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Soul Screamers 2: Rette meine Seele

hier erhältlich:

Sie ist eine Banshee. Wenn sie schreit, besiegt sie den Tod.

Kaylee hatte sich darauf gefreut, mit Nash zum Konzert zu gehen. Aber schon nach wenigen Songs bricht der Popstar tot auf der Bühne zusammen. Kaylee versteht es nicht. Sie hätte doch wie sonst auch den Tod vorhersehen müssen! Aber da war kein Schatten, kein dunkler Nebel. Von einer Reaperin erfährt sie, dass die Sängerin ihre Seele bereits fortgegeben hatte - und wer als Nächstes sterben wird. Jemand, den sie kennt ...

Kaylee setzt alles daran, diesen Menschen zu retten, und muss dafür sogar ihre Beziehung mit Nash aufs Spiel setzen. Denn immer mehr Teenager schließen mit leuchtenden Augen einen Pakt mit dem Tod: Für Ruhm und Erfolg verkaufen sie ihre Seelen und nehmen ewige Qualen in Kauf. Dem muss Kaylee ein Ende setzen. Auch wenn sie dafür in die Welt der Dämonen muss.


  • Erscheinungstag: 15.05.2015
  • Aus der Serie: Soul Screamers
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733781507
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die Welt lag Addison Page zu Füßen. Diese Frau hatte wirklich alles – das Aussehen, die Figur, die Stimme und, nicht zu vergessen, das Geld. Aber Privilegien haben ihren Preis, und ich hätte ahnen müssen, dass die Sache zu schön war, um wahr zu sein.

„Wie bitte?“ Ich musste schreien, um die ohrenbetäubende Musik zu übertönen, die aus den riesigen Lautsprechern dröhnte, und in meinem Hals machte sich ein leises Kratzen bemerkbar. Tausende junger Menschen bewegten sich neben uns im Takt der Musik und sangen aus vollem Hals die Lieder mit, die das strahlend schöne Mädchen vorne auf der Bühne zum Besten gab. Auf zwei riesigen Leinwänden konnten Nash und ich jede ihrer Bewegungen in Nahaufnahme verfolgen.

Nashs Bruder Todd hatte uns erstklassige Platzkarten besorgt, doch inzwischen hielt es niemanden mehr auf den Sitzen. Die Aufregung und die Begeisterung der Zuschauer schwollen an, bis der gesamte Saal vor Energie fast zu platzen schien. Auch ich ließ mich von der allgemeinen Euphorie anstecken. Und dabei spielte gerade erst Edens Vorband …

Wie Todd es geschafft hatte, Sitzplätze in der fünfzehnten Reihe zu ergattern, war mir ein Rätsel. Doch egal wie: Diese Chance hatte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen wollen. Die Chance, Eden live auf der Bühne zu erleben. Dafür opferte ich sogar bereitwillig einen Samstagabend mit Nash allein; auch wenn es ein Abend war, an dem mein Dad bis spät in die Nacht arbeiten musste …

Nash legte mir den Arm um die Hüfte und zog mich an sich. „Ich habe gesagt, dass Todd früher mal mit ihr ausgegangen ist!“, rief er mir ins Ohr.

Als ich seinen vertrauten Duft wahrnahm, schlug mein Herz ein bisschen schneller. Wir waren schon seit sechs Wochen zusammen. Trotzdem musste ich jedes Mal grinsen, wenn er mich anlächelte, und wurde knallrot, wenn er mir richtig tief in die Augen sah. Als ich ihm antwortete, streifte ich mit den Lippen flüchtig sein Ohr. „Mit wem ist Todd ausgegangen?“ Im Saal gab es Tausende möglicher Kandidatinnen.

„Mit ihr!“ Nash deutete über die Köpfe der Umstehenden nach vorne, aber ich konnte nicht so recht glauben, auf wen er zeigte.

Auf der Bühne stand Addison Page und heizte dem Publikum vor dem Auftritt des Stars des Abends ein. Sie trug schmal geschnittene schwarze Stiefel zu einer zerrissenen Hüftjeans und einem eng anliegenden weißen Top, das sie mit einem glitzernden silbernen Gürtel kombiniert hatte. In ihrem weißblond gefärbten Haar glänzte eine blaue Strähne, die bei schnellen Drehungen durch die Luft wirbelte. Gerade besang sie voller Inbrunst eine verlorene Liebe, und ihre Stimme klang so klar und kraftvoll wie auf ihren Alben.

Ich starrte die Sängerin ungläubig an. „Todd ist mit Addison Page ausgegangen?“ Es war so laut, dass Nash mich unmöglich gehört haben konnte, schließlich verstand ich meine eigenen Worte kaum. Doch er nickte mir zu und zog mich an sich, als der Typ neben mir johlte und seine Faust gefährlich dicht vor meinem Gesicht in die Luft riss.

„Vor drei Jahren“, rief er. „Sie ist hier aufgewachsen.“

Viele waren nicht nur wegen Eden gekommen, sondern auch wegen Addison Page, dem Shootingstar aus Texas. „Sie ist aus Hurst, oder?“, fragte ich. Hurst lag weniger als zwanzig Minuten von meiner Heimatstadt Arlington entfernt.

„Ja. Addy und ich sind zusammen in die neunte Klasse gegangen, bevor ich mit Mom nach Arlington gezogen bin. Todd war in der zehnten, und die beiden sind gut ein Jahr lang zusammen gewesen.“ Nashs Atem kitzelte mein Ohr.

„Was ist dann passiert?“ Ich drückte mich noch enger an ihn. „Addy hat eine Rolle in einer Fernsehserie bekommen und ist nach Los Angeles gezogen“, erklärte er schulterzuckend. „Für einen Fünfzehnjährigen ist es schwer genug, eine Fernbeziehung zu führen. Wenn deine Freundin berühmt ist, kannst du es vergessen.“

„Warum ist er dann heute Abend nicht hier?“ Wenn ich von jemand Berühmtem sitzen gelassen worden wäre, hätte ich mir die Gelegenheit sicher nicht entgehen lassen, ihn auf der Bühne zu erleben.

„Er ist hier irgendwo.“ Nash ließ den Blick suchend über die Menge schweifen. „Aber er braucht eben keine Eintrittskarte.“

Reaper wie Todd konnten sich nach Lust und Laune sichtbar oder unsichtbar machen und selbst bestimmen, wer sie sah oder hörte. Theoretisch war es möglich, dass er in diesem Moment direkt neben Addison Page auf der Bühne stand. Und so wie ich Todd kannte, war er genau dort. Als die letzten Takte des Songs verklungen waren, beendete Addison ihren Auftritt und verließ unter großem Applaus die Bühne, die daraufhin in aller Eile für den Star des Abends umgebaut wurde. Ich hatte damit gerechnet, dass Todd in der Pause zu uns stoßen würde, doch er tauchte nicht auf.

Plötzlich gingen die Lichter aus, und im Zuschauerraum wurde es mucksmäuschenstill. Nur vereinzelt wurde aufgeregt geflüstert. Kurz darauf begann die Bühne, dunkelblau zu leuchten, und die Zuschauer brachen spontan in Jubel aus. In der Mitte der Bühne thronte ein von einem einzelnen Scheinwerfer angestrahltes Podest. Hellrote Flammen loderten an beiden Seiten auf, und im nächsten Moment stand eine Gestalt auf der Bühne, so als wäre sie die ganze Zeit schon dort gewesen: Eden!

Die Sängerin trug eine kurze weiße Jacke über einem pinkfarbenen Leder-BH, dazu einen Rock mit Fransen, die hin und her schwangen und damit jede noch so kleine Bewegung ihrer Hüften betonten. Als sie das lange dunkle Haar zurückwarf, schrie die Menge begeistert auf, und Eden ließ sich auf die Knie fallen. Sie hatte das Mikrofon in der Hand. Aufreizend lasziv stand sie zu den ersten Takten ihres Songs auf und ließ dabei die Hüften kreisen. Ihre tiefe, rauchige Stimme, ein in Musik verwandeltes Stöhnen, war unglaublich sexy und anziehend, und man konnte sich dem Klang nur schwer entziehen. Auch mir ging ihre Stimme unter die Haut, und ich ahnte, dass ich sie auch Stunden später, wenn ich längst im Bett läge, noch hören würde.

Auf Nash wirkte Eden noch viel anziehender als auf mich. Er verschlang die Sängerin geradezu mit Blicken, und da wir so nahe an der Bühne saßen, hatte er zu allem Überfluss völlig freie Sicht. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, sodass die langen, starken Armmuskeln hervortraten. Die Lust in seinem Blick galt nicht mir, und als ihm die Schweißperlen auf die Stirn traten, wurde ich plötzlich schrecklich eifersüchtig, auch wenn ich wusste, dass es idiotisch war.

Ich griff nach seiner Hand, doch ich musste seine Faust fast schon gewaltsam öffnen. Als er endlich den Blick von der Bühne losriss und mich anlächelte, verlangsamte sich das Wirbeln in seinen wunderschönen braunen Augen. Die Lust war noch da, aber auf eine andere Art, tiefer gehend und stimmiger als zuvor – und diesmal galt sie mir. Nash begehrte mich, was mir schmeichelte, aber seine Gefühle gingen über die reine Körperlichkeit hinaus. Fürs Erste hatte ich Edens Bann gebrochen. Doch vielleicht hätte ich Todd für die Karten lieber nicht danken sollen.

Auf der Bühne tauchte eine Gruppe Tänzer auf und lief auf Eden zu; auf den riesigen Leinwänden verfolgte ich jedes Detail der Choreografie. Die Tänzer scharten sich um Eden und tanzten sie an, strichen ihr mit den Händen über die Arme, Schultern und den nackten Bauch. Als Eden den Laufsteg entlangstolzierte, der bis in die vordersten Sitzreihen hineinreichte, sprangen sie paarweise zur Seite. Spätestens jetzt war ich froh, dass wir nicht in der ersten Reihe saßen. Sonst hätte Nash bestimmt den Boden vollgesabbert.

Völlig unvermittelt spürte ich einen warmen Lufthauch am Ohr, dann hörte ich eine tiefe Stimme. „Hi, Kaylee!“

Ich zuckte erschrocken zusammen. Todd stand grinsend neben mir, und mein Nachbar wedelte mit dem Arm glatt durch ihn hindurch. Was bedeuten musste, dass ich als Einzige den Reaper sehen konnte. „Lass das gefälligst!“, zischte ich gereizt.

„Schnapp dir Nash und komm mit!“ Aus der Tasche seiner weiten Jeans kramte Todd zwei laminierte und ziemlich offiziell aussehende Ausweise hervor, die an Schlüsselbändern baumelten. Sogar sein verschlagenes Grinsen trübte die engelhaften Züge nicht, die er von seiner Mutter geerbt hatte, aber ich ließ mich davon nicht täuschen. Mit Todd geriet man fast immer in Schwierigkeiten, egal wie unschuldig er aussah.

„Was ist das?“, fragte ich und erntete einen fragenden Blick von meinem Nachbarn. Ich ignorierte ihn geflissentlich und stieß Nash mit dem Ellbogen in die Seite. Mit dem Mund formte ich lautlos das Wort „Todd“. Nash verdrehte die Augen und sah sich suchend um. Anscheinend konnte er seinen Bruder nicht sehen, was ihn ziemlich ankotzte.

„Backstagepässe.“ Todd griff einfach durch den Typen neben mir hindurch und packte mich an der Hand. Hätte ich mich nicht schnell losgerissen, wäre es zu einer ziemlich peinlichen Begegnung gekommen.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und schrie Nash ins Ohr: „Er hat Backstagepässe!“

„Wo hat er die her?“ Nash runzelte die Stirn. Auf der Bühne entledigte Eden sich gerade ihrer Jacke und tanzte in Leder-BH und kurzem Rock weiter.

„Willst du das wirklich wissen?“ Reaper wurden für ihre Arbeit nicht bezahlt – zumindest nicht mit Geld –, deshalb hatte Todd die Pässe sicher nicht gekauft. Genauso wenig wie die Karten.

„Nein“, sagte Nash knapp, folgte mir aber, als ich mich umdrehte und Todd nachging.

Es war ein aussichtsloses Unterfangen, mit dem Reaper Schritt zu halten. Schließlich musste er sich nicht an Hunderten begeisterter Fans vorbeidrängeln und sich nicht jedes Mal entschuldigen, wenn er jemandem auf den Fuß getreten war oder ein Getränk umgestoßen hatte. Er ging schnurstracks durch die Sitze und die Besucher hindurch, als existierten sie gar nicht. Was sie in seiner Welt wahrscheinlich auch nicht taten.

Wie alle Reaper lebte Todd zwischen den Welten: unserer, in der Menschen und Banshees relativ harmonisch zusammenlebten, und der Unterwelt, in der sich ein Haufen dunkler und gefährlicher Wesen herumtrieb. Wenn er wollte, konnte er sich materialisieren und sich unauffällig unter den Menschen bewegen. Das tat er aber nur selten. Denn wenn er körperlich in Erscheinung trat, vergaß er meist, Hindernissen wie Stühlen, Tischen und Menschen auszuweichen. Außerdem hatte er einen Riesenspaß daran, seinen Bruder zu ärgern, indem er für ihn unsichtbar blieb. Ich kannte kein anderes Geschwisterpaar, das sich so wenig ähnlich war wie Nash und Todd. Sie gehörten nicht einmal derselben Spezies an – zumindest nicht mehr.

Denn die Brüder waren beide als Banshees geboren worden, genau wie ihre Eltern. Doch als Todd vor zwei Jahren im Alter von siebzehn Jahren gestorben war, war es etwas kompliziert geworden, sogar für Bansheeverhältnisse. Denn Todd hatte sich von den Reapern rekrutieren lassen. Er hatte seinen Körper behalten, konnte jedoch nicht mehr altern. Im Gegenzug hatte er sich dazu verpflichtet, täglich zwölf Stunden zu arbeiten und die Seelen der Menschen einzusammeln, deren Todestag gekommen war. Ein Reaper brauchte weder Schlaf noch Nahrung (wenn er sie auch hin und wieder zu sich nahm), weshalb er sich die restlichen zwölf Stunden am Tag entsetzlich langweilte. Und weil Nash und ich zu den wenigen Auserwählten gehörten, die von seiner Existenz wussten, litten wir am meisten unter seiner Langeweile.

Wegen Todd waren wir schon fast überall hinausgeflogen: aus dem Einkaufszentrum, der Eislaufbahn und dem Bowlingcenter, und das alles innerhalb eines Monats. Als ich mich nun hinter ihm durch die Menschenmenge drängte, schwante mir, dass das Konzert wohl bald auch auf der Liste stehen würde.

Nashs genervter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er seinen Bruder immer noch nicht sehen konnte. Darum zog ich ihn weiter hinter mir her und versuchte, Todds blonden Lockenkopf nicht aus den Augen zu verlieren. Er steuerte direkt auf eine Tür zu, auf der in großen roten Buchstaben „Ausgang“ stand.

Am Ende von Edens Song setzte ein grelles lila Blitzlichtgewitter ein, dann wurde es stockdunkel. Ich blieb wie angewurzelt stehen, weil ich befürchtete, im Dunkeln zu stolpern und in irgendeiner klebrigen Pfütze zu landen. Oder auf einem fremden Schoß. Sekunden später ging das Licht wieder an, und Eden ließ im Takt des zweiten Lieds die Hüften kreisen. Sie hatte sich umgezogen und trug ein noch knapperes Outfit als vorher. Todd würdigte die Sängerin keines Blickes, sondern verschwand wortlos durch die geschlossene Tür.

Nash und ich rannten ohne Rücksicht auf die Zehen der Zuschauer los und waren völlig außer Atem, als wir die Tür erreichten. Ausnahmsweise war sie nicht abgeschlossen.

Todd wartete im Flur und schwenkte breit grinsend die Backstagepässe. „Wo bleibt ihr denn? Seid ihr etwa auf allen vieren rausgekrochen?“

Erstaunlicherweise war die Musik jetzt kaum noch zu hören, obwohl im Saal eine ohrenbetäubende Lautstärke geherrscht hatte. Allerdings vibrierte der Boden unter meinen Füßen vom Dröhnen der Bässe.

Nash ließ meine Hand los und funkelte Todd wütend an. „Manche müssen sich eben an die Naturgesetze halten!“

„Das ist nicht mein Problem.“ Todd warf uns je einen Pass zu. „Essen, schlafen – dieser ganze Mist interessiert mich nicht.“

Ich hängte mir den Ausweis um und warf mein langes braunes Haar über die Schulter. Sobald ich den Ausweis trug, konnte ihn jeder sehen. Bei Todd waren die Dinge immer nur so sichtbar wie er selbst. Er war kurz unsichtbar, dann materialisierte er sich und lief vor mir. Minutenlang irrten wir durch ein Gewirr von Fluren und Türen, bis wir vor einer stehen blieben, die abgeschlossen war. Frech grinsend lief Todd geradewegs hindurch und öffnete uns von der anderen Seite.

„Danke.“ Ich schob mich an ihm vorbei in den nächsten Flur, wo die Musik wieder lauter war. Anscheinend näherten wir uns der Bühne, und trotz meiner Zweifel an der Gültigkeit der Backstagepässe begann mein Herz, aufgeregt zu klopfen. Wir betraten einen großen Saal mit hoher Decke, der direkt an die Bühne grenzte. An den Wänden stapelte sich haufen-weise Equipment – Mischpulte, Lautsprecher, Instrumente und Scheinwerfer. Menschen mit Kostümen, Tabletts und Klemmbrettern in Händen liefen durcheinander und riefen Anweisungen in Funkgeräte, Headsets und Mikrofone. Um den Hals trugen sie ähnliche Pässe wie wir, mit dem Unterschied, dass darauf in großen schwarzen Buchstaben „Crew“ geschrieben stand.

An jeder Ecke stand ein Sicherheitsmann in schwarzem T-Shirt und passender Baseballmütze, die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt. Eine Frau, die eine Liste in der Hand hielt, rief den Backgroundtänzern Anweisungen zu, als sie an uns vorbei und in Richtung Garderobe rannten.

Alle waren so beschäftigt, dass uns niemand auch nur eines Blickes würdigte. Todd hatte sich, seinen lautlosen Schritten nach zu urteilen, wieder unsichtbar gemacht. Auf der Bühne pulsierten die Lichter im Takt der Musik, die so laut dröhnte, dass man im Zuschauerraum nichts von der Hektik und dem Lärm hier hinten mitbekam. Ich hütete mich davor, irgendetwas anzufassen, weil ich Angst hatte, dass die Pässe gefälscht waren und wir sofort auffliegen würden.

An beiden Seiten der Bühne stand je eine kleine Gruppe, die die Show verfolgte. Auch sie trugen Ausweise um den Hals, und einige von ihnen hielten Equipment oder Requisiten bereit. Einer hielt einen kleinen Affen mit Halsband und einem lustigen bunten Hut auf dem Arm. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen: Was in aller Welt hatte Amerikas amtierende Pop-Queen mit einem Affen vor?

Von meinem Platz aus konnte ich Eden im Profil sehen. Sie trug jetzt eine hautenge weiße Lederhose mit passendem Top und gab einen düsteren Song zum Besten, begleitet von einem knackigen Gitarrenriff. Edens harte, abgehackte Posen passten perfekt dazu, und das Haar flog ihr wild um den Kopf. Die Tänzer in engen dunklen Shirts schlängelten sich um sie herum und hoben sie ab und zu kurz hoch.

Eden legte sich richtig ins Zeug. Die Presse schwärmte geradezu von ihrer Hingabe und der harten Arbeit, mit der sie sich ihren Erfolg erkämpfte; sie trainierte und probte jeden Tag stundenlang, und das sah man deutlich. Niemand konnte Eden das Wasser reichen. Sie war der Liebling der Unterhaltungsindustrie und ertrank förmlich in Geld und Ruhm. Gerüchten zufolge hatte sie sogar die Hauptrolle in einem Film ergattert, die Dreharbeiten dafür würden nach Ende der ausverkauften Tournee beginnen.

Alles, was Eden anpackte, wurde ein voller Erfolg.

Ihre Posen waren so perfekt, dass ich anfangs gar nicht merkte, was schieflief. Doch mitten im Gitarrensolo hörte Eden plötzlich auf zu tanzen und ließ die Arme hängen. Ich nahm an, dass es sich um eine dramatische Überleitung zum nächsten Lied handelte und sie den Kopf deshalb nach vorn fallen ließ, um leise zu zählen, bevor sie ihn wieder heben und ihre Fans aus diesen unglaublich schwarzen Augen anschauen würde.

Aber plötzlich stockten die Tänzer und hörten einer nach dem anderen auf zu tanzen. Das Gitarrenriff erstarb, und Eden blieb regungslos stehen, ohne einen Laut von sich zu geben. Ihre Brust hob und senkte sich angestrengt, ihre Schultern bebten. Dann fiel ihr das Mikrofon aus der Hand und polterte zu Boden. Das ohrenbetäubende Quietschen der Rückkopplung gellte durch den Saal. Der Drummer ließ die Drumsticks fallen. Die beiden Gitarristen drehten sich erschrocken um und hörten auf zu spielen.

Und dann brach der Popstar plötzlich zusammen. Die Beine knickten unter ihr ein, und sie fiel leblos zu Boden, wo sie, umrahmt von ihrem dunklen Haar, liegen blieb.

Ein gellender Schrei zerriss die Stille, eine Frau rannte an mir vorbei auf die Bühne, dicht gefolgt von mehreren kräftigen Männern. Obwohl sie mich fast umstießen, blieb ich stocksteif stehen und starrte auf Edens reglose Gestalt. Immer mehr Menschen knieten sich neben sie, um zu helfen, darunter auch die Frau, die geschrien hatte. Erst jetzt erkannte ich sie: Es war Edens Mutter und Managerin, sie weinte und schüttelte ihre Tochter, während einer der Sicherheitsmänner versuchte, sie wegzuziehen.

„Sie atmet nicht!“, schrie sie, und in der Stille, die sich über den Zuschauerraum gesenkt hatte, konnten alle sie laut und deutlich hören. „Helft ihr doch, sie atmet nicht mehr!“

Und plötzlich bekam ich auch keine Luft mehr.

Ich umklammerte Nashs Hand, und mein Herz begann zu rasen. Ich hatte solche Angst vor dem Schrei, der sich beim Anblick von Edens Seele aus meiner Kehle lösen würde. Der Schrei einer Banshee hat eine schrille Tonlage, die im menschlichen Gehirn widerhallt und damit nicht nur Glas zum Zerspringen, sondern auch Trommelfelle zum Platzen bringen kann.

„Atmen, Kaylee.“ Nash nahm mich in den Arm und flüsterte mir sachte ins Ohr. Seine tröstende Stimme hüllte mich ein, und ich spürte seinen beruhigenden Einfluss. Die Stimme eines männlichen Banshee ist wie ein akustisches Beruhigungsmittel, nur ohne Nebenwirkungen. Er konnte den Schrei aufhalten oder zumindest Lautstärke und Intensität verringern. „Atme ganz ruhig weiter.“

Genau das tat ich. Ohne den Blick von Eden zu lösen, atmete ich weiter und wartete auf Edens Tod. Wartete auf den Schrei, der in mir aufsteigen würde. Doch nichts geschah.

Eden atmete immer noch nicht, aber ich musste nicht schreien.

Als die Panik abklang und mein Verstand wieder halbwegs arbeitete, löste ich mich vorsichtig aus Nashs Umarmung. Wenn ein Mensch starb, war er normalerweise von einer Todeswolke umhüllt, von einem durchscheinenden schwarzen Nebel umgeben, den nur Bansheefrauen sehen konnten. Doch hier war weit und breit keine Todeswolke.

„Alles in Ordnung.“ Ich lächelte erleichtert, ungeachtet der entsetzten Mienen um uns herum. „Es geht ihr gut. Eden wird nicht sterben!“ Sonst hätte ich schon lange angefangen zu schreien. Schließlich ist das meine Aufgabe als Bansheefrau.

„Ich glaube, du täuschst dich“, erwiderte Todd, der weiterhin auf die Bühne starrte, und deutete auf Eden. Die Sängerin lag immer noch auf dem Boden, umringt von ihrer Mutter, zwei Leibwächtern und mehreren Crewmitgliedern, von denen einer eine Mund-zu-Mund-Beatmung versuchte. Und direkt vor meinen Augen stieg eine neblige, schemenhafte Substanz aus Edens Körper auf und schlängelte sich wie eine Kobra nach oben.

Doch anstatt Richtung Decke zu schweben, wie Seelen es normalerweise tun, hing die Substanz irgendwie schwer in der Luft, so als würde sie im nächsten Moment neben Eden wieder zu Boden sinken. Sie sah zähflüssig, aber farblos aus und war durchsetzt von dunklen Schlieren, die sich, wie in einem unsichtbaren Luftstrom, hin und her bewegten.

Bei dem Anblick stockte mir der Atem. Ich wusste zwar nicht, was es war, aber ich wusste, was es nicht war …

Eden hatte keine Seele gehabt!

2. KAPITEL

„Was ist das?“ Aufgeregt packte ich Nash an der Hand. „Es ist jedenfalls keine Seele. Und wenn Eden tot ist, warum bin ich nicht am Schreien?“

„Was ist was?“, fragte er verständnislos.

Nash konnte Edens Seele – oder was auch immer es war – offenbar nicht sehen. Bansheemänner erahnen die Unterwelt nur bruchstückhaft; auch frei gewordene Seelen erkennen sie nur dann, wenn eine Banshee für sie singt. Und mit diesem gespenstischen Brei, der Edens Körper entwich, verhielt es sich anscheinend genauso.

Obwohl die gesamte Aufmerksamkeit auf Eden gerichtet war, warf Nash einen prüfenden Blick über die Schulter und stellte sicher, dass uns niemand belauschte.

Todd verdrehte die Augen und deutete auf die gegenüberliegende Seite der Bühne, wo sich eine große Menschentraube gebildet hatte. „Schaut mal da rüber. Seht ihr die Frau?“

„Ich sehe eine Menge Frauen“, erwiderte ich. Die Leute standen dicht gedrängt und hielten sich ihr Handy ans Ohr. Ein paar besonders dreiste Aasgeier fotografierten die sterbende Sängerin zu meiner Verärgerung sogar. Aber Todd zeigte beharrlich auf eine bestimmte Stelle, also spähte ich angestrengt in die Dunkelheit der Seitenbühne. Das, was er mir zeigen wollte, entstammte wahrscheinlich nicht der Welt der Menschen und war somit nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

Und dann sah ich sie.

Vor den düsteren Schatten der Kulissen stand eine hochgewachsene, schlanke Frau, deren Gestalt nur als dunkler Umriss zu erahnen war. Ihre Augen waren als Einziges genauer zu erkennen – sie waren grün und glühten gruselig. „Wer ist das?“ Ich warf Nash einen fragenden Blick zu, und er nickte bejahend. Er sah die Frau also auch, was höchstwahrscheinlich bedeutete, dass sie es so wollte.

„Das ist Libby, von der Spezialeinheit.“ Todd strahlte mich ungewohnt begeistert an. „Sie ist gekommen, als wir die Liste für diese Woche gekriegt haben. Extra für diesen einen Job!“

Bei der besagten Liste handelte es sich um die Reaperliste. Sie enthielt den Namen, Sterbeort und Todeszeitpunkt all der Menschen, die innerhalb der nächsten Woche in der näheren Umgebung sterben sollten.

„Du wusstest also, was passieren würde?“ Natürlich war Todd ein Reaper, aber es erstaunte mich trotzdem jedes Mal, dass er ganz anders auf den Tod reagierte als ich. Im Unterschied zu den meisten anderen fürchtete ich nicht meinen Tod, sondern den aller anderen. Denn sobald ich die Seele eines Verstorbenen zu Gesicht bekam, verwandelte ich mich in eine kreischende Irre. Zumindest glaubten das die meisten Menschen, wenn sie meine Schreianfälle miterlebten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ich durch mein „hysterisches Kreischen“ die Seelen der Verstorbenen, die den Körper verließen, in einer Art Schwebezustand halten konnte.

Manchmal beneidete ich die Menschen um ihre Ahnungslosigkeit, aber die Zeit der Unwissenheit war für mich nun einmal vorbei, ob es mir passte oder nicht.

„Ich wollte mir die Chance, Libby arbeiten zu sehen, auf keinen Fall entgehen lassen. Sie ist eine lebende Legende!“ Todd zuckte die Schultern. „Plus: Ich habe Addy wiedergesehen.“

„Herzlichen Dank, dass du uns mitgeschleift hast!“, entgegnete Nash patzig.

„Was macht sie denn genau?“, fragte ich, als der nächste Schwung Helfer an uns vorbeirannte – zwei Leibwächter und ein kleiner, schmaler Mann mit verkniffener Miene, der zugleich neugierig und auf routinierte Art besorgt wirkte. Ein Arzt vermutlich. „Und was macht diesen Auftrag so besonders?“

„Libby ist eine ganz besondere Reaperin“, erklärte Todd. Sein sonst blonder Kinnbart schimmerte im Scheinwerferlicht bläulich. „Sie wurde angeheuert, weil das da …“, er deutete auf die Substanz, die Libby gerade über mehrere Meter und Dutzende Köpfe hinweg aus Edens Körper zu inhalieren schien, „… keine Seele ist. Sondern Dämonenatem!“

Jetzt war ich doch ziemlich froh darüber, dass die anderen Todd nicht hören konnten. Mich dagegen leider schon. „Dämon, so wie in ‚Hellion‘?“, flüsterte ich so leise wie möglich.

Todd nickte und lächelte grimmig wie immer. Allein das Wort „Hellion“ jagte mir eine Höllenangst ein, aber Todd schien sich an der Gefahr regelrecht aufzugeilen. Das kam anscheinend dabei heraus, wenn man sich im Jenseits langweilte.

„Sie hat ihre Seele verkauft …“, flüsterte Nash angewidert. Obwohl ich noch nie einen Hellion getroffen hatte – sie konnten die Unterwelt zum Glück nicht verlassen –, war mir ihr Appetit auf menschliche Seelen nur allzu vertraut. Vor sechs Wochen hatte meine Tante Val versucht, fünf gestohlene Teenagerseelen gegen ewige Jugend und Schönheit einzutauschen. Der Plan war nach hinten losgegangen, und Val hatte den letzten Teil der Abmachung mit ihrer Seele bezahlt. Trotzdem hatten vier Mädchen für ihre Eitelkeit sterben müssen.

Wieder zuckte Todd die Schultern. „Sieht ganz so aus.“

„Warum sollte jemand so etwas tun?“, fragte ich entsetzt. Nash schien meine Abscheu zu teilen, wohingegen Todd völlig ungerührt blieb. „Normalerweise, um reich und berühmt zu werden.“

Genau das war Eden.

„Na gut, sie hat ihre Seele also an einen Hellion verkauft.“ Das hörte sich alles ziemlich verrückt an. „Will ich wirklich wissen, wie der Dämonenatem in ihren Körper gelangt ist?“

„Wahrscheinlich nicht“, murmelte Nash, als der schwere dunkle Bühnenvorhang zugezogen wurde und das entsetzte Flüstern des Publikums verstummte.

Doch wie immer ließ Todd sich die Gelegenheit nicht entgehen, mir einen Einblick in die Unsitten der Unterwelt zu gewähren – unterstrichen von ein paar äußerst taktlosen Gesten. „Der Hellion hat ihr die Seele im wahrsten Sinne des Wortes ausgesaugt und ihr dann seinen Atem eingehaucht. Damit konnte sie bis zu ihrem Todestag weiterleben. Und genau deswegen ist Libby hier. Dämonenatem fällt in der Unterwelt unter die Betäubungsmittel und muss mit großer Vorsicht entsorgt werden. Libby ist speziell dafür ausgebildet.“

„Betäubungsmittel? So was wie Morphium?“

Todd kicherte. „Wohl eher so was wie Heroin.“

Seufzend kuschelte ich mich an Nash und genoss es, seine tröstliche Wärme zu spüren. „Echt abgefahren, diese Unterwelt.“

„Du hast ja keine Ahnung, wie abgefahren“, antwortete Todd mit vielsagendem Blick auf Libby, die inzwischen einen Großteil des zähflüssigen Dämonenatems eingeatmet hatte. Das Zeug schlängelte sich in einem langen, dicken Strahl gemächlich in ihren Mund hinein, wie ein Bündel verfaulter Spaghetti. „Kommt mit. Ich will mit ihr reden.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er los.

Ich sprang erschrocken hinterher und packte ihn am Arm. „Warte!“ Zum Glück hatte Todd sich so weit materialisiert, dass ich ihn festhalten konnte. Auch wenn ich nicht sicher war, dass es Nash auch geglückt wäre. Ohne auf die irritierten Blicke der Umstehenden zu achten, zerrte ich Todd zurück. „Nash und ich können nicht einfach über die Bühne laufen, ohne dass uns jemand sieht“, erklärte ich. Leider. Denn manchmal wünschte ich mir schon, ich wäre unsichtbar. Zum Beispiel im Sportunterricht – die Basketballtrainerin hatte es eindeutig auf mich abgesehen.

„Ich will diese Super-Reaperin lieber gar nicht kennenlernen.“ Nash schob die Hände in die Hosentaschen. „Mir reichen die stinknormalen.“

Reaper mochten uns Banshees nicht besonders, weil wir ihre Arbeit behinderten. Gemeinsam waren ein weiblicher und ein männlicher Banshee dazu fähig, die Seele eines Verstorbenen in dessen Körper zurückzuführen. Diese Fähigkeit stand in krassem Widerspruch zu der Aufgabe eines Reapers, die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits zu überführen. Und Todd bildete eine Ausnahme, weil er Banshee und Reaper in einer Person war.

„Na schön. Aber dann werdet ihr auch nie erfahren, welche Geheimnisse sie ausgeplaudert hat.“ Todd lächelte mich hinterlistig an. Er wusste genau, dass er mich damit ködern konnte. Nachdem ich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens in völliger Unwissenheit verbracht hatte – meine Familie hatte dummerweise geglaubt, mich auf die Art beschützen zu können –, sog ich jetzt alles, was es über die Unterwelt zu lernen gab, wie ein Schwamm auf. Und so schrecklich Edens plötzlicher, seelenloser Tod auch war: Die Chance, etwas zu lernen, das weder Todd noch Nash mir beibringen konnten, würde ich garantiert nicht sausen lassen!

„Bitte, Nash!“ Ich zog seine Hand aus der Hosentasche und verschränkte unsere Finger miteinander. Keine Frage, ich hätte Todd auch alleine begleitet, aber zu zweit war es einfach viel schöner. Außerdem hätte Nash sowieso nicht Nein gesagt, weil er mich nicht gerne mit Todd alleine ließ. Er traute seinem untoten Bruder nie so ganz über den Weg.

Genauso wenig wie ich.

Nach kurzem Zögern nickte er widerstrebend, und ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf den Mund zu drücken. Als sich unsere Lippen berührten, kribbelte es in meinem Bauch wie verrückt – und an anderen Stellen auch. Als ich die Lider wieder aufschlug, wirbelten die braungrünen Strudel in Nashs Augen wie wild durcheinander: ein untrügliches Zeichen dafür, dass ein Banshee starke Gefühle verspürt. Menschen können dieses Phänomen jedoch nicht sehen.

Nash beantwortete meine unausgesprochene Frage mit einem Nicken. „In deinen Augen wirbelt es auch.“

Trotz der mehr als ernsten Umstände konnte ich mir ein albernes Grinsen nicht verkneifen, und Todd verdrehte angesichts unserer Turtelei genervt die Augen. Dann stapfte er ohne ein Wort los, um dieser besonderen Reaperin Hallo zu sagen.

Das aufgeregte Kribbeln in meinem Magen verwandelte sich in dumpfe Angst, als wir uns hinter Todd an den völlig geschockten Tontechnikern und Bühnenarbeitern vorbeidrängelten. Ich konnte wirklich jede Information über die Unterwelt brauchen, die ich kriegen konnte. Denn dann stolperte ich vielleicht nicht ständig ungewollt in gefährliche Situationen. Trotzdem hatte ich keine große Lust darauf, noch mehr Reaper kennenzulernen. Schon gar nicht diese unheimliche Libby, die gerade die Substanz aufschlürfte, mit deren Hilfe sich Eden wer weiß wie lange am Leben gehalten hatte.

„Was macht diese Reaperin eigentlich so berühmt?“, flüsterte ich Todd zu, der völlig geräuschlos vor mir herlief.

Er sah mich fassungslos an, bis ihm wieder einzufallen schien, was für ein Greenhorn ich war. „Sie ist uralt. Der älteste noch aktive Reaper. Vielleicht der älteste Reaper überhaupt. Niemand kennt ihren richtigen Namen, aber im alten Rom hat sie den Namen der Leichengöttin angenommen: Libitina.“

Fragend zog ich die Augenbrauen hoch. „Libitina … Libby ist also nur eine Abkürzung. Du darfst den ältesten und unheimlichsten aller Reaper mit Spitznamen ansprechen?“

Todd errötete ein kleines bisschen, was vielleicht aber nur wegen der roten Samtvorhänge der Seitenbühne so aussah, die durch seine transparenten Wangen hindurchschimmerten. „Ich habe sie noch nie mit irgendetwas angesprochen. Wir sind uns noch nicht offiziell vorgestellt worden.“

„Na toll.“ Ich stöhnte und verdrehte die Augen. Wir waren also live dabei, wenn Todd, das Greenhorn, seinem großen Vorbild gegenübertrat. Das war ja schlimmer, als ohne Englisch-Klingonisch-Wörterbuch auf einer Star-Trek-Convention zu sein!

Als wir uns endlich den Weg durch die Menge gebahnt hatten, schlürfte Libby gerade den letzten Rest Dämonenatem aus der Luft. Das Ende des Strahls peitschte wie ein Schwanz nach oben und klatschte ihr auf die Wange, bevor es zwischen ihren geschürzten Lippen verschwand. Die Reaperin wischte sich mit dem Ärmel ihres schwarzen Mantels über den Mund, so als müsse sie einen Soßenfleck wegwischen. Welche Soße wohl zu Dämonenatem passte?

„Da ist sie“, flüsterte Todd.

Sein andächtiger Tonfall ließ mich aufhorchen. Todd wirkte ungewohnt schüchtern, und in Anbetracht seiner Nervosität löste sich meine Unsicherheit in Luft auf. Schadenfroh grinsend griff ich nach seiner Hand: „Los geht’s!“ Doch kaum hatte ich ihn zwei Schritte auf Libby zubewegt, da lösten sich seine Finger plötzlich in Luft auf. Verwirrt blieb ich stehen und blickte auf meine Hand. Todd hatte seine körperliche Präsenz so weit minimiert, dass ich ihn kaum noch sehen konnte. „Was ist los?“, fragte ich.

„Nichts, was ich mit ein bisschen Würde nicht in den Griff bekomme“, erwiderte Todd barsch. „Und jetzt lasst uns diese über dreitausend Jahre alte Reaperin bitte nicht so belagern wie ein Haufen Teenager auf einem Boyband-Konzert.“ Er strich sich mit durchsichtigen Händen das transparente T-Shirt glatt, straffte die Schultern und ging festen Schrittes auf Libby zu, offenbar zufrieden, die Fassung wiedergefunden zu haben. Dabei wurde er mit jedem Schritt weniger durchsichtig, und ich hoffte inständig, dass es niemand bemerkte. Doch so geräuschlos, wie er lief, war ich wahrscheinlich immer noch die Einzige, die ihn sehen konnte. Und selbst wenn nicht, würde es niemand bemerken, weil alle Welt den Arzt anstarrte, der sich erfolglos bemühte, Eden wiederzubeleben.

Doch zumindest Nash konnte Todd jetzt sehen, denn er lief ihm schnurstracks hinterher. Wahrscheinlich hoffte er im Stillen darauf, dass sein Bruder sich vor dieser großen Koryphäe lächerlich machte.

Wir holten Todd ein, als er direkt vor Libbys Nase stehen blieb. Die beiden waren ungefähr gleich groß, und die Reaperin blickte ihn aus ihren grünen Augen durchdringend an. So durchdringend, dass sogar mir noch angst und bange wurde.

„Hallo“, sagte Todd geradeheraus.

Ich bewunderte seinen Mut, denn ich hätte in diesem Moment kein Wort herausgebracht. Libitina war alt, weise und mächtig – ihre Ausstrahlung machte das mehr als deutlich. Außerdem war sie so unglaublich schön, dass ich mich plötzlich für mein verschmiertes Make-up und meine unordentliche Frisur schämte.

Libby trug einen langen schwarzen Ledermantel, der von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde und ihre schmale Taille betonte. Erstaunlicherweise schaffte sie es, darin nicht wie der billige Abklatsch eines Superhelden oder wie eine Nutte auszusehen. Wahrscheinlich hatte sie schon schwarze Ledermäntel getragen, bevor sie in Verruf gekommen waren.

Das schwarze Haar trug sie zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, und die eng geringelten Locken fielen bis über die Schulterblätter hinab. Die dunkle, makellose Haut wirkte so weich, dass ich sie am liebsten berührt hätte, um mich zu vergewissern, dass sie nicht so perfekt war, wie sie aussah. Das war schließlich unmöglich, oder?

„Ja?“ Libby ließ Todd nicht aus den Augen, schenkte Nash und mir aber nicht die geringste Beachtung. Wahrscheinlich hasste sie Banshees, genauso wie alle anderen Reaper.

Vielleicht hätten wir Todd doch nicht begleiten sollen. Andererseits … Warum erlaubte sie uns überhaupt, sie zu sehen?

„Mein Name ist Todd, und ich arbeite für die hiesige Zweigstelle.“ Er bekam hochrote Wangen, und dieses Mal war ganz sicher kein Vorhang daran schuld. „Darf ich dir ein paar Fragen stellen?“

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als Libby die Stirn runzelte. „Bist du mit meinen Diensten unzufrieden?“ Ihre Stimme bebte vor Wut, und sie sprach mit einem starken Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Wir traten alle drei einen Schritt zurück, um ihrem Zorn auszuweichen.

„Nein!“ Todd hob beschwichtigend die Hände, doch diesmal fand ich es gar nicht lustig, weil mir Angst die Kehle zuschnürte. „Das hat nichts mit dem Büro zu tun. Ich habe heute frei. Aber ich interessiere mich für das Verfahren …“

Libby zog die schmalen schwarzen Augenbrauen hoch, und fast schienen ihre Augen amüsiert zu blitzen. „Dann frag“, entgegnete sie schließlich, und plötzlich war mir völlig egal, ob sie Banshees leiden konnte oder nicht. Ich mochte sie, weil sie es schaffte, Todd einzuschüchtern, bis er ganz klein mit Hut war.

„Wie fühlt er sich an, der Dämonenatem?“ Todd schob die Hände in die Hosentaschen und holte vorsichtig Luft. „Du bewahrst ihn … in dir auf, stimmt’s?“

Libby nickte knapp, machte dann auf dem Absatz kehrt und lief den Flur hinunter, der von der Bühne abzweigte.

Ich zögerte und wechselte einen fragenden Blick mit Todd, der nur die Schultern zuckte und ihr nachlief. Die Reaperin bewegte sich lautlos, aber äußerst schnell. Wir mussten rennen, um mit ihr Schritt zu halten.

„Man atmet es ein, bis tief in die Lungen.“ Aus Libbys Akzent sprach der Klang einer toten Sprache, und er zeugte von Kulturen, die vor langer Zeit vergangen und in Vergessenheit geraten waren. Ihre Stimme war tief und schroff. Uralt. Mächtig. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es fühlte sich an, als würde ich etwas hören, das ich nicht hätte hören dürfen. Etwas, das jahrhundertelang niemand gehört hatte. „Es füllt dich aus. Es brennt mit Eiseskälte, so als würde der Atem deine Eingeweide zerfleischen. Sich daran laben. Aber das ist gut so. Vergeht das Brennen, hast du ihn zu lange bei dir behalten. Dämonenatem tötet deine Seele.“

Die Gänsehaut breitete sich über meinen gesamten Körper aus, und meine Hände begannen zu zittern. Hastig griff ich nach Nashs Hand und schob die andere in die Hosentasche.

Auf dem Flur kamen uns zwei Bühnentechniker mit diversem Equipment in Händen entgegen. Todd ließ sie vorbei, bevor er die nächste Frage stellte. „Wie viel Zeit hast du?“ Er lief direkt neben der Reaperin her. Nash und ich dagegen hielten gerade so viel Abstand, dass wir alles mitbekamen.

„Eine Stunde.“ Sie blickte zu Todd hinüber. „Je länger man wartet, desto gefährlicher wird es.“

„Was machst du dann damit?“, fragte ich – ich konnte mich nicht beherrschen –, und Libby blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte sie sich langsam zu mir um. In ihren Augen stand der Lauf der Zeit zu lesen. Jahre des Lebens und des Sterbens und ein Dasein, das nie endete. Das leise Zittern meiner Hände steigerte sich zu einem regelrechten Beben, das den ganzen Körper erfasste.

Hätte ich doch bloß die Klappe gehalten.

„Wer ist das?“ Libby wandte sich fragend an Todd.

„Eine Freundin. Die Freundin meines Bruders.“ Er deutete auf Nash, der sich von Libbys furchterregendem Blick nicht einschüchtern ließ.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wirbelte die Reaperin wieder herum und stürmte weiter.

Todd hatte unsere Namen für sich behalten, Gott sei Dank. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte Nash ihm regelrecht eingebläut: Verrate den Gesandten des Todes nie unsere Namen! Natürlich konnte ein Reaper unsere Namen leicht herausfinden, wenn er wollte, besonders heutzutage. Und genau aus diesem Grund war es mindestens genauso ratsam, nie die Aufmerksamkeit eines Reapers auf sich zu ziehen.

Ein weiterer Pulk Menschen eilte an uns vorbei Richtung Bühne, und von draußen war Sirenengeheul zu hören. Libby redete völlig unbeeindruckt weiter. „Es gibt eigens für Dämonenatem angelegte Entsorgungsplätze. Im Jenseits“, fügte sie überflüssigerweise hinzu.

„Wenn man das auch machen möchte – statt der Seelen Dämonenatem sammeln –, wie müsste man das anstellen?“, fragte Todd, der neben Libby herhastete.

„Indem man die nächsten tausend Jahre überlebt“, sagte Libby warnend. „Wenn du dann noch lebst, suche nach mir. Ich werde es dir zeigen. Aber versuche es nie alleine. Das haben schon ganz andere mit dem Leben bezahlt, mein Junge.“

„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Todd beschwichtigend. „Aber es war echt geil, dir zuzuschauen.“

Libby blieb stehen und blickte ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Sie schien selbst nicht genau zu wissen, was sie sagen wollte, bis die Worte heraus waren. „Vielleicht kannst du mir noch einmal zusehen. Ich werde in fünf Tagen wieder hier sein.“

„Um noch mehr Dämonenatem einzusammeln?“, fragte ich und erntete dafür einen Blick aus ihren unheimlichen grünen Augen, der sich direkt in mein Gehirn zu bohren schien.

„Natürlich. Die andere Idiotin wird ihren am Donnerstag aushauchen.“

„Welche andere Idiotin?“, presste Todd zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er runzelte die Stirn, und seine wunderschönen Lippen waren zu schmalen Strichen aufeinandergepresst.

„Addison Page. Die Sängerin“, antwortete Libby, als wäre das sonnenklar.

Todd taumelte entsetzt nach hinten, doch als Nash ihm die Hand auf die Schulter legen wollte, griff er ins Leere. Einen Moment lang sah es so aus, als würde Todd direkt durch die Wand stürzen, doch er fing sich wieder. „Addy hat ihre Seele verkauft?“ Der Reaper rieb sich die durchscheinende Stirn. „Bist du sicher?“

Libby zog überrascht die Augenbrauen hoch.

„Wann?“

„Das ist nicht mein Problem.“ Die Reaperin schob die Hände in die Manteltaschen und musterte Todd verächtlich. Vermutlich hatte sich ihr Verdacht, dass Todd noch nicht bereit für Dämonenatem sei, gerade bestätigt. „Meine Aufgabe ist es, das abzuholen, wofür ich gekommen bin, und es ordnungsgemäß zu entsorgen. Das Leben geht weiter, mein Junge, und genau das tue ich jetzt auch.“

„Warte!“ Todd packte sie am Arm, und es war schwer zu sagen, wen es mehr überraschte – Libby oder Nash. Aber Todd redete ungerührt weiter. „Addy wird sterben?“

Libby nickte, und im nächsten Moment löste sie sich ohne Vorwarnung in Luft auf. Von einer Sekunde auf die andere war sie weg, nur ihre Stimme hallte noch wie ein Echo durch den Flur.

„Sie wird den Dämonenatem freisetzen, indem sie sich das Leben nimmt. Und ich werde da sein, um ihn in Empfang zu nehmen.“

3. KAPITEL

„Addy hat ihre Seele verkauft.“

Todds Stimme klang seltsam. So abwesend. Wahrscheinlich stand er unter Schock. Vielleicht hallte seine Stimme in dem leeren Flur aber auch nur. Andererseits: Wenn eine Stimme für das menschliche Ohr nicht hörbar ist, kann sie dann überhaupt hallen?

„Äh, ja. Klingt fast so“, erwiderte ich. Der Gedanke an verkaufte Seelen jagte mir eine Heidenangst ein, und ich rubbelte mir über die Arme, damit die Gänsehaut wegging.

„Sie wird Selbstmord begehen.“ Todds Augen waren vor Panik und Entsetzen weit aufgerissen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass er je zuvor irgendwelche Anzeichen von Angst gezeigt hatte. Mir wurde mulmig dabei, ihn so zu sehen. „Wir müssen sie aufhalten! Sie warnen oder so.“

Er rannte los, Nash und ich hinterher. Wenn er erst einmal durch eine Wand verschwunden war, würden wir ihn nie mehr wiederfinden. Zumindest nicht, bevor wir das Thema ausdiskutieren konnten.

„Wovor willst du sie warnen? Dass sie sich umbringt?“ Nash sprintete hinter Todd her. „Meinst du nicht, sie weiß das selbst?“

„Vielleicht nicht.“ Am Ende des Flurs blieb Todd unschlüssig stehen und blickte hektisch nach links und rechts. „Vielleicht ist das, was sie in den Selbstmord treibt, noch gar nicht passiert.“ Er warf einen letzten Blick nach links und stürmte dann in die andere Richtung.

„Warte!“ Ich machte einen Satz und packte ihn am Arm. Zum Glück konnte ich ihn greifen. „Weißt du überhaupt, wo du hinwillst?“

„Keinen Schimmer.“ Als er die Schultern zuckte, sah er für einen Moment genauso aus wie Nash. „Ich kenne ihre Garderobe, aber ich weiß nicht, wie ich von hier dahin komme. Und ich kann auch nicht mal schnell dort reinplatzen, sonst verliere ich euch zwei.“

Woher er Addys Garderobe kannte, lag auf der Hand; ich hatte ihn selbst schon oft genug dabei ertappt, wie er sich unsichtbar gemacht und mich ausspioniert hatte.

„Die Physik kann ein ziemliches Miststück sein.“ Nash verdrehte seine wunderschönen haselnussbraunen Augen und lehnte sich seelenruhig gegen die Wand.

„Du musst nicht auf uns warten“, entgegnete ich. Klar hätte ich es cool gefunden, Addison Page persönlich zu treffen. Aber es war ganz und gar nicht cool, der aufstrebenden Pop-Queen zu verklickern, dass sie in knapp einer Woche nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihr Leben beenden würde. „Ich warte lieber ab, was passiert.“ Ich stemmte die Hände in die Hüften und schielte zu Nash hinüber.

Doch anstatt zustimmend zu nicken, blickte er mich nur amüsiert und zugleich nervös an. Genau wie Todd. „Was ist?“, fragte ich gereizt.

„Ich bin tot, Kaylee.“ Todd stützte die Hand auf die Türklinke neben sich. „Addy war auf meiner Beerdigung. Ich kann nicht einfach zwei Jahre später in ihrer Garderobe auftauchen und sie bitten, sich nicht umzubringen. Das wäre ziemlich geschmacklos.“

Seine Vorstellung von postmortalen Benimmregeln brachte mich zum Lachen. „Geschmacklos“ war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts! Doch als ich begriff, was er mir damit sagen wollte, wurde ich schlagartig ernst. „Moment mal. Erwartest du etwa, dass wir es ihr sagen?“

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