten Nachrichten geschaut, aus Angst, dann erst zu begreifen, wie viel Zeit meines Lebens ich tatsächlich verloren habe. Jetzt beschließe ich, die Zeit bis zum Morgengrauen totzuschlagen, indem ich mich endlich dieser unbequemen Wahrheit stelle.

Ich lese von royalen Hochzeiten und Todesfällen, von mehr als einem Amoklauf an Schulen und verheerenden Waldbränden im Amazonas-Regenwald. Die globale Pandemie habe ich selbst im Gefängnis mitbekommen. Vom Brexit hatte mir Mum schon erzählt, auch vom Sturm aufs Kapitol, genau wie vom Angriff Russlands auf die Ukraine. Jetzt, wo ich alles im Detail nachlese, komme ich mir für einen Moment vor wie in einem schlechten dystopischen Roman aus der Gefängnisbücherei, gleichzeitig macht sich ein Gefühl in mir breit, das entfernt an Heimweh erinnert. Hinter Gittern war das alles nicht wichtig. Es galten zwar wegen COVID ein paar Einschränkungen wie kürzere Besuchszeiten, aber die gab es auch manchmal aus nichtigen Gründen und wir hatten gelernt, das hinzunehmen.

Seufzend lasse ich das Handy ins Kissen fallen und schüttle den Kopf. Über die Welt, über mich selbst, keine Ahnung. Aber da ist immer noch die leise, trotzige Stimme, die mich nicht schlafen lässt. Ich bin nicht rausgekommen, um mich selbst zu bemitleiden. Reiß dich zusammen und mach was draus. Irgendwas. Alles, was ich brauche, ist ein Plan.

Ein Plan und ein Ziel. Dank meiner abgeschlossenen Ausbildung als Koch könnte ich mir eine Stelle suchen und vielleicht sogar eine kleine Wohnung mieten – vorausgesetzt, es stellt überhaupt jemand einen Ex-Häftling ein.

Aber wenn ich ehrlich bin, ist das sowieso nicht das, was ich will. Ich habe vor, da weiterzumachen, wo ich aufgehört habe. So als wäre nichts gewesen und die besten Jahre meines Lebens lägen noch vor mir. Ein Tag in Freiheit hat allerdings ausgereicht, um mir zu zeigen, dass sich selbst zu belügen schwerer ist als gedacht.

Nur eins weiß ich: Ich will wieder fotografieren. Weil das Fotografieren die einzige Möglichkeit ist, die überlauten Gedanken in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, sie erst auf einen Speicherchip und dann auf Papier zu bannen. Vor aller Augen und doch gut versteckt. Beim Fotografieren bin ich unsichtbar; ich allein bestimme, wie viel ich von mir preisgebe.

Ich gebe Fotospots London in die Suchmaske ein, dann freue und ärgere ich mich gleichzeitig, weil ich natürlich die meisten Geheimtipps kenne und schon dort war. Und nicht immer allein....

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