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Wintertee im kleinen Strickladen in den Highlands

Als Buch hier erhältlich:

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Winter in den Highlands zwischen Wollsocken und Kräutertee

Chloe liebt das Leben in der Natur am Loch Lomond. Hier hat sie ihre Leidenschaft für Kräuter und Teemischungen entdeckt. Doch für ihren Job als Psychologin und ihren Freund Scott pendelt sie nach Glasgow. Sie weiß, dass sie eine Entscheidung treffen muss, denn dieses Leben zwischen den Welten macht sie nicht glücklich. Als sie sich auf die Reise zu ihrer Großmutter macht, um ihr nach dem Tod des Großvaters beizustehen, scheint ihre Zukunft mit jedem Tag ein wenig klarer vor ihr zu liegen. Auch wenn der Weg in diese Zukunft so verschlungen ist wie die Maschen, die Chloe als Strickanfängerin auf den Nadeln zu halten versucht, nimmt sie die Herausforderungen an und wagt etwas Neues.

Mit kreativen Strickanleitungen


  • Erscheinungstag: 27.10.2020
  • Aus der Serie: Der Kleine Strickladen
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675833
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle Heldinnen,
die das Leben auch in stürmischen Zeiten umarmen.

Und für jene, die noch auf der Suche sind nach dieser Kraft.

Und ganz besonders für meine wunderbare Freundin Kerstin, die für mich immer meine Emma bleiben wird.

Kapitel 1
Chloe

Chloe schlug die Augen auf, griff tastend zur Seite und drückte auf den Schalter an der Wand. Gleich darauf tauchte der Schein der Nachttischlampe den Raum in warmes Licht.

Die Luft im Zimmer war eisig und Chloe genoss es, sich noch einen Moment unter die Decke zu kuscheln. Während die letzten Schlafschleier von ihr abfielen, ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern. Am Schlafzimmerfenster entdeckte sie Eisblumen, die wie ein zartes Gespinst vom Rahmen aus in die Scheibenmitte wuchsen. Elisabeth hatte also wirklich recht behalten, in der Nacht hatte es den ersten Frost gegeben.

Sie hatten sich über das Wetter und den bevorstehenden Umschwung unterhalten, als Elisabeth am Vortag bei Chloe hereingeschaut hatte, um Tee und Rosenseife zu kaufen.

Für einen kurzen Moment schloss Chloe noch einmal die Augen und tauchte in die Erinnerung an die gestrige Szene ein.

»Mein Knie tut weh«, erklärte Elisabeth und rieb sich die schmerzende Stelle. »Als ich eben einen Kranz auf Bobs Grab gelegt habe, kam ich fast nicht mehr in die Höhe. Ich versichere dir, diese Knieschmerzen sind ein untrügliches Zeichen für einen Wetterumschwung. Glaub der Erfahrung einer alten Frau, Chloe, der sonnige warme Herbst ist dieses Jahr früh vorbei, in den nächsten Tagen wird es kalt und wechselhaft.«

Als hätte die Kälte sie bereits erreicht, zog sie ihren Seelenwärmer ein wenig enger um die Schultern. Chloe bewunderte diese wunderschöne gestrickte Jacke mit den unterschiedlich breiten Zöpfen sehr. Irgendwann würde sie auch so etwas Besonderes stricken. Jetzt, nachdem Maighread sie überredet hatte, es zu lernen, war auch ihr Ehrgeiz geweckt. Allerdings war der Weg bis dahin noch weit, im Moment war Chloe froh, wenn sie es schaffte, die Maschen alle auf den Nadeln zu halten. Maighread musste ständig als Retterin agieren. Mit welcher Leichtigkeit ihre Freundin es schaffte, weggerutschte Maschen sogar über mehrere Reihen im Handumdrehen wieder nach oben zu holen, grenzte für Chloe an Zauberei.

Bevor Chloe sich in ihren Gedanken verlieren konnte, zeigte Elisabeth auf das Regal und sagte: »Gib mir bitte noch ein großes Glas von deinem Heidelbeergelee. Ich weiß nicht, wie du das anstellst, aber es schmeckt einfach köstlich. Es hat so eine besondere Note – ganz außergewöhnlich. Eilidh kommt nachher zum Tee und dein Gelee passt hervorragend zu Scones und Clotted Cream. Es gibt schließlich kein Gesetz, das vorschreibt, dass es immer Erdbeermarmelade sein muss.«

Sie zwinkerte ihr zu und zwischen den unzähligen Runzeln entdeckte Chloe die junge unbeschwerte Frau, die Elisabeth einst gewesen war. Es war unbeschreiblich schön, die Lebensfreude in ihren Augen blitzen zu sehen.

Elisabeth und Eilidh, die Haushälterin und gute Seele von Callwell Castle, waren ein unschlagbares Team, wenn es um die besten Backrezepte ging. Umso stolzer war Chloe, dieses Lob zu bekommen.

»Wenn mein Heidelbeergelee es gegen die Tradition schafft, dich zu überzeugen, dann nehme ich das als großes Kompliment. Danke schön! Vermutlich sind es die Gewürze, die dich so begeistern. Nur Zucker und Beeren zu verarbeiten ist mir zu beliebig. Ich koche immer etwas frischen geriebenen Ingwer mit, der hebt das Heidelbeeraroma. Und der gemahlene Koriander gibt dem Gelee zusätzliche Aromentiefe«, antwortete sie und freute sich sehr über die Anerkennung. Dann nickte sie bedauernd in Richtung von Elisabeths Knie. »Keine Chance, dass dein Knie sich irrt?«, fragte sie.

Immerhin war es erst Mitte Oktober, die Kälte durfte sich gern noch etwas Zeit lassen. Doch Elisabeth schüttelte vehement den Kopf.

»Meine Knochen irren sich nicht. Sag es bitte bloß nicht Maighread, sonst macht sie sich gleich wieder viel zu viele Sorgen, aber das Knie plagt mich seit gestern. So wie das zieht, können wir froh sein, wenn es nicht anfängt zu schneien.«

»Schade.« Chloe zog eine Schnute.

Aber auch wenn der Himmel sich gerade noch tiefblau über den Loch Lomond spannte und der Wind die verbliebenen Blätter an den Ästen nur sanft hin und her wiegte, war ihr klar, dass sie sich vom goldenen Herbst verabschieden musste. Wenn Elisabeth so sicher war, gab es leider keinen Zweifel. Elisabeth steckte mit ihrer Treffsicherheit bei den Vorhersagen jeden Wetterfrosch locker in die Tasche, das wussten alle Bewohner Callwells. Es tat Chloe nur leid, dass sie sich wegen des Wetterwechsels so plagen musste.

Vielleicht konnte sie ihr etwas Erleichterung verschaffen. Chloe überlegte kurz, drehte sich zum Regal um und nahm ein Döschen mit ihrer Rosmarin-Rosen-Salbe. Das drückte sie Elisabeth in die Hand.

»Hier, nimm das. Zweimal täglich einreiben, es wird dir guttun. Und wenn es in ein paar Tagen immer noch schmerzt, gehst du zum Arzt und sagst es auch Maighread. Versprochen?« Sie sah Elisabeth streng an, und erst nachdem sie nachgegeben und mit mürrisch aufeinandergepressten Lippen genickt hatte, sprach Chloe weiter. »Wirklich schade«, bekräftigte sie noch einmal. »Von mir aus hätte das Wetter gern noch ein bisschen so angenehm bleiben können. Ich wollte noch ein paar Touren machen und meine Vorräte aufstocken.«

Einen Moment dachte sie mit Wehmut an die vielen Beeren, die letzten Pilze und Kräuter, die nun vermutlich der Kälte zum Opfer fallen würden, bevor Chloe sie sammeln konnte. Doch dann gewann ihr Optimismus wieder die Oberhand. Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. »Was soll’s, dann machen wir es uns vor dem Kamin gemütlich, trinken Tee und kuscheln uns warm ein.«

»Du bist vielleicht ein Witzbold«, sagte Elisabeth und lachte. »Als ob wir einen Grund bräuchten, um Tee zu trinken.«

Chloe stimmte in Elisabeths Lachen ein. Sie plauderten noch ein wenig über die Neuigkeiten aus dem Dorfleben und über ihre Gärten, die nun langsam in den Winterschlaf fielen. Es war ein hervorragendes Gartenjahr gewesen. Elisabeth hatte ein besonderes Händchen für Rosen und viel Erfahrung im biologischen Gärtnern. Sie hatte Chloe dazu geraten, den Boden mit Pferdemist anzureichern. Und Chloe hatte für Elisabeths Gießwasser eine stärkende Bachblütenmischung zusammengestellt, mit der sie selbst beste Erfahrungen gemacht hatte. Beides zusammen hatte die perfekte Kräftigung ergeben. So eine reiche Ernte an Rosenblütenblättern wie in diesem Jahr hatte Chloe noch nie gehabt. Sie freute sich schon darauf, auch im nächsten Jahr wieder von Elisabeths Erfahrung lernen zu dürfen.

Doch auch abgesehen vom Rat der älteren Dame machte es Chloe immer Freude, Elisabeth zu sehen. Sie war so etwas wie ein Großmutterersatz für sie. Chloes eigene Großmutter mütterlicherseits lebte längst nicht mehr und zu ihrer anderen Granny hatte sie seit Jahren wenig Kontakt. Granny Gwendolyn lebte mit Grandpa Padrig in Aberystwyth, in Wales. Sie schickten sich die obligatorischen Weihnachtsgrüße und Geburtstagskarten. Wenn es hochkam, telefonierten sie zweimal im Jahr und versicherten einander gegenseitig, dass es ihnen gut ging. Das war es dann auch schon. Chloe hatte sich schon längst vorgenommen, endlich wieder einmal nach Wales zu fahren, um ihre Großeltern zu besuchen, aber immer war etwas dazwischengekommen, und sie hatte ihre Reisepläne ein ums andere Mal aufgeschoben.

Nach einer Weile angeregten Plauderns verabschiedete Elisabeth sich fröhlich winkend. Sie bedankte sich bestimmt zum zehnten Mal für die Salbe und zog die Haustür hinter sich zu.

Chloe sah ihr durch das Küchenfenster hinterher. Seit Elisabeth nach ihrem Schlaganfall vor fast einem Jahr wieder sicher gehen konnte, liebte sie es, kleine Spaziergänge zu unternehmen und dabei ihre alltäglichen Besorgungen im Ort selbst zu erledigen. Es war ihr wichtig, ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Außerdem brauchte sie Bewegung. »Faulenzen macht träge«, sagte sie immer. Dabei war Elisabeth weit davon entfernt, zu faulenzen. Sie hatte in Haus und Garten immer reichlich zu tun und strickte obendrein bei jeder Gelegenheit für einen guten Zweck.

Chloe vermutete, dass der Grund für ihre häufigen kleinen Besorgungsgänge viel mehr die wiedergewonnene Freude an der Dorfgemeinschaft war als die Angst, träge zu werden. Dass der Spaß an den Begegnungen sie aus dem Haus trieb, war wirklich ein Wunder. Jahrelang hatte Elisabeth sich von allem zurückgezogen und von niemandem etwas wissen wollen. Sie hatte konsequent alle Einladungen ausgeschlagen und selbst mit den Nachbarn kaum mehr als einen kurzen Gruß gewechselt. Und weil sie immer so mürrisch und abweisend war, hatten zuletzt alle freiwillig einen Bogen um sie gemacht.

Sie nun wieder so lebenslustig und unbeschwert zu erleben, nach allem, was sie durchlitten hatte, machte Chloe glücklich. Von Elisabeths früherer Verbitterung war nichts mehr zu spüren, sie hatte sich mit ihrem Schicksal ausgesöhnt und ihr Lachen wiedergefunden.

Chloe drehte sich unter der Bettdecke noch einmal auf die andere Seite. Seit sie tageweise wieder als Psychologin arbeitete, kam ihre Leidenschaft für Kräuter leider oft zu kurz. Schließlich musste sie ständig zwischen Callwell und Glasgow hin- und herpendeln. Sie hatte keinen Laden, sondern verkaufte ihre Kräutertees und anderen Produkte am Küchentisch. Dieses Jahr hatte sie viel weniger Heidelbeeren gesammelt als sonst und die Pilzsaison fast komplett verpasst. Früher hatte sie auch noch regelmäßig Kränze und Gestecke für die Gärtnerei hergestellt, das schaffte sie inzwischen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – gar nicht mehr.

Nein, von dem Gedanken an den nervigen Wechsel zwischen Land und Stadt und die damit verbundenen langen Fahrtzeiten wollte sie sich nicht ihre gute Laune verhageln lassen. Energisch schlug sie die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Es war früher Morgen, die Welt vor dem Fenster hüllte sich noch in Stille und Dunkelheit. Doch weder die Uhrzeit noch die Kälte konnten Chloe bremsen. Sie hielt es nicht mehr im Bett aus, zu sehr freute sie sich trotz des anstehenden Pendelns auf den Tag.

Bevor sie mittags nach Glasgow fahren würde, hatte sie noch einiges vor, der Vormittag war verplant. Gut gelaunt sprang sie unter die Dusche, schlüpfte in ihre Kleidung und rührte kurz darauf auch schon in ihrem Porridge, der auf dem Herd blubberte.

Chloe liebte diesen Herd. Er sah aus wie ein alter Holzofen und gab der Küche eine heimelige Note. In Wirklichkeit aber verbargen sich unter der Abdeckung, die aussah wie eine Eisenkochplatte, moderne Induktionskochfelder. Wo man das Feuer vermutete, versteckte sich ein hochmoderner Backofen. Tradition und Moderne in Perfektion vereint, mit diesem Slogan hatte der Verkäufer Chloe damals überzeugt und sie hatte es nicht eine Sekunde bereut, auch wenn der Herd so teuer gewesen war wie ein Kleinwagen. Neben dem Herd hingen ein paar Kräuterbüschel, die inzwischen getrocknet waren. Die würde sie nachher abnehmen und versorgen.

Der Pfefferminz-Ingwer-Tee, den Chloe aufgegossen hatte, verströmte sein Aroma und unterstützte ihre ohnehin schon gute Laune. Sie hielt die Tasse in beiden Händen, hob die Nase darüber und atmete tief ein, bevor sie bedächtig einen kleinen Schluck nahm. Dann stellte sie die Tasse wieder auf den Tisch zurück und kümmerte sich um den Porridge.

Während sie rührte, strich sie mit der anderen Hand andächtig über den Ärmel ihres flauschigen Lieblingspullovers aus Alpakawolle. Maighread hatte ihn für sie gestrickt. Es war ein Geschenk – nicht nur der karamellfarbene Pullover, sondern vor allem die Freundschaft. Maighread war Elisabeths Enkeltochter und Chloes beste Freundin.

Heute vor einem Jahr hatten sie sich kennengelernt und sich vom ersten Moment an gemocht. Eine Zeit lang hatte Maighread sogar bei Chloe im Gästezimmer gewohnt. Als ihre Großmutter nach dem Schlaganfall Hilfe gebraucht hatte, war Maighread zu ihr gezogen. Dort wohnte sie offiziell noch immer, auch wenn sie inzwischen immer öfter bei Joshua auf Callwell Castle übernachtete. Chloe lächelte, als sie an die beiden dachte. Sie waren so ein süßes Paar! Und Chloe schätzte sich glücklich, dass ihr bester Freund und ihre beste Freundin einander gefunden hatten. Die beiden waren fast ein Jahr zusammen, aber sie benahmen sich wie frisch verliebte Turteltäubchen.

Chloe kam wieder auf den wichtigsten Punkt des Vormittags zurück. Sie wollte mit Maighread zusammen zur Feier des Jahrestages ihrer Freundschaft einen Tee trinken. Deshalb musste sie nun zusehen, dass sie mit ihrer Arbeit fertig wurde, sie hatte noch einiges zu tun.

Vergnügt ging Chloe zwischen Regal und Küchentisch hin und her und summte dabei vor sich hin. Dudelsackklänge mischten sich in die Melodie, sie erfüllten den Raum und meldeten eine eingegangene Nachricht. Chloe griff nach ihrem Handy.

Hey, meine Schöne, bist du schon wach?

Sie lächelte. Es war kurz vor sieben, Scott wusste, dass sie eine Frühaufsteherin war, aber er hatte trotzdem immer Bedenken, sie mit einem Anruf zu wecken, deshalb schickte er immer vorab eine Textnachricht. Sie hatte Scott drei Tage nicht gesehen und vermisste ihn sehr. Obwohl sie noch nicht lange ein Paar waren, hatte er sich bereits ziemlich tief in ihr Herz geschlichen, das wurde ihr immer bewusster.

Schon fast das erste Mal wieder müde, tippte sie und klickte den Kuss-Smiley an. Guten Morgen, setzte sie noch hinten dran, dann schickte sie die Nachricht ab.

Keine fünf Sekunden später klingelte das Handy auch schon und Scott rief an. Chloe freute sich, seine Stimme zu hören, auch wenn er nicht viel Zeit hatte. Scott musste zum Dienst, sein Job als leitender Stationsarzt beanspruchte ihn sehr. Sie besprachen kurz ihre Tagespläne und Chloe genoss die Wärme in Scotts Stimme, die sie wie eines von Maighreads wunderbaren Tüchern umhüllte und ihr das Gefühl von Geborgenheit schenkte.

»Ich werde mich jetzt um den Tee und die Seife kümmern, danach gehe ich zu Maighread«, erzählte Chloe. Sie hatte eine Honig-Rosen-Seife, die geschnitten werden musste und wollte eine Ringelblumenseife ansetzen.

»Und ich muss gleich los zur Visite. Wenn ich es schaffe, komme ich nachmittags ins Frauenhaus, aber ich kann es nicht versprechen. Sonst sehen wir uns auf jeden Fall heute Abend«, sagte er. »Ich freue mich auf dich. Fahr bitte vorsichtig.«

»Immer doch«, sagte Chloe. »Bis heute Abend.«

Sie legte auf und lächelte versonnen ihr Handy an. Scott war einfach wunderbar.

Sie freute sich wie ein verliebter Teenager auf den Tag. Dass sie mit ihren doppelten Fünfzehn wieder in der Lage war, sich so federleicht glücklich zu fühlen, lag an den wunderbaren Menschen, die ihr Leben bereicherten – insbesondere an diesem ganz bestimmten Menschen, der die Liebe in ihr Leben zurückgebracht hatte.

Die Vorfreude auf ihren Liebsten flatterte in Chloes Innerem wie ein Schwarm Schmetterlinge über einer Blumenwiese. Nur Glasgow passte nicht so richtig in ihr leichtes Glücksgefühl. Chloe hatte so gar keinen Bezug mehr zum Stadtleben. Ihr gingen der Verkehr, die vielen Menschen und die überall spürbare Hektik grässlich auf die Nerven. Früher einmal hatte sie das urbane Prickeln geliebt, heute machte es sie schon nervös, nur daran zu denken.

Sie war froh und dankbar, dass sie wieder dreimal die Woche als Therapeutin arbeiten konnte. Zwischendurch hatte sie lange mit ihrem Job gehadert und geglaubt, ihn nie wieder ausüben zu können. Sie war an den Anforderungen – vor allem aber an ihren eigenen Ansprüchen sich selbst gegenüber – fast zerbrochen und hatte sich gänzlich aus dem Beruf zurückgezogen gehabt. Statt als Psychologin zu arbeiten, hatte sie sich in Callwell ein Standbein als Kräuterfachfrau aufgebaut. Es war ein bescheidenes Leben gewesen, aber sie hatte sich eingeredet, dass es genau das war, was sie wollte.

Durch ihre Freunde Maighread und Joshua war Chloe klar geworden, dass sie eine Gefangene ihrer Angst gewesen war. Mit Kräutern zu arbeiten erfüllte sie zwar mit Freude, aber so zurückgezogen und bescheiden zu leben, war nicht ihre freie Entscheidung gewesen, sondern eine Flucht.

Inzwischen arbeitete sie zwar immer noch mit Kräutern, aber jetzt aus freien Stücken und weil sie es liebte. Und sie hatte mit neuem Selbstbewusstsein auch wieder in die Therapiearbeit zurückgefunden.

Scott hatte ihr dieses tolle Angebot gemacht und ihre Einwände einfach nicht gelten lassen. Maighread und Joshua hatten ihn tatkräftig unterstützt und so hatte Chloe es tatsächlich geschafft. Sie war über ihren eigenen Schatten gesprungen und hatte ihre Angst überwunden.

Sie durfte Frauen in schwierigen Situationen eine Unterstützung sein, das empfand sie als großes Geschenk. Wenn sie etwas Vergleichbares doch nur hier in Callwell machen könnte, statt nach Glasgow fahren zu müssen.

Andererseits, wenn sie nicht mehr pendeln würde, was würde dann aus ihr und Scott werden? Er liebte seinen Job im Krankenhaus, das wusste Chloe. Für ihn war die Stadt der Lebensmittelpunkt, den er nicht einfach so aufgeben konnte oder wollte. Dieser Gedanke gab Chloes Leichtigkeit einen ordentlichen Dämpfer.

Es fühlte sich an, als seien die Schmetterlinge in ihr plötzlich zu schwer geworden, um zu flattern. Hat das Blümchen einen Knick, war der Schmetterling zu dick – schoss ihr ein Spruch durch den Kopf, den sie neulich auf einer Karte gelesen hatte. Zuerst hatte sie lauthals gelacht, doch jetzt war ihr gar nicht nach Lachen zumute. Ihr Blümchen war geknickt. Chloe spürte, dass etwas noch nicht rundlief, aber sie hatte keine Ahnung, wie eine Lösung für ihr Problem aussehen könnte. Bis ihr das klar war, würde sie pendeln müssen und tageweise die Hektik der Stadt ertragen.

Entschlossen schob sie die trüben Gedanken beiseite und stellte sich wieder die Blumenwiese ganz ohne geknickte Blümchen vor. Visualisierungstherapie – was ihren Patienten guttat, konnte ihr ja wohl nicht schaden.

Während sie über ihr Leben und die schwierige Situation nachdachte, stand Chloe an ihrem großen Küchentisch. Sie begutachtete ihre Schätze, die sie dort bereits aufgebaut hatte. Die mit getrockneten Kräutern gefüllten Dosen nahmen mehr als die Hälfte der Tischplatte ein. Viele Vorräte hatte sie selbst gesammelt, darauf war sie besonders stolz. Ein paar exotischere Kräuter und Zutaten wie zum Beispiel Ingwer, die sie rund um den Loch Lomond nicht finden konnte, hatte sie dazu gekauft. Sie hatte auch Äpfel, Birnen, Pflaumen und Orangen in Scheiben geschnitten und ebenso wie Orangen- und Zitronenschalen in ihrem Dörrapparat getrocknet. Je nach Rezept gab sie kleine Stücke davon in ihre Teemischungen.

Ihr Vorrat an fertigen Teemischungen ging zur Neige und sie wollte auch neue Tees zusammenstellen. Während sie für die Sommermischungen fruchtige und frische Noten bevorzugte, durfte es im Herbst und Winter wärmend und etwas schwerer werden. Ein echter Wintertee sollte wie eine warme Umarmung sein. Natürlich gab es nicht nur eine passende Wintermischung, Chloe liebte es, mit Aromen und Kombinationen zu experimentieren und behielt dabei auch immer die Wirkung der Kräuter im Blick. Die Menschen am Loch Lomond kamen gern zu ihr und fragten sie um Rat, egal, ob es um empfindliche Haut, spröde Haare oder Schlafstörungen ging – Chloe fand für jeden die richtigen Kräuter.

Es war eine Mischung aus Fachwissen und Bauchgefühl.

Kapitel 2
Chloe

Der Herbstwind blies kräftig in Chloes Genick und schob sich erbarmungslos unter ihren Kragen. Fröstelnd zog sie die Schultern höher und ihre Strickmütze noch etwas tiefer über die Ohren. Mit schnellen Schritten hastete sie an der Bäckerei und der Papeterie vorbei die Straße entlang. Sie hatte keinen Blick für die liebevoll gestalteten Schaufenster und Auslagen. Auch am McDurmanns – der Whiskydestillerie ihres Cousins Peter – verlangsamte sie ihre Schritte nicht. Ihr Blick streifte im Vorbeihasten das Schaufenster des kleinen Haushaltswarengeschäftes. Der alte Thomas Jonson stand darin und winkte ihr, als er sie am Schaufenster vorbeilaufen sah. Normalerweise wäre Chloe auf einen Plausch zu ihm in den Laden gegangen, doch heute winkte sie nur zurück und hielt auf den Eingang zum nächsten Geschäft zu – dem Strickladen.

Die wenige Zeit, die sie noch hatte, bevor sie fahren und drei Tage in Glasgow bleiben würde, wollte sie mit Maighread verbringen. Chloes Zähne klapperten gegen die Kälte an, sie war dankbar, dass es nur noch ein paar Meter waren.

Das Wolle & Zeit war für sie fast schon so etwas wie ein zweites Zuhause. Maighread hatte es geschafft, mit dem Strickladen ihre Vision von einem Ort der Begegnung wahr werden zu lassen. Wer zu ihr kam, ließ den Alltag für eine Weile hinter sich. Es schien fast so, als schenkte sie den Kunden tatsächlich Zeit.

Natürlich lag das zum Teil an der wunderbaren Wolle und den Strickbüchern, die Maighread verkaufte. Wollgeschäfte und Buchläden verströmten von sich aus schon einen Zauber, der auf die meisten Kunden wohltuend wirkte und ihnen gute Laune schenkte – Maighread hatte gewissermaßen beides vereint. Neuerdings hatte sie sogar Romane rund um das Thema Wolle und Stricken im Angebot. Vor allem aber war es Maighreads ungemein einnehmendes Wesen, das diesen Zauber bewirkte, davon war Chloe überzeugt.

Ihre Freundin hatte immer ein offenes Ohr, ein Lächeln und ein nettes Wort für ihre Mitmenschen. Dabei ging es ihr nicht um das Geschäft. Maighread freute sich ehrlich über die Menschen, die zu ihr kamen, über die Begegnungen und Gespräche. Kein Wunder also, dass die Leute sich in dem kleinen Strickladen wohlfühlten und immer häufiger auch auf eine Tasse Tee oder eine Strickstunde blieben. Genau wie Chloe es heute auch vorhatte.

Sie hatte eine Auswahl ihrer neuen Teemischungen für Maighread dabei, auch eine der Honig-Rosen-Seifen hatte sie eingepackt, und natürlich ihr Strickzeug.

»Guten Morgen, Maighread!«, rief Chloe in die Melodie des Glockenspiels hinein, als sie den Laden betrat. Sie beeilte sich, die Tür schnell wieder zu schließen, um die Kälte auszusperren. Molly hob den Kopf, blinzelte verschlafen und schoss im nächsten Moment auch schon aus ihrem Körbchen hoch und auf Chloe zu. Schwanzwedelnd umkreiste Maighreads Mischlingshündin den Besuch und winselte vor Freude.

»Das nenne ich mal Wiedersehensfreude«, sagte Chloe und lachte. »Man könnte meinen, wir hätten uns ein Jahr nicht gesehen und nicht einen halben Tag.«

Sie ließ sich nicht lange bitten, beugte sich zu der Hündin hinunter und streichelte ihr ausgiebig das schwarz-weiße Fell.

»Guten Morgen, meine Süße. Na, geht’s dir gut?«

Molly war ein Mix aus Border Collie und Australien Shepherd. Äußerlich dominierte aber eindeutig der Border Collie. Als Chloe sich zu ihrer Hundefreundin hinunterbeugte, versuchte Molly sogleich, ihr über das Gesicht zu lecken. Doch Chloe hatte damit gerechnet und reagierte blitzschnell. Sie kannte Mollys Leidenschaft, Küsse zu verteilen.

»Ich habe dich auch lieb, aber klar!«, sagte sie und wuschelte ihr über die Ohren. »Aber den Kuss spar ich mir für später, okay?«

»Hey, jetzt bin ich aber mal dran«, protestierte Maighread und kam hinter ihrem Verkaufstresen hervor. Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf ihre Freundin zu. »Guten Morgen, Chloe! Hast du denn einen Kuss für mich, oder sind die alle für Scott reserviert? Herzlichen Glückwunsch zu unserem Jahrestag! Ist es nicht unglaublich, dass wir uns erst heute vor einem Jahr kennengelernt haben? Ich könnte schwören, wir kennen uns von Kindesbeinen an.«

»Ja, wirklich unglaublich. Ich weiß gar nicht mehr, wie mein Leben früher war, ohne dich.« Chloe erwiderte Maighreads Umarmung und gab ihr den gewünschten Kuss auf die Wange. »Herzlichen Glückwunsch zum Einjährigen, Maighread. Und? Hattet ihr einen schönen Abend?« Einen Tag vor dem Jahrestag von Chloe und Maighread war nämlich der Kennenlerntag von Maighread und Joshua. Chloe zwinkerte ihrer Freundin zu und die wurde tatsächlich ein wenig rot. Ihre Augen blitzten verräterisch.

»Joshua ist wirklich ein Schatz«, sagte sie, wobei sich das Rot auf ihren Wangen vertiefte.

»Echt?«, rief Chloe und riss in übertriebenem Staunen Augen und Mund auf. »Maighread, das hätte ich ja nie gedacht.«

»Dumme Nuss«, schimpfte Maighread lachend und stieß mit ihrer Schulter gegen die von Chloe. »Mach dich ruhig über mich lustig. Vermutlich warst du eingeweiht und wusstest, dass er ein romantisches Picknick auf Inchconnach plant.«

Chloe kicherte, lenkte aber direkt ein. »Nein, das wusste ich nicht. Entschuldige, aber du hast ja recht. Joshua ist wirklich ein Schatz. Ihr wart bei den Wallabys? Was für eine schöne Idee, da muss ich unbedingt auch mal wieder hin.« Wenn Scott und ich nur etwas mehr Zeit hätten, dachte sie. Doch sie schob den Gedanken gleich wieder weg, sie wollte jetzt nicht grübeln.

Die Insel Inchconnach lag im Loch Lomond und dort gab es tatsächlich wild lebende Wallabys. Als Maighread vor einem Jahr nach Callwell gekommen war, hatte sie das zuerst nicht glauben wollen. Sie hatte vermutet, Chloe würde sie veralbern, und war sogar ein bisschen eingeschnappt gewesen, weil sie nicht gern für dumm verkauft wurde. Zum Glück hatte sich dieses Missverständnis damals schnell aufgelöst. Inzwischen liebte Maighread es, die Insel zu besuchen, und die lustigen kleinen Kängurus zu beobachten.

Dem Strahlen in Maighreads Augen nach war der gestrige Ausflug ein voller Erfolg gewesen. Sie hatten aber auch echt Glück gehabt und den wohl letzten warmen Herbsttag erwischt.

Lächelnd hob Maighread ihre Hand an ihr Dekolleté und zeigte auf eine feingliedrige silberne Kette mit Anhänger. Sie musste nichts sagen, Chloe verstand sofort.

»Ohhh«, quietschte sie entzückt, als sie den Anhänger wahrnahm. Es war ein kleines silbernes Wollknäuel, nicht nur flach angedeutet, sondern tatsächlich als rundes Knäuel gearbeitet und mit zwei durchgesteckten Stricknadeln. Auf den Nadelköpfen saß jeweils ein kleiner funkelnder Diamant.

In Maighreads Augen glitzerten Freudentränen, während Chloe das Schmuckstück eingehend bewunderte.

Chloe saß auf dem gemütlichen Sofa im Strickladen, neben dem Sofa lag Molly in ihrem Körbchen und döste. Maighread hatte es sich auf dem Sessel mit dem blau geblümten Stoffüberzug bequem gemacht und hatte sich eines der Kissen mit gestricktem Überzug an die Seite gestopft. Der Thymian-Fenchel-Tee, der zwischen Maighread und Chloe auf dem kleinen Tisch stand, erfüllte den Raum mit seinem lieblich-würzigen Duft.

»Es ist wirklich erstaunlich, wie du es immer wieder schaffst, so harmonische Mischungen zusammenzustellen«, lobte Maighread, nachdem sie vorsichtig an dem noch heißen Tee genippt und dem Aroma nachgespürt hatte.

Chloe freute sich über das Lob, auch wenn sie dieses Können gar nicht so erstaunlich fand. Man brauchte nur ein wenig Kräuterwissen und etwas Gefühl für Aromenharmonie und schon klappte es ziemlich gut. Über die Jahre hatte sie natürlich auch Erfahrungen gesammelt und hin und wieder auch mit gerümpfter Nase selbst gemischte Tees getrunken, die nicht harmonisch schmeckten und die sie keinem Kunden zumuten konnte.

»Im Grunde ist es so ähnlich, als ob du neue Strickmuster entwirfst und dabei gekonnt Muster und Wollqualitäten kombinierst«, erklärte sie. »Es ist eine Mischung aus Erfahrung, Wissen und Neugier. Und es klappt nicht immer, das kennen wir ja auch beide.«

»Oh ja!«, stimmte Maighread ihr zu. »Wenn ich an meinen Versuch denke, dieses Stufenmuster mit mittigem Zopf zu stricken. Da hat nichts gepasst, die Wolle nicht zum Zopf, der Zopf nicht zu den Stufen und alles zusammen war einfach Murks. Aber es hat mich auf die Idee für ein anderes Muster gebracht und so war es am Ende doch für etwas gut.«

»Apropos Idee«, sagte Chloe und hielt ihr Strickzeug hoch. »Seit du mich überredet hast, Stricken zu lernen, lässt du mich diese Vierecke stricken. Ich habe nach etlichen Fehlversuchen inzwischen schon sechs Stück fertig, die durchaus ansehnlich sind. Fast sieben sogar. Willst du mir nicht endlich mal verraten, was das soll? Das ist auf Dauer ganz schön öde, so ohne Ziel zu stricken. Ich möchte endlich an etwas Sinnvollem arbeiten.«

»Ach Chloe, sei doch nicht so ungeduldig. Erstens sind diese kleinen Vierecke sehr gut für dich, um mehr Sicherheit zu bekommen und ohne großen Druck das Stricken zu üben, alleine das ist ja schon sinnvoll, und zweitens habe ich natürlich eine Idee, was wir aus deinen Erstlingswerken machen werden. Du strickst das nicht ohne Grund.«

Während Maighread geredet hatte, hatte Chloe weiter gestrickt, es war die vorletzte Reihe, danach musste sie nur noch abketten. Da sie aber immer wieder den Blick vom Strickzeug weg zu Maighread hatte wandern lassen, war ihr prompt eine Masche weggerutscht.

»Arg!«, schimpfte sie. »Das gibt es doch nicht, so ein Mist!« Chloe streckte Maighread ihr Strickzeug hin. »Da, ich habe es schon wieder geschafft und eine Masche fallen lassen. Ich verstehe das nicht, bei dir sieht das so leicht aus, dabei machst du viel kompliziertere Sachen mit den Maschen als ich. Es macht mich wirklich verrückt. Ich hätte besser Baldriantee mitbringen sollen.«

Maighread lachte leise, begutachtete den Schaden und betrachtete gleichzeitig Chloes Werk. Offenbar gefiel ihr, was sie sah, denn sie nickte sichtlich zufrieden.

»Das sieht schon sehr gut aus, Chloe. Ziemlich gleichmäßig, ich glaube, so langsam hast du den Dreh echt raus. Zeit für Phase zwei. Pass auf, ich zeige dir jetzt, wie du die Masche fangen und wieder hochholen kannst.«

»Du willst mir beibringen zu zaubern?«, fragte Chloe und hob abwehrend ihre Hände. »Lass mal, Maighread. Ich glaube, du überschätzt meine Fähigkeiten gewaltig.«

»Also Frau Psychologin, bitte! Bringst du deinen Patienten etwa so Selbstbewusstsein bei?«, neckte Maighread sie. »Hör auf, dich anzustellen, und schau einfach mal zu. Du nimmst die Häkelnadel, gehst in die gefallene Masche und häkelst dich Querfaden für Querfaden wieder nach oben.«

Während Maighread es erklärte, führte sie das Kunststück auch direkt aus. Im Handumdrehen war die Masche wieder oben. »Siehst du? Kein Hexenwerk«, sagte sie und ließ die gerade gerettete Masche wieder von der Nadel rutschen.

Chloes Protest überging Maighread und sorgte durch gezieltes Ziehen dafür, dass die Masche auch noch ein paar Reihen abwärts rutschte. Dann streckte sie Chloe das Malheur hin und drückte ihr auch die Häkelnadel in die Hand. »Jetzt du.«

Die Türglocke spielte und kündigte Kundschaft an. Während Chloe mit Häkelnadel und Maschen kämpfte, bediente Maighread zuerst Susan, die zwei Knäuel Sockenwolle brauchte und kurz darauf Stephanie, die auf der Suche nach einer dicken Wolle für eine Jacke war. Nach einigem Abwägen entschied sie sich für die Croft von den West Yorkshire Spinners, dunkelblau mit einem helleren blau melierten Streifen sollte die Jacke werden. Maighread gratulierte Stephanie zu ihrer Wahl. »An der Jacke wirst du sicher lange Freude haben«, sagte sie. »Die Wolle ist fantastisch.«

Während Maighread die Knäuel einpackte, plauderte sie noch kurz mit Stephanie über den Wetterumschwung, die sich dann aber ziemlich schnell ihren Einkauf schnappte und sich verabschiedete.

»Nichts wie ab nach Hause. Ich schiebe das Essen in den Ofen, dann habe ich Zeit, die neue Wolle zu testen. Tschüs ihr beiden!«, rief sie und winkte noch kurz zu Chloe hinüber, dann war sie auch schon draußen.

»Ich fass es nicht«, jubelte Chloe, als Maighread sich wieder zu ihr setzte, und hielt ihr Strickzeug hoch. »Ich habe es geschafft. Ich habe dieses Was-auch-immer-Viereck gerettet. Maighread, sieh nur, die Masche ist oben.«

»Habe ich doch gesagt«, erwiderte Maighread. »Alles ganz einfach, wenn man weiß, wie. Scheint dein Tag zu sein, heute. Nachdem du jetzt sicher rechte und linke Maschen stricken, Maschen wieder retten und ein fertiges Strickstück abketten kannst, verrate ich dir, was ich mit den Vierecken vorhabe. Und dann darfst du etwas Neues beginnen, wenn du willst. Moment, ich bin gleich wieder da.« Noch bevor sie den Satz beendet hatte, stand Maighread auf und verschwand im Nebenraum. »Sieh zu, dass du fertig wirst«, sagte sie im Weggehen noch über die Schulter und Chloe nahm brav ihre Nadeln in die Hand und kettete sorgsam die Maschen ab.

»Das ist eine sehr süße Idee, Maighread«, sagte Chloe und hielt eines der fertigen Kräutersäckchen in der Hand.

Maighread hatte kleine Kräuterpäckchen mit Lavendel und Rosmarin vorbereitet. Dann hatte sie Chloes Vierecke einmal zusammengelegt, mit ein paar Stichen an zwei Seiten zusammengenäht und die Kräutersäckchen hineingetan. Oben wurden die Säckchen mit einer Luftmaschenkordel zusammengezogen.

»So hast du deine Kräuterleidenschaft mit dem Stricken kombiniert und eine schöne Erinnerung an deine Strickanfänge. Du kannst die Säckchen zwischen die Wäsche legen oder im Kleiderschrank aufhängen. Ein hübsches Geschenk sind sie auch, finde ich.«

»Oder sie griffbereit hinlegen, bei Bedarf in die Hand nehmen und ein bisschen drücken – schon hat man eine sanfte Aromatherapie. Das ist wirklich toll. Jetzt, nachdem ich weiß, wozu es gut ist, werde ich auch sicher noch das ein oder andere Viereck stricken. Ich könnte auch die Farbe der Wirkung der Kräuter anpassen. Oder vielleicht auch mal ein größeres Teil stricken, das dann als Aromakissen verwendet werden kann. Im Auto am Rückspiegel würde es sich auch gut machen. Mit Lavendel, um die Nerven zu beruhigen.« Unwillkürlich seufzte sie.

»Nervt dich das Pendeln?«, hakte Maighread sofort ein.

Chloe lächelte schief. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«, fragte sie.

Maighread hob ihre Augenbrauen. »Sind wir Freundinnen oder nicht?«, fragte sie. »Also, spuck es schon aus, vielleicht geht es dir besser, wenn wir darüber gesprochen haben.«

Chloe sammelte ihre Gedanken. Maighread hatte recht. Sie hätte schon viel früher darüber sprechen sollen, anstatt alles in sich hineinzufressen und immer zu versuchen, es mit sich selbst auszumachen. Ihre Therapeutenfähigkeit sich selbst gegenüber war durchaus ausbaufähig, das wurde ihr wieder einmal bewusst. Sie musste sich selbst gegenüber unbedingt achtsamer werden und nicht immer nur das Wohl ihrer Mitmenschen im Fokus haben. Merkwürdigerweise fiel ihr Empathie anderen gegenüber sehr viel leichter, als auf ihre eigenen Bedürfnisse zu hören. Wie gut, dass es Maighread gab.

»Ich freue mich auf die Frauen. Die Gespräche sind gut, ich habe das Gefühl, ich kann wirklich etwas bewirken. Und ich freue mich auf Scott. Ich wäre gern noch viel öfter mit ihm zusammen. Aber ich vermisse mein Zuhause. Ich vermisse den See. Die Menschen hier. Dich.«

»Ich verstehe dich, Chloe, aber gib dir etwas Zeit. Vielleicht gewöhnst du dich dran und kannst den Wechsel zwischen Ruhe und Hektik irgendwann sogar genießen. Und ich bin immer für dich da, das weißt du. Zwischen dir und Scott, das läuft doch ziemlich gut, oder? Würde er dich auch gern öfter sehen?«

»Ja, ihn nervt die häufige Trennung auch. Das ist ja Teil meines Problems«, erwiderte Chloe. »Es läuft zu gut. Wie soll eine ernsthafte Beziehung denn auf Dauer so funktionieren? Ich hier und Scott in Glasgow – ein ewiges Hin und Her. Das ist doch keine Basis für eine gemeinsame Zukunft.«

»Und was sagt Scott dazu? Hat er sich Gedanken gemacht, wie das mit euch weitergehen soll?«

Chloe zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht solltet ihr mal darüber sprechen«, riet Maighread.

»Und wenn er sagt, dass ich zu ihm ziehen soll?«, fragte Chloe. Genau davor hatte sie Angst. Sie wollte nicht nach Glasgow ziehen, aber was würde ihr Nein für ihre junge Beziehung bedeuten? Würde Scott das auf sich beziehen? Es als Nein zu ihnen beiden sehen?

Nach einem Blick auf die Uhr packte Chloe ihre Sachen in die Tasche. »Danke, Maighread. Ich würde gern noch länger bei dir bleiben, aber ich muss langsam los. Der Verkehr ist unberechenbar und ich habe keine Lust, auf den letzten Drücker anzukommen.« Sie umarmte ihre Freundin. »Bis dann. Falls was ist, den Schlüssel vom Haus hast du ja.«

»Wir schreiben«, sagte Maighread und drückte Chloe fest an sich. »Mach dich nicht verrückt, hörst du? Alles wird gut!«

»Schauen wir mal, aber irgendwie muss es ja werden, von mir aus gerne gut.«

Molly bekam noch eine kleine Streicheleinheit, dann machte Chloe sich auf den Weg.

***

Chloe fuhr die Uferstraße entlang. Kurz bevor sie den Loch Lomond hinter sich lassen würde, fuhr sie auf einen Parkplatz. Sie musste noch ein wenig See-Energie tanken, um davon zehren zu können.

Als sie ausstieg, musste sie die Wagentür regelrecht zustemmen, so sehr zerrte der Wind daran. Er hatte seit dem Morgen noch einen Zahn zugelegt.

Chloe setzte sich auf eine Bank und beobachtete das gewaltige Naturschauspiel. Den Kragen ihres Tweedmantels hatte sie hochgestellt und ihr Tuch fest um den Hals gewickelt. Sie kuschelte sich, die Hände in den Taschen vergraben, tief in den warmen Stoff.

Der Sturm peitschte das Wasser des Loch Lomond und brachte es zum Brodeln. Die Wellen bäumten sich hoch auf. In rasantem Tempo liefen sie auf das Ufer zu und brachen sich tosend an den Felsen. Das Dröhnen, Brausen, Gurgeln und Platschen um Chloe herum war so ohrenbetäubend, dass sie kaum ihre eigenen Gedanken hören konnte.

Sie atmete tief durch. Sie liebte das! Die unzähmbare Naturgewalt ließ ihr Herz höherschlagen. Chloe hatte das Gefühl, als ginge ein Teil dieser Kraft auf sie über.

Wie von selbst hörten ihre Gedanken auf zu kreisen und wurden still. Es gab nur noch das Wasser und den Wind.

Kapitel 3
Gwendolyn

Gwendolyn schloss die Haustür hinter dem Arzt und lehnte sich von innen gegen das Holz des Türblattes. Doktor James Willings war seit bald einem halben Jahrhundert ihr Hausarzt und darüber hinaus ein guter Freund der Familie. Seine Praxis hatte er längst seinem Sohn übergeben, nur ein paar wenige seiner langjährigen Patienten betreute er weiterhin persönlich.

»Ach, weißt du, Gwendolyn«, hatte er zu ihr gesagt, als vor Jahren die Praxisübergabe angestanden, und Gwendolyn sich schwergetan hatte mit dem Gedanken, sich künftig mit ihren Leiden und Problemen einem Mann anzuvertrauen, der ihr Enkel, mindestens aber ihr Sohn hätte sein können. Zu James hatte sie Vertrauen, sie wollte den Arzt nicht wechseln. »Mir ist schon klar, dass die alten Bäume sich nicht so gern verpflanzen lassen. Schließlich bin ich ja selbst einer. Deshalb habe ich mich entschlossen, für die Handvoll Patienten, die seit meinen Anfängen zu mir kommen, weiterhin da zu sein.«

»Was für eine wunderbare Entscheidung!« Gwendolyn war James um den Hals gefallen und hatte sich bei ihm bedankt. Er hatte geschmeichelt geschmunzelt.

»Schon gut, Gwendolyn. Ich mache das wirklich gern. Junior hat auch so genug zu tun«, hatte er gesagt. »Und mich hält es fit, ein Auge auf die paar alten Freunde zu halten. Das gibt mir das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Ich kann ja schließlich nicht nur Angeln gehen oder mit der Dampflok den Berg hoch- und runterfahren. Und meiner Tilly gehe ich doch nur auf die Nerven, wenn ich unentwegt zu Hause herumhänge. Außerdem – nur weil ich keine Praxis mehr habe, verliere ich schließlich nicht gleich mein ganzes Wissen. Ich bin vielleicht nicht mehr in allen Bereichen auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, dafür aber habe ich ein paar Jahrzehnte Erfahrung auf dem Buckel. Und wenn es hart auf hart kommt, können wir den Jungspund ja immer noch hinzuziehen.« Er hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr: »Um ehrlich zu sein – ich glaube, Tom ist nicht nur ein toller Sohn, sondern inzwischen auch ein ziemlich guter Arzt. Ich sag es ihm nicht so deutlich, damit er sich nichts einbildet, aber ich bin stolz auf ihn und froh, dass er die Praxis übernimmt.«

Gwendolyn war dankbar gewesen, dass James weiterhin ihr Arzt geblieben war. Und das war sie bis heute. Ganz besonders in diesem schwierigen vergangenen halben Jahr war das ein unschätzbares Glück gewesen.

James war immer an Padrigs Seite gewesen und hatte ihm geduldig das medizinische Kauderwelsch erklärt, mit dem die Ärzte im Krankenhaus um sich geworfen hatten. Auch bei der Entscheidung, keine weiteren Operationen mehr durchführen zu lassen, war James an Padrigs und Gwendolyns Seite gewesen und hatte all ihre Fragen beantwortet. Er war es auch gewesen, der Gwendolyn geholfen hatte, ein Krankenbett im Wohnzimmer aufzustellen. Er hatte den Pflegedienst organisiert, für die Tage, an denen Gwendolyn es nicht alleine schaffte, wenn Padrig zu schwach war, um aufzustehen. Sie konnte ihn jederzeit anrufen und um Hilfe bitten.

Für Padrig war es ein Segen, zu Hause sein zu können. Im Krankenhaus hätte er seinen Lebensmut sicher längt verloren, davon war Gwendolyn überzeugt. Alles, was ihr Liebster brauchte, waren liebevolle Fürsorge und je nach Tagesform mehr oder weniger Schmerzmittel. Das ließ sich mit James’ Unterstützung zu Hause sehr gut regeln.

Gerade hatte der Arzt eine Stunde an Padrigs Bett verbracht. Zuerst hatte er ihn untersucht, dann hatten sich die beiden Freunde über die Dampfeisenbahn unterhalten, gefachsimpelt und Fotoalben gewälzt.

Die Leidenschaft für die Vale of Rheidol Railway teilten die Männer schon ebenso lange, wie sie sich kannten. Sie wussten immer ganz genau, welche Lok gerade gewartet werden musste und welche im Einsatz war.

Gwendolyn und Padrig lebten im Rheidol-Tal, sie konnten den historischen, aber – abgesehen vom zweiten Weltkrieg – seit seiner Inbetriebnahme 1902 niemals stillgelegten Dampfzug an den freien Stellen oben am Berg vorbeistampfen sehen. Zwischendurch verschwand er hinter den Bäumen, dann sah man nur den Dampf aufsteigen, bis er plötzlich wieder aus dem Grün hervorbrach und sich zeigte. Wie ein fauchender Drache arbeitete die Lokomotive sich die Steigung hinauf.

Zweihundert Höhenmeter mussten überwunden werden, von der Station in Aberystwyth bis hinauf zur Devils Bridge. Für die Heizer war es ein Knochenjob, zumindest die steilen Passagen. Doch die Romantik der Dampfeisenbahn und das Gefühl, Teil eines besonderen Erbes zu sein, machte alle Strapazen wett. Das wusste Gwendolyn, denn Padrig hatte viele Jahre bei der Rheidol-Railway gearbeitet und er hatte seine Arbeit geliebt. Egal wie erschöpft er nach dem Dienst nach Hause gekommen war, er hatte sich immer schon auf seine nächste Schicht gefreut.

Die Erinnerungen an diese Zeit hütete er wie einen kostbaren Schatz. Und auch Gwendolyn konnte sich dem Charme der Vale of Rheidol Railway nicht entziehen. Sie war ein Stück Heimat. Das Pfeifen und Zischen der Dampflok gehörte zu ihrem Leben und gab ihnen den Takt vor. Achtmal täglich fuhr der Zug, immer zur gleichen Zeit, und gab den Tagesrhythmus vor. So wussten die Bewohner des Tals, wann es Zeit war für Lunch oder Tee.

Padrig war nicht nur als Heizer, sondern auch als Fahrgast unzählige Male mit der Dampflok den Berg hinaufgefahren, um rund um die Devils Bridge seiner zweiten großen Leidenschaft nachzugehen. Stundenlang war er durch die Natur gestreift und hatte Kräuter gesammelt.

Abends war er dann immer hochzufrieden mit vollen Taschen wieder nach Hause gekommen und hatte die Kräuter in kleinen Bündeln auf dem Dachboden aufgehängt, um sie sanft trocknen zu lassen. Er hatte daraus Tees zusammengestellt, Salben und Kräutertinkturen zubereitet und das halbe Tal damit versorgt.

Während die Männer ihre Erinnerungen pflegten, hatte Gwendolyn sich um ihren Haushalt gekümmert. Hin und wieder hatte sie an der Tür gelauscht und gelächelt. Es tat so gut, Padrigs Lachen zu hören, auch wenn es natürlich nicht die sprühende Energie hatte, die früher von ihm ausgegangen war. Padrig war vom Krebs gezeichnet, auch seine Stimme hatte an Kraft verloren.

Nachdem sie etwas später alle gemeinsam eine Tasse Tee getrunken hatten, hatte James sich verabschiedet. Er hatte Gwendolyn die Hand gedrückt und ihr versprochen, erreichbar zu sein, wann immer sie ihn brauchte.

Sie wussten beide, dass er im Grunde nichts tun konnte, außer bei Bedarf die Schmerzen zu lindern. Alles andere lag nun allein in Gottes Hand. Padrig hatte gute und schlechte Tage. Manchmal konnten sie noch kleine Spaziergänge oder Ausflüge unternehmen, und dann wieder schaffte er den Weg vom Bett ins Badezimmer nicht ohne Hilfe. Aber immerhin gab es noch diese positiven Momente. Daran klammerten sie sich.

Mit etwas Glück blieben ihnen noch ein paar Wochen, Gwendolyn war entschlossen, sie zu nutzen. Trotzdem kostete es sie enorme Kraft, immer stark zu bleiben und sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Doch das musste sie. Für Padrig.

Für einen Moment ließ Gwendolyn die Schwäche zu und schloss die Augen. Sie weinte leise, Padrig sollte sie nicht hören. Egal wie schlecht es ihr selbst ging, ihr Mann sollte mit leichtem Herz die große Reise antreten, wenn es so weit war. Sie würde an seiner Seite sein, bis zum letzten Atemzug. Bei dem Gedanken drängte sich ein Schluchzer von ihrer Brust nach oben. Gwendolyn presste sich die Hand auf den Mund, um den Laut zu unterdrücken.

Wenn sie doch nur noch ein wenig mehr Zeit bekämen. Ein paar Jahre noch. Gwendolyn war noch nicht bereit, den Weg allein weiterzugehen. Sie hatte fürchterliche Angst vor der Einsamkeit. Vielleicht ließ sich das Schicksal ja bezwingen. Man hörte doch immer wieder von Wundern, die aus medizinischer Sicht unerklärlich waren.

An diesem Punkt ihrer Gedanken stoppte sich Gwendolyn mit aller Macht. Sie hatte kein Recht, in Selbstmitleid zu zerfließen, immerhin war sie gesund. Und selbst wenn es kein Wunder gäbe – jetzt gerade lebte Padrig, und dieser Moment zählte.

Gwendolyn war entschlossen, die Zeit für ihren Mann so schön wie möglich zu gestalten. Sie wollte mit ihm lachen, mit ihm sprechen und in Erinnerungen schwelgen. Padrig sollte so glücklich sein, wie es nur möglich war. Und schließlich half sie sich damit auch selbst, dessen war sie sich bewusst. Jeder glückliche Moment würde irgendwann später zu einer schönen Erinnerung werden.

Sie würde viel Kraft brauchen, wenn sie sich von Padrig verabschieden musste. Würde sie irgendwann an diese letzte Zeit mit ihm zurückdenken, wollte sie schöne Bilder heraufbeschwören können. Sie war überzeugt, dass es ein Trost sein würde. Dafür lohnte es sich, jetzt stark zu bleiben. Zusammenbrechen und mit dem Schicksal hadern, konnte sie später immer noch.

Die Tür zu Padrigs Zimmer war nur angelehnt. Gwendolyn hörte das Knarzen des Bettes. Sofort straffte sie die Schultern und drückte den Rücken durch. Entschlossen wischte sie sich mit dem Handrücken die Wangen trocken und zwang ihren Mund zu einem Lächeln, bevor sie zu ihrem Mann eilte.

***

Das Kreischen der Möwen vermischte sich mit dem anschwellenden Rauschen der Wellen, die unermüdlich auf die Küste zuliefen. Wenn sie sich an den Felsen brachen, bildete das laute Klatschen einen kurzfristigen Höhepunkt in dem Lied des Meeres, bevor auch schon die nächste Welle nahte. Wieder und immer wieder.

Gwendolyn wurde nicht müde, dem Rhythmus zu lauschen und dabei das Glitzern der sprühenden Gischt zu beobachten. Es schenkte ihren angespannten Nerven ein wenig Ruhe.

Padrig saß im Rollstuhl neben ihr und hatte die Augen geschlossen. Seine Haut war fahl, fast schon durchscheinend wächsern, die Wangen eingefallen und unter den Augen lagen dunkle Schatten. Es war anstrengend für ihn, das Sitzen, die frische Luft – doch seine entspannten Gesichtszüge zeigten Gwendolyn, dass es richtig gewesen war, ihm den Wunsch zu erfüllen. Die besseren Tage wurden rarer, sie mussten die Gelegenheiten, so oft es möglich war, nutzen.

»Nicht die Dampflok?«, hatte Gwendolyn erstaunt gefragt, als Padrig ihr nach dem Frühstück – er hatte eine ganze Scheibe Toast verputzt, das war lange nicht vorgekommen – seinen Wunsch offenbart hatte, an die Küste zu fahren. Sie hätte darauf gewettet, dass er den Bahnhof in Aberystwyth nennen würde. Mit dem Zug mitzufahren war schon lange nicht mehr möglich, das Ruckeln und Schaukeln war viel zu anstrengend für Padrig. Aber am Bahnhof zu sitzen, war auch schön für ihn. Gwendolyn sah ihm an, wie sehr er in solchen Momenten das Leben um sich herum genoss.

Sie konnte nicht mehr sagen, wie oft sie mit ihm auf einer der Bänke vor dem Bahnhofsgebäude gesessen und die Züge und das bunte Treiben beobachtet hatte. Die Vale of Rheidol Railway war das Leben lang seine große Leidenschaft gewesen. Doch heute Morgen hatte Padrig den Kopf geschüttelt. »Meine Bahnhofszeit ist vorbei, von den Loks habe ich mich verabschiedet. Vom Meer noch nicht«, hatte er gesagt.

Seine Worte hatten ihr einen Stich ins Herz versetzt. Doch wie immer, hatte sie ihre lächelnde Maske aufrechterhalten und tapfer die aufsteigenden Tränen hinuntergeschluckt. Und dann hatte sie die Sachen für einen Ausflug an die Küste zusammengepackt und Padrig samt Rollstuhl ins Auto verfrachtet.

»Es ist schön, hier mit dir zu sitzen, Gwendolyn«, drang Padrigs leise Stimme in Gwendolyns Gedanken hinein. »Danke«, sagte er und nahm ihre Hand in seine.

Gwendolyn nickte und schenkte Padrig ein warmes Lächeln. Sie erwiderte nichts, denn sie hatte das Gefühl, dass ihr Mann etwas auf dem Herzen hatte, was er loswerden wollte.

»Ich weiß, dass du dir Sorgen um mich machst, Liebes«, sprach er auch tatsächlich gleich darauf weiter. »Aber das musst du nicht, hörst du. Ich habe keine Angst, Gweny, wirklich nicht.«

Gwendolyn konzentrierte sich auf ihre Atmung, um nicht loszuweinen, doch sie konnte nicht verhindern, dass eine Träne sich löste und über ihre Wange lief. Padrig hob die Hand und wischte die Träne zärtlich weg. Es war eine federleichte Berührung, Gwendolyn spürte das Zittern seiner Finger.

Wie gern hätte sie ihre Wange in seine Hand geschmiegt, hätte Padrig fest umarmt, um ihm von ihrer Kraft abzugeben. Aber das ging nicht, dann würde sie die Fassung verlieren. Am Ende würde es, statt ihm Kraft zu geben, ihm nur zeigen, wie viel Angst sie tatsächlich hatte. Deshalb blieb sie reglos sitzen und genoss es, als Padrig ihre Hand wieder in seine nahm.

»Ich glaube, es wird friedlich sein, da wo ich hingehe«, sagte er mit leiser Stimme.

Gwendolyn musste sich anstrengen, ihn zu verstehen, denn eine Schar Möwen kreischte gerade lautstark, während sie sich in der Brandung um ihre Beute stritt.

Padrig nutzte den Krawall für eine kleine Pause. Er musste mit seiner Kraft haushalten, das wusste Gwendolyn. Ihr Padrig, der früher immer ungestüm drauflos gesprudelt hatte, dass ihr vor lauter Worten schwindlig geworden war, hatte gelernt, bedächtig zu sprechen.

Die Krankheit hatte ihn Geduld gelehrt. Und sie hatte ihn auf eine besondere Art stark gemacht. Das wurde Gwendolyn immer wieder bewusst, wenn Padrig es schaffte, ihr Mut zu machen und sie zu trösten, obwohl doch eigentlich er derjenige sein müsste, der Trost brauchte. Sie hatte immer gewusst, dass Padrig ein kluger und sehr empathischer Mensch war. In dieser schweren Zeit zeigte sich, wie sehr sie damit recht hatte.

»Und wenn es so weit ist«, sprach Padrig nun weiter und drückte sanft Gwendolyns Hand, »dann nehme ich etwas sehr Wertvolles mit. Das Wertvollste, was es in meinem Leben überhaupt geben konnte. Deine Liebe. Du bist eine wundervolle Frau, Gwendolyn Baxter. Ich bin ein echter Glückspilz, dass du mich damals genommen hast und nicht diesen Großkotz Jonathan.«

Jetzt musste Gwendolyn lachen. »Was hätte ich denn mit diesem eingebildeten Kerl anfangen sollen?«, fragte sie. »Da wäre ich ja schön blöd gewesen, wo ich doch den allerbesten Mann bekommen konnte.«

Padrig lachte leise. »Pass nur auf, dass ich nicht auf die letzten Tage noch ein eingebildeter Hering werde«, sagte er.

Seine Stimme kratzte.

Erst hüstelte er nur leicht, doch gleich darauf schüttelte ein Hustenanfall Padrigs Körper und raubte ihm den ohnehin knappen Atem. Gwendolyn konnte nichts tun, außer ihm ein Taschentuch zu reichen und zumindest äußerlich Ruhe zu bewahren.

Es dauerte Minuten, bis Padrig nicht mehr hustete und keuchte und wieder gleichmäßiger atmen konnte. Erschöpft und aschfahl im Gesicht lehnte er sich in seinem Rollstuhl zurück und schloss die Augen. Er atmete flach, seine Augenlider flatterten.

»Sollen wir nach Hause fahren?«, fragte Gwendolyn besorgt. Doch Padrig hob, ohne die Augen zu öffnen, abwehrend die Hand.

»Nur … eine … Minute«, brachte er stockend hervor.

Gwendolyn kämpfte mit sich, doch dann gab sie nach und ließ Padrig seinen Willen.

Während er ausruhte, stand sie auf und ging ein paar Meter den Strand entlang. Ein paarmal drehte sie sich zu Padrig um und überzeugte sich, dass alles in Ordnung war. Er saß still da und schien den Seewind zu genießen. Gwendolyn ging noch ein kleines Stück weiter. Ganz automatisch suchte sie dabei den Boden ab und bückte sich nach schönen Steinen und Muscheln. Als sie eine Handvoll gesammelt hatte, machte sie kehrt und schlenderte wieder zu Padrig zurück.

Er hatte wieder Kraft geschöpft und sie beobachtet.

»Es ist schön, dich hier am Strand zu sehen, Gweny. Du warst immer so gerne hier.«

»Und du hast immer gesagt, ich soll nicht den ganzen Strand nach Hause schleppen«, antwortete Gwendolyn und hielt ihm ihre Fundstücke zur Begutachtung entgegen. »Nur ein paar besonders schöne Stücke«, sagte sie.

»Setz dich bitte zu mir, meine Liebe.«

Nachdem Gwendolyn seinem Wunsch nachgekommen war, sagte er: »Ich würde Chloe sehr gerne noch einmal sehen, Gwendolyn. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass sie von meiner Krankheit erfährt. Was meinst du, würde sie kommen, wenn ich sie darum bitte?«

Kapitel 4
Scott

»Guten Morgen«, grüßte Scott, als er am frühen Vormittag in das Aufenthaltszimmer der Ärzte trat. Sein Kollege Andrew hob kurz den Kopf, erwiderte den Gruß mit einem flüchtigen Lächeln, und vertiefte sich wieder in den medizinischen Artikel, den er gerade studierte.

Das kam Scott durchaus entgegen, denn er hatte ohnehin keine Lust, sich zu unterhalten. Seine Stimmung war dem nasskalten Herbstwetter angepasst, das sich über Nacht breitgemacht hatte. Scott warf einen kurzen Blick auf den Titel des Textes, den sein Kollege las, es war eine Abhandlung über Nasenepithesen. Er wusste, dass Andrew sich spezialisieren wollte und sich in jeder freien Minute weiterbildete. Ein Grund mehr, ihn in Ruhe zu lassen.

Insbesondere interessierte Andrew sich für neueste Entwicklungen im Bereich der Schönheitschirurgie. Allerdings nicht für Menschen, die der Meinung waren, ihre Nase sei zu dick, zu dünn oder sonst auf irgendeine Art operationsbedürftig, sondern für Patienten, die durch Krankheiten oder Unglücksfälle entstellt waren.

Andrew wollte, sobald er seine Facharztausbildung abgeschlossen hatte, für Ärzte ohne Grenzen nach Afrika gehen und dort Hilfe leisten, wo sie dringend benötigt wurde. Seit er bei einer Rucksackreise während seines Studiums das Elend gesehen hatte, hatte er sich vorgenommen, sich für die Kinder einzusetzen, die durch Noma – eine durch Mangel und schlechte Hygiene hervorgerufene bakterielle Erkrankung – Entstellungen davongetragen hatten. Dieses Ziel verfolgte er mit seiner ganzen Kraft.

Scott bewunderte Andrew für seinen Enthusiasmus und seine Hilfsbereitschaft, die ihn garantiert extrem aus der persönlichen Komfortzone herauskatapultieren würde. Nach dem schrecklichen Erdbeben in Italien vor ein paar Jahren war Scott selbst zwei Monate für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz gewesen. Bei dem Versuch zu helfen war er dabei weit über sein persönliches Limit gegangen und hatte hinterher lange gebraucht, um wieder im normalen Alltag anzukommen – wobei normaler Alltag für einen Stationsarzt in einem Krankenhaus oft nichts mit dem zu tun hatte, was man landläufig als normal erachtete. Dieser freiwillige Einsatz hatte ihn extrem gefordert, aber auch sehr geprägt. Er war heute noch froh, dass er es gewagt hatte.

Eine solche Erfahrung zu machen, war für jeden Arzt gut, davon war Scott überzeugt. Wer so etwas erlebt hatte, lief nicht mehr so schnell Gefahr, einen Höhenflug zu erleiden, nur weil er einen Arztkittel trug. Der Mythos vom »Gott in Weiß« trug nicht weit, angesichts sterbender Menschen, denen man nicht allen gleichzeitig helfen konnte, und der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit.

Leise, um Andrew nicht zu stören, ging Scott zur Kaffeemaschine, nahm eine Tasse und goss sich ein. Er hatte Glück, der Kaffee war ausnahmsweise mal frisch gekocht, meistens erwischte er den Bodensatz, der schon stundenlang warmgehalten worden war. Der köstliche Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und schon regten sich seine Lebensgeister.

Scott hatte bereits drei Stunden Dienst in den Knochen, etliche Patientenakten gewälzt und einige Untersuchungen durchgeführt. Seine Augen brannten und hinter seinen Schläfen baute sich beharrlich ein unangenehmer Druck auf – wie immer, wenn er zu lange am Ultraschall gesessen und auf den Bildschirm gestarrt hatte. Wenn er nicht aufpasste, endete das in einer handfesten Migräne. Die halbe Stunde Pause, die jetzt vor ihm lag, würde ihm guttun.

Danach stand die morgendliche Visite an. In erster Linie für die Studenten war sie ein extrem wichtiger Termin, denn dabei konnten sie von den besten Ärzten direkt am Patienten lernen und ihre eigenen Fähigkeiten in Sachen Diagnostik, aber auch Empathie trainieren. Doch auch wenn Scott längst selbst ein angesehener Arzt war, nutzte er diese Termine gern, um von seinem Chef zu lernen. Dieser Mann war eine Koryphäe im Bereich innere Medizin, ein herausragender Diagnostiker und dabei war er doch auch Mensch geblieben.

In den Krankenhäusern, in denen Scott früher gearbeitet hatte, waren die täglichen Visiten sein persönlicher Horror gewesen. Diese tagtägliche Veranstaltung, bei der Studenten wie dumme Emporkömmlinge von den Vorgesetzten abgekanzelt und die Patienten eingeschüchtert worden waren, während sich die Chefärzte selbst beweihräucherten, waren ihm gehörig gegen den Strich gegangen. Es war immer gleich abgelaufen, die Patienten lagen eingeschüchtert von der Masse der weiß gekleideten Menschen in ihren Betten und ehe sie genau verstanden hatten, was gesprochen wurde, sahen sie die Horde auch schon mit wehenden Kitteln aus dem Zimmer stürmen – auf dem Weg zum nächsten Kranken.

Hier in Glasgow lief es komplett anders. Der Chefarzt wollte Vertrauen zwischen sich und den Patienten aufbauen, das war ihm wichtig. Er wollte, dass seine Patienten sich bei ihm und vor allem auch bei den Kollegen sicher fühlten und keine Angst hatten, nachzufragen. Die Visite dauerte oft länger, weil der Chefarzt auch die Patienten ermutigte, Fragen zu stellen, und sich Zeit nahm, sie alle zu beantworten.

Bei den Visiten, wie Scott sie von früher kannte, hatten sich die meisten nicht getraut, echte Probleme anzusprechen – allenfalls nachzuhaken, wann sie wieder nach Hause durften. Tiefergehende Gespräche, die vielleicht wichtige Erkenntnisse für den Krankheitsverlauf zutage bringen konnten, waren in diesem Rahmen gar nicht möglich gewesen. Bei dem Gedanken daran wurde Scott wieder einmal bewusst, wie froh er sein konnte, hier in Glasgow gelandet zu sein.

Dafür nahm er auch die hohe Arbeitsbelastung gern in Kauf, auch wenn es dadurch nicht ganz einfach war, noch ein Leben jenseits des Krankenhauses zu führen.

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