×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Am Horizont ein Morgen«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Am Horizont ein Morgen« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Am Horizont ein Morgen

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Es bedurfte nur einer tragischen Sekunde, um Holly Jeffersons Welt für immer zu verändern. Bei einem Unfall verlor sie ihren über alles
geliebten Mann. Seitdem sind zwei Jahre vergangen, und äußerlich wirkt es, als hätte sie diesen Verlust überwunden. Sie führt ihre eigene Konditorei und lebt ihr Leben weiter. Doch tief in ihr sieht es anders aus: Sie fühlt sich verloren. Einsam. Zerbrochen. Und sie ist sich sicher, nie wieder wird sie lieben können. Bis sie Ciaran Argyll begegnet, einem Millionärssohn. Nichts scheint sie mit ihm gemeinsam zu haben. Aber während sie ihn näher kennenlernt, spürt sie, dass auch er mit seiner Vergangenheit zu kämpfen hat …


  • Erscheinungstag: 10.07.2015
  • Aus der Serie: Mira Star Bestseller Autoren Romance
  • Bandnummer: 25852
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956492006

Leseprobe

Anouska Knight

Am Horizont ein Morgen

Roman

Aus dem Englischen von

Ivonne Senn

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:

Since You’ve Been Gone

Copyright © 2013 by Anouska Knight

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Shutterstock; Mills & Boon, London

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Michael Michaels

ISBN eBook 978-3-95649-448-2

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Es sollte ein freier Tag sein. Er hatte mir versprochen, nicht lange wegzubleiben. Er wollte nur mal kurz nach den Männern sehen, damit sie nicht wieder irgendwelchen Blödsinn anstellten, der mit dem Schreiben von Krankenberichten endete. Ich hatte ihm versprochen, sein Lieblingsessen zu kochen: Zitronen-Basilikum-Linguine. Und er hatte versprochen, rechtzeitig zu Hause zu sein, bevor es verkocht war.

Jetzt starrte ich auf die kalte, erstarrte Pastamasse vor mir und versuchte, mich nicht versetzt zu fühlen. Automatisch legte ich Messer und Gabel ordentlich auf den Teller, die Griffe parallel zueinander auf vier Uhr. Wieder einmal fragte ich mich, warum ich mir überhaupt noch die Mühe machte.

Tischmanieren gehörten zu den Dingen im Leben, die ich schon immer etwas seltsam gefunden hatte. Wozu sollten die gut sein, wenn man sowieso meistens in der Gesellschaft von Menschen aß, denen es vollkommen egal war, ob man sich mit dem Ellbogen auf dem Tisch aufstützte oder nicht?

Doch Pattie, meine Mutter, hatte uns Kindern gutes Benehmen eingetrichtert. Keinesfalls durfte man am Küchentresen herumlungern, statt sich auf einen der zwölf unbenutzten Esszimmerstühle zu setzen. Und an der Spüle im Stehen zu essen kam schon gar nicht infrage. Falls Mum jemals erfahren würde, wie oft ich das tat, würde garantiert wieder ihre Unterlippe zu zucken beginnen.

Dieser kleine Tick, der ihr Missfallen verriet – ich hatte ihn schon einige Male zu Gesicht bekommen.

Bekanntlich war meine Mutter eine Frau, die ein Leben voller Entbehrungen ertragen musste, da sie wegen des durchschnittlichen Gehalts meines Vaters nicht ganz in der Lage war, mit ihren Freundinnen mitzuhalten. Sie liebte Dad, natürlich liebte sie ihn, aber dennoch hatte sie nicht widerstehen können, den gefühlten Mangel zu kompensieren, indem sie Martha und mich erzog, als wären wir auf einem Eliteinternat. Mum hatte ihr Bestes gegeben, damit wir uns später mal einen Anwalt oder Arzt angeln konnten – oder sonst irgendjemanden mit Geld. Denn dann würden wir ihrer Meinung nach glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage leben.

Aber Eheglück war eben nicht käuflich.

Bei meiner Schwester ging der Plan meiner Mutter ziemlich gut auf. Martha fand einen Anwalt, allerdings einen mit großem Herzen. Nur bei mir lief das etwas anders. Denn als ich Charlie das erste Mal erblickte, wie er Holzstämme auf den Truck seines Chefs lud, mit diesen sonnengeküssten muskulösen Armen und ohne jedes Bewusstsein, wie attraktiv er war, wusste ich sofort, für wen ich meine Tischmanieren gelernt hatte.

Mum hat mich damals gewarnt, dass Charlie ein wenig unkultiviert wäre. Ungeschliffen, hat sie es genannt. Mit mehr Charme, als ihm guttäte. Und dass fünfundzwanzig viel zu jung zum Heiraten wäre – noch dazu einen Forstwirt – und dass das alles nur in Tränen enden würde.

Sie sollte recht behalten. Es gab viel, was Charlie dieser Tage bereute.

Ich sah zu, wie kleine Basilikumstücke sich auf dem Teller festsetzten.

Ich musste meine Eltern anrufen.

Seit beinahe drei Wochen hatte ich nicht mehr mit ihnen gesprochen, dabei sollte ich sie über die Größe von Marthas Knöcheln auf dem Laufenden halten. Siebenundzwanzig zu sein schützte mich nicht vor den Ansprüchen meiner Mutter. Doch seit meine Eltern ihren Altersruhesitz von England nach Menorca verlegt hatten, musste ich mich wenigstens nur noch per Telefon rechtfertigen.

Der Barhocker wackelte unter mir, als ich von ihm herunterglitt und den Tresen umrundete, um mein Geschirr in das linke der beiden Keramikspülbecken zu stellen. Wir hatten uns für zwei entschieden. Einerseits weil ich es hasste, wenn Charlie mit einem Armvoll dreckigem Gemüse die Küche betrat. Andererseits weil es etwas Charmantes an sich hatte, einträchtig nebeneinander an diesen Spülbecken zu stehen und dabei den besten Blick des ganzen Hauses zu genießen. Das waren die Entscheidungen, die man traf, wenn man trunken vor Liebe war. Diese glückselige Zeit, bevor die Tränen kamen.

Während das Wasser auf das Geschirr trommelte, das ich in die Spüle gestellt hatte, schaute ich mich um, ob auf der Arbeitsplatte noch mehr zum Abwaschen stand. Es war Viertel vor sieben.

Wo ist er? fragte ich mich und gab eine großzügige Menge Spülmittel in die dampfende Schüssel. Ich hatte ihn schon vor einer Weile zum Essen gerufen.

Es gab immer noch kein Zeichen von ihm, als ich meine Hände in die heiße Seifenlauge steckte. Die Haut zwischen meinen Fingern war ein wenig wund. Ich sollte mir mal ein Paar Gummihandschuhe kaufen, aber in der Bäckerei wusch ich meine Hände so oft, dass es sinnlos war, mich zu Hause mit Handschuhen herumzuschlagen.

Laut Martha war ich der einzige Mensch auf der Welt, der das Abwaschen von Hand einer Spülmaschine vorzog. Aber Martha gehörte ja auch zu den Frauen, die selbst im achten Schwangerschaftsmonat noch in High Heels herumliefen, obwohl ihre Knöchel inzwischen fast so dick wie ihre Knie waren. Martha versuchte immer wieder, mich von den Vorzügen hoher Absätze zu überzeugen – längere Beine, bessere Haltung, ein feminineres Auftreten. Und ich versuchte immer wieder, ihr zu erklären, dass ich ohne Besuch mindestens eine Woche brauchen würde, um die Geschirrspülmaschine zu füllen. Außerdem war der Blick über das Tal die rauen Hände mehr als wert.

Als wir damals Mrs Hedley unsere Hälfte des Farmhauses abkauften, bauten wir genau aus diesem Grund größere Fenster ein. Und auch heute noch konnte ich von dem Ausblick einfach nicht genug bekommen. Er reichte von unserer sanft abfallenden Wiese bis ganz hinüber zu den schwarzblauen Wassern des Stausees.

Durch dieses Fenster war wirklich jede Farbe zu sehen, die die Natur so zu bieten hatte, was unter anderem an Charlies Schwäche für Blumen lag. Er hatte den Vorgarten mit sämtlichen Sträuchern, Büschen und Bäumen bepflanzt, derer er habhaft werden konnte. Als wir anfingen, das Haus zu renovieren, konzentrierte er sich sofort auf das Anlegen der Beete, sodass der Garten, während wir uns über Wandfarben stritten, schon einmal wachsen konnte.

Irgendwann begann ich damit, während der Öffnungszeiten des Gartencenters seine Brieftasche zu verstecken. Sie lebte inzwischen in einer Schublade meiner Kommode mit anderen wichtigen, nutzlosen Dingen.

Jetzt tat es mir leid, dass ich ihn damals so sehr gegängelt hatte.

Ich riss meine Hand zurück, da das Wasser, das heißer war, als ich es erwartet hatte, meinen Handrücken verbrannte. Danach setzte ich meine Überwachung durch das Fenster fort. Der Rasen musste mal wieder gemäht werden. Das lange Gras wuchs hoch an den Beinen der vor sich hin rostenden Gartenmöbel empor.

Wo ist er? fragte ich mich erneut.

Ich hatte einen direkten Blick über den halben Stausee; der Rest wurde von kleinen Bäumen und Büschen verdeckt, die Charlie nach unserem letzten Streit gekappt hatte. Kettensägen waren ein ungewöhnliches Werkzeug zum Stressabbau, aber jeder Mensch hatte so seine Methoden, und inzwischen waren die Bäume auch fast wieder so groß wie zuvor. Höchstwahrscheinlich befand sich mein launischer Gefährte irgendwo da drüben.

Er konnte nicht weit sein, aber offensichtlich hatte er etwas wesentlich Interessanteres als meine Hühnchenpasta gefunden. Vielleicht war er sauer auf mich; ich hatte ihn heute Morgen angeschrien. Es war das zweite Mal, dass er mich diese Woche alleine essen ließ, doch ich würde mein Essen nicht kalt werden lassen, während ich auf der Türschwelle stand und wie ein Fischweib nach ihm rief. Wenn er später essen wollte, gut. Aber wenn er so weitermachte, würde er sich bald von Fertigessen ernähren müssen.

Ich stand seit weniger als drei Minuten an der Spüle, und der Abwasch war fertig. Martha würde ich nie überzeugen, aber wir waren schon immer unterschiedlich gewesen. Das Bild, das dies bewies, stand auf der Fensterbank.

Zu dem Zeitpunkt, als das Bild aufgenommen worden war, waren meine Haare länger gewesen, aber die Panikattacken waren einfacher zu handhaben, seit ich meine wuchernden Locken abgeschnitten hatte. Langes Haar war ein vermeidbares Hindernis, wenn man nachts im Bett nach Luft rang.

Etwas weiter vorne in der Küche war die Luft wärmer. Dort, wo früher am Tag das Licht in den Raum geströmt war. Charlie hatte hier ein sonniges Plätzchen geschaffen, indem er neben dem Fenstersitz zwei cremefarbene Bücherregale eingebaut hatte. Hier aß er jeden Morgen sein Frühstück, mit der Sonne im Rücken und dem Hund irgendwo zu seinen Füßen.

Charlies Mum hatte gesagt, der Hundertachtzig-Grad-Ausblick aus der Küche würde sich auszahlen, sobald die ersten Enkelkinder kämen. Vor allem wenn sie auch nur halb so ungebändigt wären wie ihr Vater. Aber ungebändigte Kinder waren hier nicht das Problem.

Die Seitentür öffnete sich mit einem leisen Klicken, als ich in den Garten trat. „Dave? Dave! Letzter Aufruf, Großer.“ Eine Handvoll Vögel flog von den Baumwipfeln auf, die Charlie attackiert hatte. Er kam. Ich sah ihn, wie er den Berg hinauftrottete.

Er war allerdings auch eine hässliche Kreatur. Ein tölpelhaftes Spektakel aus blassem Fell, das den Hügel hinauf auf mich zulief. Sein gesamtes Gesicht verzog sich, als sein schwarzer Halslappen für einen Moment der Schwerkraft trotzte.

Er erreichte mich und setzte sich zu meinen Füßen auf die Hinterläufe. Sein Schwanz klopfte enthusiastisch auf den Boden.

„Hi, Dave.“ Er schnaufte. „Du kommst zu spät zum Essen“, schimpfte ich.

Sonderlich reumütig wirkte er nicht, als ich ihm ins Haus folgte.

Im Flur zog ich meine Schuhe aus, während er das Hühnchen inhalierte, das ich ihm hingestellt hatte. Ich war schon halb die Treppe ins obere Stockwerk hinaufgegangen, da klingelte unten das Telefon.

Ich wusste, es war Martha, die anrief, um mich zu fragen, welchen Braten sie am Sonntag machen sollte. Ich wollte nicht zum Mittagessen bleiben, aber bislang hatte ich mich noch nicht entschieden, welche Ausrede ich ihr auftischen sollte.

Das Telefon klingelte immer weiter, bohrte sich in mein Bewusstsein. Vielleicht ging es auch nicht ums Mittagessen. Es könnte was mit dem Baby zu tun haben. Meine Hand griff nach dem Headset, als der Anrufbeantworter sich einschaltete.

„Hi, hier ist das Groschengrab der Jeffersons. Wir können gerade nicht ans Telefon gehen – ich hänge irgendwo auf einer Leiter, und Holly klappert unsere Freunde ab, um sie anzubetteln. Hinterlassen Sie doch bitte eine Nachricht.“

„Hol? Ich bin’s. Ich habe mich gefragt, was du von Lamm am Sonntag hältst? Oder Hühnchen? Was wäre dir lieber? Warum bist du noch nicht zu Hause? Ruf mich an, sobald du da bist. Okay, hab dich lieb. Bye.“

Dave gesellte sich am Fuße der Treppe zu mir. „Jetzt willst du mir auf einmal Gesellschaft leisten? Mit dem Abendessen lässt du mich hängen, aber du hast kein Problem damit, mir beim Duschen zuzuschauen?“ Dave antwortete nicht.

Die blanken Holzstufen fühlten sich hart unter meinen Füßen an, als ich weiterging. Doch es hatte auch seine Vorteile, weder Teppiche noch Tapeten zu haben, wenn ein zweihundert Pfund schwerer Mastiff einem durchs ganze Haus folgte.

Dave machte es sich auf den Badezimmerfliesen gemütlich, während ich unter die heiße Dusche hüpfte. Wie üblich hatten sich Wolken von Puderzuckerstaub auf mir festgesetzt. Zucker schien an der Haut genauso zu kleben wie an den Zähnen.

Ach was.

Ich hatte vergessen, heute eine neue Zahnbürste zu kaufen. Meine war auf dem Waschbecken immer ausgefranster geworden neben ihrer Nachbarin, von der ich meiner Schwester erzählt hatte, es wäre eine Ersatzzahnbürste. Egal. Ich würde einfach morgen vor der Arbeit eine kaufen oder am Wochenende meine von Martha mitbringen, falls ich daran dachte. Ich war in letzter Zeit so müde. Spätestens im November würde ich wieder schlafwandeln.

Dave schlief friedlich vor sich hin, als ich aus der Dusche trat. Auf dem Weg zum Schlafzimmer fühlte sich die Luft an meinen feuchten Schultern kühl an. Ich trocknete mich schnell ab und schlüpfte in mein Lieblingsbaseballshirt und eine Jogginghose. Es war noch zu früh, um ins Bett zu gehen. Ein Blick auf die Decke und das zerknüllte Laken erinnerte mich an die Probleme, die ich in diesem Bereich hatte – wenn Probleme dafür das richtige Wort war. Inzwischen wusste ich, dass es in Wellen kam, und obwohl ich dringend mal wieder richtig schlafen musste, sehnte ich mich verzweifelt nach einem weiteren Besuch von ihm heute Nacht. Ich wollte nichts beschwören, also würde ich mich an das Rezept halten, das in letzter Zeit gewirkt hatte, und gegen zehn ins Bett gehen.

Zeit totzuschlagen war zu einem Zwang geworden. Minuten, Wochen … inzwischen Jahre. Ich überlegte, mir etwas zu suchen, das mich für ein paar Stunden beschäftigte. Zum Beispiel den spärlichen Haufen Bügelwäsche, der auf meiner Kommode lag. Ich holte ein paar Bügel aus dem Schrank und fing an, weitere Kleidung hineinzuquetschen. Irgendwie waren wir nie dazu gekommen, einen zweiten Schrank zu kaufen. Ich strich die Kleidung glatt, die ich zusammengedrückt hatte, und musterte die perfekte Ordnung auf Charlies Seite der Kleiderstange. Wie gelangte überhaupt Staub in einen Kleiderschrank? War das irgendein häusliches Phänomen? Ich zog ein paar Sachen für eine nähere Inspektion hervor. Charlies Sommerjackett. Charlies Wintermantel. Charlies Hemd, Charlies Hemd, Charlies Hemd. Ich blies den Staub von den ungeliebten Kleidungsstücken in meinen Armen und versuchte, den Ärger zu unterdrücken, der so kurz vor meiner Insbettgehzeit in mir aufsteigen wollte. Aber er war immer da, lauerte direkt unter der Oberfläche, wartete auf seine Chance zur Flucht.

Ja, Charlie Jefferson. Du hast vieles zu bereuen.

2. KAPITEL

Ich wollte nicht, dass es aufhört.

Es war perfekt. Das perfekte Zusammenspiel zwischen meiner Lust und seiner, die sich pulsierend an meinem hungernden Körper rieb. Ich hatte das so vermisst. Ich hatte es so sehr vermisst. Irgendwo ganz weit weg wusste ich, dass wir gegen die Uhr ankämpften, aber ich schob die Warnung beiseite. Wir waren jetzt hier, und das war alles, was zählte.

Er war gekommen.

Alles in mir, jedes durstige Nervenende sehnte sich verzweifelt nach seiner Berührung. Ich spürte ihn, schmeckte ihn, aber das reichte nicht. Ich brauchte mehr von dieser köstlichen Euphorie. Gänsehaut überlief meinen Körper jedes Mal, wenn sein Atem den dünnen Schweißfilm auf meiner Haut abkühlte, wenn sein erdiger Geruch mir mit jedem köstlichen Stoß entgegenwehte, die Salzigkeit an seinem Hals mich einlud, erneut von ihm zu kosten. Ich wollte das alles in mich aufnehmen, in mich hineinschlingen, was ich kriegen konnte.

Charlie fand seinen Rhythmus, und ich ließ ihn. Die leichte Schweißschicht, die wir einander verursacht hatten, war die einzige Erleichterung in diesem ansonsten verzweifelten Rausch der Ekstase. Es war mir egal. Ich wollte mich von dem Gefühl beherrschen lassen wie von einer unersättlichen Kreatur, die mich verschlang, uns beide auffraß und uns härter ineinanderzwang, bis es keine Grenze mehr zwischen unseren zuckenden Leibern gab.

Ich stemmte mich gegen die Wand hinter mir, um ihm etwas entgegenzusetzen, um der Wucht, mit der er wieder und wieder in mich hineinstieß, standzuhalten. Ich schaffte es, meinen Kopf von ihm wegzudrehen, von der Belohnung, nach der meine Sinne so lechzten, um das Gesicht besser sehen zu können, das meine Welt verändert hatte.

Lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Meine Hände griffen bereits nach oben, um verzweifelte Finger durch sein kurzes Haar zu schieben, zu packen, was ich konnte, und diese dunkle Pracht festzuhalten, bevor ich seinen Kopf nach hinten zog, um in diese fesselnden blauen Augen zu sehen.

Er war so wunderschön, die perfekte Mischung aus hell und dunkel. Von seinem Charakter bis zu seinem Aussehen vereinte er das Beste der beiden Extreme. Seine hellen Augen waren atemberaubend unter dem beinahe schwarzen Kastanienbraun seiner Haare. Je nachdem, wie seine Stimmung war, sah ich in ihnen die Wärme einer Lagune auf den Bahamas oder die Unheil verkündende Eisigkeit eines gefrorenen Sees.

Er drehte den Kopf in meine Richtung. Unwillkürlich stockte mir der Atem bei seinem Blick – Charlie schaute mich nicht an, sondern in mich hinein, direkt in das Versprechen der Belohnung, die ich ihm geben würde. Seine Augen hatten die Farbe von Eiswasser, und ich wusste, dass er im Moment von dunklen Gedanken beherrscht wurde, was ich unglaublich aufregend fand.

Die erste Welle der Wärme baute sich tief in mir auf. Ich schob das Gefühl der Zusammengehörigkeit beiseite, brach den Augenkontakt und konzentrierte mich ganz auf den Moment, in dem meine Lust mich erneut finden würde. Er reagierte sofort auf die Veränderung in meiner Atemlosigkeit. Es war, als könne er den Wandel riechen, der sich durch mich hindurchschlängelte.

Eine weitere Welle baute sich auf … warm zwischen meinen Beinen breitete sie sich langsam nach außen und oben aus, zu meinen Brüsten, meinem Hals, wo Charlies Hände sie jagten. Es war gekommen, um mich für sich zu beanspruchen. Dieser Gedanke überwältigte mich, trug mich auf einem Strudel der Lust davon, reichte, um mich in seine Umklammerung zu stürzen. Jetzt kämpfte ich, um in seinem Rhythmus zu bleiben. Der Gleichklang verschwand, als wir uns dem letzten Akt näherten, dem bittersüßen Crescendo. Ich wollte es mit ihm teilen, wollte, dass er in meinen Augen sah, was er mit mir anstellte, aber Charlie Jefferson kämpfte seinen eigenen Kampf. Seine breiten Schultern spannten sich an, als er erbittert immer härter und fester in mich hineinstieß … Meine Finger lösten sich aus seinem Haar, und ich spürte, wie mein Körper ihm entrissen wurde und ich in meinem eigenen Ozean der Lust versank. Ich wollte in dem Gefühl ertrinken, wieder und wieder und wieder, aber nicht ohne ihn. Er muss auch kommen! Verzweifelt strich ich mit meinen Fingern über seinen Rücken, über die gebräunten Muskeln, die er über die Jahre bei seiner Arbeit im Wald aufgebaut hatte, und endlich ergab ich mich alldem, was er mir anbot.

Das Letzte, das Einzige, was ich neben dem keuchenden Atem hörte, war mein Name auf seinen Lippen.

Holly …

Kalte Erkenntnis.

Der Morgen ist die grausamste Zeit des Tages. Zwischen fünf und acht Uhr erwachen Trauer und Erinnerung zum Leben.

Doch die Grausamkeit ist nicht auf diese Stunden beschränkt. Es wäre schön, wenn das so wäre. Denn dann könnte ich meinen Schlafrhythmus so umstellen, dass ich die tägliche Tortur auslasse. Aber Tatsache ist, dass jeder Teil des Tages genauso schlimm sein kann wie jener erste Moment, wenn man aufwacht und feststellt, dass man im Kampf zwischen Traum und Realität immer auf der falschen Seite endet.

Ich schloss meine Augen fest, bevor sie versuchten, die Uhr auf der Kommode zu finden. Ich vergrub mich tief unter meiner Decke, um die letzten Nachwirkungen meines Traumes zu genießen … Schlaf, Holly … hol ihn zurück. Aber selbst meine Gedanken zogen ihn von mir fort.

Charlie ist zwei Tage nach seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag gestorben. Es ist zweiundzwanzig Monate her, dass ich das letzte Mal seine Berührung gespürt habe, und fünf Minuten, dass ich das letzte Mal seine Stimme hörte.

3. KAPITEL

Die Torte, die unten steht, ist nichts, was sich eine achtzigjährige Lady anschauen sollte. Ich musste sie aus dem Haus und in den Van schaffen, bevor Mrs Hedley, unsere Nachbarin, ihren Kopf aus der Tür stecken konnte.

Ich brauchte nur ein paar Minuten, um mich anzuziehen und mir mit der Bürste durch die Haare zu fahren, bevor ich sie zu einem lockeren Knoten zusammensteckte. Ich mochte unordentliche Dutts. Ich mochte alles, was mit unordentlich begann. Leichter, schneller, fertig. Dave beobachtete mich, als ich vor dem Spiegel auf meiner Kommode ein wenig Puder auftrug, um die Schatten unter meinen Augen zu verstecken. Ich hatte die letzte Nacht genossen, jede einzelne Sekunde, die mir mit Charlie vergönnt war, aber ich sah trotzdem fertig aus.

Ich schlüpfte in ein Paar blaue Ballerinas, sperrte Dave in der Küche ein, schnappte mir die Torte und ging über den Kiesweg zum Auto. Ich sollte keine Jeans tragen, um die Torte bei dem stattlichen Anwesen auszuliefern, aber während ich mich umgezogen hatte, war es draußen bereits dunkel geworden. Mit etwas Glück würde ich nur schnell hinein- und wieder heraushuschen, und meine Kleidung würde keine Rolle spielen. Außerdem lieferte ich außerhalb der Ladenöffnungszeiten aus, und um acht Uhr abends an einem Freitag konnten sie froh sein, dass ich nicht im Schlafanzug erschien.

Die Dunkelheit im Garten machte es etwas leichter, Mrs Hedley aus dem Weg zu gehen, aber auch etwas gefährlicher, die Torte sicher im Laderaum des Vans zu verstauen. Gefahr war überhaupt das Stichwort, wenn es darum ging, Torten auszuliefern. Und ein Van, der ungefähr das Alter meines Vaters hatte, war da keine große Hilfe.

Ich hatte mich gerade angeschnallt, da öffnete Mrs Hedley ihre Haustür und winkte mir über den Hof hinweg zu.

Sobald ich das Fenster auf meiner Seite heruntergelassen hatte, bereute ich es sofort. Man konnte es zwar problemlos herunterkurbeln – aber es wieder zu schließen war der große Trick.

„Ich muss nur kurz noch mal los, Mrs Hedley. Ich bin in einer Stunde oder so wieder zurück, also machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie die Lichter später die Auffahrt wieder hinaufkommen sehen“, rief ich. Als ob sie sich Sorgen machen würde. Wir wohnten sehr abgelegen, aber Mrs Hedley war hier weit und breit das furchteinflößendste Element.

Sie winkte weiter, also fuhr ich los, ganz vorsichtig über den Schotterweg in Richtung Hauptstraße, wobei ich die ganze Zeit mit der klemmenden Fensterkurbel kämpfte.

Sie hat noch nie richtig funktioniert. Normalerweise hatten wir für unsere Fahrten Charlies Truck benutzt, aber irgendwann war klar geworden, dass ich für meine Lieferungen einen extra Wagen benötigte. Eigentlich hatte ich ein Auge auf einen sauberen kleinen Lieferwagen geworfen, aber Charlie meinte, ich bräuchte etwas, das mir hilft, aus der Masse hervorzustechen. Seine unschuldigen blauen Augen hatten mich nur allzu leicht davon überzeugt, dass ein Morris Minor die beste Lösung für mich wäre. Der Morris sah aus wie ein Auto in einem Comic, dunkelrot mit dem Schriftzug CAKE! in goldenen Lettern auf beiden Seiten. Ich muss kurzfristig nicht zurechnungsfähig gewesen sein. Torten brauchen Federung. Eine entscheidende Kleinigkeit, die dieser Wagen nicht besaß.

Nachdem ich mich fünf Minuten lang über Steine und Schlaglöcher manövriert hatte, erreichte ich endlich die glatte Hauptstraße. Nach Hawkeswood Manor Hall ging es immer nur der Straße nach, es war ungefähr eine halbe Stunde Fahrt von meinem Haus, etwas weniger, wenn ich nicht den Umweg um den Wald herum nahm. Was ich tun würde. Ich benutzte diese Straße nicht mehr; nicht, seitdem dort an Bäume gebundene Blumen aufgetaucht waren.

Sobald ich auf der Hauptstraße war, entspannte ich mich, denn hier war es wesentlich leichter, zu fahren. Wenn auch nicht unbedingt schneller. Charlie hatte behauptet, die Tatsache, dass der Van kaum mehr als fünfzig Meilen pro Stunde schaffte, sei eine charmante Eigenart. Aber Charlie hatte ja eine ganze Reihe von albernen Ideen gehabt: zum Beispiel der Wagen hier. Oder einen Hund aufzunehmen, der mehr aß als wir. Oder an seinem freien Tag zur Arbeit zu fahren, obwohl er mit seiner Frau hätte frühstücken sollen.

Ein Auto kam mir entgegen und ermöglichte es mir, kurz nach der Torte zu sehen, als das Licht seiner Scheinwerfer über meinen Wagen glitt. Hier, wo der Wald anfing, immer dichter zu werden, gab es keine Straßenlaternen.

So weit war alles gut. Hawkeswood war noch gute fünfzehn Minuten weg.

Am Anfang der Woche, Jesse und ich hatten gerade mit unserem Montagmorgenritual angefangen, die Jobs für den Tag untereinander aufzuteilen, hatte eine Mrs Ludlow-Burns das Cake betreten.

„Hoden“, verkündete sie knapp von der anderen Seite des Tresens. „Auf einem Teller. Können Sie das?“ Dann hatte sie den Blick aus ihren kühlen grauen Augen erst über die Auslage gleiten lassen, bevor sie Jesses gute eins neunzig einmal von oben bis unten betrachtet hatte. Jesse, breit und athletisch gebaut, überragte die Frau deutlich. Aber trotz der Perlen und des Tweeds war es Mrs Ludlow-Burns gelungen, ziemlich einschüchternd zu wirken. Draußen hatte ein Chauffeur pflichtbewusst neben einem Bentley gestanden, der heller strahlte als die Sonne. „Und sie sollen bitte groß sein“, fügte sie hinzu und hob zwei behandschuhte Hände, um ihre Worte zu unterstreichen.

„Menschliche Hoden?“, war alles, was mir dazu einfiel.

Sie nickte einmal kurz und holte dann einen makellosen Schuhkarton hervor, in dessen Deckel das Wort Dior in Goldbuchstaben eingeprägt war. Darin befand sich ein Paar brandneuer schwarzer Lackleder-Peeptoes, so glänzend und strahlend wie der Bentley.

Jesses Schwester war genauso verrückt nach Schuhen wie meine, und da er wusste, was diese Schuhe vermutlich gekostet hatten, beging er den Fehler, die Kundin zu ihrem Kauf zu beglückwünschen.

„Die gehören nicht mir“, gab sie kurz angebunden zurück. „Ich habe niemals vorne offene Schuhe getragen. Offene Schuhe sind was für Schlampen.“

Eine Torte in Form einer delikaten Region des männlichen Körpers war nicht die verrückteste Anfrage, die wir je bekommen hatten, aber normalerweise waren unsere Kunden nicht so … aggressiv.

Wir wurden angewiesen, einen der Pumps, vor allem den Absatz, direkt in die Hoden zu stecken. Sie sagte, die Torte solle schmerzvoll aussehen. Wie eine Ehe.

Mrs Ludlow-Burns war eine Frau, die gewohnt war, dass Dinge auf bestimmte Weise abliefen, daran bestand kein Zweifel. Selbst für die Lieferung hatte sie genaue Anweisungen gegeben. Die Torte musste um Punkt acht Uhr dreißig in Hawkeswood Hall sein, wo ein Mr Fergal Argyll ihren Empfang persönlich quittieren würde. Nicht ein Mitglied des Personals, sondern Mr Argyll höchstpersönlich. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass Mr Argyll kein sonderlich beliebter Mann war; seine Torte wirkte nicht wirklich feierlich.

Mit einer Hand tastete ich in meiner Tasche nach dem Lieferzettel. Keine Unterschrift von Fergal Argyll würde bedeuten, dass ich die Hälfte des Geldes vergessen konnte – eine Vereinbarung von der Jess meinte, ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Ich hatte ihn daran erinnert, dass der Sommer vorbei war und damit auch die Hochzeitssaison. Momentan konnten wir jede zusätzliche Einnahme gut gebrauchen.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Fergal wird Sie mögen“, hatte Mrs Ludlow-Burns zum Abschied noch verkündet. „Aber ich würde nicht Ihren Freund hier schicken. Den würden sie bei lebendigem Leib auffressen.“

Ich schaute Jess an und fragte mich, was sie meinte. Von den Rastazöpfen bis zu den Turnschuhen in Größe achtundvierzig wirkte er durchaus wie jemand, der auf sich aufpassen konnte.

Aber andererseits würde er in Hawkeswood definitiv fehl am Platz aussehen – genau wie ich.

„Madam … Ihre Schuhe!“, rief ich ihr hinterher, als sie hinausstolzierte.

„Behalten Sie sie“, erwiderte sie kühl. „Die Schlampe wird sich ein Paar neue besorgen müssen.“

Der Van grummelte, als ich erneut versuchte, vom dritten in den vierten Gang zu schalten. Manchmal hakte die Schaltung, und man musste die Kupplung zweimal durchtreten. In meinem Leben gab es keinen Platz für hochhackige Schuhe. Ich hatte in meinen alten Gummistiefeln heiraten wollen, doch Martha hatte mir vehement erklärt, dass ich an diesem einen Tag in meinem Leben traditionell dazu verpflichtet sei, mir mit meinen Schuhen etwas mehr Mühe zu geben. Also tat ich es und kaufte mir ein nagelneues Paar Hunters, die zu Charlies passten. Auf mindestens zwei der Hochzeitsfotos konnte man es um Mums Mundwinkel zucken sehen.

Vor mir erblickte ich nun die Auffahrt nach Hawkeswood Manor. Laternen erleuchteten das große Tor. Normalerweise war das nicht der Fall, heute musste offenbar irgendeine Feier stattfinden. Was passte. Wenn es eine Torte auszuliefern gab, fand meistens eine Feier statt. Ich fuhr langsam um die Kurve, um die empfindliche Sendung hinten im Kofferraum nicht durchzuschütteln. Ich hatte den Dior-Schuh nachgebaut, eine beinahe perfekte Kopie der Peeptoes, die Mrs Ludlow-Burns bei uns im Laden zurückgelassen hatte. Jesse hatte den Hauptteil der Torte gemacht, da er sich mit diesem Körperbereich besser auskannte.

Der Van fing auf einmal an, stark zu vibrieren, und mich packte die Panik. Aber es waren nur Viehgitter auf dem Weg.

Endlich erreichte ich durch zwei einander gegenüberstehende Steinsäulen den Innenhof von Hawkeswood. Die elegante Fassade des gotischen Klosters wurde von den im Rasen eingelassenen Strahlern eindrucksvoll hervorgehoben. Hawkeswood hatte etwas ganz Besonderes an sich, etwas, das mehr war als nur seine Schönheit. Es war nicht das prachtvollste Anwesen, das ich je gesehen hatte, aber es unterschied sich definitiv von anderen imposanten Häusern, in denen ich schon gewesen war. Hier wurde gelebt, und dieses warme Gefühl war etwas, das anderen Veranstaltungsorten fehlte.

Ich parkte am Ende einer Reihe von Autos und holte mein Handy aus der Tasche. Ich hatte noch ein wenig Zeit – es war erst Viertel nach acht –, also versuchte ich, das Fenster wieder hochzukurbeln.

Unter dem überdachten Weg zum Haupteingang war keine Bewegung zu sehen. Nur ein junger Mann, der lässig an der Wand lehnte. Er schaute zu mir hinüber, was reichte, damit ich das Fenster in Ruhe ließ, bis er den Blick wieder abwandte. Ich beobachtete auf meinem Handy, wie die Zeit verging, bis ein roter Fleck im Augenwinkel mich wieder aufschauen ließ.

Die Frau sah aus, als wäre sie direkt der Leinwand entstiegen. Eine nordische Göttin, strahlend vor Eleganz und in einem blutroten Abendkleid, für das Martha töten würde. Sie war umwerfend. Wenn Frauen wie sie hier waren, würde niemand auf meine Kleidung achten; ich hätte genauso gut im Schlafanzug kommen können.

Ihr beinahe weißblondes Haar war im Nacken zu einem Knoten gebunden, der überhaupt nichts Unordentliches an sich hatte. Im Gegenteil, er war perfekt. Sie war perfekt. Sie war sogar so umwerfend, dass es mir schwerfiel, den Blick von ihr zu lösen. Falls es dem Mann am Eingang genauso ging, verbarg er das sehr gut. Die Blonde zündete sich eine Zigarette an und beugte sich zu ihm. Ich beobachtete, wie er leicht zurückwich. Eine kleine Kabbelei unter Liebenden vielleicht? Tja, die gab es überall, selbst bei den Schönen und Reichen, so wie es aussah. Hoffentlich gingen sie wieder rein, bevor ich die Torte an ihnen beiden vorbeischleppen musste.

Acht Uhr zwanzig. Ich würde einfach noch ein paar Minuten hier sitzen und mich um meine Sachen kümmern.

Acht Uhr dreiundzwanzig – und sie waren immer noch da; sie immer noch zu ihm hingezogen, er immer noch widerstrebend.

Ein absurd lautes und rigoroses Klingeln durchriss die Stille im Innenhof. Ich zuckte zusammen, und die Köpfe des Traumpaares wirbelten herum, um zu der Quelle des Lärms zu schauen … der aus meinem offenen Fenster plärrte. „Verdammt, Martha“, zischte ich und versuchte hektisch, den richtigen Knopf oder überhaupt irgendeinen Knopf zu drücken, um den Lärm auszuschalten.

„Hallo?“

„Hol, wo bist du? Ich rufe dich schon die ganze Zeit an“, sagte sie mit Erleichterung in der Stimme.

„Ich arbeite, Martha. Was ist los?“ Ich schaute zu dem Pärchen vor dem Eingang. Die Göttin warf ihre Zigarette auf den Boden und stöckelte ins Haus zurück. Der Freund blieb noch draußen.

„Nichts. Ich habe mir nur Sorgen gemacht, weil du nicht zu Hause warst.“

„Ich bin nicht immer zu Hause, Martha. Ich habe auch noch andere Dinge, die meinen Tag ausfüllen, weißt du?“ Wir wussten beide, dass das nicht so ganz stimmte. „Hör mal, ich rufe dich zurück, wenn ich wieder zu Hause bin. So in ungefähr einer Stunde? Und flipp nicht vor zehn Uhr aus, okay?“

„Okay“, sagte sie, und ich fühlte mich bereits schuldig.

„Okay. Hab dich lieb.“

„Ich dich auch. Bye.“

Sie legte auf, und glücklicherweise war der Mann jetzt auch verschwunden.

Die Flügeltüren zur Eingangshalle standen offen und hießen einen in dem großen Gebäude mit den vertäfelten Wänden und der geschwungenen Treppe, die sich mindestens über zwei Etagen erstreckte, willkommen. Eine attraktive Brünette um die fünfzig kam lächelnd auf mich zu. Ihre makellose weiße Bluse und der schwarze Bleistiftrock ließen mich vermuten, dass sie zum Personal gehörte.

„Hallo. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.

„Hi. Ja. Ich habe eine Lieferung für Mr Argyll.“

Ich stieg aus und ging zum Kofferraum. Die Torte war zu hoch, um den Deckel des Kartons zu schließen, und das Lächeln der Frau schwand, als sie die Torte sah.

„Oh!“, rief sie aus. „Und für welchen Mr Argyll soll diese Sendung sein?“

„Ich wurde angewiesen, sie genau um zwanzig Uhr dreißig an Mr Fergal Argyll auszuliefern“, sagte ich lächelnd.

Die Brünette nickte. „Nun, Mr Argyll ist im Spielzimmer, einfach durch die Flügeltür am Ende des Flurs. Lassen Sie mich Ihnen Ihre Tasche abnehmen, meine Liebe, Sie haben genug zu tragen.“

Ich war nicht sicher, warum ich die Tasche überhaupt mitgenommen hatte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand hier ihretwegen in meinen Van einbrechen würde.

„Danke. Ich muss nur kurz den Lieferzettel herausholen.“ Ich wühlte in der Handtasche.

„Oh, den kann ich für Sie unterzeichnen“, bot sie an.

„Danke, nett von Ihnen, aber Mr Argyll muss den Empfang persönlich quittieren.“

Der Flur war lang, was mir genügend Zeit gab, darüber nachzudenken, wie ich die schwere Flügeltür öffnen sollte, sobald ich dort angekommen war. Ein nervös aussehender Gentleman in einem langweiligen Anzug kam durch eine der Türen und trat schnell auf den Flur hinaus.

„Könnten Sie mir bitte die Tür aufhalten?“, fragte ich, bevor er verschwinden konnte. Der Gentleman gehorchte und ermöglichte es mir so, mit meiner Torte in den Armen ungehindert den Raum voller Stimmen auf der anderen Seite zu betreten.

„Viel Glück“, erklärte er in bestem Oxford-Englisch, als die Tür sich zwischen uns schloss.

Ich schaute mich um. Der Raum war so ziemlich das Beeindruckendste, was ich je gesehen hatte. Reich verzierte Seidentapeten und Wandteppiche, die sich effektvoll von dem dunklen Holz der Wandpaneele abhoben. Am anderen Ende des Raums nahm ein großer Kamin beinahe die ganze Wand ein, ihm gegenüber befand sich eine Reihe von gut gefüllten Bücherregalen. Es war eine Kombination aus Bibliothek und Spielzimmer, und es roch genauso, wie es aussah: gemütlich und alt und lebendig. Charlie wäre in so einem Zimmer ausgeflippt.

Keiner der zwanzig oder dreißig Männer – die meisten von ihnen formell gekleidet – schaute von seinem Kartenspiel auf, als ich die Torte auf die nächste freie Oberfläche stellte. Gelächter umfing mich zusammen mit Zigarrenrauch und genereller Fröhlichkeit. Das hier war definitiv ein Männerclub; kein Platz für Mädchen.

Wer von ihnen ist Fergal Argyll? fragte ich mich und ließ meinen Blick über den Raum gleiten, um ein Gesicht zu finden, das zu der Torte passte. Hinten am Kamin weckte ein signalroter Farbfleck inmitten von all diesem Schwarz und Weiß erneut meine Aufmerksamkeit. Die Anwesenheit der Göttin ließ mich sofort ruhiger werden. Ich schaute sie durch den Rauch und das Lachen hindurch an, und sie lächelte das verschwörerische Lächeln, das Frauen füreinander reserviert haben. Dann hob sie ihr Kinn und wandte den Blick ab, und einfach so war ich auf mich allein gestellt. Ich sah zu, wie sie an ihren Bewunderern entlangschritt und auf den lautesten Mann im Raum zuging.

Er rief seinen Mitspielern mit rauer Stimme etwas zu und erhob sich, als die Göttin sich seinem Tisch näherte.

„Obacht, Männer, hier kommt mein Glücksbringer“, erklärte er mit schottischem Akzent. Seine Hände ruhten auf ihrem Rücken. Er sah gut aus mit seinem Jackett und dem Kilt, und er passte zu seiner Umgebung. Ich schätzte ihn auf fünfzig, obwohl etwas an ihm ihn sowohl jünger als auch älter wirken ließ.

Die Eiskönigin bedachte ihn mit einem Lächeln und schaute dann zu mir. Er folgte ihrem Blick.

„Was haben wir denn da?“, fragte er. „Ein weiteres Geschenk vom Drachen womöglich?“

Das war er. Das musste er einfach sein. „Mr Argyll?“, fragte ich. „Zu Ihren Diensten, meine Süße. Was kann ich für Sie tun?“

Sein grau werdender, akkurat gestutzter Bart verlieh ihm das Aussehen eines Gutsherren, während sein dunkleres Haar, das ihm über die Augen fiel, ihn ein wenig wie einen Hinterhofboxer aussehen ließ.

„Ich habe eine Lieferung für Sie. Würden Sie hier bitte unterschreiben?“

Argyll kam zu mir herüber und schaute die Torte an. Sein dröhnendes Lachen ließ mich zum zweiten Mal an diesem Abend zusammenzucken.

„Ich schätze, das ist zur Feier meiner unterschriebenen Scheidungspapiere?“, fragte er, und seine dunklen Augen leuchteten zufrieden auf. „Das muss ich ihr lassen“, sagte er, „erfinderisch ist sie, die gute Frau. Seht euch das mal an, Männer“, meinte er und nahm die Torte aus dem Karton, um sie seinen Freunden zu zeigen. „Sie hat mir immer gesagt, dass ich nicht wegen der Größe meines Gehirns, sondern wegen der Größe meiner Eier so weit gekommen bin.“

Er wandte sich von seinen Gästen ab und ließ seinen Blick auf mir ruhen. Er war ein attraktiver, beinahe extravaganter Mann und roch nach einer schwindelig machenden Mischung aus Zigarrenrauch und Brandy.

„Sie, kleine Miss, haben die Größe ziemlich genau getroffen.“ Er grinste und betrachtete die Hoden in seiner Hand.

„Freut mich, dass sie Ihnen gefallen, Mr Argyll. Würden Sie den Empfang bitte hier quittieren?“

Er stellte die Torte auf den Tisch neben uns zurück, und ich hielt ihm meinen Stift hin. Er hatte mich immer noch nicht aus den Augen gelassen.

„Sie sehen nicht überzeugt aus, Darling. Hier … lassen Sie es mich beweisen.“ Ich sah, wie er seinen Kopf zur Seite neigte, und lächelte, bevor ich erfasste, was als Nächstes kommen würde. Die Eiskönigin verschwand aus meinem Blickfeld, als Argylls Kilt zwischen uns hochgehoben wurde. Sein Bart war nicht das Einzige, das grau wurde. Meine Augen schossen nach oben, konzentrierten sich auf seine riesigen Hände. Er hatte Arbeiterhände, Jahre harter Schufterei hatten sich in seine Knöchel eingegraben, genau wie bei Charlie und meinem Dad.

Es war an der Zeit, zu gehen.

Ich ließ den Lieferschein neben der Torte liegen und drehte mich ganz ruhig zur Tür um. So dringend brauchte ich Mrs Ludlow-Hodenbohrers Geld nun auch nicht. Jesse würde sich damit abfinden müssen.

Der Freund der Eiskönigin stand neben der Tür und sah zu. Sein Blick folgte mir, als ich den Raum in seine Richtung durchquerte. Ich war nicht peinlich genug berührt, um zu erröten, bis ich bemerkte, dass er mich eindringlich musterte. Es war kein Wunder, dass Fergal Argyll so selbstsicher war – seinem Sohn nach zu urteilen hatten sich die Frauen in seiner Jugend garantiert um ihn gerissen.

Ein schottischer Akzent folgte mir durch die Tür, schlüpfte aus dem Mund voller Kuchen, den Argyll in sich hineinstopfte. „Kein Wunder, dass die Ladys mich lieben, Männer. Ich wusste ja gar nicht, dass ich so gut schmecke!“ Ich lächelte verkrampft. Gleich war ich draußen.

Charlie hätte sich darüber totgelacht. Er hatte Männer wie Argyll gemocht, Haudegen mit großer Persönlichkeit.

Die Eingangshalle war verlassen, als ich dort ankam. Ich hätte meine Tasche einfach im Auto lassen sollen. Ich schaute um die Treppe herum, lauschte auf ein Anzeichen von Leben. Nichts. Hinter mir wurden die Türen des Spielzimmers geöffnet und geschlossen. Ich schaute nicht auf, nicht einmal als schwere, sichere Schritte immer näher kamen.

Die zarteren Schritte von Frauenfüßen näherten sich von der anderen Seite.

„Haben Sie ihn gefunden?“, fragte sie. Man musste diese Art von Angestellten einfach lieben – sie waren so effizient.

„Hallo. Ja, danke. Könnte ich dann bitte meine Tasche wiederhaben?“

„Ah, natürlich. Nur eine Minute, meine Liebe.“ Damit verschwand die freundliche Frau wieder.

Argyll junior war lässig durch die Eingangshalle geschlendert und lehnte jetzt an einer der dekorativen Säulen am Fuß der Treppe. Er trug einen gut geschnittenen grauen Anzug, sein eisweißes Hemd stand am Kragen offen. Er sah gut aus, nicht so förmlich wie sein Vater, jedoch genauso von sich überzeugt.

Ich versuchte, nicht herumzuzappeln, während ich auf meine Tasche wartete.

„So spät noch bei der Arbeit?“ Er war höflich. Das hätte ich nicht erwartet.

„Ja.“ Ich lächelte, wohl wissend, dass mein Lächeln meine Augen nicht ganz erreichte. Ich senkte den Blick auf die reich verzierten Bodenfliesen.

„Es tut mir leid, wenn Fergal Sie verlegen gemacht hat“, sagte er mit einer weichen, sicheren Stimme, in der nur ein Hauch des keltischen Akzents mitschwang. Ich lächelte erneut. Früher hatte mich anhaltendes Schweigen unsicher gemacht, aber inzwischen hatte ich es so oft erlebt, dass ich nicht mehr den Drang verspürte, es zu füllen, wie so viele andere.

„Er würde alles für einen guten Kuchen tun“, spottete er, und seine Augen verengten sich ein wenig.

„Er hat es nicht böse gemeint“, erwiderte ich und schaute zu der Tür, hinter der die Frau verschwunden war.

„Da haben Sie recht – das hat er nicht“, sagte er und zog damit meinen Blick wieder auf sich. Sein Haar war oben etwas länger als das seines Vaters, fiel ihm aber auf fast genau die gleiche Weise in die Stirn.

Hier draußen, ohne den Zigarrenqualm, gab es nichts, was mit dem Holzduft der Wandpaneele, der Zubereitung schmackhafter Speisen irgendwo im Haus und dem subtilen Aftershave des höflicheren der beiden Argyll-Männer konkurrieren konnte. Dieses Aftershave roch nicht wie die Flasche, die ich an Heiligabend immer unter Charlies Kopfkissen geschoben hatte. Nein, es hatte etwas Herb-Süßes an sich, der feine Unterschied zwischen Blumen und Beeren.

„Übrigens eine nette Torte“, bemühte er sich erneut um eine höfliche Unterhaltung. „So eine habe ich noch nie vorher gesehen.“ Jetzt lächelte er – es war ein gutes Lächeln, erreichte seine Augen aber auch nicht.

„Ciaran, dein Vater ist so weit“, schnurrte die Eiskönigin und glitt durch den Flur auf uns zu. Dieses Mal hatte ich das Öffnen und Schließen der Tür nicht gehört. Aus der Nähe sah ich, dass die Augen der Eiskönigin durch den rauchgrauen Lidschatten noch kühler wirkten.

„Hier ist Ihre Tasche, meine Liebe.“ Die freundliche Frau kehrte zurück.

„Danke … Und einen schönen Abend noch.“ Ich lächelte und nahm ihr meine Handtasche ab.

„Ihnen auch“, rief Ciaran Argyll mir hinterher, als ich in die kühle Nachtluft hinaustrat.

Ich warf einen Blick über meine Schulter zurück zu dem perfekten Paar und schenkte ihm ein bestätigendes Lächeln.

Die Eiskönigin reagierte, indem sie demonstrativ näher zu ihm trat, um ihr Territorium zu markieren.

4. KAPITEL

Ich spürte das beißend kalte Wasser um mich herum nicht, nur den Drang, immer weiter hinauszuschwimmen. Er war da – das wusste ich – und wartete darauf, dass ich ihn fand. Ihn nach Hause brachte.

Hinter mir auf dem Steg hing der Rettungsring untätig an einem Holzpfosten. Warum hatte ich ihn nicht mitgenommen? Ein leichtes Unbehagen tief in meiner Brust versuchte, sich an mir festzuklammern.

„Komm schon, Hol! Komm rüber, hier ist es wärmer!“ Charlie lachte, Wasser spritzte in sein Gesicht. Das Unbehagen verschwand.

„Ich komme! Halte durch!“ Ich lachte auch und versuchte, nicht zu prusten. Es war nicht leicht, gleichzeitig zu schwimmen und zu lachen, aber Charlie schaffte es.

Über das Wasser hinweg, das in meine Ohren und wieder herausrann, fand eine andere Stimme ihren Weg zu mir.

„Holly! Holly, komm zurück!“ Martha stand mit Dave auf dem Steg. Sie hatte den Rettungsring in den Stausee geworfen, doch er tanzte nur nutzlos auf den Wellen. Ich hob meine Hände über den Kopf und winkte ihr.

„Ist schon okay, Martha! Wir schwimmen nur! Sieh doch, ich habe ihn gefunden! Ich habe Charlie gefunden!“ Ich drehte mich um, um zu sehen, ob Charlie noch auf mich wartete, aber er war jetzt doppelt so weit von mir entfernt. Und lachte immer noch.

„Charlie! Warte!“, rief ich. Das Unbehagen nistete sich wieder ein.

„Holly!“ Martha klang beunruhigt. Sieht sie es denn nicht? Ich bin bei Charlie.

„Charlie? Charlie?“ Das Unbehagen wurde schwerer, es lag wie Blei auf meiner Brust. „Ich kann dich nicht mehr sehen. Ich sehe dich nicht mehr, Charlie!“

„Holly?“, rief Martha, aber ich schwamm immer weiter von ihr fort.

„Komm schon, Hol“, forderte Charlie mich heraus. „Hol mich ein!“

Ich hatte ihn wiedergefunden, aber er war noch weiter weg.

„Warte auf mich, Charlie. Du bist zu schnell!“, rief ich ihm zu, aber er schwamm trotzdem weiter. Warum lässt er mir keine Chance?

Marthas Stimme kam näher.

„Holly? Holly?“

Streng dich an, Holly. Du kannst es schaffen.

„Holly? Holly, Liebes, wach auf.“

Martha schüttelte mich sanft. Sorge hatte sich in ihren Blick gegraben. Mein Herz hämmerte immer noch, es hatte den Schwindel noch nicht erkannt.

„Ich bin wach“, flüsterte ich. Bitte geh jetzt. Ich könnte ihn immer noch einholen. Er war noch da, in Reichweite. Ich war noch nicht bereit, ihn aufzugeben. Noch nicht bereit, den Tag zu beginnen.

„Geht es dir gut, Liebes?“

Ich spürte bereits, wie er mir entglitt. Jetzt würde ich ihn nie zurückbekommen.

Dass ich träumte, wunderte mich nicht. Es wurde langsam wieder Zeit. Aber warum ausgerechnet solche Dinge? Warum wieder diese schrecklichen Bilder, die mich im letzten Jahr gequält hatten?

Damals hatte ich aufgehört, mit den Mädels zu trinken. Damit ich meine Wochenenden nicht damit verbrachte, mittags tränenüberströmt aufzuwachen und dann gleich weiter zu weinen. Es ist schwer genug, ein schmerzendes Herz zu pflegen; ein schmerzender Kopf ist da nicht hilfreich.

Du musst lächeln. Sonst machst du Martha traurig. Sei dankbar.

„Hol? Hattest du einen Albtraum?“

Ich gab die Hoffnung auf, dass sie jetzt gehen würde. Wahrscheinlich würde sie für immer auf dem Steg stehen bleiben.

Anstelle meiner selbst auferlegten Abstinenz von den Mädelsabenden hatte Martha auf einer abgemilderten Version bestanden. In den zwei Jahren seit dem Unfall widmete sie ihre Samstagabende ganz dem emotionalen Wohl ihrer jüngeren Schwester. Sie erkannte nicht, dass hier zu sein, mit ihr und Rob zu essen, in ihrem Gästezimmer zu schlafen meine Einsamkeit nicht milderte. Nein, es machte sie nur noch greifbarer.

„Hey. Nein, mir geht es gut.“ Ich verpackte die Lüge in ein Lächeln. Es funktionierte, und sie lächelte zurück. Mir gefiel Martha mit ihrem zerzausten Morgenlook. Bevor sie sich für den Tag schminkte und ihr Haar tadellos frisierte, sah sie wunderschön aus. Aber es war sinnlos, ihr das zu sagen. Ich hatte gehört, wie Dad es versuchte, wenn Mum nicht in Hörweite war. Überflüssige Mühe hatte er es genannt.

Wirklich, Martha musste sich mit ihrem Aussehen keine Mühe geben. Sie hatte all die guten Sachen abbekommen. Auch ohne ihre hohen Schuhe war sie ein ganzes Stück größer als ich mit meinen eins siebenundsechzig. Ihre Augen waren von einem klaren Braun, und sie hatte das schimmernde blonde Haar von unserer Mutter geerbt. Ich hingegen kam mehr nach unserem zauberhaften Dad – weniger schimmernd, weniger blond, mit Augen, die sich nie ganz für eine Farbnuance entscheiden konnten.

Aber trotz unserer Unterschiede und der Dinge, die ich vor ihr verheimlichte, standen wir uns sehr nahe.

Martha war eine gute Schwester, die beste sogar. Aber jeden Samstag hier zu bleiben sorgte ehrlich gesagt mehr für ihr emotionales Wohlbefinden als für meines. Sie brauchte das Gefühl, mir etwas Gutes zu tun, und ich liebte sie genug, um jede Woche brav mitzuspielen. Es war das Mindeste, was ich für sie tun konnte, denn immerhin hatte sie Charlie auch verloren.

„Rob macht gerade Frühstück“, zwitscherte sie. „Er holt die ganzen großen Geschosse raus. Ein English Breakfast mit allem Drum und Dran.“ Ich war kein großer Frühstücker, aber Martha war fest entschlossen, sich um mich zu kümmern. Es waren nur noch wenige Wochen, bis sie ihr erstes Kind zur Welt bringen würde, und sosehr ich mich für sie freute, kam ich doch nicht umhin, zu denken, dass meine zukünftige Nichte oder mein Neffe eine willkommene Ablenkung darstellen würde. Vielleicht könnte ich dann wieder frühstücklose Sonntagmorgen in meinem eigenen Haus verbringen.

„Klar, gerne.“

Unten am Frühstückstisch hatte Rob in seinen Anstrengungen, mich aufzupäppeln, keine Mühen gescheut. Er häufte gerade einen enormen Haufen Rühreier auf einen Teller, als ich an ihm vorbei zur Kaffeemaschine ging.

„Guten Morgen, Schönheit“, sagte er und kümmerte sich schnell um die nächste brodelnde Pfanne. „Bohnen oder Tomaten? Oder beides? Ich nehme beides.“

„Nimmst du nicht. Du hast bereits genug auf deinem Teller“, warnte Martha ihn.

Rob beugte sich zu mir vor und flüsterte: „Da hat sie recht.“

Ich unterdrückte ein Lächeln, während Martha ihn finster anschaute.

„Was? Ich bin ein Mann im Wachstum. Ich brauche meine Energie“, protestierte er.

„Rob, wir passen bald nicht mehr gemeinsam ins Bett, wenn du so weitermachst.“

Rob schaute seine wunderschöne, rundliche Frau an und warf mir dann einen verschwörerischen Blick zu.

„Sorry, mein Schatz. Ich sag dir was: Nächsten Sonntag esse ich dafür nur eine Grapefruit. Hol wird mich daran erinnern, nicht wahr, Hol?“

„Auf jeden Fall.“ Ich grinste in meine Tasse. Martha machte guten Kaffee. „Hat noch irgendjemand heute Kopfschmerzen?“, fragte ich und setzte mich, um die turmhohe Portion anzuschauen, die an meinem Platz auf mich wartete. Es roch ehrlich gesagt köstlich.

„Nur von Robs Schnarchen. Ihr zwei seid die Einzigen, die gestern Abend getrunken haben.“

„Ach, das war dein Schnarchen, Rob?“, sagte ich und biss in eine Scheibe Toast. „Ich dachte, jemand hätte draußen seine Harley gestartet.“

Martha lächelte über den Rand ihres Sunday Journal.

„Willst du eine Kopfschmerztablette?“, fragte sie und legte bereits die Zeitung nieder. Es war sinnlos, sie aufhalten zu wollen; sie würde erst Ruhe geben, wenn ich ein paar Schmerztabletten genommen hatte. „Hast du letzte Nacht nicht gut geschlafen?“

„Nein, ich habe prima geschlafen.“ Erinnerungen an meinen Traum schossen mir durch den Kopf. Unwillkürlich fragte ich mich, was Martha wohl in der Nacht gehört hatte, während Rob neben ihr schnarchte. Thema wechseln. „Im Laden war diese Woche die Hölle los. Ich bin vermutlich einfach nur ein wenig angespannt. Du weißt ja, wie das ist – sobald man innehält, bricht alles über einem zusammen.“ Das war einer der Gründe, warum ich mich stets beschäftigt hielt.

„Ja, Martha ist beinahe durchgedreht, als sie dich Freitagabend nicht erreichen konnte. Wie kommt’s, dass du so spät noch arbeiten musstest?“, fragte Rob, während er sich ein Würstchen in den Mund steckte. Es war schwer, Rob anzusehen und nicht zu lächeln. Er erinnerte mich auf gewisse Weise an Dave; ein wenig zu mollig vielleicht, aber zutiefst loyal und unglaublich verlässlich. Sie waren die sanften Riesen in meinem Leben, aber während Martha ihrem Gatten gegenüber tolerant war, erstreckte sich dieses Gefühl nicht auf Dave. Ich schätze, Rob sabberte nicht so viel wie der Hund.

„Ich musste eine Torte für den Gentlemen’s Evening auf Hawkeswood liefern.“

„Ach echt?“, murmelte Rob, und eine Gabel voll Rösti wurde ihrem Untergang zugeführt.

„Ich benutze den Begriff Gentleman sehr locker. Dave hat bessere Manieren.“

„Hawkeswood gehört doch jetzt diesem Immobilientycoon, oder, Martha?“ Martha hatte es sich wieder hinter ihrer Zeitung gemütlich gemacht. „Hm?“

„Hawkeswood. Warst du da vor ein paar Jahren mit Parry & Fitch nicht auch mal zugange?“

Martha liebte es, über ihre Arbeit zu sprechen. Es war eine Schande, dass Parry & Fitch Interiors, der Inneneinrichter, für den sie gearbeitet hatte, Personal entlassen musste. Doch der Wohnungsmarkt in England war über die letzten Jahre immer mehr eingebrochen, was die meisten Menschen, die wir kannten, auf die eine oder andere Art getroffen hatte.

„Oh wirklich, Martha? Was hast du da gemacht? Ich bin nur bis zum Spielzimmer vorgedrungen, und das war ziemlich beeindruckend.“

Martha hatte ihren Job freiwillig aufgegeben und war mit Leichtigkeit in ihre Rolle als gute Hausfrau geschlüpft. Aber dass ihr seitdem so viel Freizeit zur Verfügung stand, bedeutete auch, dass sie ihre Anstrengungen, mein Haus zu dekorieren, verdoppelt hatte.

Autor